Die Gartenlaube (1880)/Heft 46
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No. 46. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Mutter Hedda, er regt sich – er lebt.“
„Wird leben, mein Kind, wenn die Sterne es wollen.“
Die Zwei, welche so sprachen, saßen niedergebückt in dem Winkel eines engen, schmucklosen Gemachs. Alles ringsum trug einen seemännischen Charakter. War es die Kajüte eines Schiffes? War es das Innere einer ärmlichen Strandhütte? Karten und Segel, Tauwerk und Ruder bedeckten in buntem Durcheinander die rohen hölzernen Wände; ein umgekehrtes kleines Boot war mit Hülfe von alten Brettern und seegrasgepolsterten Kissen zu einer Art Ruhebank umgeformt, und Fernrohre und Compasse, Wettergläser und Nebelleuchten vervollständigten die Geräthschaften dieser sonderbaren Wohnstätte.
Sonderbar war auch die Gruppe, welche der brennende Kienspan beleuchtete, der statt einer Lampe sein flackerndes Licht von der Decke herabsandte. Das wettergebräunte, runzelvolle Gesicht eines kauernden alten Mütterleins neigte sich tief nieder, so tief, daß ihm die langen grauen Haare über die Stirn bis auf die Augen fielen; diese Augen waren von einem seltsam mystischen Feuer durchglüht, unirdisch fast, aber nicht unheimlich; sie schienen einen Gegenstand besorgt zu prüfen, dessen Formen sich in dem Halbdunkel des engen Raumes in unbestimmten Umrissen vom Boden abhoben. Und dieselbe Sorge, dieselbe Unruhe lebte und bebte in den kraftvoll herben, aber eigenartig schönen Zügen eines Mädchenangesichts, das mit großen Abenteuer-Augen dicht neben der Alten aus der kienqualmigen Atmosphäre aufblickte.
„Schnell noch mehr vom heißen Branntwein, Karin!“ sagte die Alte, „und thu' auch etwas von den wunderwirkenden Kräutern hinein, Höhlenmoos und Klippengras und ein Bischen Teufelszwirn! Ich wußte längst, daß ein Unglück kommen mußte. Der Hundsstern hat schon wieder seit lange den verhängnißvollen Nebelschweif, und die Möven gurgeln jeden Abend hohl und dumpf in ihren Felsnestern.“
Ein grelles Licht glitt flüchtig über das Gesicht der Redenden hin; denn der Wind, der jetzt heftig durch die Esse pfiff, blies die Flamme des Kienspans heller auf, und für den Augenblick wurde das kleine Gemach licht bis in den verborgensten Winkel hinein. Auf einer breiten, groben Strohdecke lag vor den beiden Frauen, lang hingestreckt und in wollene Tücher eingehüllt, eine schlanke Jünglingsgestalt, blassen Angesichts und mit geschlossenen Augen, wie es schien, ohne Athem und Leben. Eine vornehme, bleiche Hand ruhte auf einer hochgewölbten Brust, und die langen blonden Locken, welche über den entblößten Hals und auf die Schultern herabhingen, trieften von Wasser; auch von der edel gebildeten Stirn tropfte es auf die blutlosen Wangen herab, und an dem leichten Reise-Anzuge des jungen Mannes schien kein trockener Faden zu sein.
Es war eine bange Stille, welche die drei Menschen umgab. Nichts regte und bewegte sich; nur die Schatten der beiden Frauen huschten in verschwommenen Zeichnungen an der Wand hin, und von draußen tönte das gleichmäßige Nieseln eines leisen Tropfenfalles herein. Mitunter freilich wich die Stille einem lauten Tosen; denn der Herbststurm tobte durch die Nacht; stoßweise trug er das Brausen der Brandung daher, die ein nahes Felsengestade zu peitschen schien, als wollten die grollenden Meergeister das Ufer stürmen und es hinabspülen in ihr wogendes Reich.
Plötzlich erscholl gellendes Gebell; nahende Männerschritte ließen sich draußen vernehmen; die Thür wurde schnell geöffnet, und ein prächtiger schneeweißer Hund von ungewöhnlich großem Körperbau, mit breiter muskulöser Brust und langen zottigen Haaren sprang in großen Sätzen in das Gemach; er umkreiste mehrmals die beiden Frauen, leckte dem Mädchen die Hand und schmiegte sich auf ein gebietendes „Kusch, Rustan!“ zu ihren Füßen nieder.
„Nichts als Trümmer wirft die See an's Land,“ sagte die Stimme eines kräftigen Greises, der dem flinken Thier gefolgt war. Hastig eingetreten, hemmte er auf der Schwelle den Schritt und überschaute mit prüfendem Blick die Scene; er stand wohl sechs Fuß hoch in seinen derben Krempstiefeln, eine frische, breitschulterige Gestalt, das Haupt voll Kraft und Energie.
„Nichts als Trümmer! Der ist der einzige Glückliche,“ fügte er hinzu, indem er auf den Jüngling am Boden zeigte. „Die Andern liegen am Meeresgrunde. Glücklich oder nicht – wer weiß? Vielleicht ist schlafen besser als wachen. Aber wie steht's mit unserm Gaste?“ Er trat näher an die Frauen hinan und warf einen theilnehmenden Blick auf ihren Pflegling. „Ei, das lob' ich, Karin, meine Tochter,“ wandte er sich dem noch immer am Boden kauernden Mädchen zu. „Sie nennen Dich eine Träumerin, eine Gauklerin, aber Du kannst mehr als auf Felsen tanzen und singen und mit dem Sturme um die Wette segeln. Bist auch eine gute Pflegerin, Du wildes Kind. Meiner Treu – sieh doch! seine Wangen färben sich unter Deinen Händen. Gottlob! 's ist keine Leiche, die wir beherbergen. Er wird die Augen aufschlagen – –“
„Wenn es in den Sternen so geschrieben steht,“ ergänzte Mutter Hedda ernst. [746] „Immer Deine abgeschmackten Sterne! Sagen wir lieber: wenn Jugend und Natur kräftig genug sind,“ berichtigte der Alte.
„Aber nun, Vater Claus,“ bat dazwischen das Mädchen mit Ungeduld, und in ihren Augen glänzte es lebhaft wie heimlich glimmendes Feuer, „aber nun erzähl' uns, wie das Alles gekommen! Karin ist traurig.“
„Ja, wie das Alles gekommen! – Der greise Seemann warf sich nachlässig in einen groben hölzernen Lehnsessel und schwenkte das Wasser aus seinem Südwester, daß Rustan, dem die Tropfen in's Gesicht flogen, aufnieste und sich die Augen mit den Pfoten wischte. „Potz Anker und Segeltuch! ist das ein Wetter! Seit mich das Schicksal aus meiner deutschen Heimath in die nordische Einöde verschlagen und zum Strandwächter auf dieser finnischen Schäreninsel gemacht, erlebte ich solchen Sturm nicht, und das will sagen: seit dreißig Jahren. Wißt ja, die See hatte schon den ganzen Tag über rumort und getobt, und als die Sonne unter war, schlugen die Wasser eine Höllenmusik an, als sollte die Welt in Stücke gehen. Hatte wie allabendlich die Signallampe auf dem Leuchtthurme aufgehißt und lugte von da oben über die schwarze Tiefe und die gewaltig tanzenden weißen Wellenhäupter hin – bei der rabenfinsteren Nacht freilich eine müßige Arbeit. Plötzlich seh' ich gar nicht weit von dem vermaledeiten Klippenkranze unserer Küste eine Nothleuchte. 'Gerechter Gott, bei dem Wetter!' – denk' ich. 'Hoiho!' ruf' ich, und meine Jungens, Axel, Olaf und Daniel, sind flugs wie der Wind oben bei mir auf dem Leuchtthurme. Aber der Kukuk kann bei solcher Stockfinsterniß trotz aller Ferngläser einen schimmernden Wellenrücken von einer schweifenden Möve unterscheiden, viel weniger ein Schiff von den am Himmel hin- und hersegelnden schwarzen Wolkenbündeln. Die Jungens waren kaum oben – da kracht ein Nothschuß – also richtig ein Schiff! Hui, wie der Blitz waren wir im Boot und zwei Minuten darauf mit Stricken und Leitern mitten in der brandenden See. Mir schlug das alte Herz an die Rippen; denn hier galt's zu retten und zu helfen. Mußte wohl ein deutscher Passagierdampfer sein, der auf der Fahrt von Stockholm nordwärts in die Alandsinseln getrieben und dann in unsere Klippen gerathen war; denn der Sturm blies aus Südwest – und daß es ein Dampfer war, hörten wir von weither an der gewaltig ächzenden und stöhnenden Maschine. Aber wenn die See wie eine Mauer vor Einem steht, die Wellen sich centnerschwer Einem entgegenwerfen und die Finger vor Kälte und Nässe an den Rudern schier erstarren – ja, da helfe einmal Einer, und wär' er ein Kerl von Eisen! Verdammt! Sahen das Schiff vor unseren Augen scheitern; denn so nahe waren wir ihm doch gekommen. Sag' Euch, 's war ein grausiger Augenblick, selbst für eine in Wind und Wetter verhärtete alte Theerjacke, wie ich. Das krachte, das barst – Menschen wimmerten; Balken zersplitterten. Die Glocke läutete noch einmal, wie wehklagend, auf dem Deck – dann war Alles still; nur die Wellen klatschten an einander, und der Sturm heulte, wie eine vielstimmige Gesellschaft von Teufeln. Eine Sturzwelle überschüttete uns mit einem wüsten Durcheinander von zerschmettertem Schiffsgebälk und Leichen. Himmel und Hölle – mußten unser Segel kappen, und mit Blitzesschnelle warf uns die Fluth zurück in die sichere Bucht unserer Felseninsel.“
Der Alte erhob sich. „Den da“ – er zeigte auf den Bewußtlosen zu seinen Füßen – „fischten wir zwischen den schwimmenden Trümmern auf – und das ist Alles. 'Mein Weib,' rief er, als wir ihn im Boot sicher gebettet hatten, 'rettet mein Weib!' Dann sank er in eine tiefe Ohnmacht.“
„Ach Gott,“ seufzte Karin, „es ist ein so schöner, junger Herr.“
„Und ein gar vornehmer dazu,“ ergänzte Mutter Hedda.
„Potz Anker und Segeltuch!“ fuhr Vater Claus dazwischen, „schön oder häßlich, vornehm oder gering – Mensch ist Mensch. Keine müßigen Seufzer! Reibt ihm Stirn und Schläfen mit dem heißen Branntwein – hurtig!“ Er beugte sich zu dem Ohnmächtigen nieder und legte das Ohr an seine Brust. „Wahrhaftig, er athmet schon hörbar und schneller. Armer Bursche, magst Dir auch nichts haben träumen lassen von dem kalten Salzwasserbade und dem pudelnassen Besuch hier in unserer finnischen Strandhütte. Wie lustig magst Du im Heimathhafen auf's Schiff gesprungen sein!“
„Lustig?“ redete Karin darein und sah den Alten mit ihren großen Augen fragend an, mit Augen, die so geheimnißvoll wie der Himmel des Nordens, so feuchtglänzend und unergründlich waren, wie das Meer, in dem er sich spiegelt – „lustig? Nein, Vater Claus, auf diesem Gesicht steht von ganz anderen, Karin weiß nicht, von welch ernsten Dingen geschrieben.“
„Unsinn!“ fuhr der Graukopf auf. „Was Du wohl von Menschengesichtern weißt!“ Aber dann stieß er sein Weib an: „Hedda,“ sagte er leise, „kann das Mädel sehen! Weiß wohl, den See-Adler erspäht sie, wenn er in den Wolken hängt; ihr Blick folgt ihm bis zum Horst, wo er die Beute niederlegt – aber daß sie den Leuten die Seele vom Gesicht abliest – meiner Treu wer hätte das gedacht! Recht hat sie: er sieht verteufelt ernsthaft aus, unser stummer Gast. Und –“
Vater Claus brach plötzlich ab. Ein heftiger Windstoß erschütterte die Hütte, und von der Felsenhöhe draußen stürzte ein entwurzelter Baum herab und schlug krachend auf das Gestein. Rustan bellte erschrocken auf.
„Potz Anker und Segeltuch!“ fluchte der Alte und ging der Thüre zu. „Muß hinaus auf meinen Posten. Verdammte Nacht heut'! Das Wetter kommt wieder auf. Adjes denn! Aber ich mag Euch nicht allein lassen, will Euch den Olaf schicken.“
„Nein, den Olaf nicht!“ rief Karin mit einer jähen, leidenschaftlichen Bewegung, „den nicht!“
„Gut, so bleibt Ihr allein,“ entgegnete der Alte. „Den Axel und den Daniel kann ich bei dem Wetter nicht entbehren da draußen. Die Jungens sollen den Strand absuchen, ob der Sturm nicht Trümmer oder Todte an's Gestade spült – vielleicht auch die Leiche des jungen Weibes.“
Damit ging er hastigen Schrittes hinaus.
„Karin,“ begann Mutter Hedda, nachdem die Thür lärmend in's Schloß gefallen, „warum wieder diesen Auftritt? Gieb endlich nach und nimm den Olaf! Er ist ein guter Junge, tüchtig und brav und fromm. Was kann Dir Axel, was kann Dir Daniel sein? Ich weiß, Du kannst sie beide nicht leiden. Der Eine ist jähzornig; der Andere ist einfältig. Wenn der Apfel aber reif ist, soll er gepflückt werden – und Du bist siebenzehnjährig. Die Drei sind die einzigen Buben auf der Insel, und die Insel ist unsere Welt. Nimm den Olaf, Karin! Siehst Du denn nicht, wie er sich härmt um Deinetweilen? Und ich sage Dir: er ist Dir bestimmt – ich hab's in den Sternen gelesen.“
„Ich will ihn nicht, weil ich ihn nicht mag.“ – Das Mädchen hatte sich erhoben und stampfte trotzig mit dem Fuße auf. „Ihr könnt der Föhre am Strand die knorrigen Aeste beugen; Ihr könnt den Fels in der Schlucht aushöhlen mit Müh' und Noth, aber Karin's Herz könnt Ihr nicht zwingen. Seht zu, was härter ist, der Fels oder mein Wille!“
„Trotzkopf!“ murrte die Alte, „bist noch immer die nämliche wie damals, als Du in kindischer Neugier durchaus das alte Buch haben wolltest, das der Vater im Schrein hatte – denn Lesen war von je Deine Lust – das prächtige Bilderbuch von der Edda und den alten Seefahrern. 'Wenn Ihr mir das Buch nicht gebt,' eifertest Du und liefst an den Strand und tratst dicht an die jäh abfallende Felskante hinan, 'so springe ich hinab in die See.' Und richtig – wir glaubten, das Herz solle uns still stehen im Leibe – als der Vater bei seiner Weigerung blieb, da sprangst Du – Herr des Himmels! – hinab in die Tiefe und schwammst lustig um die Klippen und lachtest dazu.“
„Und ich erreichte meinen Zweck,“ sagte Karin ruhig und warf den Kopf in den Nacken.
„Freilich,“ seufzte Mutter Hedda, „nur das Versprechen, Du solltest das Buch haben, lockte Dich aus dem Wasser. Starrkopf damals wie heute!“
Die Alte that einige hastige Schritte durch den engen Raum.
„Ist das ein Wetter!“ fuhr sie fort; denn der Sturm umbrauste in diesem Augenblicke die Hütte mit erneueter Gewalt; er faßte sie so heftig, daß sie in allen Fugen knarrte und ächzte. „Ich will hinaus und sehen, wie die Wolken jagen und die Sturmvögel im Zickzackfluge flattern; die Zukunft webt darin – und was Dich betrifft und den Olaf, ich will's überlegen, Tochter – überlegen beim Windessausen –“
Sie ging, aber auf der Schwelle wandte sie sich noch einmal um. „Thu' Kräuter in den Branntwein, hab Acht und wärme unserm Pflegling Puls und Schläfen!“ Draußen verhallte ihr Schritt auf dem steinigen Boden der Insel. –
Karin war allein mit dem Fremdling. Es war ein reizendes [747] Bild, das die hölzernen Wände der Hütte umrahmten, ein Bild zum Malen. Das Haupt gedankenvoll gesenkt, saß das Mädchen in graciöser Lässigkeit wie träumend da. Eine Fülle üppigen Goldhaars fiel ihr frei und ungebunden in langen Wellenlinien auf die Schultern herab und wob um das leichte, knapp anschließende Mieder, welches volle und doch zarte Formen verrieth, aus tausend Fäden einen glitzernden, goldigen Schleier. Wie die Sonne aus ihrem eigenen Strahlenkranze, blickte Karin aus dem leuchtenden Rahmen ihres metallisch schimmernden Haares hervor – aber sie blickte nicht sonnenhaft; denn wie Wehmuth und Sorge lagerte es ihr über Stirn und Wangen; sie hatte die Hand dem erprobten Cameraden, dem treuen Rustan, der nicht von ihrer Seite gewichen, auf’s Haupt gelegt, und das kluge Thier blickte sie mit klaren schwarzen Augen verständnißvoll an, als trüge es in der Brust eine fühlende Menschenseele. Aber Karin’s Blick begegnete nicht dem des treuen Gefährten; bange und unruhvoll lag er auf dem stummen Schläfer zu ihren Füßen, dessen Athem sich mehr und mehr belebte. Heimlich zuckte es ihr dann und wann um den kraftvoll schwellenden kleinen Mund, und ihr sinnendes Auge, in dem sich Unschuld und bewußtes Denken, Schwärmerei und prüfender Verstand wunderbar mischten, schien unter den langen, dichten Wimpern müde nach innen zu schauen. Wo waren die Gedanken des Mädchens?
Wenn ein Ungeahntes plötzlich in unsern Kreis tritt, fremd und neu, wie ein Gebild aus einer andern Welt, für das uns jedes Maß und jede Norm fehlt, dann wissen wir nicht, wie es empfangen, wie es begrüßen? Wird es uns Heil bringen oder Unheil? Karin waren die Tage bisher in wechsellosem Gleichmaß dahingeflossen. Auf der öden Klippeninsel, allein mit den Eltern und den drei Burschen, die in des Vaters Sold standen, hatte sie die Jahre hindurch ihr Leben getheilt zwischen dem steten Kampf mit der rauhen Natur des Nordens und stiller Arbeit, zwischen selbstgeschaffenen lustigen Abenteuern und weltverlorenen Träumereien, je nachdem das gewaltige Nebeneinander von See und Fels ihr bewegliches Gemüth heute in kindischer Thatenlust in’s Weite gelockt, morgen verschüchtert und scheu in sich selbst zurückgedrängt. In der Hütte hatte sie gewirkt und geschafft, Segel genäht und Netze geflickt und die beiden Alten gehegt und gepflegt. Draußen aber in der frischen, weiten Natur, da war es ihr stets gewesen, als wäre sie hier in ihrem eigentlichen Elemente. Im Sommer war sie rastlos durch die Tiefen und über die Höhen der kleinen Insel geschweift; bald hatte sie dem Echo der Felsen gelauscht; bald war sie unwegsame Abhänge wagelustig hinangeklettert zu den Klippenhorsten der Seevögel, hatte die bunten Eier grausam geraubt und die nackte, zappelnde Brut heimgetragen. Oder sie hatte beim Fischfang geholfen, war mit den Männern hinausgesegelt in die offene schäumende See, hatte das Ruder geführt, das Netz geworfen und gejubelt und gejauchzt, wenn über ihr in der reinen blauen Luft die Möve weithinschweifend ihre langen Schwingen ausbreitete und niedertauchte und die Brust in der kühlen Salzfluth badete und dann wieder emporschoß und in großen Kreisen aufstieg und im Aether verschwand. Wenn nun aber die stille, laue Nacht kam mit Sternenschimmer und Mondesglanz, dann war sie, da Alles schlief, leise an den Strand hinabgestiegen, hatte die Kleider abgeworfen – und das blaugrüne Meer küßte die alabasternen Glieder der einsamen Schwimmerin. Fernab vom Lande, auf der hohen See, da leuchtete silberbetropft ihr goldenes Haar, wie das Haupt einer Meerjungfrau, und dann hub sie zu singen an, und es tönte ihr Lied weit herüber, lockend und bestrickend wie Sirenengesang. – Aber auch im Winter, im langen, düsteren Winter, wenn die Hütte unter dem grau behangenen Himmel tief in Schnee und Eis gebettet lag und der letzte Halm auf den Felsen erstarrt war, auch dann immer war die Natur Karin’s liebste Vertraute gewesen. Auf den blanken Schlittschuhen, den treuen Rustan als flinken Cameraden zur Seite, war sie hinausgeglitten auf die glitzernde, unabsehbare Eisfläche und hatte die junge Stirn gekühlt in dem frischen, kräftigen Seewind. Wenn dann am frühen Abend im fernen Westen die Sonne sank und im röthlich blendenden Lichte, weit ausgreifend, unzählige Strahlen über die weiße schimmernde Fläche ausgoß, dann, in der schweigenden Oede, war es oft heimlich über sie gekommen wie ein unbegreifliches Sehnen, ein Sehnen ohne Gegenstand und Ziel. Dort hinten, wo der feurige Ball versank, sah sie eine ihr unbekannte Welt erstehen, jene Welt, von der nur dunkle Kunde, wie zerrissene Klänge, die der Wind daherträgt, in ihre Einsamkeit gedrungen war. Häuser malte sich ihre dichtende Phantasie, Häuser und Straßen und ganze Städte und viele, viele Menschen darin, und sie selbst wandelte unter diesen Menschen, und sie waren gut mit ihr, und sie hatte sie lieb. Dann aber, schnell wie es gekommen, versank das Bild wieder, das sie sich erträumt, ohne das Urbild zu kennen. Es blieben nur Nebel und Schatten. Aber was wir geschaut mit den Augen des Herzens, das kann uns niemals auf immer verblassen. Ob sie am winterlichen Feuer saß und das Holz auf dem Herde knistern hörte, ob sie hoch auf dem Uferfelsen stand und hinausblickte auf die märchenhafte Linie des Horizonts, wo Himmel und Wasser sich begegnen, immer wieder, in Augenblicken des Sinnens wie der Erhebung, schauete Karin im Abglanze einer purpurn versinkenden Sonne dasselbe lockende Bild, die ferne, ferne Menschenwelt jenseits des Wassers.
Und nun, als hätte ein Zauber den Traum zur Wirklichkeit gemacht, sah sie in Fleisch und Blut einen Abgesandten jener Welt vor sich, deren Bild ihre Träume erfüllt hatte. Wunderbar – sie war seine Pflegerin, seine Hüterin. Und was war es nur, das ihren Blick so mächtig, so unwiderstehlich an die Züge des Schlafenden fesselte? Was war ihr der Fremdling – ihr? Vor wenigen Stunden erst, in dunkler Nacht, hatte der Sturm ihn an diesen Strand geworfen, und schon sprach es zu ihr aus seinen Mienen, wie ein Verwandtes, längst Gekanntes. Wie sollte sie das Gefühl nennen, das sie so geheimnißvoll beschlich? Mitleid mit dem Schicksal des Fremden war es nicht – das fühlte sie. Auch nicht unedle Neugier, den Schleier zu lüften, der über seiner Person lag. So war es leise Regung des Herzens, unergründlich, unfaßbar? Fast war es etwas – seltsam genug! – wie die Zärtlichkeit einer Schwester für den Bruder. Und doch war es wieder etwas ganz Anderes. Dieser Mund, diese Stirn, wo war sie ihnen schon zuvor begegnet?
Karin stützte das Haupt in die Hand und sann in sich hinein. Draußen wuchs das Unwetter; ein dicht fallender Regen trieb in den Pfützen des Gesteins flüchtige Blasen und schlug mit großen Tropfen an das Gebälk der Hütte. Drinnen war Alles still. Nur Rustan knurrte manchmal leise, wenn am Gestade ein Felsstück sich polternd löste und klatschend in die See hinabfiel. Dazwischen klang es mitunter, wie wenn der Schlafende schwer aufseufzte. Karin ließ den Blick nicht von ihm; sie sann und sann und fuhr sich über die Augen, als wollte sie ein Schleiergewebe von Gedanken davor hinwegthun.
„Ich hab’ es,“ sagte sie plötzlich und griff hastig an ihr Mieder. Sie zog ein goldenes Medaillon hervor, das einen seltsamen Contrast bildete zu der ärmlichen Kleidung des Mädchens; in reicher Perlenfassung zeigte es das Bild eines älteren Mannes. Nun blickte sie von dem Bilde auf den Schläfer zu ihren Füßen und wieder von ihm auf das Bild. Dieselbe edel gewölbte Stirn hier wie dort, nur daß hier weiße Locken sie umrahmten, während dort volles Blondhaar auf sie herabfiel. Der Mund hier glich dem Munde dort, aber was ihn hier als Friede und Ruhe des Alters umspielte, das prägte sich dort als ein tiefes Ungenügen am Leben, als eine räthselhaft unbestimmte Sehnsucht aus, untermischt mit dem herben Zuge jugendlichen Trotzes.
„Ich hab’ es, und doch – wie find’ ich den Zusammenhang? Dieses Bild, ich trag’ es, so lang’ ich denken kann. Wie kommt es nur an meinen Hals? 'Trag’ es, und frage nicht!' sagt Vater Claus, so oft ich forsche. Wie soll Karin das deuten und fassen?“
Wieder umflorte sich ihr Auge, und wieder versank sie in das alte Träumen. Auf einmal fuhr sie zusammen; eine Bewegung des Schlafenden hatte sie aufgeschreckt. Er regte die Lippen, als wollte er sprechen, und ein leises Zucken ging durch seine Züge. Nun öffnete er wirklich den Mund.
„Ha, wie die wüthenden Wogen die Schiffsplanken peitschen!“ rief er, die Augen noch immer geschlossen, angstvoll und wie im Fiebertraum.
„Es ist der Regen, der an’s Fenster prasselt,“ beschwichtigte ihn Karin mit zitternder Stimme. Sie hatte sich dicht zu ihm niedergebeugt.
„Dumpf ächzt das Gebälk,“ stöhnte er. „Mein Weib, schmiege Dich fest an mich! Das ganze Fahrzeug bebt.“
„Das ist der Wind, der die Hütte erschüttert.“
[748] „Siehst Du nicht die riesige Welle kommen? Schwarz und gähnend wälzt sie sich daher. Sie wird uns verschlingen – schwarz, ganz schwarz.“
„Ihr träumt. Der Kienspan qualmt im Zugwind, wie schwarze, flatternde Wolken.“
„Weib, ich muß Dich retten.“
Er zog Karin mit einem gewaltigen Ruck fest an sich.
„O Gott!“ seufzte sie leise.
„Wunderbar!“ flüsterte er, „wie ganz anders, wie sanft auf einmal Deine Stimme klingt!“ – er preßte sie fester an sich. „Und nun hinab!“ rief er, „hinab in die Fluth!“
Nur noch eine heftige, wie stürzende Bewegung des Träumenden, dann ein furchtbares Beben und Schütteln, das seinen Leib durchfuhr – und klar und groß schlug er die Augen auf.
„Wo bin ich? – Du bist nicht Du,“ sagte er nach kurzem Besinnen und ließ das Mädchen aus den Armen. „O, wie schön Du bist!“
Mit klopfendem Busen, mit flammenden Wangen, verwirrt und bestürzt, eilte Karin hinaus. Sie flog mehr als sie ging.
„Mutter Hedda, Vater Claus, er ist erwacht – er lebt.“
Draußen im brausenden Sturm, im fallenden Regen blieb sie einen Augenblick aufathmend stehen. Rustan, der ihr nachgeeilt war, schmiegte das schöne kräftige Haupt in die Falten ihres wehenden Kleides. Vom Himmel schoß ein Stern herab, und es war ihr, als wäre er ihr in den Schooß gefallen, als wäre sie auf einmal reich geworden, unendlich reich, und als müßten alle ihre Wünsche verblassen vor dem einen leuchtenden Besitz.
„Leben! O, wie schön ist es, zu leben!“ flüsterte sie in sich hinein.
Fernab im Osten, inmitten der ziehenden Wetterwolken, glomm es röthlich, das einzig Feststehende im jagenden Getümmel des Sturmhimmels. Karin schauete in das wachsende Roth der Ferne ahnungsvoll hinüber – hinüber – –
Es war der anbrechende Morgen.
Schon wieder Wagner? – Allerdings haben wir mehr als genug von jener sentimentalen Wagner-Literatur, welche in der ersten besten Fermate des Componisten etwas ganz Besonderes findet, und zu viel von jener doctrinären, in welcher Leute von schlecht erwiesener Vollmacht gegenüber dem gewaltigen Schöpfergeist des Meisters von Baireuth die Kunstgesetze vertreten wollen. Aber wenn es Thatsache ist, daß die Einen in Richard Wagner eine Art von Menschheitsretter verehren, während ihn die Andern als Kunstverderber hassen, so bedarf es keiner weiteren Rechtfertigung, wenn immer wieder der Versuch gemacht wird, über die Bedeutung und das Wesen des Mannes aufzuklären. Der einfache Kunstfreund, welcher sich heute Abend an einer Oper Wagner’s erbaut hat, liest morgen in der Zeitung, daß die Werke des Baireuther Tonzauberers Kunstsinn und Charakter gefährden, und einem Andern, der die ganze Vorstellung wenig nach seinem Geschmack gefunden, wird in einem zweiten Blatte versichert, daß es ein Entzücken gewesen sei vom Anfang bis zum Ende. Ein Blick auf den äußeren Verlauf dieses Wagner-Krieges, der nun schon vierzig Jahre gedauert hat, hilft auch nur wenig zur Orientirung, denn darnach kann sein Ausgang noch unentschiedener erscheinen: die Gegenpartei hat bis jetzt nicht capitulirt, sondern vertröstet sich auf dieselbe Zukunft, auf welche sie schon in früherer Zeit mit spöttischem Scherze die Anhänger Wagner’s verwies.
Wird man sich jemals über Wagner völlig einigen? In der Hauptsache: ja. Ein Rest von Widerspruch wird freilich immer bleiben; Naturen, welche in der Kunst nur den Frieden und die geebnete Schönheit des Parkes suchen, kann man nicht zumuthen, Freunde eines Künstlers zu sein, der in seine Werke die Leidenschaften in ihrer vollen Naturgewalt hineinträgt. Aber seinen formellen Reformen gegenüber wollen wir uns hüten, kleinlich zu sein; denn an und für sich sind sie sachlich und historisch berechtigt und so wenig unerhört, daß sie von dem harmlosen Theile des Publicums in der Regel nicht als Neuerungen empfunden, ja wohl überhaupt gar nicht bemerkt werden. Wie Wenige unter denen, welche den „Fliegenden Holländer“, den „Tannhäuser“ oder den „Lohengrin“ anhören, haben eine Ahnung davon, daß die Anlage dieser Werke eine andere ist, als die einer Mozart’schen Oper! Auch der junge Richard Wagner wurde bei den ersten Schritten, die er als schaffender Künstler that, vom Geiste der Nachahmung geleitet. Daß er mit den Ouvertüren, Schauspielmusiken und Opern seiner Junggesellenjahre den hervorragendsten Meistern der Reihe nach seinen Tribut gebracht habe, erzählt Wagner selbst auf’s Anmuthigste in seiner Selbstbiographie. Erst mit dem „Fliegenden Holländer“ sehen wir Wagner von der vorhandenen Opernform einigermaßen abweichen. Der Daland und seine Melodiensucht gehört freilich noch ganz zu der alten Oper im schlechten Sinne des Worts. Aber für die Verknüpfung der Scenen hat er hier einen neuen Kitt gefunden. In dieser Oper erscheinen zum ersten Male die berühmten „Leitmotive“, in welchen Etliche nebst einer gewissen Geschicklichkeit im Harmonisiren das ganze Geheimniß von Wagner’s Kunst gefunden zu haben meinen. Außer dieser Aeußerlichkeit ist für die musikalische Entwickelungsgeschichte unseres Componisten in dem „Fliegenden Holländer“ noch manches von höchster Wichtigkeit; namentlich darf nicht übersehen werden, wie eng hier der Musiker sich an den Poeten kettet. Dieser ist mit jenem stark und schwach; wir erblicken den Componisten auf Höhen, wo nur immer die gewaltigsten Meister der Tonkunst hingekommen sind, wenn er das erschütternde Loos der Helden singt, und flach, wenn es sich um Daland's Feilschereien handelt. Es scheint, als könnte er viel besser fliegen als gehen. Wer Wagner’s „Holländer“ mit den „Meistersingern“ vergleicht, kann dies nur thun mit Erstaunen über die unvergleichliche Entwickelung, die zwischen diesen beiden Werken mit dem specifischen Musiker vor sich gegangen ist, aber noch bis zum „Lohengrin“ zeigt sich dieser vom Dichter oft unbedingt abhängig, und gering, wo ihn der letztere im Stiche läßt.
Dieser Umstand hat zu der Meinungsverschiedenheit über Wagner den ersten und einen sehr heftigen Anstoß gegeben. Wenn seine Verehrer ihn unumwunden in eine Reihe mit den größten Componisten der Vergangenheit stellten, so dachten sie einseitig an Leistungen wie die große Auftrittsarie des „Holländers“, und wenn dem gegenüber seine Gegner ihn wie eine Art Dilettanten behandelten, so hatten sie vielleicht den Daland im Auge und manche Rollen von Wagner’s fürstlichen Baßsängern: König Heinrich und Landgraf Hermann. Nur übersahen sie dabei in ihrem Gesammturtheile, daß Wagner auf dem Wege war, den Organismus der Oper auf eine höhere, jedenfalls neue Stufe zu bringen. Die Gereiztheit, welche sich den Debatten leider gleich von Beginn an beigemischt hatte, verhinderte dieses Zugeständniß, welches gegen Mozart und Beethoven ebenso wenig einen Vorwurf einschließt, wie man mit der Behauptung „Columbus hat Amerika entdeckt“ den Ruhm Karl's des Großen schmälert.
Wenn man die Reformen Wagner’s näher bezeichnen will, so kann man es nicht umgehen, einiges Allgemeine über die Oper vorauszuschicken. Sie hat die Aufgabe, eine Handlung mit Hülfe der Musik darzustellen, und besitzt dem gesprochenen Schauspiele gegenüber den Vorzug, den in den scenischen Vorgängen liegenden Gefühls- und Stimmungsgehalt stärker und inniger ausdrücken zu können. Wenn sie aber diesem Zwecke, wie bekannt genug, sehr häufig nicht entsprochen hat, so liegen die Gründe hierfür erstens in der Natur der Musik überhaupt und zweitens in den musikalischen Verhältnissen, die zu der Zeit herrschten, als die Oper entstand.
Was die Natur der Musik überhaupt betrifft, so haben von den Philosophen des Alterthums und den Leitern der mittelalterlichen Kirche ab bis auf unsere Tage sich von Zeit zu Zeit denkende Männer die Frage vorgelegt, ob die Musik mehr schade oder nütze? Ueberall, wo sie zugelassen war: in der Kirche, auf der Bühne, beim Marsche der Krieger, auf dem Tanzboden und im Concertsaale, hat sie immer wieder die Neigung gezeigt in’s sinnlos Sinnliche zu verfallen, und sich als ein zwiefältiges Instrument erwiesen, mit dem ebenso viel Unheil angerichtet, wie Segen gestiftet werden kann. Nirgends aber kommt soviel darauf an, in welchem Sinne ihre Macht gebraucht wird, wie in der Oper. Der Meister erschließt hier mit seiner
[749]Musik wundervolle Tiefen der Empfindungswelt, erfüllt die Herzen mit Schauern der Freude und des Grauens und weckt die verborgensten und feinsten Fasern der Seele zum Fühlen und Ahnen durch seine Töne; vom Meister geführt, ist die Musik der himmlische Genius, welcher dem übervollen Gemüthe zu Hülfe kommt in den Momenten, wo die Sprache nicht mehr ausreicht und das Wort versagt. In den Händen untergeordneter Geister aber macht die Musik die Oper zu einem Sammelsurium von Effectstückchen und Aeußerlichkeiten, die nur den platten Musikvergnügling angehen. Auf diese Art von Opern paßt das Wort [750] Voltaire’s: „Was so dumm ist, daß man es nicht sagen kann – das singt man.“
Der zweite Grund, weshalb die Oper so oft die dramatische Darstellung einer Geschichte mehr verdunkelt und zerreißt als hebt und verdeutlicht, läßt sich, wie gesagt, auf die zur Zeit der Entstehung dieser musikalischen Kunstgattung herrschenden Verhältnisse zurückführen. Hier ist zunächst vom Uebel, daß für die Oper mit und neben einander zwei Sorten von Musik verwendet wurden, die sich in ihrer Qualität unterscheiden wie Meer und Ententeich, nämlich: die (einfache oder erweiterte) Arie und das Recitativ.
Als jene italienischen Schöngeister, welche um das Jahr 1600 mit der Zuziehung der Musik das griechische Drama restauriren wollten, aus der an und für sich spärlichen Zahl der damaligen Musikformen ausschließlich die Arie für ihre Zwecke verwandten, thaten sie es, weil diese Arie – der einstimmige Gesang mit Begleitung – gerade das Allerneueste war. Die Arie machte es außerdem dem Dilettanten viel bequemer als die mehrstimmigen Sätze und konnte im Drama recht gut überall da am Platze sein, wo die Handlung ein Ausruhen oder eine sammelnde Vorbereitung gestattete und forderte. Für den ganzen übrigen Theil der Handlung – sagen wir den erzählenden – boten die vorhandenen Mittel nichts Besseres als das Recitativ, eine Art Musik zweiter Classe, die in dem Kirchendienste in Brauch war und nichts weiter wollte, als daß die Worte in den großen Räumen besser verständlich wären, als wenn sie nur gesprochen würden. So wurden Arie und Recitativ zum Schema der Oper. Beide erfuhren im Laufe der Zeit mannigfache Modificationen: aus den einfachen Ariengesängen bildeten sich jene imposanten und verschlungenen Ensembles, die wir in der „Stummen“, dem „Tell“ und den „Hugenotten“ bewundern, und wer nur an die große Erzählung der Donna Anna denkt und an den Eingang der großen Arie von Beethoven’s Leonore, weiß, daß auch das Recitativ von den Segnungen der vorgeschrittenen Tonkunst profitirt hat. In diesem Schema schuf Beethoven seinen „Fidelio“ und Mozart den „Don Juan“. Gewiß: die dramatische Kunst wird nie lebendiger und packender gestalten, nie zu höheren und vollendeteren Leistungen gelangen können, als sie uns Mozart – beispielsweise – in dem ersten Finale dieser Oper vermacht hat. Aber ist es nicht niederschlagend, daß trotz dieser Meisterwerke, kaum nachdem ihre Schöpfer die Augen geschlossen, das allerdings unwiderstehliche Ohrengekitzel Rossini’s und das Raffinement Meyerbeer’s die Bühne beherrschen konnten? Ist es in der Ordnung, wenn der Genius und die aufgeputzte Niedrigkeit sich auf denselben Stuhl setzen dürfen?
An diesem Fehler war das Schema selbst schuld: in seiner Zwiespaltigkeit von Arie und Recitativ gab es die Veranlassung, daß ein Theil, nämlich die Arie, auf Kosten des Ganzen bevorzugt wurde. Die Oper konnte nicht gut viel mehr sein, als ein Arienspiel; das Drama dabei war meist Nebensache – in italienischen Theatern ganz eingestandenermaßen; da conversirte und promenirte man von Loge zu Loge, und nur bei besonderen Nummern schenkte man der Scene einige Aufmerksamkeit. Eine solche Oper war das reine Gartenconcert in geschlossenem Raume. In Deutschland ist der Anstand jederzeit mehr gewahrt geblieben, aber wer den Unterschied in der Wirkung von Recitativ und Arie anschaulich vor sich sehen will, der braucht nur die Gesichter der Zuhörer und das Aufathmen und Zurechtsetzen zu beobachten, wenn endlich das Orchester in einen regelrechten Tact einlenkt und der Sänger die Positur zu der längst erwarteten „Nummer“ einnimmt. Componisten, welche es mit dem Drama wirklich ernst meinten, scheinen nicht selten Noth gehabt zu haben, die Verfasser ihrer Libretti von diesem Ernste zu überzeugen. Das geht aus den Verhandlungen hervor, welche ein Mozart mit Da Ponte, Paisiello mit Dalasti und Andere mit Anderen geführt haben. Ja bis in die jüngste Zeit haben etliche Dichter einen besonderen Ruf für Operntexte deshalb genossen, weil sie es so virtuos verstanden, an einem dramatischen Skelet zahllose „musikalische Situationen“, wie eine Reihe von Mönchsgebeten, Krönungsmärschen, Mädchenreigen und andere Utensilien der Opernfabrikation anzubringen.
So war es trotz der Thaten der Meister das Schicksal der Oper, mit den bedeutendsten Kunstmitteln zu einem gewöhnlichen Amüsement zu dienen und das Publicum zu demoralisiren – darum hauptsächlich, weil ihr Schema ein fehlerhaftes war.
Es ist nun Wagner's erstes und größtes Verdienst, daß er diesem Uebel Abhülfe geschaffen und eine Methode gezeigt hat, in der die Operncomponisten den Zweck ihrer Aufgabe nicht so leicht vergessen können. Jederzeit wird es noch darauf ankommen, ob der, welcher die Oper schreibt, ein wahrer Künstler ist oder blos ein Routinier, aber soweit das Uebel seine Wurzel in dem alten Schema der Oper, in ihrem schroffen Unterschiede zwischen Recitativ und Arie – wir begreifen hierunter alle geschlossenen Musikformen, Ensembles, Finale etc. – hatte, ist es durch Wagner beseitigt worden. Wagner veranlaßte die Musik zum ersten Male ihre Gaben gleichmäßig über das Ganze zu vertheilen: dem Recitativ, der alten Quelle der Langweile, führte er einen neuen Strom von Musik zu, und der Arie entzog er unter Umständen von ihrem Ueberfluß; immer mit zwiefacher Berücksichtigung dessen, was dem Drama frommte, und dessen, was die Musik leisten konnte; denn von jener Zeit, wo die Oper erfunden wurde, bis auf die Jugendjahre Wagner’s war die Musik eine andere geworden. Innerhalb dieser Endpunkte lag die Entwickelung der Instrumentalmusik, welche inzwischen der Tonkunst ungeahnte Gebiete erschlossen. Wohl war sie für die Oper und auch für das Recitativ schon benutzt worden, aber Wagner war der Erste, welcher in ihren unerschöpflichen Schatz hineingriff mit dem bestimmten und festen Willen, sie zur Ausfüllung der alten gefährlichen Lücke der Opernform zu benutzen.
Bei Wagner begegnen wir zum ersten Male der angewendeten Symphonie und damit einer Eigenthümlichkeit, die seine Werke als eminent deutsche bezeichnet. Ihm, dem tiefen Kenner unserer Wiener Classiker, dem von Jugend an begeisterten Verehrer Beethoven’s, war der Glaube an die Macht und Verständlichkeit des Orchesters so natürlich und außerhalb jeden Zweifels, wie sein eigenes Leben, und nicht eine Secunde lang konnte es gerade ihm zweifelhaft erscheinen, daß in der Oper das, was die Menschenkehle nicht wiederzugeben vermag, die Instrumente zum Ausdruck bringen müßten. Und diesen Grundsatz führte Wagner in seiner Oper durch, erst unbewußt, dann immer sicherer und energischer, am gewaltigsten in seinem „Tristan“, der erhabensten und schwierigsten seiner Opern. Nach Beethoven’s Tode giebt es in der Musik nichts, was so neu, so hinreißend, so durch und durch lebendig, geistvoll und interessant ist, wie das Orchester der „Meistersinger“, des „Tristan“ und der „Nibelungen“.
Wie diese Instrumente jauchzen und jammern, lachen und klagen, scherzen und weinen, toben und träumen, andeuten und erzählen, beschwichtigen und antreiben können – das ist ein unbeschreiblicher Genuß, ein Genuß, von dem der Musiker nur bedauert, daß er nicht allen Menschen zugänglich ist. Unsere Zeit musicirt viel, aber man kann manchem dieser freiwilligen und berufsmäßigen Musiker zurufen: „Verstehst du auch, was du liesest?“ Und Wagner’s Instrumentalmusik verursacht in mancher Beziehung größere Schwierigkeiten, als die anderer Componisten. Man ist in der Oper nicht gewohnt, das Orchester überhaupt für so wichtig zu nehmen und die Aufmerksamkeit für dasselbe mit der für die Sänger zu theilen. Auch geübte Musiker unterliegen deshalb, neuen Werken Wagner's gegenüber, mitunter dieser Anstrengung mitten im Zuhören – wie viel mehr andere Opernfreunde, die noch durch den Dissonanzenreichthum seiner Ausdrucksweise genirt werden! Es ist ganz gewiß, daß der leidenschaftliche und extravagante Charakter, den Wagner’s Musik in vielen Partien trägt, sehr befremden und ermüden, und daß man dadurch behindert sein kann, zu der Poesie seiner Werke durchzudringen. Wo ein Kenner den Meister bewundert und von der Tragik seiner Situation sich in tiefster Seele gerührt und getroffen fühlt, wo er über den Humor und die Treuherzigkeit seiner Scenen lacht, kann ein Anderer unter dem Eindruck der bloßen Häßlichkeit stehen. Es kommt weiter in Betracht, daß wir nicht viele Wagner-Sänger wie Karl Hill und Albert Niemann, Heinrich Vogl und Therese Vogl haben und daß für eine große Anzahl von Sängern und Dirigenten der Stil der Wagner’schen Werke noch fremd und unüberwindlich ist. Es kommt ferner noch hinzu, daß auch der sagenhafte Stoff seiner Werke, über den sich viele Deutsche so freuen, anderen ein Verhältniß zu denselben erschwert, und es lassen sich der begründeten Bedenken noch mehrere erheben. Aber daß man angesichts der Partituren Wagner's und des unendlich gesteigerten Antheils, welchen er die Musik am Drama nehmen läßt, angesichts der Fülle neuer Aufgaben, durch die er ihr Ausdrucksvermögen bereichert hat, daß man angesichts dessen hat meinen können: [751] Wagner habe die Musik degradirt, von einer Herrin zur Dienerin gemacht: das ist ein complicirter Irrthum.
Die Mangel der alten Opernform sind von den früheren Componisten ebenfalls empfunden worden. Man suchte sie zu beseitigen, indem man die Musik in ihrer Selbstherrlichkeit beschränkte und ihr Schweigen gebot, wo sie das Drama stören wollte. In diesem Sinne reformirte Gluck. Einen Schritt näher an Wagner heran tritt Spontini, welcher die dramatische Kraft der Musik selbst zu benutzen suchte, allerdings nur innerhalb ihrer beiden hergebrachten Grundformen. Es ist Einer vorzüglich, der an dem Schema selbst ernstlich zu rütteln begann, nämlich Karl Maria von Weber im ersten Auftritte der „Euryanthe“, welcher uns Recitativ und Arie in einer Mischung von bisher unbekannter Freiheit zeigt. Auch in der Wiederholung dramatisch bedeutungsvoller Musikmotive zeigt diese Oper Verwandtschaft mit der Weise Wagner’s. Wenn aber dieser glücklicher war, als seine Vorgänger, so liegt dies daran, daß er in seiner Person die Thätigkeit des Musikers mit der des Dichters vereinigte.
Für alle dramatischen Trivialitäten der alten Oper muß den Männern, welche die Libretti verfaßten, ein Theil der Verantwortung zugeschoben werden. Voll des besten Willens, dem Componisten gefällig zu sein, waren sie zugleich meistens ohne die volle Einsicht in die Fähigkeiten der Musik und dienten zweien Herren, von denen sie den einen so gut wie gar nicht kannten.
Mit jenen Librettisten hat nun Wagner allerdings nichts gemein. Geben wir herzhaft zu, daß er ein wirklicher Dichter ist! Wer sich bei Stabreimen und bei Wortbildungen aufhalten will, kann freilich finden, daß z. B. Wilhelm Jordan jene eleganter handhabt und daß diese bei Wagner oft abstoßen. Man kann dagegen aber auch anführen, daß Wagner’s Stäbe für den Gesang sehr bequem und daß seine neuen Wörter in der Mehrzahl von großer Anschaulichkeit sind. Mag man ferner auch die Aehnlichkeit seiner Figuren; das Gewagte in manchen seiner Situationen beanstanden. Wichtiger ist jedenfalls, daß Wagner nur darstellen will, was der Darstellung werth ist, und daß er darzustellen weiß, was er will. Im Gegensatze zu dem aufdringlichen Wirrwarr vieler Opern fällt gerade an Wagner’s Dramen die Knappheit der Handlung, die Einfachheit des Aufbaues, ihre scenische Sparsamkeit und Genialität auf. Oft ist ein ganzer Act nur ein einziges Bild. Kein Knäuel von Intriguen; ein Conflict, klar und deutlich zum Herzen sprechend, und die Lösung zuweilen von jener Tragik, welche Aristoteles im Auge hatte, als er „Furcht und Mitleid“ vom Drama verlangte. Dem „Ring des Nibelung“ ist von jener dramatischen Meisterschaft das geringste Theil geworden – das größte wiederum jenem „Tristan“, dem wir schon in anderer Beziehung die erste Stelle unter Wagner’s Werken anweisen mußten.
Mit Ausnahme der „Meistersinger“ zieht durch alle Dramen Wagner’s ein leiser Ton; in allen klingt das hohe Lied der Liebe durch, jener geheimnißvollen Macht, welche Menschen beglückt und verdirbt. Indem er ihrer weltbewegenden Kraft nachspürte, fand Wagner das moderne Publicum willig, ihm auch auf den sagenhaften Boden entlegener Zeiten zu folgen, und vermochte es, in dem heutigen Geschlechte für eine vergessene Cultur dasjenige allgemeine und starke Interesse zu wecken, welches die begeisterten Kenner und Erforscher dieser Vorwelt vergeblich ersehnten. Mit einem solchen Dichter ergänzte sich aber in Wagner ein Componist von ungewöhnlicher Kühnheit und glühendem Feuer; Beide halfen sich auf Schritt und Tritt und zwar schon beim Entwurfe des Dramas.
So kam Wagner, indem er von zwei ihm gleichzeitig verliehenen Fähigkeiten einen natürlichen Gebrauch machte, ganz von selbst auf sein System. Es kam vorzugsweise dem Recitativ zu Gute und bot das Mittel, diesen bisher geringschätzig behandelten Theil der Oper mit dem anderen gleichwürdig zu machen und damit der Oper die ihr fehlende Einheit des Materials, des Ausdruckes und des Interesses zu gewinnen. Unter denen, die diesem Wagner’schen Recitativsystem auf dem Gebiete der Oper bereits gefolgt sind, seien Hermann Götz mit „Der Widerspänstigen Zähmung“ und August Klughardt (im „Iwein“), im Auslande Verdi mit der „Aida“ genannt. Im Liede durch Schubert („Winterreise“) und Schumann („Dichterliebe“) bereits vorbereitet, hat die Wagner'sche Methode neben Liszt namentlich durch Cornelius Anwendung gefunden, welcher auch, gleich Wagner, seine Gedichte zum größten Theile selbst verfaßte.
Bei der Art, in welcher in den Werken Wagner’s Dichter und Componist sich in die Erfindung und Durchführung des Planes theilten, durfte allerdings der Musiker eine größere Freiheit in Anspruch nehmen und darauf rechnen, daß manche seiner Exclamationen und kurzen Bemerkungen, manche Subtilität und mancher Ausbruch der Ekstase, der in einem absolut musikalischen Kunstsatze unerklärlich sein würde, aus der Dichtung als naturgemäß und nothwendig begriffen und verstanden werden könne. Aber auch der Dichter des Worttextes einer Wagner’schen Oper prätendirt nicht einen vollständigen Bericht der Handlung zu geben, da viele ganz wichtige Momente der Erläuterung und Darstellung durch die Instrumente vorbehalten bleiben. Man geht immer wieder in der Irre, wenn man, wie dies wohl eine alte Oper verträgt, sich nach dem Textbuche ein Urtheil über den Sinn oder Unsinn eines Wagner’schen Dramas bilden will.
Auf derselben engen Verbindung von Dichter und Musiker, welche die neue Form seiner Opern veranlaßte, beruhen auch die großen Wirkungen der Wagner’schen Werke. Auf ein besonders angestrengtes Aufgebot äußerer Klangmittel lassen sich dieselben nicht zurückführen; denn englisches Horn und Baßclarinette haben auch andere Componisten angewendet; auch andere haben Melodien für die Posaunen geschrieben, haben die Streichinstrumente in ein mächtiges Unisono geballt und mit Bläsern und Geigern die höchsten Klangregionen aufgesucht. Was wirkt denn – um ein Beispiel zu bringen – in jener bekannten Scene des „Lohengrin“, wo Elsa die verbotene Frage thut, erschütternd? Einzig dies: daß in dem Momente, wo das arme Weib Alles verloren, das Orchester an die Stunden ihres höchsten Glücks erinnert.
In seinen ersten Opern macht Wagner von jenen Neuerungen nur einen sparsamen Gebrauch. Da giebt es noch Arien, Duette, Terzette, Ensembles und alle die selbstständigen Musikformen, welche das Wesen der Oper nicht bilden. Am Dialoge betheiligt sich das Orchester noch ziemlich leicht faßlich, fast wie nur gelegentlich, einsetzend, andeutend und in kurzen Brocken. Erst in seinen späteren Werken beschränkt er die Arienform auf das dramatisch Nöthige und macht die Instrumente zu mächtigen Mitspielern.
Zeitweise überträgt er ihnen hier auch ganz selbstständig die Erzählung von der inneren Geschichte der dargestellten Handlung. Am deutlichsten ist dies im ersten Acte der Walküre wahrnehmbar. Die Entstehung von Sieglinde’s sträflicher Liebe ist hier allein aus dem Orchester herauszuhören. Die Instrumente entschuldigen sie zugleich, indem sie uns den Uebergang von Mitleid zu Liebe so rührend verdeutlichen.
Nach dem „Lohengrin“ hat Wagner den Weg, welchen er bis dahin dem Anscheine nach unbewußt eingeschlagen, mit großer Entschiedenheit bewußt verfolgt und einer Verwechselung seiner folgenden Werke mit der alten Oper vorzubeugen gesucht, nicht nur als Componist, sondern auch als Schriftsteller und Theoretiker. Er verfaßte eine Reihe von theoretischen Werken, deren wichtigste die beiden Bücher sind, welche den Titel führen „Oper und Drama“ und „Das Kunstwerk der Zukunft“. In dem ersteren erklärt und begründet er seine eigene Methode; das andere beschäftigt sich meist mit der Kunst im Allgemeinen. Hinter diesen Werken steht ein Mann, der die Kunst ernst nimmt, der von der Ueberzeugung beseelt ist, daß sie eine Erzieherin der Menschheit ist und dem Volke zu Gute kommen muß. Von diesem Standpunkte aus hat sich Wagner wiederholt auf das Gebiet der Socialpolitik begeben, nicht als Anhänger einer Partei, sondern im Sinne Plato’s und Schiller’s.
Für das Verständniß seiner Kunstwerke hat Wagner übrigens durch seine Schriften direct leider wenig erreicht. Von dem ganzen großen Werke über „Das Kunstwerk der Zukunft“ zeigt sich in der weiteren Oeffentlichkeit nur eine einzige Spur in dem Spottnamen „Zukunftsmusik“. In der That fehlt es diesen Werken nicht an Paradoxen, und ein frei denkender Musiker kann das Todesurtheil nicht acceptiren, welches dort über die sogenannte absolute Musik ausgesprochen wird, wie auch die Vertreter der anderen Künste ebenfalls die Gründe nicht einsehen können, aus denen die Selbstständigkeit jeder einzelnen Kunst zu Gunsten des einzigen Theaters aufgegeben werden soll. Die Ausschließlichkeit jener Theorien, der Fanatismus, mit welchem Menschen und Thatsachen durch dieselben mitgespielt wird, erbittert und stößt ab. Man versteht und entschuldigt diesen Charakter von Wagner’s Schriften, wenn man bedenkt, daß sie ein feuriger, heißblütiger Künstler verfaßte, theilweise in einer harten Zeit des Verkanntseins und der [752] Erbitterung, zu bedauern ist aber, daß sich allzu eifrige Anhänger des großen Künstlers haben bereit finden lassen, auch aus den Paradoxen des Meisters Dogmen zu machen. An und für sich schließen das Verständniß Wagner’s und die Liebe zu ihm eine gleiche und größere zu andern Meistern der Gegenwart und Vergangenheit nicht aus. Wagner selbst hängt mit der ganzen ihm innewohnenden Gluth an dem Schaffen der alten Meister und findet in ihren Werken die Wahrheit und die Nothwendigkeit, die er der neueren Production im Allgemeinen abspricht. Und wenn er in seinem sehr lesenswerthen Schriftchen „Ueber das Dirigiren“ die Musikpraxis der Gegenwart der Flüchtigkeit beschuldigt und Personen und Zustände hart geißelt, so thut er dies gerade im Hinblicke auf die Meisterwerke der Alten. Von dieser seiner echten Pietät und Begeisterung für die Classiker hat er auch als Dirigent sehr positive Beweise gegeben. Unter seiner Leitung hat es den Musikern oft geschienen, als ginge ihnen jetzt erst der Sinn einer altbekannten Composition auf. Als er vor etlichen Jahren mit dem Wiener Hofopernorchester die Freischütz-Ouverture zu „studiren“ begann, schien das sehr auffallend und unnöthig. Hinterdrein aber wurde beschlossen, das gleichsam neuentdeckte Stück fortan nur „Wagnerisch“ zu geben.
Mit Beethoven’s Sinfonien ging es in etlichen Großstädten ähnlich, und wenn man sich auch gegen Wagner’s Textredactionen aussprechen muß, so sind doch die Gründe seiner Aenderungen hochachtbar und frei von Willkür.
Es stände schlimm, wenn Wagner der einzige Meister wäre von diesem Verständniß für die Alten und der Fähigkeit es Andern mitzutheilen. Aber Männer seiner Art sind dennoch selten, und für einen gereiften Kunstjünger ist es ein Glück, an der Hand Wagner’s das Museum der musikalischen Meisterwerke zu durchschreiten; hundert Dirigenten aus der unmittelbaren Schule des Meisters – und der Musik im deutschen Vaterlande wäre wesentlich geholfen. Dies war der Gedanke, der die Freunde Wagner’s bewog, die Gründung einer Baireuther Stilbildungsschule in Aussicht zu nehmen. Wünschen wir diesem Projecte das beste Gedeihen!
Eine Versammlung von mehreren Hundert Personen, mit der Erledigung der wichtigsten und schwierigsten Geschäfte beauftragt, bildet einen Mechanismus, der bis in’s Kleinste geordnet sein muß, wenn die Lösung der gestellten Aufgaben nicht aussichtslos erscheinen soll. Die Nothwendigkeit einer solchen Ordnung ist in noch höherem Grade vorhanden bei einer parlamentarischen Körperschaft, deren Mitglieder nicht nach ihrem Werthe gewogen, sondern nur gezählt werden. Innerhalb der vier Mauern des Parlamentes giebt es keinen anderen Rang, als den eines Abgeordneten, und neben dem zu gänzlicher Bedeutungslosigkeit herabgesunken Doctortitel hat der Parlamentarier als solcher keinen Anspruch auf irgend ein im bürgerlichen Leben ihm zustehendes Prädicat. Der Minister und der Amtsrichter, der fürstliche und der bäuerliche Grundbesitzer, der Commerzienrath und der Cigarrenarbeiter, sie Alle sind in ihrem volksvertreterischen Berufe nichts als „Abgeordnete“. Auf diese Weise bildet die gesetzgebende „Elite der Nation“, unbeschadet der Berechtigung zur Führung dieses Ehrentitels, eine Gesellschaft, wie sie gleich „gemischt“ in keiner anderen öffentlichen Versammlung zu finden ist.
Und doch könnte diese gemischte Gesellschaft als eine Verwirklichung des socialistischen Gleichmacherei-Ideals gelten; denn so bereitwillig auch das bessere Wissen, das größere Geschick und das höhere Verdienst einzelner Koryphäen anerkannt wird, würde es doch nie und nimmermehr Jemandem einfallen, irgend einem Abgeordneten auf Grund der eben genannten Vorzüge mehr einräumen zu wollen, als eine einzige Stimme. Bei den Abstimmungen wird eben nur gezählt, und wer in der Minderheit geblieben ist, schätzt darum das Gewicht seiner Stimme um nichts geringer, als eine Stimme aus dem obsiegenden Theile. Der Stahl’sche Ausspruch „Autorität, nicht Majorität“ ist aus dem bewußten Gegensatz zum Parlamentarismus hervorgegangen und kann keinen schärferen Gegensatz als den Parlamentarismus jemals finden. Gleichwohl sind gesetzgebende Körperschaften nicht in der Lage, der Autorität im Stahl’schen Sinne gänzlich entbehren zu können; denn die Majoritäten schwanken, und wer heute in der Mehrheit ist, muß doch darauf bedacht sein, auch der Minderheit Rechte einzuräumen, schon weil er selbst sehr bald die bittere Frucht der Rechtlosigkeit zu kosten bekommen könnte.
Es liegt im Wesen des Parlamentarismus, daß die Mehrheit immer Recht haben muß und daß sie bestimmen darf, was Rechtens sein soll. Hier ist ein gewisses Gegengewicht einzuschalten, wenn man nicht haben will, daß von heute zu morgen mit den Majoritäten auch das Recht wechsele. Dieses Gegengewicht bietet die Geschäftsordnung, welche zu einem Theile dazu dienen soll, die äußeren Formen des Berathungsverfahrens festzustellen, zum anderen, wesentlicheren Theile aber den Zweck hat, die Minoritäten zu schützen. Dem Schutze der Minoritäten dient auch eine gewisse Tradition, welche ungeschrieben die Geschäftsordnung ergänzt. Allerdings giebt es auch eine Tradition, welche ungeschrieben die Geschäftsordnung durchbricht, und hierin ebenso wie in dem leidigen, unvermeidlichen Umstande, daß es doch immer die Mehrheit ist, welche die Geschäftsordnung handhabt, liegt die gar nicht abzuweisende Gefahr, es möchte in erregten Zeiten der Schutz der Minorität sich als wirkungslos erweisen.
Im Großen und Ganzen aber hat in den Parlamenten Deutschlands und Preußens noch immer ein guter Sinn für Gerechtigkeit geherrscht, und hier wäre die Klage nicht berechtigt, welche einmal in trüber Zeit im österreichischen Abgeordnetenhause laut wurde: daß Billigkeit nur noch vom Zufall des Looses erwartet werden dürfe.
Dieser trübe Gedanke schwebte wohl den ersten Schöpfern der modernen parlamentarischen Ordnung vor; denn das ganze System der vorberathenden Commissionen baut sich auf den sieben Abtheilungen auf, deren Zusammensetzung einzig das Loos bestimmt. Am ersten Tage einer Session würfelt die unbestechliche Urne die Namen sämmtlicher als anwesend gemeldeten Abgeordneten durch einander und theilt sie möglichst gleichmäßig den sieben Abtheilungen zu, welche nach dem Buchstaben der Geschäftsordnung die engeren Wahlkörperschaften des Parlamentes bilden. Schon bei der Constituirung der Abtheilungen selbst zeigt sich jedoch, daß über der scheinbaren Souveränetät der letzteren eine geheimnißvoll dirigirende Macht steht; denn seltsamer Weise trifft es sich stets, daß die vierzehn Männer, welche als Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende an der Spitze der sieben Abtheilungen stehen, in reducirtem Maßstabe genau das Stärkeverhältniß der parlamentarischen Parteien ebensowohl im Reichstage wie auch im preußischen Abgeordnetenhause wiedergeben, und daß die schwächsten parlamentarischen Gruppen bei den vierzehn Schriftführerposten der Abtheilungen einen Ersatz finden für ihre Ausschließung von den bevorzugteren Ehrenstellen. Wie viele Abtheilungsschriftführer dazu gehören, um einen Abtheilungsvorsitzenden aufzuwiegen, und in welchem Werthverhältnisse die Vorsitzenden und ihre Stellvertreter zu einander stehen – das ist ein Capitel aus der Lehre von den Imponderabilien, zu dessen Ergründung Niemand berufen ist, der nicht den culturhistorischen Arbeiten des Senioren-Convents einmal beigewohnt und daran Theil genommen hat.
Der Senioren-Convent ist nämlich jene geheimnißvoll dirigirende Macht, die sich in unverbrüchlicher Tradition das Amt angemaßt hat, über die parlamentarischen Ehrenstellen zu verfügen. Kein Paragraph der Geschäftsordnung kennt den Namen des Senioren-Convents; es fehlt ihm jeder officielle Charakter, und doch entscheidet er inappellabel über alle Einrichtungen, welche der tägliche Bedarf der gesetzgebenden Körperschaften erfordert. Er besteht aus je zwei bis drei Vertretern jeder Fraction, und zwar nicht, wie der Name vermuthen lassen könnte, aus den ältesten, sondern vielmehr aus den erfahrensten und schneidigsten Mitgliedern der Fractionen. [753] Ihre Vollmacht ist eine unbegrenzte, Bündnisse und Cartellverträge abzuschließen; ihre Instruction beschränkt sich einzig auf die Weisung, der eigenen Fraction möglichst große Vortheile zuzuwenden. Der Senioren-Convent faßt keine Mehrheitsbeschlüsse, sondern ist bestrebt, Einhelligkeit zu erzielen. Das gelingt freilich nicht immer, und nach Erschöpfung der freien Ueberredungskünste kommt es dann zum Stimmkampfe im Plenum, bei welchem allein die brutale Zahl entscheidet.
Die calculatorische Arbeit des Senioren-Convents bezüglich der Vertheilung der Commissionsmitgliedschaft an die einzelnen Fraktionen und Gruppen ist namentlich deshalb eine schwierige, weil Rücksichten der Billigkeit nicht ganz außer Acht gelassen werden dürfen. Es giebt „Wilde“, das heißt außer jedem Fractionsverbande stehende Abgeordnete, welche sich für bestimmte Specialitäten ausgebildet haben und daraus den Anspruch auf einen Sitz in der betreffenden Commission herleiten. Es giebt ferner Gruppen von politisch nicht genau zu rubricirender Farbe, welche der Zahl nach zu schwach sind, um für sich allein in Action treten zu können, und welche deshalb Anschluß an eine befreundete Gruppe nehmen.
Die Mitgliederzahl der beiden Gruppen wird alsdann summirt, und ein besonderes Abkommen zwischen ihnen regelt den Antheil, welcher auf die schutzsuchende Gruppe entfallen soll. Es ist schon vorgekommen, daß solche Schutzgruppen, wie wir sie nennen möchten, zwei Patrone zugleich suchten und fanden, und daß im Senioren-Convent demzufolge zwei Parteien mit dem Anspruche auftraten, im Namen und Interesse derselben dritten zu agitiren. Die reichsländischen Autonomisten beispielsweise wurden seiner Zeit vom Fortschritt ebenso wie von den Nationalliberalen mit Beschlag belegt.
Bei der Fülle der Partei-Unterschiede, deren wir uns erfreuen, ist es natürlich, daß das Divisionsexempel nur in den seltensten Fällen „rein aufgeht“. Hier wird der Ausweg beliebt, einen Turnus eintreten zu lassen, so zwar, daß in vorher bestimmter Reihenfolge eine Commissionsstelle erst einer, dann einer zweiten, einer dritten Fraction und so weiter zur Verfügung gehalten wird. Dabei tritt die Laune des Zufalls wieder in ihr volles Recht; denn der Zufall fügt es, ob das Mehrgewicht einer einzelnen Commissionsstimme in bedeutungsvoller oder in gleichgültiger Angelegenheit in die Wagschale fällt; denn wenn auch zuletzt das Plenum an die Vorschläge der Commissionen nicht gebunden ist, so ist doch das Plenum oft ebenso bequem wie souverain, und die Vorentscheidung der Commissionen bleibt meistens maßgebend. Sind es doch gerade die wichtigsten Details, die eingehendsten Aufschlüsse seitens der Regierungsvertreter, die einzig in den Commissionen zur Sprache kommen können.
Hat nun der Senioren-Convent seines schwierigen Amtes gewaltet, so ist für die ganze Dauer der Session der Antheil stimmlichen Einflusses geregelt, welchen die einzelnen Fractionen bei den Vorberathungen zu üben haben. Die Abtheilungen, welche dem Namen nach die Wahlkörperschaften für die Commissionen bilden, handeln nun nach dem Geheiß der Fractionen; sie „wählen“ diejenigen Mitglieder, welche von diesen bezeichnet worden sind. Die eigentliche Wahl geht in den Fractionen vor sich, die von Fall zu Fall ihre Special-Autoritäten delegiren. Handelt es sich um provinzielle Angelegenheiten, so darf man sicher sein, daß jede Fraction diejenigen Mitglieder entsendet, welche in der betreffenden Provinz ihren Wahlkreis haben, und oft genug kommt es dann vor, daß eine solche Commission ein förmliches Provinzial-Parlament bildet, in welchem die Partei-Unterschiede vor der Rücksichtnahme auf locale Interessen verschwinden. So präsentirte sich in der letzten Session des preußischen Abgeordnetenhauses die Commission, welche über einen Gesetzentwurf wegen der vormals kurhessischen Waldnutzungen die Vorentscheidung hatte, dem Plenum als ein einig Volk von Brüdern, deren sonst so getheiltes politisches Glaubensbekenntniß sich hier zu einem rein hessischen verschmolzen hatte.
Es liegt auf der Hand, daß ein derartiges Verhältniß arge Schattenseiten hat, und es mag als ein Zeichen für den gesunden Sinn und für die Gewissenhaftigkeit unserer Parlamente aufgefaßt werden, daß das Plenum meist Correctur zu üben wußte. Immerhin kann es unter Umständen bedenklich werden, wenn die Vorprüfung wichtiger Fragen stets den Männern überlassen wird, welche, zuweilen auf ziemlich uncontrollirbare Weise, bei ihren näheren politischen Freunden in den Ruf eines Fachverständnisses gekommen sind und diesen Ruf manchmal nur durch ihren eigenen treuherzigen Glauben an dessen innere Begründung aufrecht erhalten. Das muß aber mit in den Kauf genommen werden, da unsere Abgeordneten nicht alle universelle Köpfe sein können, und die meisten von ihnen, nach einem Bismarck’schen Aussprache, gezwungen sind, in Fachfragen sich nach der Autorität eines politisch gesinnungsverwandten Fachmannes zu richten.
Einmal ist es vorgekommen, daß eine Abtheilung dem Senioren-Convent Trotz bot, vor zwei Jahren, bei der Wahl der Commission zur Vorberathung des Socialistengesetzentwurfes. Eine von den einundzwanzig Mitgliedstellen war vom Senioren-Convent Herrn Bebel zugedacht worden, damit ein Vertreter der socialdemokratischen Abgeordneten in der Commission Sitz und Stimme habe. Die betreffende Abtheilung aber, überwiegend aus conservativen Herren bestehend, machte von ihrem geschäftsordnungsmäßig ganz unbestreitbaren, einzig durch die Tradition außer Uebung gekommenen Wahlrecht Gebrauch und schickte an Stelle des Herrn Bebel Einen der Ihren. Dieser Vorfall machte in parlamentarischen Kreisen um so peinlicheres Aufsehen, als die eine Stimme wohl hätte entscheidend sein können, und als man sich sagen mußte, daß die Correctur des Zufalls, an dessen Stelle die Verabredungen des Senioren-Convents die Regeln der Gerechtigkeit und Billigkeit setzten, nur dann sich rechtfertigen lasse, wenn diese Verabredungen unbedingt respectirt würden.
Da, wie bereits erwähnt, die sieben Abtheilungen wenigstens der Form nach die Wählkörperschaften für die Commissionen bilden und selbstredend jede Abtheilung eine gleiche Anzahl Mitglieder zu benennen hat, so ergiebt sich, daß die Commissionen sämmtlich eine durch sieben theilbare Mitgliederzahl haben. Je nach der Schwierigkeit und der Menge der Arbeit, welche einer Commission zugetheilt wird, steigt ihre Zahl von sieben auf vierzehn, einundzwanzig und – für die complicirtesten Arbeiten – auf achtundzwanzig. Darüber hinaus geht man nicht, weil sonst die Commission selbst wieder ein Parlament und schwerfällig wie ein solches werden würde. Schon bei achtundzwanzig Mitgliedern stellt sich oft die Nothwendigkeit heraus, Subcommissionen – beispielsweise zur Redaction der Beschlüsse– zu ernennen.
Man unterscheidet Fach- und Specialcommissionen, von denen erstere, auch ständige Commissionen genannt, bei Beginn jeder Session zur Vorberathung der regelmäßig wiederkehrenden Aufgaben, letztere von Fall zu Fall aus besonderen Anlässen, für bestimmte Gesetzesvorlagen gewählt werden. Zu ersterer Kategorie gehören die Commissionen für Petitionen, Unterrichtswesen, communale Angelegenheiten, landwirthschaftliche Dinge, Budget, Rechnungslegung, Justizwesen, Wahlprüfungen und Geschäftsordnung.
Die Wahlprüfungscommission hat die Gültigkeit derjenigen Abgeordnetenmandate zu untersuchen, gegen deren Wahlen Proteste eingelaufen sind. Ob solche Proteste vorliegen und wenigstens formal begründet sind, darüber befinden in erster Reihe die Abtheilungen selbst, von denen zu diesem Zweck die erste sich die Wahlacten der zweiten, die zweite diejenigen der dritten vorlegen läßt, und so fort bis zur siebenten Abtheilung, welche die Wahlacten der ersten nachsieht. Ist gegen die Gültigkeit einer Wahl Protest erhoben, so gehen die betreffenden Wahlacten an die Wahlprüfungscommission, welche ihrerseits an das Plenum Bericht erstattet und entweder Gültigkeitserklärung oder Beanstandung oder Ungültigkeitserklärung des Mandats beantragt. Die Beanstandung einer Wahl läßt dem betreffenden Abgeordneten Sitz und Stimme im Parlamente, bis weitere amtliche Erhebungen eine definitive Entscheidung nach der einen oder anderen Richtung hin ermöglichen. Selten nur wartet ein Abgeordneter, dessen Mandat die Wahlprüfungscommission für ungültig zu erklären beantragt hat, den Spruch des Parlaments ab; er kommt gewöhnlich der Ausschließung durch freiwillige Niederlegung des Mandats zuvor. Dagegen geschieht es sehr häufig, daß die Vorschläge der Wahlprüfungscommission erst spät an das Plenum gelangen, und so ist es bereits wiederholt vorgekommen, daß „freiwillige“ Mandatsniederlegungen der erwähnten Art am vorletzten oder gar am letzten Tage einer Session erfolgten, während deren ganzer Dauer der Inhaber des ungültigen Mandats mitberathen und mitgestimmt hatte.
Die Geschäftsordnungs-Commission ist die wenigst beschäftigte unter Allen. Jahre vergehen, ehe sie nöthig hat, eine andere als die constituirende Sitzung zu halten. Ihre Mitglieder sind [754] zumeist sehr würdige Herren, welchen man nur eine sehr leichte Arbeitsbürde zuweisen will, und lustig genug war es, als diese Idylle durch die Vorlage des vielberufenen „Maulkorbgesetzes“ gestört wurde. Die Geschäftsordnungs-Commission war nicht wohl zu umgehen; man mußte ihr den Entwurf zur Prüfung überweisen. Als vorzugsweise sachverständig wurden die drei Reichstagspräsidenten zu außerordentlichen Mitgliedern ad hoc der Geschäftsordnungs-Commission gemacht, den älteren Mitgliedern der letzteren aber wurde es einigermaßen unheimlich in den veränderten Umständen, welche an Stelle des würdevollen far niente eine verantwortungsreiche und schwierige Arbeit gesetzt hatten, und die Mehrheit schied aus, um rüstigeren Parlamentariern Platz zu machen. Das wäre im Grunde nicht einmal nöthig gewesen; denn die „Maulkorbvorlage“ blieb begraben.
Die Thätigkeit der Rechnungs-Commission ist eine unscheinbare, aber ihre Bedeutung ist nicht gering. Auf ihrer Gewissenhaftigkeit beruht die Sicherheit, daß die Finanzverwaltung auch streng budgetmäßig verfährt. Dank der Mustergültigkeit unserer Finanzverwaltung, dank der sprüchwörtlichen Aufmerksamkeit der Oberrechnungs-Commission zu Potsdam, haben die Rechnungs-Commissionen im deutschen Reichstage und im Preußischen Abgeordnetenhause nur selten Monita vorzubringen.
Der mühseligste Theil und das am meisten gehäufte Maß der Arbeiten gehört der Petitions-Commission. Die Tausende alle, welche, mühselig und beladen, an die Volksvertretung als an die vierte Instanz sich wenden, finden hier sorgsame Prüfung ihrer Beschwerden und Wünsche. Wären die Mitglieder der Petitions-Commission weniger sorgsam, als sie es der großen Mehrheit nach sind, das verfassungsmäßige Recht der Petition an die Volksvertretung würde ein todter Buchstabe sein; denn die Petitions-Commission hat der Natur der Sache nach die weitestgehenden discretionären Befugnisse, welche sie übrigens nur dem Herkommen und nicht einer formulirten Vorschrift verdankt. „Nicht geeignet zur Erörterung im Plenum“ – dies ist das häufigste Verdict, und noch nie ist es vorgekommen, daß ein Abgeordneter von dem Rechte Gebrauch gemacht hätte, Widerspruch zu erheben.
Die wichtigste Commission in jedem Parlamente ist die Budget-Commission. Ihr liegt es ob, die für den Laien unübersehbaren Zifferncolonnen des Etats zu sichten und jede einzelne der zehntausend Positionen auf ihre Nothwendigkeit sowie auf ihr billiges Ausmaß zu prüfen. Die Etatsberathung hat Virchow einmal „die Inventur aller starken und schwachen Stellen der Regierung“ genannt, und diese Bezeichnung ist für die Bedeutung der Budget-Commission sehr zutreffend.
Ist die Zahl der ständigen Commissionen umgrenzt, so giebt es für die Special-Commissionen kein anderes Maß als dasjenige, welches jeweilig dem Parlamente beliebt, unter Berücksichtigung natürlich der Fülle von Vorlagen, welche die Regierung der Volksvertretung unterbreitet. Ein Gesetzentwurf muß sehr einfach und klar sein, wenn das Parlament es übernehmen soll, auf seine Vorprüfung zu verzichten. Es geschieht zuweilen, daß das Plenum in der zweiten Lesung solches Unterfangen bereut und eine Vorlage nachträglich in eine Special-Commission verweist.
Die Commissionsverhandlungen finden unter Ausschluß der Oeffentlichkeit statt, das heißt: es dürfen nur Abgeordnete denselben beiwohnen. Doch ist es wohl noch nie vorgekommen, daß es an sachgemäßen Berichten über jeden einzelnen Vorgang innerhalb der Commissionen gefehlt hätte, es sei denn, daß Personalien zur Sprache kamen. Die Abgeordneten selbst arbeiten hier im Dienste der Oeffentlichkeit, indem sie die bezüglichen Mittheilungen in dankenswertster Weise den Vertretern der Presse zustellen.
Die drei Präsidenten, die acht Schriftführer, die beiden Quästoren und die sieben Abtheilungs-Vorsitzenden bilden den Gesammtvorstand des Parlamentes; die Präsidenten mit den Schriftführern werden das Bureau genannt.
Die Wahl der drei Präsidenten erfolgt unter Leitung eines Altersvorsitzenden und einer Anzahl Jugend-Schriftführer in drei gesonderten Wahlgängen. Weniger umständlich ist die Wahl der Schriftführer. Ein einziger Wahlgang bezeichnet die acht Gehülfen des Präsidiums, und zwar gemäß den Verabredungen des Senioren-Convents, dessen Einfluß hier wieder beginnt, und welcher auch dem Präsidenten die Namen derjenigen Abgeordneten suppeditirt, die er zu Quästoren beruft.
Soweit wir bis zu der Präsidentenwahl von den parlamentarischen Einrichtungen gesprochen, soweit existiren bestimmte Vorschriften oder eine feste Tradition. In Bezug auf den ersten und wichtigsten Act parlamentarischer Selbstregierung aber hat sich ein sicheres Herkommen, welches die Kraft der Selbstverständlichkeit besäße, noch nicht gebildet. Von einer Legislaturperiode zur anderen entbrennt der Streit um die höchsten Ehrenstellen auf’s Neue, und immer giebt es Parteien, welche grollend meinen, ihnen sei Unrecht geschehen. In parlamentarisch naiven Zeiten, als die Parteien noch nicht durch persönliche Verbitterungen geschieden waren, hielt man die Stelle des ersten Präsidenten für einen Ehrenposten, der dem Geschicktesten gebührte. Eine conservative Mehrheit gab einem liberalen Manne ihre Stimmen, weil dieser Mann sich in der Leitung der Geschäfte bewährt hatte. Doch diese Naivetät ist längst dahin, und der Präsidenten-Wahlkampf ist die erste Probe, bei der die Parteien sich messen. Es ist thatsächlich ein Kampf; denn man ist noch nicht zu einem leitenden Principe gekommen, so oft man auch versucht hat, ein solches aufzustellen. Viele Anhänger fand die Idee, den Präsidenten der numerisch stärksten Fraction zu entnehmen, die beiden Vicepräsidenten aber von den nächst zahlreichen Fractionen präsentiren zu lassen. Wäre jemals eine Fraction für sich allein im Besitze der Stimmenmehrheit gewesen, so hätte sie ganz selbstverständlich die vornehmsten Ehrenstellen für sich in Anspruch genommen. Noch sind wir aber in Deutschland nie in solcher Lage gewesen; es mußten stets mehrere Parteien sich zu gemeinsamem Vorgehen einigen. Natürlich war eine solche Einigung immer unter denjenigen Parteien am leichtesten zu erzielen, welche auch in politisch-gesetzgeberischer Beziehung einander zur Majorität ergänzten. In der Blüthezeit des Liberalismus besetzten deshalb Nationalliberale und Fortschrittler allein das Präsidium; den Rückgang des Liberalismus bezeichnete die Zulassung der (frei-conservativen) Reichspartei in das Präsidium; dann beherrschte im Reichs- und Landtage die clerical-conservative Vereinigung die Situation, bis das Centrum in der preußischen Abgeordnetenkammer vor Kurzem die Ehrenstelle eines Vicepräsidenten einbüßte, und nunmehr wenigstens in dem Präsidium diese Körperschaft dieselbe „würdige Zurückhaltung“ beobachten kann, welcher sich seine Führer bei den jüngsten nationalen Festtagen befleißigten.
Die Stellung eines Parlamentspräsidenten gehört zu den schwierigsten, weil sie die exponirteste ist. Abgesehen von dem durch Routine erreichbaren Geschick in der äußeren Leitung der Geschäfte, abgesehen von einer unbeirrbaren Unparteilichkeit, welche füglich nicht mehr ist als eine Pflicht, die jeder Richter tagtäglich zu erfüllen hat, liegt dem Präsidenten noch ob, in seiner Person die Würde der Volksvertretung selbst zu jeder Zeit zu wahren, eifersüchtig über die Rechte derselben zu wachen und trotzdem im Verkehr mit den Regierenden ein versöhnliches Wesen zu zeigen. „Bis an die Mauern des Hauses“ unbeschränkter Gebieter – nicht „bis an die Schranken des Ministertisches“, wie Kriegsminister von Roon einmal im preußischen Abgeordnetenhause bemerkte und wodurch er Herrn von Bockum-Dolffs zwang, die Sitzung zu vertagen – hat der Präsident doch genau die nur für scharfe Augen erkennbare Grenzlinie innezuhalten, welche die Befugnisse des höchsten Ehrenbeamten der Volksvertretung von denen des leitenden Staatsmannes innerhalb des Parlamentes trennt. Dem Einen gebührt ganz unbedingt das Recht, die Ordnung des Hauses als vornehmste Instanz zu wahren, von welcher keine Appellation als an die souveraine Versammlung möglich ist; dem Anderen gebührt ebenso unbedingt das Recht, zu jeder Zeit das Wort zu ergreifen. Hier liegt die Möglichkeit vor, daß das Recht zu Unterbrechungen sich mit dem Rechte kreuzt, zu reden, und in erregten Zeiten gehört in gleich hohem Maße Tact und Festigkeit dazu, die Grenzlinie innezuhalten, welche die selbstbewußte Würde von der Rechthaberei scheidet.
Dies ist das Räderwerk des Parlamentarismus. Unentbehrlich haben wir den äußerlichen Mechanismus bereits in den einleitenden Worten genannt; fügen wir zum Schluß hinzu, daß er für sich allein nicht genügt, um ein gedeihliches Wirken zu veranlassen. Hierzu gehört noch der belebende Geist, der begeisterte Wille und die willige Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen des großen Ganzen. Mögen diese Vorzüge dem deutschen Parlamente niemals fehlen!
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Als Deutschland seine reichsunmittetbaren Herrschaften an geistlichen und weltlichen Kurfürsten, Fürsten, Abteien, Grafen, Rittern, Städten und Gemeinden noch nach Hunderten zählte, blühte auch der Bau von Schlössern aller Art und zu dieser Blüthe trugen vor der Einführung des Primogeniturgesetzes namentlich die vielen Erbtheilungen bei; denn zerfiel eine Herrschaft in neue Linien, so mußten, wo nicht alte Schlösser für dieselben vorhanden waren, eben neue gebaut werden, und so finden wir als Erinnerungsmäler aus jenen Tagen noch gegenwärtig in vielen Städten und Städtchen Residenzschlösser von historischem Interesse; zu einem derselben führen wir heute unsere Leser.
Das Schloß Neuenstein war die Residenz einer Linie des Dynastengeschlechts von Hohenlohe, dessen Besitzthum sich besonders über die Thäler der Kocher, Jagst und Tauber ausbreitete und vor der Mediatisirung durch die Rheinbundsacte (1806) auf zweiunddreißig Geviertmeilen über 108,000 Einwohner zählte. Bekanntlich zerfällt jetzt das in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vom Grafen in den Fürstenstand erhobene Geschlecht der Hohenlohe in die protestantische Linie der Neuensteiner und die katholische der Waldenburger.
Das Schloß Neuenstein gehört zu den alten Bauwerken, welche man nicht abseits vom Wege aufzusuchen braucht. Wenn man das nunmehr größerentheils zu Württemberg, kleinerentheils zu Baiern gehörige Gebiet jener Fürstenfamilie auf der von Heilbronn herkommenden Bahnlinie befährt und die Station Oehringen passirt hat, sieht man plötzlich ein überraschendes Bild vor sich, wie es der Maler für seinen Pinsel nur wünschen kann: das imposante Schloß, davor der grünliche Teich, neben dem Schlosse die Kirche, die als eine mit seltener Schönheit abrundende Ergänzung des ersteren erscheint, und endlich im Hintergrunde die grünen Hügel mit ihren sanft geschwungenen Linien – das Alles vereint sich, um einen wirklich zauberhaften Reiz auf Auge und Gemüth auszuüben.
Dem zu Fuße daher Kommenden zeigt sich das Schloß alsbald von der Vorderseite, welche durch die beiden runden Eingangsthürme mit ihren von zierlichen Säulen getragenen gewölbten Dächern schon von weitem ein besonders anmuthiges Bild bietet. Wir schreiten näher und bleiben bewundernd stehen vor dem schönen, eleganten Eingang. Früher bildete augenscheinlich eine Zugbrücke die Verbindung zwischen dem von zwei steinernen Rittern bewachten Thore und der diesseits des Schloßgrabens freistehenden Pforte. Jetzt aber schreiten wir über eine feste, gemauerte Brücke in den Schloßhof. Das Bedeutendste innerhalb desselben ist das in edelster Renaissance ausgeführte Portal, durch welches man zum Hauptaufgang, einer kühnen steinernen Wendeltreppe, gelangt. Auf eine noch frühere Zeit deuten andere Einzelheiten, namentlich an den theilweise aus Buckelsteinen aufgeführten unteren Stockwerken der vorerwähnten Eingangsthürme und lassen uns schließen, daß die Unterbauten des Schlosses und verschiedene Theile des Erdgeschosses wohl dem dreizehnten Jahrhundert entstammen, aus dessen Mitte die älteste uns erhalten gebliebene Erwähnung der Burg „Neuenstein“ datirt; letztere war zu jener Zeit Eigenthum und Wohnsitz eines ritterlichen Geschlechtes gleichen Namens. Als dasselbe im vierzehnten Jahrhundert erlosch, fielen seine Besitzungen dem damals gräflichen Hause Hohenlohe anheim, zu dessen Vasallen die Herren von Neuenstein gehört hatten.
Von Kraft dem Dritten, gestorben 1371, welcher wahrscheinlich der erste Hohenlohe ist, der das Schloß bewohnte, wurde dasselbe mit Mauern und Gräben verwahrt. Im Jahre 1495 vom 28. auf den 29. November beherbergte hier Kraft der Sechste den Kaiser Maximilian den Ersten, der, von Speier nach Augsburg reisend, mit zahlreichem Gefolge in Neuenstein eingetroffen war. Es muß demnach wohl der Bau schon damals einen ansehnlichen Umfang gehabt haben, seine jetzige Gestalt aber erhielt er erst zur Blüthezeit der Renaissance unter dem um die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts regierenden Grafen Ludwig Kasimir, welcher durch die in den Jahren 1553 bis 1555 vollzogene Zweitheilung der Hohenlohischen Lande zum Stifter der Hauptlinie Hohenlohe-Neuenstein wurde.
Vom 6. bis zum 16. Mai 1615 erklangen die Räume des Schlosses von dem Festjubel einer mit großem Prunke gefeierten Doppelhochzeit. Graf Kraft von Hohenlohe-Neuenstein vermählte sich mit Sophie, der Tochter des Pfalzgrafen Karl bei Rhein-Birkenfeld, während seine Schwester Dorothea Walpurgis gleichzeitig dem Grafen Philipp Heinrich von Hohenlohe-Waldenburg ihre Hand reichte. Trommeln und Pfeifen, Trompeten und Pauken, Saiten- und Posaunenmusik erschollen in freudigem Wechselspiel; geschwungen von den Händen ritterlicher Herren schimmerten die röthlich glühenden Fackeln, und ein reicher Flor lieblicher Damen entfaltete seine Reize in der stattlichen Tracht jener glanzliebenden Zeit. Bankete und Tänze, Ritterspiele und Komödien ergötzten die Gäste, und nicht weniger als 1200 Lanzen wurden gebrochen.
Aus der erstgenannten dieser beiden Ehen stammt einer der interessantesten Vertreter des hohenlohischen Hauses, Graf Wolfgang Julius (geboren 3. August 1622), der nach des Vaters Tode Besitzer von Neuenstein wurde. Dieser Graf Wolfgang war ohne Zweifel ein für seine Zeit sehr gebildeter und mit ungewöhnlichem Führertalent ausgerüsteter Mann, der aber nach der durch den dreißigjährigen Krieg allgemein gewordenen Unsitte sein Schwert nicht dem Vaterlande, sondern seinem Ehrgeiz weihte. Anfänglich im französischen Dienste mannigfache Schicksale erleidend, wurde er im Jahre 1658 Generallieutenant über die Truppen der zur Garantirung des westfälischen Friedens geschlossenen oberrheinischen Allianz, aber erst das Jahr 1663 brachte ihm Gelegenheit sein Feldherrntalent mit Glanz zu entfalten. Er erhielt vom Kaiser Leopold das Commando im Krieg gegen die Türken. Wie verlockend es auch ist, dem Helden in diese Kämpfe zu folgen, wir müssen, um den Rahmen unseres Artikels nicht zu durchbrechen, uns hier damit begnügen, auf seinen größten und letzten Sieg hinzuweisen, auf die Schlacht bei der Cisterzienserabtei St. Gotthard an der Raab, am 1. August 1664.
Graf Wolfgang, schon seit längerer Zeit unwohl, fühlte sich an diesem Tage so leidend, daß er zunächst nur vom Quartier aus seine Befehle zu ertheilen vermochte. Als aber das Kampfgewühl immer heftiger wurde, die Türken gegen die neugeworbenen wenig tüchtigen Hülfstruppen des Markgrafen von Baden einen Vortheil um den anderen errangen, da ließ der Graf sich, trotz der von seinen alten Wunden herrührenden heftigen Rückenschmerzen, die ihm nicht einmal erlaubten, den Säbel umzuschnallen, in den Sattel heben und stellte sich an die Spitze seiner kleinen, aber erprobten Schaar, die der Oberbefehlshaber Montecuculi durch drei kaiserliche Regimenter verstärkt hatte. Aus dem von den Janitscharen bereits genommenen Moggersdorf trieb er dieselben wieder zurück, allein dem Stoße starker Reitermassen, die ihnen entgegengesandt wurden, mußten die Christlichen abermals weichen. Schon waren die meisten ihrer Führer entmuthigt und glaubten das Feld räumen zu müssen, aber Hohenlohe drängte zu wiederholtem Angriff, setzte ihn durch – und der Erfolg desselben war einer der glänzendsten Siege, die je über die Türken errungen wurden. Schaaren von ihnen wurden in den Fluß getrieben und fanden in den Wellen ihren Tod, die Uebrigen stoben in wilder Flucht aus einander. Vierzig Fahnen der Türken und vierzehn ihrer Geschütze blieben in den Händen der Sieger, und schon zehn Tage nach dieser Schlacht erfolgte der Friedensschluß, der Ober- und Mittelungarn vollständig vom heidnischen Druck befreite.
Durch die errungenen Erfolge waren Graf Wolfgang’s Dienste im Feld vorerst entbehrlich geworden, und die überstandenen Strapazen hatten seiner Gesundheit so stark zugesetzt, daß er auch späterhin auf weiteren Kriegsruhm verzichten mußte. Er vermählte sich und pflegte auf Schloß Neuenstein die Geschäfte des Friedens, bis er hier am 26. December 1698 starb. Die an die Kirche angebaute Halbrotunde (siehe das Mittelbild) enthält sein in weißem und farbigem Marmor ausgeführtes schönes Grabdenkmal.
Auch die neue und neueste Zeit weist einige bedeutende Männer aus dem Hause Hohenlohe auf, so den Fürsten Friedrich Ludwig (von Hohenlohe-Ingelfingen), welcher, früher bei den Weißenburger Linien und bei Kaiserslautern (1793 und 1794) Sieger, die Schlacht bei Jena verlor und bei Prenzlau mit 17,000 Mann capitulirte. Sein Sohn, Prinz Adolf, war im
[756][757] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [758] Präsidium des preußischen Ministeriums 1862 der Vorgänger Bismarck’s.
Fürst Ludwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, der gegenwärtige Botschafter des deutschen Reichs in Paris, der als baierischer Reichsrath und Minister in den Jahren 1866–1870 den Anschluß Baierns an Preußen anbahnte, entstammt der anderen Hauptlinie Hohenlohe-Waldenburg.
Kehren wir nun zu dem durch die Erinnerung an manche hervorragende geschichtliche Gestalt geweiheten „Schlosse Neuenstein“ zurück, so haben wir schließlich zu berichten, daß die Gemächer desselben längst ihres fürstlichen Schmuckes entkleidet sind und einem Zwecke der Nächstenliebe dienen. Vor mehr als einem Jahrhundert (1777) erhielt nämlich das Schloß von seinen damaligen Besitzern den Namen und Charakter eines „Hospitalinstitutes“, und als solches ist es noch heute ein Asyl für alte, gebrechliche Leute.
So haben wir es der Menschenliebe zu danken, daß das Schloß in seiner äußeren Gestalt seinen alterthümlichen Charakter bewahren durfte. Hätte es fernerhin den Zwecken eines Fürstensitzes zu dienen gehabt, so wäre aller Wahrscheinlichkeit nach Vieles an ihm der Neuerungssucht zum Opfer gefallen.
Johann Kepler, ein Mann der Freiheit und des Lichts.
Die folgenden Zeilen sollen als Todtenopfer am Grabe eines Mannes dargebracht werden, der in seltener Weise den vollen Pulsschlag des deutschen Geistes in sich fühlte und in seinen Werken glänzend ausprägte. Es ist Johann Kepler, der Astronom, der vor nunmehr zweihundertfünfzig Jahren aus diesem Leben schied.
Kepler’s irdische Laufbahn fällt in das Ende des sechszehnten und den Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts, jene wüste, trauervolle Zeit, in der unser Vaterland von religiösen und politischen Wirren, von zahllosen blutigen Dramen erschüttert wurde und endlich in den düsteren Flammen des Dreißigjährigen Krieges seinen Wohlstand in rauchenden Schutt sinken sah. Mitten in den rollenden Wogen dieser weh- und haßerfüllten Zeit trieb das Lebensschiff unseres Geisteshelden, ohne jemals den ersehnten sicheren Hafen finden zu können. Schon die Tage seiner Kindheit waren keine goldene Jugendzeit. Sein Vater war ein unstäter, unbändiger Mann, der bald nach der Geburt des Kindes – sie erfolgte am 27. December 1571 in der württembergischen Stadt Weil – mit dem wilden Heere des Herzogs Alba in die Niederlande ging, nach seiner Rückkehr eine Gastwirthschaft betrieb und schließlich in den Türkenkrieg zog, in welchem er verscholl. Seine Mutter war von rauher, unverträglicher Gemüthsart, er selber, zwei Monde zu früh in die Welt gesandt, von schwächlichem Körperbau und oft von Krankheiten heimgesucht. Da er die schweren häuslichen Arbeiten während der Gastwirthschaft seines Vaters nicht auszuführen vermochte, ließ man ihn die Klosterschulen von Maulbronn und Hirsau besuchen und schließlich zur Universität Tübingen gehen, in deren theologischem Stifte er auf öffentliche Kosten und unter sonst dürftigen Verhältnissen die Gottesgelahrtheit studirte. Doch der Theologe verdarb bald in ihm; sein Gewissen gerieth in Widerspruch mit den lutherischen Heißspornen jener Universität, und als er seine Studien vollendet hatte, erhielt er nur das Zeugniß, daß er sich in der Beredsamkeit ausgezeichnet habe.
So wurde er zum lutherischen Geistlichen für untauglich erklärt, und seine Hoffnungen auf eine Anstellung im engeren Heimathlande gingen nicht in Erfüllung. Da erfolgte 1593 der Ruf an den zweiundzwanzigjährigen jungen Mann, eine Professur für Mathematik und Moral an dem Gymnasium zu Graz in Steiermark zu übernehmen. Er verließ Württemberg mit widerstrebenden Gefühlen und trug während seines ganzen übrigen Lebens die Sehnsucht nach einer gesicherten Existenz im Heimathlande unerfüllt in der Brust. Doch war sein neuer Beruf entscheidend für seine weitere wissenschaftliche Thätigkeit; denn er führte ihn mehr und mehr zur Astronomie hin, welche sich seit fünfzig Jahren in Folge der welterschütternden Arbeit des Copernicus in einem Zustande der Gährung befand.
Jetzt schien sich Kepler’s Lebenshimmel zu klären. Seine erste größere Amtsthätigkeit, die Abfassung eines Kalenders für das Jahr 1594, trug ihm die Popularität ein; auch faßte er Neigung zu einer reichbegüterten Dame und heirathete dieselbe nach Beseitigung hartnäckiger und zahlreicher Hindernisse. Da brach, durch den nachmaligen Kaiser Ferdinand und die Jesuiten veranlaßt, über Steiermark der Sturm der Protestantenverfolgung herein; Kepler’s Glaubensgenossen wurden vertrieben und er selber mußte Graz und seine Güter anfangs für kurze Zeit, dann im Jahre 1600 für immer verlassen. Mit Weib und Kindern zog er aus und hatte nicht, wo er sein Haupt hinlegen konnte. In dieser Noth nahm er das Anerbieten des berühmten Astronomen Tycho de Brahe an, welcher auf Anordnung des Kaisers Rudolph in Prag mit der Ausarbeitung astronomischer Tafeln über Planetenbewegung beschäftigt war und für dieses schwierige Werk die Hülfe Kepler’s wünschte.
Der Aufenthalt unseres jungen, aufstrebenden Astronomen in Prag war kein angenehmer. Tycho und Kepler geriethen bald in Streit. Der Erstere war stolz und hochfahrend, der Letztere feurig und freimüthig, und die astronomischen Ansichten Beider gingen weit auseinander. Dazu kam noch, daß Kepler sein Gehalt nicht ausgezahlt erhielt und er dasselbe in kleinen Raten von Tycho geradezu erbetteln mußte. Nun wurde dieses unleidliche Verhältniß allerdings 1601 durch den Tod Tycho’s gelöst und Kepler erhielt dessen Stelle als kaiserlicher Mathematiker. Doch ward ihm in den folgenden Jahren, die ihm noch außerdem durch Streitigkeiten mit den Erben Tycho’s verbittert wurden, bei der Leere der kaiserlichen Cassen sein Gehalt nur zum geringen Theile ausgezahlt, sodaß er durch Kalenderschreiben dem häuslichen Mangel abhelfen mußte.
Unter dem folgenden Kaiser Matthias, der ihn im Amte bestätigte, harrte er ebenso fruchtlos auf die Auszahlung seines Gehaltes und seiner Gehaltsrückstände, die schließlich auf die Höhe von 12,000 Gulden anwuchsen. Dergestalt hatte er stets seine häuslichen Sorgen, und das Schicksal häufte dieselben immer mehr. Auch über Prag kamen politische und religiöse Wirren und blutige Katastrophen. Bei dem Anblicke der Plünderungsgräuel wurde Kepler’s Gattin wahnsinnig, und der Tod raffte sie sammt dreien seiner Kinder hinweg. Da wurde es Kepler öde in der Stadt, in welcher er des Leides so viel erfahren hatte, und sein Auge suchte nach einem ruhigen Aufenthaltsorte in dem weiten Vaterlande, das mehr und mehr in den furchtbaren Krieg hinein trieb. Er richtete seine Blicke auf Linz, die Hauptstadt von Oberösterreich. Die Stände dieses Landes nahmen auch den berühmten Mann freundlich auf, bewilligten ihm ein Jahrgehalt, auf daß er die astronomischen Tafeln vollende, sowie die Landeskarte zeichne, und so siedelte Kepler 1611 nach Linz über.
In den ersten Jahren seines neuen Aufenthaltes war ihm das Glück hold. Er heirathete zum zweiten Male und konnte, von etlichen Reisen abgesehen, ruhig seiner Wissenschaft leben. Bald aber sollte, um Kepler’s eigene Worte zu gebrauchen, „ein plötzlich ausgebrochenes Gewitter sein Schifflein gegen die gefahrvollsten Klippen treiben“. Seine greise Mutter war in Folge verschiedener Umstände und Verleumdungen der Hexerei verdächtigt worden und hatte sich durch ein unkluges Betragen dabei mehr und mehr also verwickelt, daß der Hexenproceß gegen sie eröffnet wurde. Kepler machte unendliche Anstrengungen, die Mutter zu retten und die öffentliche Schande von seiner Familie zu nehmen; er schrieb Briefe und Vertheidigungsschriften nach Württemberg; er reiste schließlich selber dorthin und verlor unter dem Opfer bedeutender Geldmittel dabei ein ganzes Jahr seines Lebens. Gleichwohl vermochte er doch 1621 im letzten Stadium die Niederschlagung des Hexenprocesses zu bewirken.
Nach dieser Zeit lichtete sich der Himmel unseres großen Astronomen nicht mehr, und sein Leben wurde durch das ungeheure Leid des Vaterlandes von Jahr zu Jahr düsterer gefärbt. Wohl vollendete er nun sein großes Werk, die astronomischen Tafeln, und begann deren Druck, was ihn zu vorübergehendem Aufenthalte in Regensburg und Ulm veranlaßte, aber er erwartete vergebens von dem Kaiser die Erfüllung seiner rückständigen [759] Gehaltsforderungen. Auch in Oberösterreich schlug die Kriegslohe auf; Bauern und Protestanten belagerten Linz, und nach dem Entsatze wurden die Protestanten auch aus diesem Lande verjagt. 1628 ertheilten die Stände Oberösterreichs Keplern den erbetenen Abschied in freundlicher Weise mit materieller Unterstützung, von Kaiser Ferdinand aber wurde er hinsichtlich seiner Forderungen an das Land Mecklenburg und den Herzog Wallenstein verwiesen. Da er aber den bekannten astrologischen Träumereien des Letzteren nicht willfährig war, ließ dieser ihn unbefriedigt, und um ihn los zu werden, verlieh er ihm eine Professur an der Universität zu Rostock; nachdem er auch hier in größtem Mangel ein Jahr verlebt, machte Kepler sich auf den Weg nach Regensburg, um vor dem versammelten Reichstage abermals die Auszahlung des Rückstandes zu betreiben. Es war seine letzte Reise, sein letzter Appell an das Reich. Am 15. November 1630 fand er in dieser Stadt die ewige Ruhe.
In einem so sturmbewegten Leben, umtobt von der Wuth des Fanatismus und den Flammen des Krieges, spielte sich die unglaublich reiche wissenschaftliche Thätigkeit unseres Kepler ab. Neben einer ausgedehnten Correspondenz mit den damaligen Koryphäen der Wissenschaft, neben der Abfassung vieler geistreicher Kalendarien, neben Untersuchungen über Lichtzerstreuung, den Bau des Auges, das astronomische Fernrohr, Mond- und Sonnenfinsternisse, Kometen, einen neuen Stern etc., neben der Aufstellung der vorerwähnten astronomischen Tafeln welche für sich allein schon die Arbeit eines Menschenlebens bilden – neben alledem schuf Kepler im Anschluß an die Lehre des Copernicus durch die Entdeckung dreier nach ihm benannter Gesetze der Planetenbewegung die Grundlage der neueren Astronomie.[1] Seine Werke hierüber werden für alle Zeiten ein Muster von Fleiß, Ausdauer und wunderbarem Scharfsinn bleiben; sie können sich dem Besten, was die Wissenschaft geleistet hat, würdig an die Seite stellen. Viele Jahre lang hat Kepler unermüdet astronomische Rechnungen durchgeführt, um zu seinen Gesetzen zu gelangen; es erscheint als eine wahre Riesenarbeit, wenn man bedenkt, daß er ohne die Hülfsmittel der neueren Mathematik arbeiten mußte. Aber ihm standen auch mächtige Geisteskräfte zu Gebote: eine ewige Frische der Speculation und eine heilige Begeisterung für die Wahrheit. In dem Haupte dieses Mannes flammte ein Geist zur Weltleuchte empor, denn keine Noth der Erde zu ersticken vermochte. Nie hat Urania einen begeisterteren Jünger gehabt, und nie wurden die an sich nüchternen Resultate der Wissenschaft mit größerem Feuer verkündet. Durch die Schriften unseres Geisteshelden weht der warme Hauch des tiefen, wir können sagen deutschen Gemüthes. Da ist er unerschöpflich in dichterischen Gleichnissen, Bildern und rhetorischen Wendungen; da ist er bald ein feuriger Lobredner seiner Wissenschaft; bald klingt es wie ein Jubelgesang, und dann wieder verströmt er seine Andacht in einem Gebete. Ein großes Ideal war es, das die Seele dieses Mannes erfüllte und ihm die Kraft und den Ausgangspunkt für seine Werke gab. Dieses Ideal war der Glaube an die Harmonie der Welt, eine von Pythagoras und Platon aus dem Wohlklang der Töne abgeleitete Idee, welche Kepler im christlichen Sinne auffaßte. Dieser von ihm mit Begeisterung aufgenommene Gedanke gab ihm die Kraft, immer und immer wieder mit dem Wuste der überlieferten Meinungen und den Beobachtungsresultaten zu ringen, bis endlich sein klarer Geist dieselben nach den schwierigsten mathematischen Ueberlegungen erleuchtete. Ohne dieses hätte er nichts erreicht, und durch diese Kraft idealer Begeisterung zeichnete er sich vor seinem großen italienischem Freunde Galilei, dem Begründer der neueren Mechanik, und seinem Nachfolger in der Astronomie Isaak Newton, dem Stolze Englands, aus. Aber gerade wegen dieses idealen Aufschwunges seines Geistes wurde er auch lange Zeit nicht verstanden. Der eben erwähnte Galilei sagt von ihm: „Ich habe Kepler wegen seines vorurtheilsfreien und feinen Verstandes geschätzt; seine Art zu philosophiren war aber von der meinigen verschieden.“ Viele Andere mußten sich zwar dem Erfolge von Kepler’s Arbeiten beugen, konnten aber nicht begreifen, wie man bei solchen, nach ihrer Ansicht leeren Träumereien und absurden Phantasien zu so glänzenden Entdeckungen gelangen konnte. Erst in der neueren Zeit haben ihn sowohl Deutschland wie auch Frankreich und England mehr zu würdigen gelernt, insbesondere da sich herausgestellt hat, daß manche jener sogenannten Träumereien die Geistesblitze des Genies waren, die weit über Jahrhunderte in der Entwickelung der Wissenschaft voraus griffen und nun als Wahrheiten anerkannt werden.
Dahin gehört unter Anderen sein vielberühmter, von der neueren Forschung durchaus bestätigter Ausspruch über die Kometen, daß nämlich der letzteren so viele im Weltraume seien, wie Fische im Meere. Ein Aehnliches vielleicht auch könnte von den Ansichten Kepler’s über die Astrologie gelten, wegen deren man noch immer einen Fleck auf seiner wissenschaftlichen Bildung sehen will. Er hat zu wiederholten Malen erklärt, daß er die Sterndeuterei und das Horoskopstellen seiner Zeit für Thorheit erachte, war aber von einem Einfluß der Planeten auf die schaffenden Kräfte der Erde überzeugt. Aber zu denselben Schlüssen gelangten auch Viele nach Kepler, und in der neuesten Zeit suchte man z. B. mit statistischen Mitteln den Einfluß der auftauchenden und wieder verschwindenden Sonnenflecken auf nasse und trockene Jahre, auf gute und schlechte Ernten nachzuweisen. So hat auch hierin vielleicht der tiefschauende Geist des großen Astronomen richtig geahnt, des deutschen Astronomen, welcher so gut zu träumen verstand.
Wir können hierbei eine Bemerkung nicht unterdrücken: Man sagte und sagt uns hin und wieder noch heute, daß wir ein Volk von Träumern seien. Nun wohlan! Kepler, vor dessen Geist sich die Welt endlich beugen mußte, ist der Typus eines deutschen Träumers. Und doch lebte er nicht nur tief im Reiche des Gedankens, sein feuriger Geist bethätigte sich vielmehr auch im öffentlichen Leben. Mit der ihm eigenen Offenheit verfocht er die den Katholiken und Protestanten gleich verhaßte copernicanische Lehre; er verwarf frei die Autorität der Bibel in wissenschaftlichen Dingen, indem er sagte, daß sie kein Lehrbuch der Optik oder der Astronomie sei, und trat gegenüber seinen widerstrebenden Glaubensgenossen für den gregorianischen Kalender ein. Diese öffentlichen Kämpfe gegen mächtige religiöse Vorurtheile seiner Zeit führen uns auf das Verhältniß Kepler’s zur Religion. Wir hätten im Eingange dieser Studie nicht sagen können, daß er den vollen Pulsschlag des deutschen Geistes in sich gefühlt habe, wenn er in Sachen der Religion indifferent gewesen wäre. Bei all seiner erhabenen Begeisterung für die Astronomie war unser Kepler auch ein nicht minder eifriger Glaubensstreiter. Er war mit Leib und Seele ein Mann des sechszehnten Jahrhunderts, jenes Jahrhunderts, in dessen Verlauf aus der Tiefe des deutschen Gemüthes der freie Geist des Protestantismus, die freie Selbstbestimmung in Glaubenssachen so mächtig heraufquoll. Gerade in Kepler’s Zeit fallen die ersten der furchtbaren Kämpfe, in welchen dieses protestantische, dieses germanische Princip um seine Existenz rang. Aus romanischen Geiste war um die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts eine Geistesregel aufgetaucht, die ihren schärfsten Ausdruck im Jesuitismus gefunden hatte; sie kannte statt der freien Selbstbestimmung nur den unbedingten Gehorsam und die willenlose Hingabe des Einzelnen an die Kirche. Die fluchbeladene Gesellschaft Jesu führte damals den Kampf gegen die deutsche Reformation. Es ist bekannt, mit welchen Mitteln und mit welchem verderblichen Erfolge sie dies that; denn mit Gewalt führte sie ganze vorher protestantische Länder dem Katholicismus wieder zu, Alles niedertretend, was sich hier nicht fügen wollte. Da hatte der Protestantismus viele Tausende von Märtyrern. Auch Kepler war ein solcher. Während seines Aufenthaltes in Graz wurden die Protestanten in Steiermark anfangs hart bedrückt. Kepler stand zu ihnen und ließ eine selbstverfaßte Trostschrift unter ihnen circuliren, und als dann weiter, wie oben bereits erwähnt, die Anhänger seines Glaubens vertrieben wurden und man ihm ausnahmsweise noch den Verbleib gestattete, weil wahrscheinlich einflußreiche, ihm befreundete Jesuiten ihn zu sich herüberzuziehen gedachten, da verließ Kepler seine Stellung und die Güter seiner Frau und wanderte lieber in eine ungewisse nothreiche Zukunft, als daß er der Fahne des freien Geistes abgeschworen hätte. In Linz wiederholte sich später derselbe Vorgang.
Das vorerwähnte Princip des Protestantismus verfocht Kepler aber auch gegen seine eigenen Glaubensgenossen. Freimüthig trat er schon als Jüngling für die Gewissensfreiheit gegenüber dem tyrannischen Kirchendogma auf; er widersetzte sich an der orthodox-lutherischen Universität Tübingen, wo damals der Abendmahlsstreit zwischen Calvinisten und Lutheranern viel Staub aufwirbelte, [760] manchen Auffassungen der württembergischen Geistlichkeit und neigte in mehreren Punkten dem Calvinismus zu. Dafür mußte er sein engeres Vaterland verlassen, und zeitlebens versperrten ihm die lutherischen Orthodoxen in demselben den Weg zu einer festen Anstellung. Ihr Haß und ihre Unduldsamkeit trafen den gefeierten Mann, dessen Schriften von wahrhaft christlichem Geiste durchhaucht sind und der sich in Graz die Märtyrerkrone erwarb. Ja, als unserm Kepler während seines Aufenthaltes in Linz von dem dortigen lutherischen Geistlichen das Abendmahl verweigert wurde, weil er die sogenannte Concordienformel mit der Verfluchung der Reformirten nicht unterschreiben wollte, und er sich deshalb beschwerend an das Consistorium zu Stuttgart wandte, nannte ihn unter Anderem dieses in seiner Antwort einen Wolf im Schafspelz, der mit ungereimten Speculationen sich selber verwirre, an Gottes Wort, Christus und Kirche sündige und besser daran thäte, seinen mathematischen Studien mehr obzuliegen.
Daß bei solchen Erfahrungen unseres humanen Astronomen Meinung von den Vertretern der Kirche keine besonders hohe sein konnte, ist natürlich. An Markgrafen Ernst Friedrich von Baden schrieb er:
„Das Uebel, welches Deutschland drückt, rührt größtentheils von dem Uebermuth einiger Geistlichen her, welche lieber regieren als lehren. Gewisse, zum Lehramt berufene Doctoren wollen Bischöfe sein, suchen in ihrem unzeitigen Eifer alles umzukehren und verleiten ihre Fürsten zu übereilten Schritten. Der Geist der Einigkeit und wechselseitiger Liebe wird vermißt.“
In ähnlichem Sinne schrieb er an den katholischen Prälaten Johann Pistorius:
„Sie werden mir an jenem großen Tage das Zeugniß geben, daß ich nie einen persönlichen Haß gegen den Papst und gegen die Priester hatte, sondern allein Eifer für Gott und seine Anstalten, indem ich in derjenigen Freiheit bleibe, in der mich Gott geboren werden ließ. Zu den Thorheiten dieser Welt zähle ich den Verfolgungsgeist, welcher alle Religionsparteien beherrscht, die Einbildung, welche jede hat, ihre Sache sei auch die Sache Gottes, sie allein besitze das Privilegium zur Seligkeit, die Anmaßung der Theologen, ihnen stehe das Recht, die Schrift auszulegen, allein zu, ihnen müsse blindlings geglaubt werden, selbst wenn ihre Auslegungen der Vernunft entgegen laufen, endlich die Vermessenheit, mit der sie Diejenigen verdammen, welche von der evangelischen Freiheit Gebrauch machen.“
Hiermit denken wir genugsam das Verhältniß Kepler’s zu Religion und Kirche charakterisirt zu haben und wollen nur noch einige Zeilen über sein Verhältniß zum Vaterlande hinzufügen.
Kepler trug die schönste der deutschen Tugenden in der Brust: die Treue. Dies zeigte er nicht blos gegen seine Glaubensgenossen, er harrte auch treu bei dem entthronten Kaiser Rudolf aus, dem er noch nach dessen Tode die astronomischen Tafeln widmete – und vor Allem blieb er seinem Vaterlande treu. Er versäumte es niemals, in seinen vielgelesenen Kalendern unter astrologischen Andeutungen versteckt seinem Volke geistreiche Winke über sein politisches Heil zu geben. Zweimal sollte Kepler sein Vaterland verlassen und einem Rufe in’s Ausland folgen – zweimal widerstand er solcher Versuchung. Als er, hart bedrängt, von Linz aus nach einem andern Aufenthaltsorte ausschaute, lud ihn König Jacob der Erste von England zu sich; er aber schrieb damals an seinen Freund Berneke in Straßburg unter Anderem:
„Ich bin meinem Vorsatze treu geblieben, meine Dankbarkeit zu beweisen und den Ständen auch in ihrer Gefahr zu dienen, wenn ich kann und sie mich nicht zurückweisen. – Du siehst, die Flamme des Bürgerkrieges wüthet in Deutschland; es siegen Diejenigen, von welchen das Wohl des Reiches abhängt; das Benachbarte wird ergriffen; das Feuer verbreitet sich immer weiter. Soll ich also über das Meer hinüber gehen, wohin man mich einladet? Ich ein Deutscher?“
Ein anderes Mal, als er eine Professur zu Bologna ausschlug, schrieb er: „Ich bin nach Geburt und Gesinnung ein Deutscher und von Jugend auf gewohnt, mich im Reden und Handeln der deutschen Freiheit zu bedienen.“
So blieb er Deutschland treu und sparte uns denn Vorwurf, daß das Ausland ihn vielleicht besser behandelt hätte, als sein Vaterland.
Zwar macht man diesem unserem Vaterlande so wie so den Vorwurf, es sei zu Lebzeiten des großen Mannes sehr undankbar gegen ihn gewesen, und eine Zeitlang hat man sich bei uns darin gefallen, höhnisch zu sagen, daß wir unsern Kepler geradezu hätten verhungern lassen. Diese Behauptung ist eine historische Unwahrheit; denn das Inventar, welches in Regensburg über den Nachlaß des verstorbenen Kepler aufgenommen wurde, zeugt, wenn auch nicht von bedeutender Wohlhabenheit, so doch auch nicht von Dürftigkeit. Wohl steht es ja fest, daß Kepler einen harten Kampf mit dem Leben zu bestehen hatte, aber abgesehen von der oben berührten tadelnswerthen Haltung der württembergischen Theologen, kann man doch in einer Zeit, in welcher der Wohlstand und zwei Drittel der Einwohnerzahl eines Landes unter blutigen Gräueln vernichtet wurden, füglich nicht erwarten, daß dem Manne der Wissenschaft reichlich mit Gold gelohnet werde. Und trotz aller Entbehrungen, die er zu erleiden, trotz alles Leides, das er zu erfahren hatte, können wir von Kepler sagen: er war ein glücklicher Mann; denn hoch wie der Vogel in die freie Himmelsluft schwang sich sein Geist über die Sorgen und Genüsse der Alltagswelt hinauf zu den freien und lichtvollen Höhen des Geistes, wo das Leid der Erde nur von fern herauf klingt. Er sah dort oben die ersten Strahlen einer aufgehenden Sonne und schaute weit über Jahrhunderte hinaus. Er war ein glücklicher Mann des deutschen Ideals, auf den wir wohl die Worte des berühmten Alexandriners Claudius Ptolemäus anwenden dürfen:
„Der ist nicht todt, der die Wissenschaft belebt hat,
Und der war nicht arm, der das Geistige besaß.“
„Eher sterben als mein Weib werden?“ fragte Jonathan höhnisch, indem er an Carmen und Alexander hinantrat. „Fürwahr, eine schöne Antwort, die ich mir zu holen komme! Das also ist die züchtige Schwester, die ich nicht berühren darf? Einen rechtschaffenen Mann, der sie liebt, stößt sie von sich und weist den Willen des Heilandes zurück, um dafür einem fremden Eindringlinge sich in die Arme zu werfen? Denkst Du, wir werden eine Schwester unter uns dulden, die aller demüthigen Liebe und Ergebung, aller Zucht und Sittsamkeit entbehrt, wie sie für ein Glied der Gemeine sich geziemen? Ich, als Vorsteher der Schwestern, werde nun bei den Aeltesten darauf antragen, daß Carmen Mauer aus der Gemeine gestoßen werde.“
Carmen stand wie betäubt unter diesen entsetzlichen Worten; sie athmete tief, aber sie antwortete nichts. Sie preßte nur die Hände gegen das klopfende Herz und hob das bleiche Gesicht zu ihm empor, ruhig, theilnahmlos, als ob seine Beschuldigungen und Drohungen jetzt unempfunden an ihr abprallten.
„Fräulein Carmen!“ rief, als Jonathan schwieg, Alexander’s tiefe, wohllautende Stimme. Dieser Laut scheuchte alles Entsetzen von ihr hinweg, und sie kehrte die Augen fragend und vertrauensvoll wieder zu ihm hin.
„Fräulein Carmen,“ fuhr er fort, „Sie haben mir einmal gesagt: nur der Arm des Vaters oder des Gatten dürfe Sie umschlingen. Wenn mein Arm Sie jetzt stützend umfangen hielt, haben Sie es geduldet, weil Sie meiner Ehre und meiner Liebe so fest vertrauen, um damit für alle Zeit mir das Recht zu geben, Sie als Gatte zu beschützen?“
Sie sah ihn an mit freudigem Stolze. „Ja!“ sagte sie fest, ohne Zaudern, ihm die Hand hinreichend.
Er drückte diese Hand mit leidenschaftlicher Wärme.
[761]
[762] „Mein Herr,“ wandte er sich dann kalt und fest zu Jonathan, „wollen Sie, als Vorsteher der Schwestern, den Aeltesten Ihrer Gemeine gefälligst die Mittheilung machen, um jedem beleidigenden Mißverständniß dadurch zuvorzukommen: daß Sie Fräulein Carmen Mauer mit ihrem Bräutigam, dem Hauptmann von Trautenau, an der Wohnung ihres Vaters angetroffen haben, daß diese Dame, wegen ihrer Verlobung mit mir, die Wahl des auf sie gefallenen Looses ablehnen muß und überdem bald aus der Gemeine scheiden werde, um ihrem Gatten zu folgen?“
Er verbeugte sich gemessen vor dem maßlos Erstaunten, zog Carmen's noch immer fest gehaltene Hand durch seinen Arm und wendete sich mit ihr dem Hause zu.
Carmen hatte verwirrt, beinahe fassungslos auf seine Worte gehört; was er sagte, benahm ihr fast Athem und Besinnung, aber wie die Kraft seines Armes sie gehalten hatte, so hielt sie auch die Kraft seines Willens, und sie wäre ihm ohne Widerspruch gefolgt bis an das Ende der Welt. Doch jetzt, als sie mit ihm die Schwelle des Thores überschreiten sollte, durchzuckte sie die Angst um den Theuren, Tiefgebeugten, der dort oben einsam in seinem Zimmer weilte – ihm mußte zuerst geholfen werden, und besorgt wandte sie sich nochmals zu Jonathan um. Die Anklage und Drohung, welche dieser ihr entgegen geschleudert, hatten ihr plötzlich die Stelle gezeigt, wo sie vielleicht vermöge ihn zu fassen und für den armen Vater unschädlich zu machen.
„Bruder Jonathan,“ redete sie ihn an, „Du sagtest selbst, daß, wenn ich einem Manne schon verlobt sei, dies dem Loose seine Kraft nehmen würde. Du siehst nun, daß Deine Drohungen mir gegenüber ohnmächtig sind, wohl aber vermöchte ich der Gemeine eine Geschichte zu erzählen, die das Ansehen des frommen Bruders Jonathan nicht eben erhöhen würde. Du warst bisher gütig gegen meinen Vater – bitte, sei es auch fernerhin und schone seiner! Ich möchte gewiß nicht Unheil über Dich bringen, aber mit jeder Anklage gegen ihn würdest Du mich zwingen – – Du verstehst mich schon.“
Jonathan stand wie zerknirscht da, Alexander aber zog Carmen hinweg, indem er dringend bat: „Gehen wir zu dem Vater!“
Er öffnete das Thor und trat mit ihr in das Haus.
„Verweilen wir hier einen Augenblick, Carmen!“ sagte er. „Ich war zu schnell; der einzige Wunsch, Dich zu retten, hat vorhin meine schnelle Frage und Deine sofortige Antwort dictirt – die rasche That eines Mannes, der Dich mit seiner heißen Liebe einer drohenden Gefahr entrücken wollte, soll aber Deine Freiheit nicht hindern. Ueberlege es nun still, ob Du mich ein wenig lieben kannst – sonst nimm das schnell gegebene Wort wieder vor mir und nach einiger Zeit, wenn es ungefährdet für Deine Sicherheit geschehen kann, auch vor der Welt zurück! Laß meine Liebe Dich schützen vor Gefahr, so weit sie es vermag, aber nur wenn Du mich lieben kannst, sei mein!“
Es war dunkel um die Beiden, nur ein matter Lichtschein drang durch das Fenster über dem Hausthor herein und lag schimmernd auf dem weißen Häubchen des Mädchens. Für Alexander war es wie ein Heiligenschein; seine Augen blickten andachtsvoll darauf hin, und er wartete, ob ihm von dort das Heil kommen werde.
Carmen hatte mit gefalteten Händen da gestanden; nun hob sie die Arme und umschlang zärtlich Alexander's Hals.
„Ich liebe Dich mit meiner ganzen Seele,“ sagte sie leise, und mein Glück ist nur bei Dir.“
Er preßte sie mit stürmisch hervorbrechender Leidenschaft an sich und fast wie ein Schluchzen war es, als der starke Mann ausrief: „Carmen, meine Carmen!“ Er küßte sie innig. – –
Von dem klingenden Marsch, unter dem die Einquartierung am nächsten Morgen abzog, drangen auch einige verlorene Töne in die einsame Zelle Bruder Mauer's. Er saß in sich vertieft. Eine Welt von neuen Gedanken war seit gestern Abend auf ihn eingestürmt: Carmen die Braut eines fremden Mannes! Anders, ganz anders auf einmal Gegenwart und Zukunft! Er sollte sein Jawort geben zu dem Bunde der Tochter. Alexander hatte sein ganzes Vertrauen. Die Entschlossenheit, Kraft und Würde, die sich in dem Wesen des jungen Officiers aussprach, berührten den innerlich Gebrochenen, Hülflosen belebend und hebend. Die Verbindung mit diesem Manne war ja für sein armes, bedrängtes Kind die einzig glückliche Lösung unseliger Verhältnisse, und wenn auch auf diese Weise Carmen aus seiner unmittelbaren Nähe entrückt wurde, war sie doch für ihn erreichbarer, denn als Frau des Missionars. Aber daß mit dieser Verbindung eine Trennung von der Gemeine verknüpft sein solle, machte ihn auf das Aeußerste besorgt für das Wohl seines Kindes; denn für ihn lag alles Heil und Glück und aller Friede nur in der Gemeinschaft der Brüder, in der strengen Ausübung ihres Glaubens und ihrer Gebräuche, in der gegenseitigen Liebe und Duldung.
Von der Gemeine wollte Carmen sich trennen um eines einzigen Mannes willen!? Er konnte es nicht fassen, sich nicht entschließen, dem zuzustimmen. Doch als sie bittend ihm zurief: „Vater, ich liebe Alexander so heiß, wie meine Mutter Dich geliebt haben mag,“ da durchzitterte ihn die Erinnerung an Inez' glühende Liebe, wie sie mit völliger Hingebung an ihm gehangen und ihre ganze Welt in ihm gesucht hatte, und er segnete den Bund der Liebenden.
Einen harten Kampf aber hatte Carmen mit Agathe zu bestehen. Als die Schwestern am Morgen aus dem Betsaale kamen, ging sie in das Zimmer der Chorältesten und theilte ihr mit, was sich gestern Abend ereignet hatte und welchen Entschluß sie gefaßt.
Agathe hatte aufmerksam und nachdenklich des Mädchens Worten zugehört. Auf ihrem sanften Gesichte lag tiefer Kummer.
„Carmen,“ sprach sie traurig, „nach dem, was Du sagst, hast Du Dich innerlich schon völlig von dem Gnadenantheil, der in der selbstlosen Hingabe an unsern Heiland liegt, und von unserer Brüdergemeinschaft gelöst, und dann ist es besser, es geschieht auch äußerlich; denn heucheln sollst Du nicht, nein, das nicht – Du würdest Dich selbst verlieren und uns nicht damit dienen.“
Sie stand auf, legte sanft die Hand auf Carmen's Kopf und sprach zu ihr:
„So gehe denn, liebe Schwester, den neuen Weg, den Du erwählet, und Gott gebe, daß er nicht zum Verderben führe! Wenn aber der Friede Dir fehlt und Dein Herz nach ihm verlangt und lechzt, wie der Verdurstende in der Wüste, dann kehre zurück zu der Gemeinschaft Deines Heilandes, auf daß wir Dir helfen, ihn wiederzufinden!“
Sie küßte das Mädchen zärtlich auf die Stirn, drückte sie nochmals an sich und entließ sie dann. Ihre Augen folgten wehmüthig der lieblichen Erscheinung Carmen's, wie diese nach der Thür schritt und das Zimmer verließ; dann faltete sie die Hände in einander und sagte in der tiefen Betrübniß ihres Herzens:
„Herr, vergieb Deiner Magd! Eine Seele, die mir anvertraut war von Dir und die zu leiten ich nicht verstand, scheidet von mir. Geht sie irre, so laß mich ihren Irrthum mit tragen; denn ich habe ihn mit verschuldet; weiß sie aber auch auf anderem Wege sich zu Dir zu finden, so nimm sie in Gnaden an! Ach, wie viel habe ich doch noch an mir und meinen Mängeln zu arbeiten, und doch soll ich für die Seelen derer sorgen, die Du mir übergeben hast. Aber ich gelobe Dir, nicht an mich zu denken und meiner nicht zu schonen, ob ich auch für Deine Sache, o Herr, leiden muß.“ – –
So war denn Carmen frei von den Banden, die sie lange genug widerwillig getragen. Alexander hatte mit ihr und dem Vater verabredet, daß sie jetzt zu seiner Mutter nach Wollmershain sich begebe, und die Trennung von dem Vater wurde ihrem liebevollem Herzen unendlich schwer. Das Schicksal hatte Beide kaum erst wieder vereinigt, und schon sollte Eines das Andere entbehren; dabei zu wissen, welche Seelenqual der Einsame erdulde, machte Carmen das Gehen beinahe zur Unmöglichkeit. Und doch mußte es sein; sie gehörte ja von nun an nicht mehr zur Brüdergemeinschaft, aber als sie schied, versprach sie, daß sie wöchentlich ein paar Mal den Vater besuchen wolle, und war erst dessen Haus fertig, so konnte sie auf längere Zeit zu ihm kommen – –
Bruder Mauer verlebte nun einsame Tage im Brüderhause, und als der Winter kam, war sein Haus vollendet, und er konnte es beziehen. Er nahm Schwester Ursula, eine ältliche Wittwe, als Dienerin mit dahin, ihm sein Hauswesen zu führen. Wie gern saß er hier an dem Fenster seines Zimmers, von wo aus er den Hügel mit dem Friedhof übersehen konnte!
„Diesen Weg werden die Brüder mich bald tragen,“ dachte er, „und es wird mir wohl sein, wenn es so weit ist. Wie habe [763] ich mir doch immer gewünscht, einmal dort auf unserm freundlichen Gottesacker unter den Brüdern und Schwestern ruhen und zu unseres Herrn Freude eingehen zu können!“
Nun hatte er auch das Glück, Carmen oftmals auf Tage bei sich zu haben. Es war in dem Hause geworden, wie sie es sich ausgemalt hatte; ihr Zimmer grenzte an das seinige; es waren Blumen darin, die er sorgsam für sie pflegte, und ein behagliches Plätzchen, wo sie trauliche Stunden verlebten. Aber mit dem fürchterlichen Geheimniß, das sie in Gemeinschaft mit dem Vater tragen mußte, war ein tiefer Ernst über sie gekommen, der ihre sonst übersprudelnde Lebendigkeit und Heiterkeit hemmte, und Alexander fragte sich oft, ob es wohl die Liebe und Sehnsucht sei, die sie für ihn empfinde, welche den Glanz unbefangenen Frohsinns von ihr genommen, der sonst wie Sonnenschein auf ihr gelegen.
Und dieser ihr früher so fremde Ernst wich auch dann nicht von ihr, als bald nach dem Weihnachtsfest ihre Hochzeit gefeiert wurde und Mauer ihr eröffnete, daß er das bedeutende Vermögen, welches er von Inez geerbt, von seinem Besitzthum getrennt habe, um es schon jetzt seiner Tochter zu übergeben, der es von Rechtswegen einmal gehöre.
So blieb denn das junge Paar, nachdem Alexander vom Heere seinen Abschied genommen, in Wollmershain, und Mauer war froh in dem Gedanken, seine Tochter sich für immer nahe zu wissen.
An einem trüben Novembertage, der Alles in melancholisches Grau hüllte, geschah es, daß der in der Colonie jetzt wohlbekannte Trautenau'sche Landauer, mit den Füchsen davor, durch die leblosen Straßen dahergejagt kam und am Ende des kleinen Ortes vor dem Hause Mauer's anhielt. Die Pferde standen kaum, als auch schon, den Schlag öffnend, Alexander heraussprang und Carmen aus dem Wagen hob, deren Gesicht Spuren frischer Thränen trug.
„Sei muthig, liebes Herz!“ bat er.
„Ich habe ja Dich und das Kind,“ antwortete sie warm und wendete sich besorgt zum Wagen zurück, aus dem sich jetzt eine Dienerin beugte; sie trug einen kleinen Knaben auf dem Arme.
Carmen nahm ihr das Kind ab und küßte dieses zärtlich. Der Kleine schlug die Händchen in einander und lachte fröhlich auf, als die Mutter ihn nahm; dann sahen unter dem blonden Lockengeringel des Köpfchens ein paar mächtig große, schwarze Augen verwundert auf die fremde Umgebung und auf die dunkle Gestalt im weißen Häubchen, welche jetzt in der geöffneten Hausthür erschien.
Carmen erschrak, als sie in Letzterer Schwester Agathe erkannte.
„Ich komme wohl schon zu spät?“ rief sie angstvoll.
„Nein, liebe Carmen, er lebt noch,“ beruhigte die treue Pflegerin. „Aber es geht rasch mit ihm zu Ende, seitdem er heute Morgen den Anfall gehabt. Er war ja in der letzten Zeit schon immer so hinfällig, daß man vorbereitet sein mußte, ein schneller Tod werde einmal plötzlich den schwachen Lebensfunken auslöschen. Er hat sehnsüchtig nach Dir verlangt, seitdem er wieder Besinnung hat. Schwester Ursula schickte gleich nach mir, damit ich Dich benachrichtige, da Bruder Jonathan gerade über Land zu der Müllerin im Buchengrund gerufen worden war und sie für Deinen Vater den andern Arzt zu Hülfe nehmen mußte.“
„Wie gut bist Du doch, liebe Agathe!“ sagte Carmen, ihr gerührt die Hand drückend.
Sie waren in das Haus getreten. Alexander blieb mit dem Kinde im Nebenzimmer zurück, während Carmen sich sofort zum Vater begab. Man hatte das Bett des Kranken von der Wand ab, mehr gegen das Fenster gerückt und dieses geöffnet, da er Athembeschwerden hatte. Jetzt ruhte er still, als ob er schlafe, die Hände über die Brust gekreuzt, und auf seinem Gesichte lagen schon die Schatten des Todes, – Carmen erschrak, als sie ihn so verändert sah.
„Mein lieber Vater, ich bin bei Dir; erkennst Du mich, Deine Carmen?“ fragte sie und kniete an seinem Lager nieder.
Bei dem Klange ihrer Stimme öffnete er die Augen, und ein mattes, freudiges Lächeln glitt über die schon starren Züge.
„Mein Kind, bist Du da? Nun mag der Befreier kommen!“
„Vater, laß uns hoffen, daß Dich Gott uns noch erhält!“ sagte Carmen bewegt.
„Nein, mein Liebling, laß uns hoffen, daß er mich nun endlich erlöse; denn mich verlangt, ach so sehnsüchtig, nach seinem Frieden,“ sagte er mit schwacher Stimme. „Carmen, ein schuldig Gewissen ist wie ein Scorpion, der uns innerlich ewig martert und um alle Ruhe des Daseins bringt. Darum halte Dein Herz rein, mein Kind, und Gottes Gebote Dir immer vor Augen, auf daß Du nicht gegen sie sündigst! Laß mich Dich in den Schooß unserer Gemeine noch zurückziehen, führe auch Deinen Gatten mit herüber! Ihr könnt ihr angehören, auch wenn Ihr nicht unter den Brüdern lebt. O halte Dich doch an den Gnadenschatz unserer Gemeine, auf daß Dein Leben nicht auch durch Reue vergiftet werde, wie es das meinige war!“
Carmen küßte des Vaters Hände mit inniger Liebe und Ehrfurcht; dann hob sie den Kopf und sah in seine Augen, die so angstvoll auf ihr ruhten. „Vater, ich gelobe Dir, daß ich treulich zu Gott und seinen Geboten halten will.“
Mauer sank erschöpft in die Kissen zurück.
„Bruder Jonathan,“ flüsterte er nach einer Pause, „hat mein schrecklich Geheimniß behütet, und wenn er mich auch stets unwillkürlich daran erinnerte, hat er mir doch seine Freundschaft und Bruderliebe bis heute erhalten. Immer aber wußte er mir an das Herz zu legen, daß mein Gut, als ein dargebrachtes Opfer für mein Vergehen, der Gemeine gehören müsse, da Du Dich von ihr abgewendet hast, und so habe ich testamentarisch, als Sühne einer schweren Schuld, Alles der Casse zum Wohle der Brüderschaft und ihren Missionen bestimmt, damit ich dem Ganzen vergelte, was ich an einem Gliede gesündigt habe.“
Carmen küßte schweigend seine bleichen Lippen; dann erhob sie sich, ging in das Nebenzimmer und kehrte mit ihrem Gatten und dem Kinde zurück. Sie knieeten an dem Lager des Sterbenden nieder, und Carmen bat:
„Vater, segne Deine Kinder!“
„Ist Dir denn an dem Segen Eines, wie ich bin, gelegen?“ fragte er demüthig und zaghaft.
„Ja, Vater, ich möchte nicht leben ohne ihn.“
Da berührte der alte Mann mit zitternden Händen die drei geliebten Häupter und segnete sie. –
Neue Schiffsmaschinen. Unlängst fand im Beisein des Generalpostdirectors Stephan die sehr gute Hoffnungen erweckende Probefahrt eines von G. Howaldt in Kiel erbauten Dampfers statt, welcher weder durch Räder noch durch Schrauben, sondern vielmehr durch einen von Dr. Fleischer construirten sogenannten Hydromotor bewegt wird, eine Maschine, die aus dem Schiffshintertheile große Wassermengen – man spricht von 20,000 Liter per Minute – heraustreibt und dadurch einen Gegenstoß erzeugt, der das Schiff wie eine Rakete vorwärts treibt. Es ist das eigentlich keine neue, sondern vielmehr eine uralte Erfindung, deren sich bereits die ältesten Kahnfahrer bedienten, von denen wir etwas wissen, nämlich die Nautiliten der Primärzeit nebst ihren Verwandten. Noch heute schießen die Tintenfische und Kraken vermittelst eines hervorgeschleuderten Wasserstrahls pfeilschnell im Meere dahin, und manche andere Seethiere machen es ähnlich.
Von den Rädern und Schrauben und andern künstlichen Bewegungs-Mechanismen, deren Vorbilder sich nicht in der Natur finden, kehrt man so wieder zur Natur zurück, von der man ausgegangen war. Denn der Ruderkahn ist doch schließlich nichts anderes als eine Nachbildung des Fischkörpers mit seinen Ruderflossen, und selbst die Schiffsschraube findet eine Art Vorbild in der Rückenflosse der bekannten Seepferdchen und ihrer Verwandten, die man jetzt häufig in den Aquarien sieht. Ihre häutige, in regelmäßigen Zwischenräumen von kräftigen Flossenstrahlen gestützte Rückenflosse bewegt sich nämlich wie eine schwimmende Natter oder Seeschlange in Wellenlinien, und ein Herr C. Becker in London hatte vor einigen Jahren ein Boot gebaut, welches an seinem „Bauche“ mit einer ähnlichen, durch eine Propellerschraube belegten „schlängelnden Flosse“ versehen war und sich ganz der Erwartung gemäß im Wasser bewegte. Aber die neue den Polypen abgelauschte Bewegungsart scheint sich noch besser zu bewähren. Den Zeitungsberichten zufolge hat das 110 Fuß lange und 17 Fuß breite Schiff, welches einen Gehalt von [764] 100 Tonnen und einen Tiefgang von 5½ Fuß besitzt, bei der Probefahrt 9 Seemeilen in der Stunde zurückgelegt, soll aber eine Maximal-Geschwindigkeit von 10 Knoten erreichen, wenn es erst vollkommen seetüchtig sein wird.
Einen vorzüglichen Vortheil bietet noch die mittelst desselben hydromotorischen Apparates vorliegende Möglichkeit, das Schiff schnell zum Stehen zu bringen, es rechts und links wenden zu lassen, kurz mit Leichtigkeit jedes Manöver ausführen zu können, je nachdem man das Wasser nach hinten oder vorn, nach rechts oder links austreten läßt. Schon vor fünf Jahren wurde dieses Auskunftsmittel von dem französischen Schiffslieutenant Boucher vorgeschlagen, um den schweren Panzerschiffen der Neuzeit die für den Seekrieg erforderliche Beweglichkeit zu geben. Man denke sich zwei einander entsprechende Röhren, von denen die eine am Backbord, die andere am Steuerbord, natürlich beide unterhalb des Wassers, mündet! Das mittelst einer Dampfpumpe (Rotationspumpe) eingesogene Meerwasser kann je nach der auszuführenden Schwenkung aus der einen oder der anderen Röhre mit Heftigkeit ausgestoßen werden, wodurch sofort eine Bewegung des Kolosses nach der entgegengesetzten Richtung erfolgt. Die Leitung des von der Dampfmaschine getriebenen Pumpenstrahls kann eine einzige Person besorgen.
Die trauernde Kriegerwittwe. (Zu unserem Bilde S. 761). Wie viel Elend und Jammer hat der Künstler in dem engen Rahmen unseres Bildes zusammengefaßt, und mit welcher Lebenswahrheit spricht zu uns das Kind seiner schaffenden Phantasie, diese vom Schmerz gebeugte, von tiefster Herzenstrauer zerknirschte junge Kriegerwittwe!
Es ist eine ganze, lange leidensvolle Geschichte, die uns das Bild erzählt, die alte ewig neue Geschichte von dem Weh des männermordenden Krieges. Wohl hat sie schon viel gelitten, die schöne bleiche Frau da vor uns. Es war eine lange Kette von Bangen und Weh: da kam zuerst aus Bosnien die Nachricht von der siegreichen blutigen Schlacht, in welcher sein Regiment Heldenthaten verrichtete – und mit ihr kam über sie eine dunkle fürchterliche Ahnung; – dann die Verlustlisten der kaiserlich-königlichen Armee, diese überall nur zu oft wiederkehrenden grausamen Quittungen des Vaterlandes über die hingeopferte jugendliche Kraft der Völker – und in ihnen sein Name, die Bestätigung ihres Unglückes. Schon hatte sich vielleicht der Sturm des Schmerzes in ihrer Brust gelegt und ruhiger Ergebung Platz gemacht; da brachte die Feldpost als letzten Gruß von dem Geliebten die spärliche Ausrüstung des ach! schon monatelang in fremdem Boden ruhenden Kriegers. Nun wandern sie alle in Thränen und Wehmuth durch ihre zitternden Hände, die vielgeliebten Gegenstände, an die sich so viele freundliche Erinnerungen knüpfen – seine Uhr, sein Schwert, seine Bücher und hier seine Briefmappe; sie öffnet – es entfaltet sich vor ihren Augen ihr eigener Brief, der erste, in dem sie in schüchterner Mädchenhaftigkeit ihm von ihrer Liebe sprach, und nun fällt aus ihm heraus das am friedlichen, sonnigen Abend in seiner Begleitung so emsig gesuchte und endlich gefundene Kleeblatt, das ihnen Beiden eine Zukunft des Glückes versprach. Wie zauberhaft glänzend ersteht plötzlich vor ihren Augen das Bild der dahingeträumten glücklichen Tage! Wie unendlich grausam erscheint die düstere, einsame Gegenwart! Noch einmal öffnen sich die Wunden des schwer getroffenen Herzens und bluten auf's Neue – da bricht sie in stummer Verzweiflung zusammen. Draußen aber geht die alte Welt ihren alten Gang. Die Geschicke der Völker nehmen in Schlachten und Stürmen ihren ewig unergründlichen Weg. Was ist ihnen Leid und Weh des Einzelnen?
Die Pfennigsparcassen. Schon einmal haben wir in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1879, Nr. 2, S. 40) hervorgehoben, wie nothwendig es ist, auch den unbemittelten Volksclassen das Sparen zu erleichtern; wir wiesen damals auf die Zweckdienlichkeit der Postsparcassen und der englischen Pennybanken empfehlend hin. Die gewöhnlichen in Deutschland sehr verbreiteten Sparcassen haben nämlich, wie bekannt, als Minimalsatz eine Einlage von 1 Mark festgesetzt; der Arbeiter kann aber bei seinen geringen Einnahmen das Sparen nicht mit Mark, sondern muß es mit Pfennigen anfangen, und da ist es eine öffentliche Pflicht, durch Einrichtung von Sparcassen für kleinste Beiträge den ersten Entschluß zum Sparen zu erleichtern.
Dieser Grundsatz ist in England bereits seit vielen Jahren in den Pennybanken praktisch durchgeführt worden. Dort werden kleine Geldbeträge von einem Penny (1 Penny = 8,5 Pfennig) ab in Empfang genommen, und die ersparte Summe, wenn sie fünf Pfund Sterling (hundert Mark) erreicht hat, wird an die eigentlichen Sparcassen abgeliefert. Nun erfahren wir mit aufrichtiger Freude, daß vor Kurzem eine ähnliche Einrichtung auch in Deutschland unter dem Namen „Pfennigsparcassen“ eingeführt wurde, und zwar in Darmstadt. Wir knüpfen an diese Nachricht die Hoffnung, daß dem Beispiele Darmstadts bald auch andere deutsche Städte folgen werden.
Die neugegründeten Pfennigsparcassen nehmen Einlagen in beliebigen von fünf zu fünf Pfennig aufsteigenden Beträgen bis zu fünfundneunzig Pfennigen an, ertheilen darüber unentgeltlich Quittungsbüchlein und schreiben die Einlagen in ein Tagebuch. Sobald die Einlage eines Pfennigsparbüchleins eine Mark erreicht, wird sie in der städtischen Sparcasse auf den Namen des Einlegers eingetragen und verzinst, worauf das Sparcassenbuch durch Vermittelung der Pfennigsparcasse dem Einleger behändigt wird. Die Rückzahlungen werden alsdann nur von der städtischen Sparcasse geleistet.
Vorläufig sind in Darmstadt an verschiedenen Punkten der Stadt elf „Pfennigsparcassen-Stationen“ errichtet worden, in welchen an jedem Sonnabend in den Abendstunden Erwachsene und Kinder ihre geringfügigsten Ersparnisse niederlegen können. Die Beamten der Pfennigsparcassen sind unbesoldet – sie bekleiden eben Ehrenämter.
Wie sehr diese Anstalt den wirklichen Bedürfnissen unserer Bevölkerung entspricht, ist auch daraus zu ersehen, daß allein an ihrem Eröffnungstage in den elf Stationen von zusammen 573 Einlegern 221 Mark 80 Pfennig eingezahlt wurden. Große Summe werden dabei freilich nicht zusammengebracht, aber schon die wenigen ersparten Groschen reichen bei plötzlich eintretender Noth gewöhnlich hin, um Arbeiterfamilien vor der Veräußerung ihrer unentbehrlichsten Habseligkeiten zu bewahren. – So möge denn zum Segen der arbeitenden Classen diese Anstalt gedeihen, die durch das Pfennigsparbüchlein an den alten Spruch erinnert:
Wer den Pfennig nicht will achten,
Wird umsonst nach Thalern trachten.
Zwei edle Todte aus der Bühnenwelt sind es, die wir heute zu betrauern haben: Emil Palleske und Friedrich Dettmer. Palleske – bei Nennung dieses Namens stehen vor unseren Lesern, ob sie im deutschen Norden oder Süden zu Hause sind, die säulengetragenen Hallen eines Concertsaales, einer Aula oder sonst eines den Musen geweiheten Raumes, wo ihnen einst die sonore Stimme des nun heimgegangenen Künstlers mit dem seltenen Reichthum ihrer Modulationen die Gestalten unserer classischen Dichter vor die Seele zauberte. Am 5. Januar 1823 zu Tempelburg in Pommern geboren, wurde Palleske nach einer längeren Bühnenlaufbahn einer unserer geistvollsten dramatischen Vorleser. Seine durch scharfe Individualisirung und überzeugende Lebenswahrheit ausgezeichnete Wiedergabe namentlich Shakespeare’scher Charaktere macht ihn – nach Türschmann – für die Gegenwart zu dem hervorragendsten Vertreter seines Faches. Auch als Schriftsteller hat Palleske sich mit Glück bethätigt; seine Dramen: „König Mammouth“, „Achilles“ und „Oliver Cromwell“ bekunden ein achtbares Talent, die werthvollste literarische Ausbeute seines Lebens dürfte aber sein mustergültiges Buch „Schiller’s Leben und Werke“ sein. – Würdig neben Emil Palleske steht Friedrich Dettmer, ein Kasselaner Kind (geboren den 25. September 1835), der geniale Nachfolger und geistige Erbe Emil Devrient’s. Gleich bedeutend in der Tragödie, wie im Schau- und Lustspiel, war er ein Liebling der Dresdener, an deren Theater er seit 1856 wirkte. Wer seinen „Hamlet“, seinen „Tell“, seinen „Egmont“, seinen „Uriel Acosta“ gesehen, wird den Lorbeer, den die „Gartenlaube“ hiermit auf das noch frische Künstlergrab niederlegt, gewiß einen gerechten nennen.
Urtheil gegen den Geheimmittelattestfabrikanten Heß – unter diesem Titel bringt das „Aerztliche Vereinsblatt für Deutschland“ in seinem Octoberhefte eine Mittheilung, die wir unter Hinweis auf unsere Aufsätze: „Ein Preßproceß der ‚Gartenlaube‘“ (Nr. 7 d. Jahrg.) und „Die Helfershelfer des Geheimmittelschwindels“ (Nr. 11 d. Jahrg.) und „Noch einmal in der Falle“ (Nr. 22 d. Jahrg.) nachstehend mittheilen:
„Der Vorsitzende des Karlsruher Ortsgesundheitsraths, Bürgermeister Schnetzler, war von dem angeblichen Chemiker Dr. Ludwig Heß in Berlin auf Grund einer vom Ortsgesundheitsrath erlassenen Bekanntmachung, worin auf die Vertrauensunwürdigkeit der von Heß ausgestellten Atteste über Geheimmittel aufmerksam gemacht, wegen Beleidigung sowie auch auf dreitausend Mark Schadenersatz verklagt worden. Das nunmehr rechtskräftige Erkenntniß des Großh. Amtsgerichts zu Karlsruhe verfügt die Abweisung des Klägers unter Verfällung desselben in die Kosten des Verfahrens. In den gerichtlichen Entscheidungsgründen ist zunächst die Wahrheit der incriminirten Behauptungen des Angeklagten festgestellt und sodann ausgeführt, daß sich die Bezeichnung des Heß als eines Helfers von Schwindlern und gewissenlosen Betrügern aus den gemachten thatsächlichen Feststellungen und aus dem Zwecke der Veröffentlichung rechtfertige. Dieser letztere, besagen die Gründe wörtlich, besteht nämlich darin, das Publicum über die Art und Weise, wie die Gutachten der Herren Werner, Müller und des Klägers zu Stande kommen, und daher auch über den Werth derselben aufzuklären, um auf diese Weise dem Geheimmittelunwesen entgegenzutreten.
Die Verfolgung dieses Zweckes ist nicht nur rechtlich erlaubt, sondern auch dem allgemeinen Interesse förderlich, daher wünschenswerth und sogar sittlich geboten. Kann aber, wie im vorliegenden Falle, ein solcher Zweck nur dadurch erreicht werden, daß die Urheber eines gemeingefährlichen Treibens – und als solches stellt sich das Geheimmittelunwesen in seinem ganzen Umfange dar – in ihrem sittlichen Unwerthe in der schonungslosesten Weise an den Pranger gestellt werden, so muß ein Verfahren, wie das vom Beschuldigten geübte, als rechtlich zulässig erscheinen, mit anderen Worten: Es existirt ein gutes Recht, einen Schwindler als einen Schwindler zu bezeichnen, wenn dies zur Verwirklichung eines gemeinnützlichen, auf andere Weise nicht erreichbaren Zweckes und zur Abschaffung eines gemeingefährlichen, vom sittlichen Standpunkt aus zu verurtheilenden Treibens nothwendig ist.“
M. v. Th. in St. Petersburg. Nein! Der nächste Jahrgang wird mit einem äußerst wirkungsvollen Roman unserer allbeliebten E. Marlitt eröffnet werden.
G. R. in Gotha. Sie irren, Verehrtester. Die älteste unter den deutschen Revuen der Gegenwart ist die von Rudolf von Gottschall redigirte und im Verlage von F. A. Brockhaus erscheinende Monatsschrift „Unsere Zeit“. Sie finden darin unter Anderem auch die von Ihnen gesuchte zusammenhängende Darstellung der neuesten Geschichte der einzelnen Staaten sowie fein gezeichnete Charakterbilder der hervorragendsten Persönlichkeiten auf allen Gebieten des Wissens und Leistens – also gerade das, was Sie wünschen: eine erschöpfende Ergänzung der Zeitungslectüre.
M. L. in Danzig. Oft genug haben wir erklärt, daß wir die Beantwortung auf brieflichem Wege stets derjenigen an dieser Stelle vorziehen. Rücksichten der Discretion machen uns die Erledigung Ihrer Anfrage hier unmöglich. Also Ihre Adresse, wenn wir bitten dürfen!
J. M. Sehr gern.
- ↑ Durch diese Gesetze bewies Kepler, daß sich die Planeten nicht in Kreisen, wie Copernicus lehrte, sondern in Ellipsen, in deren einem Brennpunkte die Sonne steht, bewegen, und vervollkommnete hierdurch das Copernicanische System.D. Red.