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Die Gartenlaube (1880)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[645]

No. 40.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Schwester Carmen.
Aus dem Leben einer deutschen Herrnhuter-Colonie.
Von M. Corvus.
1.

Dämmerung lag noch auf der Erde, und der Morgen rang mit der Nacht um die Alleinherrschaft. Im Osten färbte sich schon graues Gewölk mit gelblichem Scheine, und ein leiser Luftzug strich frisch über die jungen Halme der Saat, als sei er ein Odem, der die Welt wieder belebe.

Und immer lichter wurde das Grau der Dämmerung; immer goldener färbten sich die Wolken; bald auch zuckten Strahlen glühenden Lichtes am Horizont empor. Da, mit lautem Jubelruf, schwang sich im Felde eine Lerche aus ihrem feuchten Neste auf; sie sang dem auferstehenden Licht entgegen, und als habe sie mit ihrem Lied die Stimmen der Erde geweckt, erschallten jetzt laut Posaunentöne und feierlicher Gesang, die Auferstehung zu feiern, die Auferstehung nicht nur der Sonne, sondern auch der ganzen Natur und der Menschheit – es ist Ostersonntag.

Dort, wo die Häuser des kleinen Ortes stehen, tritt soeben eine Schaar einfach gekleideter Menschen hervor und zieht durch die grünenden Saatenfelder den Hügel hinan. Es ist ein weiter Garten, den sie hier betreten; große Lindenbäume breiten schirmend das jetzt noch kahle Geäst ihrer Zweige darüber hin. Inmitten aber steht ein Kreuz von Stein, das Kreuz Christi, dessen Auferstehung die Stimmen der Posaunen und der Menschen soeben jubelnd begrüßen. Freude liegt auf allen Gesichtern, wie die Menge jetzt um das Kreuz geschaart steht und andächtig zu demselben aufblickt, das volle Licht der nun aufgegangenen Sonne aber sich mit blendendem Scheine über sie ergießt.

Nun schweigt der Gesang; die Musik verstummt, und weithin schallend, ruft aus der Menge eine laut vernehmliche Stimme:

„Der Herr ist erstanden.“

„Er ist wahrhaftig auferstanden,“ antwortet jubelnd, wie aus einem Munde, die ganze Schaar der Versammelten.

Und der, welcher zuerst gesprochen, tritt vor an den Fuß des Kreuzes und redet zu der Menge:

„Meine lieben Brüder und Schwestern! Wie alljährlich am Ostersonntag, sind wir auch heute auf unseren freundlichen Gottesacker gezogen, nicht um die Todten zu betrauern, nein, um uns zu freuen, daß unser Heiland auferstanden ist aus dem Grabe zu himmlischem Leben. Und mit ihm sind auferstanden Alle, die ihm nachfolgten im irdischen Leben. Darum, wie wir niemals mit dem Kleide trauern, trauert auch nicht mit der Seele, wenn Ihr der Brüder und Schwestern gedenkt, die vor uns dahingegangen sind, sondern drückt Euch die Hände und freuet Euch, daß ihnen die Seligkeit geworden ist durch den Erlöser! Um seinetwillen, um des reinen Glaubens willen wanderten die mährischen Brüder damals fort aus der alten Heimath mit Weib und Kind und ließen zurück all ihr Hab und Gut – aber sie nahmen mit, was köstlicher war als dieses: sie nahmen im treuen Gemüthe mit, was ein Huß, was ein Comenius ihnen gelehrt, die einfachen Grundwahrheiten des Christenthums. Und sie suchten eine neue Stätte, wo sie wohnen und ihrem Glauben leben konnten. 'Da, wo der Vogel ein Haus und die Schwalbe ihr Nest gefunden, nämlich Deine Altäre, Herr Zebaoth!' – da bauten sie sich an; der neuen Gemeine aber, die sich mit ihnen bildete, übertrugen sie die alten Satzungen, nach denen sie gelebt, die alte Verehrung für ihren Erlöser, die alte Liebe und Brüderlichkeit. Und aus dem kleinen Samenkorn, das sie gesteckt, hat sich die neue Brüdergemeine ausgebreitet über die Erde.

Laßt uns, die wir ihre Nachkommen sind, dem treu bleiben, was sie verband, laßt uns das heilig halten, um dessen willen sie fortwandern mußten und das sie treu und fest gehalten haben in aller Noth und Fährlichkeit! Haltet fest an der Liebe! Traget und verzeihet einander in der Liebe, opfert Euch auf in der Liebe, leidet in der Liebe und sterbet in ihr – dann seid Ihr wirklich Jünger unseres Heilandes. Amen!“

Der Prediger schwieg, und die Gemeinde sprach andächtig sein Amen nach. Dann drückten sie sich freudig lächelnd die Hände und umarmten einander. Der große Kreis, der das Kreuz umstanden hatte, löste sich auf, und in einzelnen Gruppen durchwandelten sie nun den freundlichen Garten, wo Die ruhen, welche sie zur letzten Rast hierher getragen.

Die Glieder der Brüdergemeinde, wie sie hier in leisem, aber heiterm Gespräche, immer die Geschlechter getrennt, hinwandeln, ähneln sich alle in äußerst schlichter, einfacher Kleidung. Nirgends ein Putz oder Prunk; die Sauberkeit scheint der einzige Putz zu sein, welchen sie suchen, denn Alle sind darin von äußerster Peinlichkeit. Auffallend ist nur, daß die Frauen und Mädchen den Kopf mit weißen Häubchen bedeckt haben, die sich eng und schlicht ihm anschließen, und daß die Farbe des Bandes daran eine besondere Abzeichnung bildet. Wie die Frauen durch blaue und die Wittwen durch weiße Schleifen sich kennzeichnen, so tragen die älteren Mädchen rosa Bänder und die noch heranwachsenden deren von feuerrother Farbe.

Die Menge der Hin- und Herwandelnden lichtete sich nach und nach, in kleineren und größeren Gruppen; endlich waren sie [646] Alle nach den untenliegenden Häusern, welche den freundlichen Wohnort der Brüdergemeinde bilden, zurückgekehrt.

Ein junges Mädchen nur ist, wie verloren, auf dem Hügel zurückgeblieben und scheint, in Gedanken versunken, gar nicht zu bemerken, daß ihre Gefährtinnen den Heimweg angetreten haben. Sie steht an einen der großen Lindenbäume gelehnt, dessen starker Stamm ihre schlanke Gestalt völlig verdeckt, und sieht auf die schöne Landschaft hinab, die jetzt, im vollen Sonnenlichte glänzend, mit Berg und Thal, mit Wald und Feld vor ihr liegt. Noch steht nirgends etwas in Blüthe, aber es ist wie ein Ahnen nun kommender Herrlichkeit in der ganzen Natur, als schwelle jede Knospe sich, die Fessel zu sprengen.

„Schwester Carmen, hast Du denn gar nicht bemerkt, daß Dein Chor mit den Aeltesten heimgekehrt und es hier oben leer geworden ist?“ fragt plötzlich eine tiefe Männerstimme neben ihr.

Sie schrak sichtlich zusammen – war es ob des Alleinseins oder ob der Störung in ihrer Träumerei? Sie fuhr zurück und drehte sich hastig nach dem Sprechenden um, einem Mann in schon vorgerückten Jahren. Sein Haar war zwar völlig grau gefärbt, aber das Gesicht hatte noch viel Frische und eine blühende Farbe; es war schwer zu bestimmen, ob er ein Fünfziger oder ein Sechsziger sei. Obschon die Stirn gefurcht war und die Augen ernst und mit dem Ausdruck großer Gelassenheit und frommer Demuth aufblickten, lag doch um seinen Mund ein etwas frivoler Zug, der dem Ausdrucke der Augen widersprach.

„Sind wirklich Alle schon fortgegangen, Bruder Jonathan? Ich habe ganz der Zeit vergessen über dem Glücke, das ich empfand,“ sagte das Mädchen lebhaft.

„Ich freue mich, zu hören, liebe Schwester, daß es Dich so herzinnig glücklich macht, die Auferstehung unseres Heilandes zu feiern,“ entgegnete er ihr. „Wahrlich, das ist ein selig Gemüth, das sich ganz in die Herrlichkeit des Erstandenen versenkt und, der Weltlust entsagend, über das Zeitliche hinweg, sich hier schon der Seligkeit des Jenseits erfreut.“

„Ich dachte aber jetzt gar nicht an das jenseitige Leben, sondern nur an das auf dieser Erde. Wie schön ist es doch, und welch ein Glück, es zu genießen und sich dessen zu freuen!“ sagte sie ehrlich und dabei glänzte ihr Gesicht in einem warmen Ausdrucke der Lebenslust und der Freude.

Es war ein selten schönes Gesicht, in das der Mann neben ihr bewundernd blickte. Das glatt anliegende Häubchen zeigte mit seiner feuerrothen Schleife, daß das Mädchen das achtzehnte Jahr noch nicht erreicht habe, und ließ überall glänzendes, blauschwarzes Haar hervorstreben, dessen Reichthum die knappe Hülle nirgends recht zu bergen noch zu fesseln vermochte. Eine edel gewölbte Stirn mit stolz geschwungenen Bogen der feinen Brauen ließ große schwarze Augen hervorleuchten, die in Verstand und Fröhlichkeit blitzten; die gebogene Nase mit leicht geblähten Flügeln, der ein wenig aufwärts geschwungene Mund mit den vollen kirschrothen Lippen gaben dem Gesicht etwas Stolzes, das aber von dem heiteren, lieblichen Lächeln, das darauf leuchtete, sieghaft bezwungen wurde. Obgleich nur wenig Röthe auf ihren Wangen lag, glänzte doch die zarte, gelbliche Haut in Lebensfrische und Wärme, und die hohe, schlanke, biegsame Figur, die mit so kindlichem Sichgehenlassen an den alten Stamm der Linde sich schmiegte, zeigte in ihren Formen das schönste Ebenmaß.

„Ja gewiß, auch das irdische Leben ist schön, liebe Schwester,“ begann der Mann wieder, noch näher zu ihr tretend. Und sicherlich, er mußte es schön finden, wenn er auf dieses junge, herrliche, blühende Leben sah. „Ja, wir thun auch weise daran, uns dessen zu erfreuen, indem wir es für das jenseitige nutzen, und wir vermögen das, je mehr wir Jesum und in ihm uns einander lieben. Schwester Carmen, hast Du die schöne Rede von der innigen Bruder- und Schwesterliebe aufmerksam angehört, welche unser verehrter Presbyter soeben gehalten hat?“

Er war ihr so nahe getreten, daß, als er sprach, sein Athem heiß ihre Wange berührte, und dabei legte er die eine Hand auf ihre Schulter, sie aber, als sei ihr das peinlich und unangenehm, wendete schnell den Kopf seitwärts und, sich mehr von ihm zurückziehend, sodaß auch seine Hand von ihrer Schulter glitt, sagte sie:

„Ja, ich habe sie gehört und gewiß, es ist schön, einander zu lieben, aber ich denke, es ist nicht immer alles Liebe, was so heißt oder so aussehen soll.“ Und dabei zuckte es schelmisch um ihren Mund.

„Liebe Schwester, wie kannst Du also sprechen!“ mahnte er. „Die Menschen sind freilich schwach und fehlen oftmals gegen die göttliche Lehre, aber mit der Bruderliebe sollen wir einander helfen, auf daß wir alle Eins und innerlich gleich werden.“

„Gleich werden!“ meinte sie sinnend und blickte mit den dunklen Augen über den Sprechenden hin, dann zu den Häusern hinab. „Können wir das? Gott hat uns doch so verschieden geschaffen – wenn er uns Alle gleich haben wollte, würde er das gethan haben?“

Der Mann neben ihr blickte aufmerksam auf sie hin, und es trat ein Ausdruck von Mißbilligung auf sein Gesicht und in den Ton seiner Stimme, als er ihr antwortete:

„Wer Dich also reden hört, Schwester Carmen, und nicht, wie ich, Dich schon gekannt hat, als Du so klein warst, daß Dein Köpfchen kaum zu meinem Knie heranreichte – es war auf Jamaica, als ich aus der Mission zu Deinem Vater hinaus kam – der würde nicht glauben, daß Du immer unter uns gelebt hast und zu uns gehörst.“

Sie erröthete tief bei dem Tadel, der in seinen Worten lag, und als wolle sie sich entschuldigen, entgegnete sie lebhaft:

„O verzeihe mir und glaube nur, ich möchte gewiß den Besten gleichen und gern so gut sein, wie diese es sind! Aber ich kann nicht immer ruhig und gemessen bleiben, wie Ihr Alle es seid, und ich fürchte, auch unserer lieben Aeltesten, Schwester Agathe, wird es mit allen ihren Ermahnungen nicht gelingen, das an mir zu ändern, so wenig wie Du, der weise Bruder Doctor Jonathan Fricke, mit all Deinen bewährten Mitteln nicht den Einen wie den Andern gleich gesund machen kannst. Jeder Vogel singt nach seiner Weise, und sie ist, weil sie anders ist, doch deshalb nicht schlecht. Ich kann auch nicht glauben, daß alle die andern Menschen, die nicht wie wir still einhergehen und geräuschlos sich freuen, verwerflicher sind denn wir, weil sie munter lachen und tanzen bei fröhlicher Musik. Tanzen!“ lachte sie plötzlich auf, daß die weißen Perlen der Zähne zwischen den rothen Lippen hervorblickten. „Es muß eine Lust sein sich im Reigen zu drehen, wenn die heitern Töne so verlockend erschallen.“

Sie hatte sich hinreißen lassen, lauter zu sprechen, als es sich mit herrnhutischer Art und dem Orte vertrug, wo sie sich befanden. Ihre Augen funkelten, und der kleine Fuß, der unter dem Saume des Kleides hervorgeschlüpft war, schien wohl geeignet, sich im fröhlichen Tanze zu schwingen. Ein Blick auf ihren Gefährten aber ließ sie darüber erschrecken. Sie senkte die munter funkelnden Augen, zog schnell das vorwitzige Füßchen wieder zurück und das schwarze Tuch, das von ihren Schultern geglitten war, dichter um sich zusammen.

„Aber,“ sagte sie hastig, „die Zeit, die Zeit! Ueber dem Reden wird es immer später, und Schwester Agathe wird mir mit Recht zürnen.“

Sie eilte mit flüchtigen Schritten durch den stillen, einsamen Todtengarten den Hügel hinab und den Weg nach den Häusern der Colonie zu.

Der Mann aber sah ihr nach, so lange seine Blicke die dahinschwebende Gestalt des jungen Mädchens zu erreichen vermochten. Auch von ihm war alle fromme Gelassenheit gewichen. In seinen Augen leuchtete ein eigenthümliches Feuer; in seinem Gesichte zuckte leidenschaftliches Verlangen auf und versetzte den alternden Mann in die begehrliche Ruhelosigkeit der Jugend.

„Sie hat von der Mutter das stolze, heiße spanische Blut, aber ach! auch die ganze verhängnißvoll berückende Schönheit geerbt,“ flüsterte er vor sich hin. „Wenn ich sie besitzen –“

Er brach schnell ab, als könne Jemand ihn hören. Dann stäubten seine Finger an dem sauberen Anzuge von seinem grauen Tuche herunter, als hätten sich da Schmutz und Flecken angesetzt, und doch war Alles so rein und in Ordnung, daß nichts daran zu verbessern war. Dann wieder den Kopf ein wenig senkend in die gewohnte, demüthig fromme Haltung, gab er den Augen den ernsten Ausdruck, den Gesichtszügen die gemessene Würde von vordem wieder, und er war wieder der alte Bruder Jonathan Fricke, der nun ruhig und gesammelt seinen Weg hinabschritt.



2.

Eine Herrnhuter-Colonie! Mit dem Schritt, den wir da hinein setzen, ist es, als ob wir in eine andere Welt träten, die nach innen und außen unendlich verschieden ist von dem Gefüge [647] und Getriebe derjenigen, die sich dicht bis an ihre Grenzen drängt und der sie still und unabänderlich das Bollwerk ihrer alten Gebräuche, die Einfachheit ihrer Einrichtungen und die Strenge ihrer Sitten entgegensetzt; sie vermischt sich nimmer mit dem, was da draußen um sie wogt und von dem Zeitgeiste vorwärts getrieben wird – sie ist ein Häuflein Christen, das aus der ersten apostolischen Zeit des christlichen Glaubens zurückgeblieben zu sein scheint, gleichsam, wie Pompeji, unter der Asche der Zeiten verschüttet und von späteren Jahrhunderten erst wieder ausgegraben.

Die Verfassung ihrer Gemeinen ist die einer großen, durch Liebe verbundenen Familie; alle Glieder derselben sind Brüder und Schwestern, nach Geschlecht, Alter und Lebensverhältniß in Chöre eingetheilt, an deren Spitze je ein Aeltester oder eine Aelteste steht, denen die Seelenpflege und Sittenzucht obliegt und welche die äußeren Angelegenheiten ihres Chores vertreten. Durch sie wird die Aeltesten-Conferenz von Allem, was in den Chören und Familien vorgeht, genau unterrichtet; diese bildet die leitende Behörde der Gemeine, mit einem Gemeinhelfer als Vorsteher an ihrer Spitze, und es ist nichts, was in dem Leben eines Gemeingliedes sich ereignet, das nicht vor ihr Forum gehört. –

Durch die stillen, peinlich sauber gehaltenen Straßen der Colonie fuhr um die zehnte Morgenstunde ein eleganter Wagen, der mit zwei feurigen Braunen bespannt war.

Jetzt lenkte der Kutscher die Pferde nach dem Gasthause, oder, wie es hier heißt: nach dem Gemeinlogis des Ortes, und der Wagen hielt davor an. Ein junger, stattlicher Herr mit strammer, militärischer Haltung sprang zuerst heraus und half einer Dame und einem etwa zwölf Jahre zählenden Mädchen beim Aussteigen, denen ein langaufgeschossener junger Mann mit noch knabenhaftem Wesen folgte.

„Spanne aus, Johann, und trage dann den Koffer in das Schwesternhaus!“ befahl der Herr dem Kutscher.

Die Angekommenen gingen in das Gastzimmer, das groß und geräumig, die Diele mit feinem, weißem Sand bestreut, aber völlig leer von Gästen, vor ihnen lag. Der Wirth, ein ruhiger, älterer Mann, trat ihnen langsam entgegen, fragte nach dem Begehr der Fremden und bediente dann diese selbst. Es geschah das so lautlos, daß nicht einmal die Teller und Gläser klirrten, die er hereintrug und auf den reinlichen, weißen Tisch stellte; dann ging er ebenso geräuschlos wieder seiner Beschäftigung außer dem Zimmer nach, ohne nach Art sonstiger Wirthe zu versuchen, mit seinen Gästen ein Gespräch anzuknüpfen und nach dem Woher und Wohin zu forschen.

Die Dame, eine vornehme, höchst ansprechende Erscheinung, war offenbar die Mutter der drei Anderen, obgleich sie noch ziemlich jung aussah und der ältere der beiden Brüder wohl schon dreißig Jahre zählen mochte. Sie bot das Frühstück herum, das in allen seinen Theilen vortrefflich war und schnell eingenommen wurde; dann bestellte sie bei dem herbeigerufenen Wirth ein Mittagsmahl für ein Uhr, und die kleine Gesellschaft verließ wieder das Haus.

Auf der Straße herrschte noch dieselbe Ruhe, dieselbe Menschenleere wie vorher.

„Du kennst den Weg nach dem Schwesternhause, Mama?“ fragte der junge Mann die Dame, mit welcher er vorausging, während die beiden Jüngeren ihnen folgten.

„Gewiß, Alexander,“ entgegnete die Angeredete. „Ich bin ja früher schon einmal dagewesen, als ich vor Jahren Präsident von Karsdorf's hier besuchte. Es zog mich gleich alles hier auf das Lebhafteste an, und wie gut kann ich es verstehen, daß Karsdorf's sich hierher zurückgezogen hatten, um an diesem friedvollen sauberen Orte ihr Leben zu beschließen.“

„Mir will diese außerordentliche Sauberkeit fast wie ein Prunken der demüthigen Brüder vorkommen, als solle sich in dieser peinlichen Ordnung und Reinlichkeit die innere Reinheit ihrer Seele widerspiegeln,“ meinte der Sohn lachend.

„Du bist gegen herrnhutisches Wesen eingenommen, ich weiß es, und doch haben die Brüdergemeinen so viel des Guten, und ihre Sitten sind untadelhaft,“ eiferte die Dame dagegen.

„Das mag alles sein, Mama, ich erkenne gewiß das Vorzügliche an, wo es uns hier entgegentritt,“ erwiderte der junge Mann. „Aber das Formenwesen, das sich hier bei allem äußeren Thun und Lassen aufzwängt, ist wie ein Eindämmen des freien Geistes; bei alledem ist so viel Unnatürliches, Gesuchtes, was mir widersteht – Du weißt, das Absichtliche, wo man es fühlt, verstimmt. Ich mag überhaupt die Sectirer nicht leiden, und solche sind sie, obschon sie dafür nicht gelten wollen, und unter all dem demüthigen Wesen, dem frommen Spielen mit dem Glauben versteckt sich sicherlich bei Vielen Heuchelei. Ich will nicht untersuchen, wie viel Herr von Karsdorf zum Beispiel geheuchelt hat, er, der alte Lebe- und Weltmann, um sich der Gemeine anzupassen und als demüthiger Bruder seine Tage hier beschließen zu können.“

Die Mutter schüttelte den Kopf.

„Ich denke eher,“ sagte sie, „es ist den Brüdern und Schwestern das stille, fromme Wesen so zur andern Natur geworden, daß es bei ihnen nicht unnatürlich ist und dazu keiner Heuchelei bedarf. Und ferner: wie trefflich ist der Haushalt der Gemeinen, wie rührig sind sie im Gewerbfleiß und Handel – das sind doch auch praktische Vorzüge, neben der Seelenpflege, welchen sie sich widmen.“

„Sie sind darin groß, das gebe ich zu, aber es ist doch immer eine Größe im Kleinen; ihre Vorzüge würden sehr klein und unhaltbar im Großen sein, für eine Staatsverfassung undenkbar und unausführbar. Es ist wie die fleißige Arbeit in einem Ameisenhaufen, rührig und geschäftig, aber kleinlich. Sie bringen keine Genies hervor. Wo ist je ein solches unter ihnen erstanden, wo ist je ein großer Gelehrter oder Künstler aus ihren Kreisen hervorgegangen?“

„Und ihr rastloses Ringen,“ fiel die Mutter lebhaft ein, „ihr Kämpfen unter Entbehrungen, Mühsalen und Verfolgungen aller Art in fernen Ländern um des großen Gedankens willen: wilde, rohe Völkerstämme der Verderbniß zu entreißen und für die versittlichende christliche Religion zu gewinnen, ist das nicht auch eine Großthat? Dann ihre eigenen Erziehungsanstalten in den Gemeinen – sind sie nicht ausgezeichnet? Ich erhoffe für Adele den größten Gewinn davon. Aber,“ sagte sie jetzt stehen bleibend, „ich habe doch wohl Unrecht gethan, auf meine Ortskenntniß zu bauen; denn wie mir scheint, bin ich in die falsche Straße eingelenkt, da das Schwesternhaus entschieden hier nicht steht.“

„Nun, dort kommen endlich einmal menschliche Wesen gegangen, ein Mädchen mit einem Kinde; die werden uns berichten können,“ entgegnete Alexander.

Er ging den Kommenden einige Schritte entgegen und höflich grüßend, bat er um Auskunft.

Das junge Mädchen machte den Fremden eine zurückhaltende Verbeugung und hörte mit gesenkten Augen die Frage nach dem Wege zum Schwesternhause an. Dann wendete sie sich zu der inzwischen auch herangekommenen Dame und sagte bescheiden und artig: „Ich gehe eben dorthin – darf ich Sie führen?“

„Sie würden uns verbinden,“ entgegnete die Dame freundlich.

„Welch liebliche Schwester! Da möchte man schon Bruder sein,“ raunte Alexander der Mutter lachend zu, aber doch noch nicht leise genug, als daß das feine Ohr des Mädchens es nicht vernommen hätte; denn sie erröthete tief, und die vollen Lippen des kleinen Mundes kräuselten sich stolz und abweisend empor. Sie kehrte sich, augenscheinlich tief verletzt, von dem Herrn ab, sagte zu der Dame nur: „Bitte,“ und schritt ruhig und unbekümmert um die ihr Folgenden, mit dem Kinde an der Hand voran.

Sie führte Jene ein Stück des von ihnen gekommenen Weges zurück und bog dann in eine Seitenstraße ein. Auch hier gab es – es war schier zum Verwundern – lebende Wesen; denn ein Pferd stand aufgezäumt und gesattelt vor einem der Häuser, und ein Mann war eben im Begriff, dasselbe zu besteigen.

Der fromme Bruder mochte nicht zu den allzu geübten Reitern, und das Pferd, ein stätig aussehendes Thier, nicht zu den geduldigen Creaturen gehören; denn jener zeigte sich ziemlich linkisch, und dieses schlug, bei der bekundeten Absicht des Mannes, heftig aus und sprang auf die Seite. Der Mann redete ihm ruhig zu, streichelte seinen Kopf und versuchte dann abermals das schwierige Manöver, hinauf in den Sattel zu kommen, aber mochte es nun der Anblick der näherkommenden Fremden sein, der ihn verlegen und seine Ungeschicklichkeit noch unbehülflicher machte: er hatte kaum den Fuß auf den Bügel zu setzen versucht, als das Thier bäumte, ausschlug und zurücksprang; dabei entglitt der Zügel seiner Hand, und der Mann fiel auf das Straßenpflaster hin, während das scheue Pferd frei die Straße hinab, gerade den Kommenden entgegensprengte.

[648] Bei den ersten vergeblichen Bemühungen des Reiters, das stätige Thier zu besteigen, war das junge Mädchen mit dem Kinde ängstlich seitwärts an die Häuser getreten, und sich nach den ihr Folgenden umsehend, nahm sie wahr, wie auf dem Gesicht des jungen Herrn die Ungeschicklichkeit des frommen Sonntagsreiters ein spöttisches Lächeln hervorrief; vermuthlich war er selbst ein tüchtiger Reiter, und er sah auch mit seiner eleganten, geschmeidigen, aber kräftigen Gestalt ganz darnach aus, sogar das wildeste Pferd meistern zu können.

Jetzt, als der Mann fiel und das losgelassene Thier ihnen entgegen kam, eilten auch die Fremden auf die Seite, die Kleine aber hatte sich von der Hand des Mädchens losgerissen und sprang, nach thörichter Kinder Art, in die Mitte der Straße zurück, um einen Ball aufzuheben, den sie soeben hatte fallen lassen und der dorthin gerollt war.

Von allen Lippen ertönte ein Schrei des Erschreckens; denn im nächsten Augenblick mußte das Pferd über die sich bückende Kleine hinwegrasen. Da, noch ehe das junge Mädchen dem Kinde nacheilen konnte, war der fremde Herr, ohne sich lange zu besinnen, mit einem Satz neben dem Kinde und sich fest emporrichtend, Energie im Blick und in der Haltung, faßte er mit kräftiger Hand in die Zügel des heransprengenden Thieres, daß es aufbäumend vor ihm stand – er drängte es gewaltsam zurück. Dies Alles war so schnell geschehen, daß, als das Kind sich ahnungslos mit seinem Ball wieder emporrichtete, die über ihm schwebende Gefahr schon überwunden war und der Herr mit dem Pferde seitwärts stand, während das junge Mädchen todtenbleich gegen die Wand eines Hauses lehnte, aber sie raffte sich schnell wieder zusammen, und zu dem Kinde hineilend und es wieder an ihre Hand nehmend, sagte sie mit bebender Stimme, indem sich ihre Augen schüchtern, wie Abbitte thuend, auf Alexander richteten:

„Ich danke Ihnen, mein Herr; Sie haben die mir anvertraute Kleine aus großer Gefahr gerettet.“

Jetzt kam auch der abgeworfene Reiter ziemlich beschämt herbeigehinkt und dankte ebenfalls dem Helfer in der Noth. Es war ein so auffälliger Gegensatz zwischen den beiden Männern, daß er, wie sie jetzt neben einander standen, Jedermann, auch dem jungen Mädchen, in die Augen springen mußte. Die demüthige Haltung der kleinen, linkischen Gestalt des Bruders sah so unmännlich aus neben der hohen, eleganten Figur Alexander’s, die bei aller Geschmeidigkeit doch voll Energie war und wie von Stahl geschmiedet zu sein schien. Jede Muskel war von der soeben gehabten Anstrengung noch angespannt; die Wangen waren höher gefärbt; die blauen Augen leuchteten im hellen Feuer innerer Willensstärke, und doch lag keine Erregung auf dem Gesicht, sondern die sichere Ruhe der bewußten Kraft.

Während er das Pferd noch an seiner festen Hand hielt, gelang es nun endlich dem Andern, in den Sattel zu kommen.

„Ein abscheulicher Gaul, mein Herr,“ sagte Alexander, dem Retter die Zügel übergebend. „Er scheint kitzelig zu sein und nicht Spaß zu verstehen; schonen Sie die Sporen und halten Sie die Hand fest am Zügel, bis Sie seiner sicher sind!“

Damit ließ er los, und Mann und Thier zogen fürbaß.

„Und nun bitte, mein Fräulein, seien Sie wieder unsere Führerin,“ wendete Alexander sich mit einer Verbeugung dem jungen Mädchen zu.

Nach einer kurzen Weile standen sie vor der Thür des freundlichen Schwesternhauses.

„Ah, da sind wir ja an Ort und Stelle!“ rief die Dame erfreut aus. „Ich danke herzlich für Ihr Geleit, liebes Kind. Wollen Sie so freundlich sein, uns zu sagen, wohin wir uns hier zu wenden haben? Wir sind brieflich angemeldet und werden erwartet – ich bin Frau von Trautenau, das sind meine beiden Söhne, und dieses mein Töchterchen bringe ich als Pensionärin hierher.“

Dabei reichte sie ihre Hand herzlich dem jungen Mädchen und blickte freundlich in deren schönes Gesicht.

„Ich bitte, hier in das Sprechzimmer einzutreten,“ sagte diese bescheiden, eine Thür zu ebener Erde öffnend, „ich werde unsere Aelteste, Schwester Agathe, von Ihrer Ankunft benachrichtigen.“

Es währte auch nicht lange, so trat diese ein, eine freundlich würdige Erscheinung, zu deren ergrauendem Haar die den unverheiratheten Schwestern zukommende Rosaschleife des Häubchens sonderbar stand. Sie begrüßte die Dame so würdevoll wie herzlich.

„Verzeihen Sie, daß ich mit meiner ganzen Familie bei Ihnen erscheine, und erlauben Sie mir, Ihnen dieselbe vorzustellen,“ sagte Frau von Trautenau nach der ersten Begrüßung. „Mein Stiefsohn Alexander, Hauptmann der Infanterie, der meine treue Stütze ist, seitdem ich meinen guten Mann verlieren mußte, mein Sohn Hans und hier mein Töchterchen Adele, Ihr nunmehriger Pflegling, den ich Ihrer Güte von Herzen empfehlen möchte.“

Schwester Agathe nahm das Mädchen liebevoll in ihren Arm, und einen Kuß auf ihre Stirn drückend, sagte sie herzlich:

„Du wirst mir nun vertrauen, liebes Kind, wie Deiner Mutter, und ich werde Dich lieb haben, wie diese Dich liebt. Wir sind hier eine große Menge von Schwestern beisammen, die sich alle lieben, fröhlich lernen und fleißig arbeiten. ‚Bete und arbeite!‘ dieser goldene Spruch geht mit uns, so lang unser Tag währt, und die Liebe und Arbeit, die Du finden wirst, wird Dir helfen, Dich schnell bei uns einzuleben.“

„Ich wohne ja auch in der Nähe,“ sagte Frau von Trautenau, da das Gesicht des Mädchens bange aufblickte, „unser Gut Wollmershain ist in ein paar Stunden erreicht. Ich kann recht gut einmal herfahren, und Sie werden gewiß auch hin und wieder gestatten, daß Adele zu uns kommt?“

„Gewiß, Frau von Trautenau,“ entgegnete die Chorälteste, „in den Ferien. – Darf ich Ihnen nun unsere Räumlichkeiten und Einrichtungen zeigen, damit Sie wissen, wo und wie Ihr liebes Töchterchen leben wird?“

„Ich bitte darum,“ entgegnete die Dame, „es interessirt uns natürlich hier Alles auf das Lebhafteste.“

Dabei erhoben sie sich und folgten Schwester Agathe.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Malerfürst der Gegenwart.
Von Fr. Pecht.


Wenigen Künstlern ist es gelungen, auf die Weiterentwickelung der Schule, aus der sie hervorgegangen, einen so bedeutenden und nachhaltigen Einfluß zu üben, wie dem Meister, von dem ich hier eine kurze Lebensskizze zu entwerfen versuche. Ich glaube zu diesem Versuch um so mehr ein Recht zu haben, als ich die künstlerische Wirksamkeit Piloty’s fast von ihrem Beginn an in nächster Nähe zu verfolgen in der Lage war, ohne doch jemals in einem persönlichen Verhältnisse zu ihm gestanden zu haben, welches die Unparteilichkeit meines Urtheils irgendwie beeinflussen könnte. Das Factische meiner Erzählung verdanke ich allerdings zum Theil seinen eigenen Mittheilungen, die ich mir schon früher für einen andern Zweck erbeten hatte. Indeß glaube ich, daß die Leser der „Gartenlaube“ mir gerade für dieses ganz persönliche Detail dankbar sein werden, da es geeignet sein dürfte, ihnen ein klares Bild von diesem eigenartigen Charakter zu entwerfen.

Die Familie Piloty stammt aus Italien, und ein Ahne hatte sich in Homburg in der Pfalz niedergelassen, von wo der Großvater unseres Piloty mit Karl Theodor nach München kam. Dort besuchte nun des Zugewanderten Sohn die damals von dem älteren Langer geleitete Akademie und bildete sich zu einem vortrefflichen Zeichner aus. Phantasiereich, witzig, poetisch und künstlerisch gleich begabt, vom heitersten Temperament, der sprudelndsten Lebendigkeit, ward er bald die Seele jeder Gesellschaft, in die er kam, und einer der bekanntesten und beliebtesten Charaktere des damaligen künstlerischen Münchens, dem besonders der einst so berühmte Verein „Frohsinn“ seine ganze Blüthe verdankte.

Er hatte sich bald nach Erfindung der Lithographie derselben mit großem Erfolg zugewendet, sich erst mit Strixner, dann mit Löhle associirt und die Herausgabe der Gemälde der Pinakothek begonnen; hier lieferte er besonders ganz vortreffliche Zeichnungen nach Rubens, für den er, wie für die Niederländer und Spanier, ein tiefes Verständniß besaß. Er vermittelte dasselbe auch seinem

[649]

Karl von Piloty.
Nach einem Portrait von Franz Lenbach auf Holz gezeichnet von M. Grönvold.

am 1. Oktober 1826 geborenen ältesten Sohne Karl, einem Knaben, den er bei seiner früh hervortretenden ausschließlichen Neigung wie Begabung zur Kunst schon mit zwölf Jahren die Akademie besuchen ließ. Man kann sich keinen größeren Contrast denken, als den des ernsten, fast düsteren, schwarzblütigen Sohnes zu diesem lebenslustigen Vater, trotz der Aehnlichkeit in dem echt südländischen Feuer des Naturells. Auch die Mutter war eine im Ganzen eher heitere Frau, nebenbei im Gegensätze zum leichtlebigen Gatten von einer überaus großen Pünktlichkeit und Ordnungsliebe, die das Hauswesen, das er sonst aus Rand und Band gebracht hätte, um so energischer zusammenhielt. Sie hat die Kinder früh daran gewöhnt, allen ihren Obliegenheiten in Haus und Schule mit größter Gewissenhaftigkeit nachzukommen.

Den in der Akademie von Zimmermann und Heß sehr ungenügend geleiteten ersten Zeichenunterricht ergänzte der Vater so tüchtig und mit so verständiger Einsicht in die Grundbedingungen jedes großen künstlerischen Erfolges, daß der mit dem äußersten Fleiß und der glühendsten Begeisterung für die Kunst begabte Junge bereits den menschlichen Körper genau kannte und sich zu einem vortrefflichen Zeichner ausgebildet hatte in einem Alter, wo Andere gewöhnlich erst anfangen. So ward er ganz speciell für die Rolle vorbereitet, die er später in der Münchener [650] Kunst einnahm: als Derjenige, der sie von den schweren Mängeln der Cornelianischen Schule durch ein gründlicheres Studium der Natur und der Technik befreien sollte. Er machte nicht nur das Actmodell in der Akademie von fünf bis sieben Uhr regelmäßig mit, sondern zeichnete dann gewöhnlich noch zwei Stunden in einem Privatactsaal und componirte hierauf, um zehn Uhr zurückkehrend, oft noch bis spät in die Nacht in seinem Zimmer. Mit der leidenschaftlichen Gluth des Naturells, der Neigung zum theatralischen Pathos, wie sie den Italiener kennzeichnet, den Ernst, die eiserne Beharrlichkeit des Deutschen vereinigend, phantasievoll und scharf beobachtend zugleich, ehrgeizig und hochstrebend, allem Gemeinen abgeneigt, durchaus sittlich, aber auch eifersüchtig wie ein Italiener, war und blieb er von solch explosiver Heftigkeit in Allem, daß ihn seine Freunde immer mit einem offenen Pulverfaß verglichen. Da er von frühester Jugend blos künstlerische Eindrücke erhalten, ward ihm die Kunst bald das einzige Lebensinteresse, nie haben irgendwelche andere geistige Interessen ihn dauernd zu fesseln vermocht.

Er erregte schon die größten Erwartungen, war bereits zu Schnorr in die Componirclasse gekommen und hatte da einen barmherzigen Samariter in der pathetischen Art des Meisters hart und trocken componirt, zu Hause aber einen Cola di Rienzi frei und malerisch zu behandeln versucht, hatte daneben das große jüngste Gericht nach Rubens copirt – als der Vater starb, der ihn mehr als alle Lehrer gefördert, ihm allein die Liebe und das Verständniß für die von der Cornelianischen Schule ganz verpönten alten Coloristen erschlossen hatte. Derselbe hinterließ die Familie ziemlich mittellos.

Acht Tage darauf saß der sechszehnjährige, trotz der glänzendsten Aussichten mit fraglosem Pflichtgefühl jetzt tapfer seinen Idealen entsagende Jüngling bereits an der Steinplatte des Vaters und vollendete dieselbe, um so die Existenz der Familie zu ermöglichen, indem er die Leitung des ganzen großen lithographischen Geschäftes auf sich nahm. Er führte sie sechs ewig lange Jahre mit der größten Gewissenhaftigkeit fort, bis sich durch den Ertrag des Unternehmens die Verhältnisse hinreichend gebessert hatten. Nur in den Nebenstunden, früh und in später Nacht, wenn Andere schliefen oder in der Kneipe saßen, konnte er sich damit befassen, seine innere Welt in Entwürfen und Studien zu gestalten.

Bald nach dem Tode des Vaters kam der ihm schon von früher her befreundete Carl Schorn aus Paris, wo er die Principien der Cornelianischen Schule mit denen der modernen Franzosen vertauscht, in’s Piloty’sche Haus und verlobte sich mit der schönen Schwester des jungen Malers. Kurz darauf durch sein Gemälde: „Die Wiedertäufer“ großes Aufsehen erregend und an der Akademie als Lehrer der Malclasse angestellt, ward er von jetzt an auch der Freund und Lehrer seines jugendlich strebenden Schwagers, der unter seiner Einwirkung sich rasch einer viel glänzenderen Maltechnik bemeisterte, als sie bis dahin in München üblich gewesen.

Die Unruhen des Jahres 1848, die in München schon früher begannen, regten auch Piloty zu jugendlicher Begeisterung auf, ohne daß er doch je ein tieferes Interesse an der Politik genommen. Er blieb eine auf sich selbst gestellte Natur. Dem Lärmen wie den Lustbarkeiten ohnehin abgeneigt, hielt er sich kalt selbst gegen die Frauen, mehr aus Furcht vor der eigenen Leidenschaft als aus Gleichgültigkeit, so daß er z. B. nie einen Ball besuchte.

Endlich konnte er sich, wie bemerkt, von der Verpflichtung zur Lithographie losmachen und sich seiner geliebten Malerei wieder mit ganzer Seele widmen. Es entstand jetzt sein erstes werthvolleres Bild, „Badende Mädchen“, im Riedel’schen Geschmack; ein Sonnenlichteffect in dem Atelier, das er in der Akademie bezogen, hatte Veranlassung zu dem Bilde gegeben. Es lag etwas von der Wonne über die wiedererlangte Freiheit darinnen; mich, der ich es alsbald darauf sah, entzückte die geistreiche Feinheit und Grazie der Behandlung, die Lichtfülle und der Glanz, das malerische Talent, die aus diesem Erstlingswerke hervorleuchteten.

Die Stoffwahl Piloty’s sollte bald eine andre werden. Die mit Schorn sehr glücklich verheirathete Schwester ward im ersten Wochenbett schwer krank; schon aufgegeben, läßt sie sich, zum Tode erschöpft, in Gegenwart des Bruders das Kind von der Mutter bringen, um von ihm Abschied zu nehmen, während das Sonnenlicht bei der ergreifenden Scene durch einen grünen Fenstervorhang herein auf Häubchen und Hemdchen fällt, die sie in froher Erwartung des Ankömmlings für ihn gestickt und genäht. Dieser Moment, der ihn – bei Erwartung des Verlustes der geliebten Schwester – so heftig ergriffen, drängte ihn zur Schöpfung seines zweiten, bereits Aufsehen erregenden Bildes, „Die Wöchnerin“, auf dem er mit rührender Treue das eben Erlebte wiedergiebt.

Zum Glück bleibt ihm die Schwester erhalten. Ein halbjähriger Aufenthalt in Leipzig, meist mit Portraitmalen zugebracht, folgt und führt zu einem Besuche in Dresden, wo Piloty acht Tage lang nicht aus der Gallerie kommt und Velasquez sein Ideal wird. Dann kehrt er zurück, um seinen Schwager und Freund Schorn langsam sterben zu sehen. Allein unter allen Familiengliedern wissend, daß der Kranke verloren, hilft er ihm noch ein Halbjahr lang an seinem kolossalen Bilde der Sündfluth. In dieser traurigen Zeit erzählte ihm seine Schwester eines Tages, daß ihre Amme, ein sehr hübsches Mädchen, ganz verstört, bald wahnsinnig nach Hause gekommen, weil sie, ihr eigenes Kind mit dem an seine Stelle getretenen besuchend, dasselbe bei der Ziehfrau, einer sogenannten „Engelmacherin“, sterbend getroffen. Unter dem erschütternden Eindrucke dieser Vorstellung entsteht sein drittes Bild, die berühmte „Amme“. Aber wie verschieden in seiner ganzen tiefernsten Art, in dem schwärzlich gedämpften Colorit ist es bereits von dem sonnigen Farbenjubel jenes Erstlingswerkes! Die düstere Stimmung desselben würde uns allein schon sagen, daß hier etwas unendlich Trostloses geschildert werde. Auch ist der Maler bereits ganz selbstständig. Außer der entfernten Anlehnung an die Spanier, ist hier keinerlei Einwirkung anderer Kunstwerke sichtbar; vielmehr ist diese Vereinigung strenger, edler, fast stilvoller Form mit der höchsten Wahrheit des Details durchaus originell. – Daß ihm aber jedes Erlebniß, Alles, was ihn rührt oder ergreift, sofort zum Bilde wird, das beweist wohl am besten seinen echten Künstlerberuf.

So hatte ihn nächst Shakespeare immer Schiller am meisten beschäftigt, der „Dreißigjährige Krieg“ und besonders die Wallenstein-Trilogie ihn bereits zu mancherlei Entwürfen begeistert.

Jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, eine der Ursachen jenes entsetzlichen Kampfes im größten Maßstabe zu schildern, als König Max „die Stiftung der Liga“ für das Maximilianeum bei ihm bestellen ließ. Niemand, der heute dieses gewaltige Gemälde sieht, würde wohl glauben, daß das eines noch jungen Künstlers Erstlingsversuch in lebensgroßen Figuren sei. An sicherer Beherrschung der künstlerischen Mittel, in Zeichnung und besonders Colorit geht es weit über Alles hinaus, was bis dahin die Münchener Schule in dieser Art geleistet, und bezeichnet einen mächtigen Fortschritt. Die Jugend des Malers spricht sich aber auch darin aus, daß er eben die Welt nur von den Brettern kennt, die sie bedeuten. Seine schwörenden Fürsten benehmen sich so pathetisch, wie sie es in der Wirklichkeit gewiß nie gethan hätten, es wäre denn, daß sie einander hätten anlügen wollen.

Diesen Standpunkt, den er hier einnimmt, hat Piloty niemals völlig zu verlassen vermocht, obwohl er es mit voller Bestimmtheit anstrebte, ja es ihm im Einzelnen vielfach gelang. Es ward mir das alsbald klar, als ich 1854, aus Italien nach München übersiedelnd, den Künstler endlich persönlich kennen lernte, dessen „Amme“ mich schon in Venedig entzückt, wo sie unter der bunten, koketten italienischen Hetärenmalerei mit ihrer ergreifenden Wahrheit so erquicklich selbst auf die Italiener gewirkt hatte, wie ein Trunk klares Quellwasser nach allen möglichen Arten Fusels.

Ich fand mich vor einem hochgewachsenen, raschen und elastischen, eher hageren jungen Manne, dessen stark ausgearbeitete Züge und nervöses Wesen die Spuren anhaltender Anstrengung, wie rastloser Leidenschaft, ja dämonischer Willenskraft zeigten und durchaus bedeutend erschienen. Das Gesicht wäre gewöhnlich ohne das durchdringende flackernde Auge und jene eigenthümlich hochgeschwungenen Augenbrauen, wie man sie an vielen Coloristen alter und neuer Zeit, an Correggio, Rubens, Delacroix wahrnimmt. Der unruhig gleitende Blick, die hastigen Bewegungen, die selbst unbedeutende Dinge mit plötzlich herausbrechender Leidenschaftlichkeit übermäßig pathetisch accentuirende Redeweise bewiesen, daß die italienische Abstammung mit ihrem grenzenlosen Ehrgeiz, der verhaltenen Gluth immer noch in ihm wirksam war. Sie hätten einen geradezu unheimlichen Eindruck gemacht ohne den idealen Zug, der das ganze Wesen adelt.

[651] Während diese declamatorische Art uns Aelteren nicht immer die Glaubwürdigkeit vermehrt, wirkt sie wahrhaft bezaubernd auf alle Jüngeren, wie denn Piloty durch seine sprühende Begeisterung für die Kunst, die unwandelbare Ueberzeugungstreue, mit der er an seinen künstlerischen Principien festhält, und seine gewaltige Willenskraft einen wahrhaft unermeßlichen Einfluß auf seine Schüler ausübt und in einem so schönen Verhältniß zu ihnen steht, daß es beiden Theilen zu großer Ehre gereicht.

Sie strömten ihm bald in Massen zu, als er schon im Jahre 1856 der „Liga“ jenes berühmte Bild „Seni vor Wallenstein’s Leiche“ folgen ließ, das, origineller in jedem Sinne, einen noch weit durchschlagenderen Erfolg in ganz Deutschland hatte.

Wenn man es in der neuen Pinakothek, wo es seinen Platz gefunden, mit allen ihm vorausgehenden vergleicht, wird einem auch heute wenigstens unbestreitbar erscheinen, daß es einen größeren Umschwung, einen mächtigeren technischen Fortschritt in unserer Münchener Malerei bezeichnet, als irgend ein anderes der Sammlung. Die coloristische „Stimmung“, von welcher bei der trostlos stümperhaften Technik unserer meisten früheren Historienbilder nicht die Spur zu bemerken war, ist hier so zwingend, wie man ihr selbst bei Werken der classischen Zeit nur in den seltensten Fällen begegnet; ein Schauer packt uns unwillkürlich bei diesem vor seinem blutend hingesunkenen mächtigen Gebieter erstarrt stehenden Diener und Freund, der seine bange Ahnung nun auf’s Entsetzlichste verwirklicht sieht. Durchzieht doch ein förmlicher Blutgeruch das im Morgengrauen dämmernde Gemach, dessen Helldunkel mit einer Meisterschaft gemalt ist, die Piloty selber nicht wieder erreicht hat, so wenig, wie die malerische Wucht, die in allem Stofflichen liegt und die einen echt künstlerischen Reiz ausübt, da sie durchaus zur Charakteristik des Moments mitwirkt.

Das entsprach nun ganz und gar den realistischen Anschauungen der Zeit, und so sammelte sich denn auch sofort jene Schule um ihn, aus der eine ganze Generation hochbedeutender Künstler, wie Makart, Lenbach, Schütz, Max, Defregger, Grützner und unzählige Andere hervorgingen, die bald so wuchs, daß seit Mengs, Cornelius oder Delaroche keine so große in Europa existirt hat.

Er selber malte nun eine Reihe kleinerer Bilder aus dem Dreißigjährigen Kriege, so Tilly vor Beginn der Schlacht am weißen Berge, der Predigt eines Kapuziners zuhörend. Seni erschreckt in’s Zimmer tretend, da eben Wallenstein’s Leiche hinausgetragen wird, dann Wallenstein, der, krank in der Sänfte nach Eger reisend, an einem Gottesacker vorbeikommt – oft voll Reiz coloristischer Stimmung und reich an Figuren, in denen der Charakter der Zeit in einer Weise getroffen ist, die in Deutschland jedenfalls bis dahin nicht erreicht worden. Schon gleich nach dem „Seni vor Wallenstein’s Leiche“ war der schnell berühmt gewordene junge Meister zum Professor an der Akademie ernannt worden, trotz der Opposition der Cornelianer, deren Ateliers bald alle leer standen, während sich im seinigen die Schüler drängten. Er selber aber zog, nachdem er sich kurz zuvor mit einem ebenso schönen wie hochstrebenden Mädchen zur glücklichsten Ehe verbunden, im Jahre 1858 zum ersten Male nach Rom.

In Florenz ging ihm, angeregt durch die Antiken in der Loggia dei Lanzi und den Uffizien, dann durch Fiesole und die Prärafaeliten, die Geschichte der ersten Christen und ihrer Verfolgung unter Nero als günstiger Vorwurf für die Malerei auf, und er zeichnete die Composition sofort ziemlich so nieder, wie er sie später ausgeführt.

Der Einfluß der italienischen Kunst auf ihn ist übrigens in keiner Weise an seinen Werken wahrzunehmen. Im Gegentheil ist der 1860 fertig gewordene Nero als der Höhepunkt der naturalistischen Richtung des Künstlers zu bezeichnen. Die Wirkung des riesigen Bildes ist eine sehr bedeutende, besonders wirkungsvoll ist die Gestalt des Nero, wie sie nach durchschwelgter Nacht rosenbekränzt, unter Vortritt der deutschen Leibwache, gleichgültig über die Ruinen hinschreitet, an den Leichen erwürgter Christen vorbei. Dieser Nero ist vortrefflich gelungen und übertrifft an Wahrheit der Charakteristik wie der äußeren Erscheinung weit alle die vielen Nachfolger, die ihm Kaulbach, Rahl, Keller, in neuester Zeit Siemiradzki und Andere gegeben.

Portraits in ganzer Figur, so der Grafen Schack und Palffy etc., gehören nebst Illustrationen der deutschen Classiker und Shakespeare’s zu den trefflichsten Leistungen Piloty’s aus dieser Periode.

Ueber alle frühern Leistungen erhob sich der 1873 vollendete „Triumph des Germanicus“, oder vielmehr der Thusnelda, die, als Haupttrophäe gefesselt an Tiberius vorübergeführt, durch die Hoheit und Würde ihrer Erscheinung zur eigentlichen Siegerin wird. In diesem Bilde, zu dem Piloty die Idee seit seiner Jugend mit sich herumgetragen, hat der Meister in der den Thumelicus an der Hand führenden, thränenlos, stolz und ungebrochen daherschreitenden Fürstin eine Gestalt geschaffen, die voll echter Größe ist; auch die ihr folgenden Frauen sind gut erfunden, und wenn andere zu theatralisch sind und dadurch die Wirkung der Hauptgruppe beeinträchtigen, so ist doch aus dem mächtigen Bilde absolut nichts ohne malerischen Reiz.

Ein hartnäckiges Magenleiden warf ihn damals wiederholt auf’s Krankenlager. Nichtsdestoweniger widerstand er mit dämonischer Willensstärke diesen Hemmungen, denen jeder Schwächere längst hätte erliegen müssen; ja er vollendete sogar sehr rasch nach der Thusnelda, gestärkt durch ihren Erfolg, einen ebenfalls in lebensgroßen Figuren ausgeführten höchst charakteristischen „Heinrich den Achten, der die vor ihm knieende Anna Boleyn verdammt“.

Seit dieser Zeit hat sich der nach Kaulbach’s Tode zum Director der Akademie ernannte, mit Erhebung in den Adel und Auszeichnungen aller Art überhäufte, leider aber durch Krankheit viel und schwer leidende Meister in erster Linie mit einem gewaltigen Bilde für den Münchener Rathhaussaal beschäftigt. Es zeigt uns die Monachia selber, umgeben von den allegorischen Figuren der Isar und der Fruchtbarkeit, wie sie Kränze an alle verdienten Männer und Frauen vertheilt, die aus ihrem Schooß hervorgegangen sind oder bei ihr eine zweite Heimath gefunden haben. Auch hier bewährt Piloty wiederum sein überaus großes Talent, jedem Gegenstand seinen malerischen Gehalt abzugewinnen; viele der fast zweihundert historischen Figuren des Bildes sind meisterhaft charakterisirt; das Ganze ist überaus lebendig und reizvoll gedacht. Besonders die hohe Geistlichkeit zur Linken, dann eine Frauengruppe zur Rechten, nicht minder die Künstler und die Krieger zu beiden Seiten der Monachia sind trefflich gelungen.

Neuerdings erregen Piloty’s „Girondisten“, ein Bild von hinreißender Gewalt und fast erdrückender tragischer Wucht realistischer Darstellungskunst, das Aufsehen der deutschen Kunstkreise; eine Wiedergabe desselben (S. 656 und 657, vergl. auch „Blätter und Blüthen“) schmückt nebst dem Portrait des Meisters (S. 649) die gegenwärtige Nummer dieses Journals.

Ueberblicken wir Piloty’s reiches, bedeutungsvolles Künstlerleben, so fällt uns vor Allem die klare Folgerichtigkeit desselben als Frucht eines starken unwandelbaren Willens, einer großen, aus innerer und äußerer Nothwendigkeit stammenden Ueberzeugung auf. Daß die erste Hälfte desselben interessanter und bedeutender ist, als die zweite, theilt es mit den Schicksalen der meisten anderen Künstler; wer fände Blüthen nicht schöner als Früchte, den Frühling nicht entzückender als den Herbst? Ganz unbezweifelbar aber ist, daß Piloty folgenreich und im Ganzen außerordentlich wohlthätig auf die deutsche Kunst gewirkt hat. Wenn unsere romantische Schule es niemals zu harmonischen Werken gebracht hat, an denen die künstlerische Form der Erscheinung denselben Reiz gehabt hätte, wie der Gedanke, so mußte dieser aus lauter großen Versprechungen und ungenügenden Erfüllungen bestehenden Kunst nothwendig endlich eine folgen, die den Hauptaccent nicht auf’s Wollen, sondern auf’s Können legte, bei der die Form allerdings sogar meist bedeutender ist, als der Inhalt. Aber ohne einen Piloty und ohne die Realisten, die er erzogen, wäre eine wirklich classische Periode in der deutschen Kunst nie möglich geworden; jetzt ist sie um so mehr möglich, als ihr auch die gewaltigen politischen Ereignisse den Boden bereitet haben – ja sie hat vielleicht schon begonnen.

Zum Schluß sei bemerkt, daß Piloty, wie vor ihm Kaulbach, Rauch oder Mengs, nach ihm Makart, zu jenen Künstlern gehört, die sich im Umgang mit den Großen dieser Welt gefallen, ohne dabei sich und ihrer Würde etwas zu vergeben, was in Deutschland nichts weniger als überflüssig ist, wo angeborne Stumpfheit und Pedanterie oder gemeiner Neid nur zu leicht die Achtung vor dem Talent vergessen, wo der Adel des Verdienstes dem der Geburt noch lange nicht gleichgestellt wird.


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Hamburg und Deutschland.
Von Karl Braun-Wiesbaden.
1. Geschichtliche Erinnerungen.


Es ist ein Unglück, daß die großen deutschen Männer die kleine deutsche Geschichte nicht kennen. Unter letzterer verstehe ich die Geschichte der einzelnen Staaten und ihrer Regierungen, ihrer Sympathien und ihrer Antipathien, ihrer Pläne und sogar ihrer Phantastereien. Wie lehrreich diese Geschichte auch für die Gegenwart ist, im Hinblick auf die heute viel discutirte Hamburger Freihafen-Frage, will ich an einem Beispiele darthun.

Im Jahre 1820 erschien eine Schrift, betitelt: „Manuscript aus Süddeutschland, herausgegeben von George Erichson, verlegt von James Gryphi in London“. Sie erlebte in kurzer Zeit mehrere Auflagen und wurde massenhaft in dem südwestlichen Deutschland verbreitet, namentlich auch unter den Liberalen. Sie trug ein stolzes Motto aus dem Horatius:

„Was ich selbst, und mein Volk mit mir, zu begehren hat, hör’ jetzt!“
(„Quid ego et populus mecum desideret, audi!“)

Diese Schrift war eine Mystification. Allein sie war noch etwas weit Schlimmeres. Sie war eine rheinbündlerische Agitation, mit großer Schlauheit darauf berechnet, in dem damals in einer gewissen politischen Aufregung befindlichen südwestlichen Deutschland den Samen des Hasses gegen Preußen und gegen das ganze nördliche Deutschland zu säen, den Südwesten als den einzigen Träger des „reinen und unverfälschten Deutschthums“ zu glorificiren und ihn zu einem Rheinbund zusammenzuschweißen – zu einem erneuerten Rheinbund, der auf Nord- und Mitteldeutschland, auf die Nord- und Ostsee verzichtet und sich separat zu einem „alemannischen“ Binnenlande zusammenthut, unter württembergischer Führung, unter Anlehnung an Frankreich, mit einer feindseligen Spitze gegen Oesterreich und Preußen.

Wer heute das liest, der kann es kaum fassen, daß schon einige Jahre nach der Abschüttelung des Joches der Fremdherrschaft, sieben Jahre nach der glorreichen Völkerschlacht bei Leipzig, ein solches Buch möglich war, noch weniger, daß es mit Begierde gelesen und mit Eifer verbreitet wurde, daß es von Hand zu Hand ging, daß ernsthafte Leute seinen Inhalt ernsthaft discutirten, daß man sogar daran ging, seine Projecte auf dem Wege einer Staatsumwälzung zu verwirklichen, und daß die Urheber dieses Planes nicht etwa blos „Burschenschafter und sonstige Studenten“, sondern Männer in reiferen Lebensjahren und in der Stellung von Beamten und Officieren waren, welche den König Wilhelm den Ersten von Württemberg zum „König des reinen Deutschland“ machen wollten.

Ich sagte: die Schrift war eine Mystification. Denn sie war in Stuttgart gedruckt und erschienen, und nicht in London. Einen Drucker oder Verleger Namens James Gryphi gab es damals gar nicht mehr in London. Dies war nur eine literarische Reminiscenz an jene längst vergangenen Zeiten, da die Aldi in Venedig, die Gryphi in London und die Elzevier in Amsterdam als weltberühmte Drucker florirten.

Auch der Name des Verfassers war eine Mystification. Derselbe hieß nicht „George Erichson“, sondern Friedrich Georg Lindner. Geboren 1772 in Mitau, gestorben 1845 in Stuttgart, gehörte Lindner zur Classe jener unstäten politisch-literarischen Abenteurer, zu jenen zwar außerordentlichen, aber höchst ordinären fahrenden Diplomaten, welche sich in dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts in Deutschland als Söldlinge des Auslandes bemerklich machten. Am meisten Aehnlichkeit hatte er mit August von Kotzebue; nur arbeitete dieser in der Regel für Rußland, und Lindner für Frankreich; auch hatte Lindner nicht Kotzebue’s formelle dichterische Begabung. Ihre Wege pflegten sich öfters zu kreuzen.

Bis zum Jahre 1813 war Lindner im Interesse Napoleon’s thätig. In dem genannten Jahre lebte er in Weimar. Als dort die Russen einrückten, wollten sie ihn als französischen Spion aufhängen; seine Rettung verdankte er den Preußen. Er verschwand nun, um im Solde des Fürsten Metternich zu schreiben. Um 1818 kehrte er nach Weimar zurück, wo damals auch Kotzebue lebte und geheime Rapporte an den Kaiser von Rußland erstattete, in welchen er die Professoren Deutschlands als „Demagogen“ und die Hochschulen als „Herde der Revolution“ denuncirte. Der Historiker Luden, Professor in Jena, hatte damals in seiner „Nemesis“ einen Artikel publicirt, der unter Anderem auch an den öffentlichen Zuständen in Rußland eine maßvolle Kritik ausübte. Diesen Artikel machte Kotzebue sofort zum Gegenstande eines Rapportes an den Zaren.

Kotzebue’s Schreiber vertraute das ihm zur Reinschrift übergebene französisch geschrieben Original dem Dr. Lindner an, und dieser lieh es dem Professor Luden, welcher sofort darüber in der „Nemesis“ herfiel. Darob lebhafte Beschwerden Kotzebue’s bei dem Zaren, noch lebhaftere Beschwerden des Zaren bei dem Großherzog von Sachsen-Weimar – Confiscation der „Nemesis“, Confiscation der „Isis“ des Professors Oken und des „Volksfreundes“, den ein Sohn Wieland’s in Weimar herausgab, Maßregelung der Professoren, immer wüthendere Denunciationen Kotzebue’s gegen dieselben etc. – Kotzebue mußte schließlich mißliebigkeitshalber Weimar verlassen und siedelte nach Mannheim über, wo ihn der Dolch des Studenten Sand traf. Er fiel dem Haß der akademischen Jugend zum Opfer, und Lindner konnte sich rühmen, den Hecken-Krieg, aus welchem die verhängnißvolle blutige That erwachsen, zuerst angefacht zu haben.

Lindner war durch diese Hergänge in Weimar gleichfalls unmöglich geworden. Er wandte sich nach Augsburg und Stuttgart, wo er den Rest seiner Tage verbrachte als literarisch-diplomatischer Agent des Königs Wilhelm von Württemberg, von welchem er auch zu dem „Manuscript aus Süddeutschland“ inspirirt ward. Victor Aimé Huber, der mit ihm in Augsburg zusammen war, nennt ihn einen „alten fünfzigjährigen politischen Abenteurer, einen unbedingten Verehrer Napoleon’s, der stets eine zweifelhafte Rolle gespielt, bald der und bald jener Regierung gedient, bald von den Regierungen verfolgt und bald wieder zu diesem oder jenem Zweck von ihnen benutzt ward.“

Dieser Mensch also war es, der damals – vor sechszig Jahren – Deutschland verkündete, was der König (von Württemberg) und mit ihm sein „echt deutsches alemannisches Volk“ begehre. Er construirt sein Rheinbunds-Deutschland, indem er Alles, was nicht dazu paßt, über Bord wirft: vor Allem Preußen und die Hansastädte.

„Dieses unser Deutschland,“ sagt er, „muß ohne diese Territorien sich constituiren. Seine Vereinigung mit Preußen ist eine unnatürliche Verbindung. Preußen kann unter Umständen ein wünschenswerther Bundesgenosse sein; als Bundesglied ist es gefährlich. In gewöhnlichen Zeiten muß (dieses Rheinbunds-)Deutschland für die eigene Erstarkung sorgen, um nöthigenfalls (zu Gunsten Frankreichs?) ein Gewicht gegen Preußen zu bilden. Norddeutschland ist nur ein Küstenland und der Handel seine ausschließliche Bestimmung. Süddeutschland aber ist ein Binnenland, das durch seine Lage und durch die Fruchtbarkeit seines Bodens zum Ackerbau und Gewerbefleiß eingeladen wird. Ackerbau und Industrie sind seine Bestimmung. Sie müssen seinen Wohlstand sichern. Der Handel kann hier nur als Nebenzweck erscheinen. Was sollen uns die deutschen Barbaresken (Raubstaaten), die Hansastädte, deren Interesse als englische Factoreien auf Plünderung des übrigen Deutschland, auf Vernichtung seiner Industrie gerichtet sind? Deutschland darf seinen Handel nicht einer privilegirten Kaste von Kaufleuten anvertrauen, welche durch den Eigennutz an England gebunden sind. Diese Republiken, Hamburg, Bremen und Lübeck, sind in jeder Hinsicht ein Hors-d’oeuvre im deutschen Vaterlande.“

Ich habe hier nur eine der gemäßigtsten Stellen ausgezogen. Zu ihrem besseren Verständnisse muß ich noch bemerken, daß damals im Schooße des deutschen Bundestages eine (natürlich erfolglose) Verhandlung schwebte über die „Seeräubereien der Barbaresken“, das heißt der afrikanischen Raub- und Piratenstaaten Algier, Tunis und Tripolis, welche damals noch ihr Unwesen im Mittelmeer trieben und auch deutsche Schiffe mitten im Frieden wegfingen, um die Mannschaft zu Sclaven zu machen. Mit diesen Barbaresken, mit Algier, Tunis und Tripolis, setzt der Verfasser des „Manuscripts aus Süddeutschland“ die deutschen Hansastädte Hamburg, Bremen und Lübeck in eine Linie.

[653] Es ist die Sprache des Rheinbundes und der napoleonischen Continentalsperre, welche wir in einer etwas veränderten Tonart hier wieder vernehmen. Der Haß gegen den Großhandel, der Neid gegen die Kaufleute, die Verfolgung der Hansastädte wurde in der Zeit von 1806 bis 1812 im Interesse der napoleonischen Universalmonarchie gepredigt, 1820 aber im Interesse des kleinstaatlichen Winkelparticularismus und des gerngroßen Duodez-Sultanismus en miniature.

Ein paar Parallelstellen werden dies deutlich machen.

Am 6. April 1812 erging von Seiten eines der bedeutenderen Rheinbundsfürsten eine Proclamation, in welcher es hieß:

„Der erhabene Protector des Rheinischen Bundes hat das heldenmäßige Bestreben erklärt, dem englischen Handelsdespotismus ein Ende zu machen. Alle Völker des europäischen Continents wissen aus Erfahrung, daß der Seehandel ausschließlich in den Händen einer Nation ist, welche willkürlich alle Preise bestimmt und alle Continentalfabriken lähmt, indem sie die Preise ihrer eigenen Fabrikate herabsetzt. Allgemeine Verarmung aller Continentalländer muß die nothwendige Folge werden, wenn nicht Einhalt geschieht.“

Und als Napoleon die Hansastädte zum Behufe der besseren Vollziehung seines verderblichen handelspolitischen Systems dem französischen Reiche einverleibt hatte, heißt es in einem Berichte, welchen der Minister der auswärtigen Angelegenheiten an den Kaiser erstattet:

„Ihro Majestät bewaffneten Sich mit Ihrer vollen Macht. Nichts konnte Sie von Ihrem Ziele abhalten. Die Hansastädte, die Küstenländer zwischen dem Zuyder-See und dem baltischen Meere mußten mit Frankreich vereinigt, sie mußten derselben Verwaltung, derselben Handelspolitik, derselben Gesetzgebung unterworfen werden. Unmittelbare und unvermeidliche Folge der Maßregeln des englischen Gouvernements! Rücksichten keiner Art konnten bei Eurer Majestät dem wichtigsten Interesse Ihres Reiches entgegenstehen. Höchstdieselben ernten die Früchte dieses wichtigen Beschlusses.“

Das Letztere bewährte sich als vollkommen richtig. Ein Jahr nach Erstattung des Rapports schon war es Jedermann klar, daß die Continentalsperre die Vertheuerung, die Corruption und das Elend hervorgerufen, daß sie, statt England von dem Continent zu verbannen, Frankreich und seine Verbündeten vom Meere ausgeschlossen, daß sie Napoleon gezwungen hatte, gegen alle Länder, welche sich seinem Continentalsystem nicht unterwarfen, Eroberungskriege zu führen, und daß schließlich statt einer Unterwerfung aller unter ihn eine Coalition aller gegen ihn eintrat, der er unterliegen mußte.

In einer anderen Bekanntmachung, durch welche die französische Regierung die Einverleibung zu rechtfertigen versuchte, hieß es: „die Hansastädte seien nur englische Colonien auf dem Festlande, privilegirte Werbeplätze für den Handelsgewinn der Britten, und brächten so die Völker um ihre Baarschaften“.

Es ist immer die nämliche Appellation an die Unwissenheit und an die niedrigste Leidenschaft, nämlich an den Neid. Immer die alte Verwechslung von Geld und Capital. Immer die alte Redensart: „das Geld geht aus dem Land“, während doch das Geld nur den Vermittler spielt, in Wirklichkeit Waare gegen Waare getauscht und die Ausgleichung zwischen Import und Export nicht durch Metallgeld, sondern durch den Wechsel, das Geld der Kaufleute, regulirt wird.

Dem Grund, welcher für die Feindseligkeit gegen den Handel und die Hansastädte angeführt wurde, steht vollständig ebenbürtig die Rechtfertigung der Einverleibung der Niederlande zur Seite. „Dieses Holland,“ sagte Napoleon der Erste, „ist nur eine Anschwemmung von französischen Flüssen, und folglich müssen wir dies angeschwemmte Land, das unseren Flüssen seine Entstehung verdankt, uns wieder nehmen!“

In der Depesche, welche der französische Generalconsul am 20. December 1810 an den Hamburger Senat richtete, und in dem Schreiben des Herzogs von Cadore, des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, welches dieser Depesche beilag, wird Hamburg damit getröstet, „daß es der Betriebsamkeit seiner Kaufleute gelingen werde, unermeßliche Hülfsquellen in dem innern Handel zu finden, dem sie sich, zum Ersatz für den überseeischen, nunmehr mit völliger Sicherheit überlassen könnten“.

Allein es zeigte sich bald, daß dies ein kahler und inhaltloser Trost war. Der auswärtige Handel wurde ruinirt, und mit dem „innern“ wollte es sich nicht machen. Es erwies sich alsbald, daß da, wo nichts herein darf, auch nichts hinaus kann; daß die Thür entweder auf oder zu ist, und daß sie nicht in einem und dem nämlichen Augenblicke nach innen, zum Hineingehen, geschlossen sein kann, und nach außen zum Hinausgehen, geöffnet.

Hamburg, wo früher keine Zölle, keine lästigen oder chicanösen Controllmaßregeln dem Kornhandel Fesseln anlegten, vertrieb nicht nur für die hannöverschen und holsteinischen Marschgegenden und für einen Theil von Mecklenburg, sondern auch für die Altmark, für das Magdeburgische, für die Saalegegenden und Schlesien große Getreidevorräthe in das Ausland. Schlachtvieh und Fleischvorräthe aus Deutschland vertrieb es nach England und Westindien; Butter nach Portugal, Spanien, England; Wolle nach England, Holland, Frankreich und den Vereinigten Staaten; Leinen vorzugsweise nach den transatlantischen Völkern spanischer Abkunft etc.

Diese Mission Hamburgs, den Vermittler zwischen seinem Hinterlande, dem deutschen Binnenlande, und dem Auslande, namentlich den transatlantischen Staaten, zu machen, hörte auf, sobald Hamburg seine Freihafenstellung durch die Einverleibung in Frankreich und durch die Unterwerfung unter das napoleonische Blocussystem einbüßte, und das Hinterland, das heißt das übrige Deutschland, litt dadurch fast noch schwerer, als Hamburg. Der ausschließlich militärisch-fiscalische Geist der französischen Verwaltung stand mit den Bedürfnissen und den Gepflogenheiten der Hansastadt an sich schon in einem schreienden Widerspruch, welcher noch geschärft wurde durch die Persönlichkeit dessen, den Napoleon an die Spitze des neuen Departements der Elbmündungen gestellt hatte. Es war Davoust, der „Prinz von Eckmühl“, der den unschuldigen Buchhändler Palm hatte erschießen lassen. Den Bürgermeister und die Senatoren setzte er nicht nur ab, sondern erlaubte sich auch daneben mit ihnen die unwürdigsten Scherze. Eines Nachts ließ er sie alle gewaltsam aus dem Bett holen und dann lange auf sich warten; endlich erschien er, um ihnen zu eröffnen, daß heute der erste April sei.

Die ganze Stadt wurde unsicher gemacht durch den Unfug und die Erpressungen des französischen Douanen-Gesindels. Der Tabakshandel und die Tabaksspinnereien wurden durch die französische Regie vernichtet. Alle öffentlichen Fonds wurden für den französischen Fiscus eingezogen. Nicht einmal der Rathskeller, welcher vormals mit dem von Bremen wetteiferte, wurde verschont; anfangs wurde er „für kaiserliche Rechnung“ verwaltet, endlich aber, kurz vor dem russischen Krieg, wurden sämmtliche Vorräthe in öffentlicher Auction versteigert; der Erlös, etwa eine halbe Million Mark, floß in den unersättlichen Schlund des französischen Fiscus. Nachdem man die Stadt ihres Vermögens und deren Bürger eines großen Theils ihres Einkommens beraubt hatte, belud man sie mit unerschwinglichen Abgaben. Zu den directen Steuern, der Grundsteuer, der Personal-, der Mobiliar-, der Thüren- und Fenstersteuer, der Patentsteuer etc., kamen die indirecten Abgaben hinzu, das Enrégistremet, die Stempeltaxen, die Kanzleigebühren, die Droits-Réunis für den Verkauf von Bier, Wein, Branntwein, Tabak, von Fuhrwerk, von den Spielkarten, den Gold- und Silberarbeiten, dazu dann die Blutsteuer, welche die Leute zwang, sich auf allen Schlachtfeldern Europas herumschleppen zu lassen und als Deutsche gegen Deutsche zu kämpfen. Daneben erging endlich noch ein Befehl Napoleon's, in den drei Departements der Elbe, der Weser und der Ober-Ems sofort dreitausend Seeleute auszuheben oder zu pressen. Der Prevòtalgerichtshof und die Douanen-Tribunale belegten Jeden, der sich diesen Lasten zu entziehen suchte, die Steuerhinterzieher, die Schmuggler, mit draconischen Strafen, welche in einer Art standrechtlicher Weise verhängt wurden. Einzelne Schmuggler wurden zum Tode verurtheilt, Viele zu Galeeren, langjährigem Zuchthaus, Brandmarkung und Ausstellung am Pranger. Der bloße Verdacht war zur Verurtheilung schon genügend.

Diese Mißregierung dauerte ungestört fort, bis die Katastrophe von 1812 die Möglichkeit einer Befreiung in Aussicht stellte. Die verfrühte Erhebung Hamburgs gegen die Fremdherrschaft im Frühling 1813, die furchtbare Rache der Franzosen, die Belagerung der Stadt durch die Russen und endlich die definitive Befreiung sind allgemein bekannt. Sie gehören der Weltgeschichte an. Ich will mich an dieser Stelle darauf beschränken, zwei Zeugnisse aus jener Zeit der Befreiung von der Fremdherrschaft [654] anzurufen: das Zeugniß eines patriotischen Dichters und das der damaligen obersten politischen Autorität Deutschlands.

Während in Hamburg die Franzosen mit Feuer und Schwert wütheten, erklärten die aus Hamburg vertriebenen, zu einem Heerhaufen versammelten Hanseaten: „nicht wo ihre Häuser stünden, sondern wo sie sich mit ihren Waffen befänden, da sei ihr Vaterland, sei es auf der See oder auf dem Lande“. Dies veranlaßte Max von Schenkendorf (gestorben als preußischer Regierungsrath am 11. December 1817 in der für Deutschland wieder eroberten Stadt Coblenz) zu der prachtvollen Strophe:

„Ein Hansa-Staat im Meere,
Ein Hansa-Staat im Feld,
Der als Tyrannen-Wehre
Sich kühn entgegenstellt.
Laß Flammen Dich verzehren,
O Hamburg, reich und schön;
Man wird in jungen Ehren
Dich Phönix wiedersehn!“

In einer nur kurze Zeit später von dem Bundestage, der sich doch so selten zu einer enthusiastischen Anerkennung erhob, ausgehenden Denkschrift heißt es wörtlich:

„Die Sache Hamburgs ist Ehrensache für ganz Deutschland geworden. Die Hamburger haben sich mit edler Aufopferung und ruhmwürdigem Muthe auf die Vorposten der guten und gerechten Sache gestellt, und weil sie den Zorn des Tyrannen (Napoleon) auf sich gezogen, müssen sie der Gegenstand der Achtung und Liebe des gesammten deutschen Volkes sein. Hamburg hat für sich allein eine Heerschaar in das Feld gestellt. Hamburgs Bürger, zur Vertheidigung ihrer Vaterstadt bewaffnet, sind nur Verhältnissen gewichen, welchen selbst ganze Völker nicht zu widerstehen vermocht haben würden. Hamburgs Ehre ist Deutschlands Ehre – Hamburgs Wohlfahrt Deutschlands Wohlfahrt. Hamburg hat für ganz Deutschland gelitten. Gemeinsam muß ganz Deutschland sich bemühen, ihm zu vergelten, was es geopfert hat an Gut und Blut für die gemeinsame Sache.“

Hamburg verlangte keine andere Schadloshaltung, als daß man es anerkenne als ein lebendiges Glied des deutschen Gesammtkörpers. Dies ist ihm damals geworden, und es hatte wohl das Recht, zu erwarten oder zu fordern, daß jene französelnden Rheinbundsstimmen, von welchen ich im Eingange aus dem berüchtigten „Manuscripte aus Süddeutschland“ eine Probe mitgetheilt habe, für ewig verstummen würden. Leider genügte der Verlauf weniger Jahre, um sie wieder wachzurufen und ihnen in dem verstimmten, verbitterten und getäuschten Deutschland von 1820, welches noch unklar darüber war, in wem es den Urheber seiner Leiden zu suchen habe, sogar einen gewissen Widerhall zu verschaffen.

Damals, von 1813 ab, war es die befreiende Politik Preußens, welche auch Hamburg befreite – jene Politik Friedrich Wilhelm’s des Dritten, welche sich in einen bewußten und klaren Gegensatz zu der Continentalsperre Napoleon’s setzte und welche inaugurirt wurde durch die berühmte Breslauer Proclamation vom 17. März 1813, worin der edle Dulder über die Vergangenheit sein Verdammungsurtheil aussprach:

„Wir erlagen der Uebermacht Frankreichs. Die Freiheit des Handels ward gehemmt und dadurch die Quelle des Erwerbs und des Wohlstandes verstopft. Das Land war ein Raub der Verarmung. Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litthauer, Ihr wißt, was Ihr seit sieben Jahren geduldet.“

Man kann keinen besseren Zeugen anrufen, als diesen König, der zugleich mit seinem getreuen Volke den Becher der Leiden bis auf die letzte Hefe leeren mußte, den sein Aufenthalt auf der Flucht, in den Lagern, in den kleinen Städten, in den Dörfern der entlegensten Theile seines Reiches mit den Bauern und den Bürgern in die unmittelbarste Berührung gebracht hatte und der sein ganzes Leben lang unentwegt festhielt an der streng-bürgerlichen Weltanschauung, die er damals gewonnen.

Die von ihm inaugurirte liberale Wirthschaftspolitik und dann Preußens uneigennütziges und rastloses Bestreben, in dem Zollverein die Einheit der Verkehrs-, Handels- und Industrie-Interessen zu verwirklichen, machten Hamburg immer mehr zu dem, wozu es von der Natur bestimmt ist, nämlich zum Hauptfreihafen für Deutschland. Noch in dem Jahresberichte, welchen das preußische Generalconsulat für das Geschäftsjahr 1862 an den Handelsminister erstattete, heißt es wörtlich:

Die Herausbildung Hamburgs zu einer wirklichen Freihafenstadt ist gewiß für die preußischen Verkehrsinteressen von wesentlicher Bedeutung.“




Italienische Falschmünzer.
Selbsterlebtes von Fl. Korell.


In einem früheren Artikel der „Gartenlaube“ (vergl. Jahrg. 1878, Nr. 30) habe ich darzulegen versucht, wie besondere Verhältnisse auf der Insel Sicilien das Räuberwesen zu einer außerordentlichen Verbreitung und Kraftentwickelung geführt hatten; dabei wurde auch des nicht auf jene Insel beschränkten, sondern fast auf ganz Italien, ja die südlichen Länder überhaupt sich erstreckenden Umstandes gedacht, daß die große Leidenschaftlichkeit des Südländers vorzugsweise jene Verbrechen begünstige, welche man unter dem Namen der „Gewaltthat“, auch wohl der „Blutverbrechen“ zusammenfaßt. Verbrechen dagegen, welche eine kalte Ueberlegung und Berechnung voraussetzen, kommen im Verhältniß zu jenen Gewaltthaten und im Vergleiche mit den nördlichen Ländern dort seltener vor. Nur eine Art der Betrügerei macht hiervon eine Ausnahme – das Verbrechen der „Falschmünzerei“.

Die Häufigkeit dieser Betrugsart in Italien erklärt sich durch die eigenthümlichen, höchst ungünstigen Finanzverhältnisse dieses Staates. Bekanntlich gehört das Königreich Italien dem lateinischen Münzsystem an, man kann aber heutzutage recht wohl ein halbes Jahr in Italien leben, ohne auch nur einmal einem Stücke italienischen Gold- oder Silbergeldes zu begegnen. Namentlich letzteres ist so gut wie vollständig aus dem Verkehr verschwunden und durch Papiergeld ersetzt, das in Scheinen von einhalb Lira (nicht ganz vierzig Pfennig), einem, zwei, fünf, zehn, zwanzig, fünfzig, hundert, fünfhundert Lire etc. umläuft.

Die Unbequemlichkeit dieses Münzwesens, welches das gleichzeitige Führen von mindestens zwei Geldtaschen voraussetzt, eine für das Kupfergeld, die zweite für das Papiergeld, wird für den Fremden wesentlich dadurch erhöht, daß fast in allen großen Städten, wie Turin, Mailand, Venedig, Genua, Florenz, Rom, Neapel, Palermo etc., Banken mit dem bezüglichen Stadtnamen (z. B. „Banca di Firenze“, „Banca Romana“) bestehen, welche zur Ausgabe von Banknoten berechtigt sind, deren Cours sich aber nicht auf das ganze Königreich erstreckt, sondern in der Weise auf die betreffende Stadt und die zugehörige Provinz beschränkt ist, daß man zum Beispiel in Venedig empfangene kleine Scheine schon in Rom nicht ohne die Hülfe eines Banquiers und nur mit Verlust verwerthen kann.

Das Aeußere dieser kleinen Geldscheine ist natürlich schauderhaft; der Billigkeit wegen ist von vornherein auf die Herstellung keine besondere Sorgfalt verwendet; was Wunder, wenn dieselben nach kaum einjähriger Umlaufszeit, zerrissen, geflickt, beschmutzt, dem Auge des Privatmannes kein einziges Echtheits- oder Falschheitszeichen mehr darbieten? Man empfängt ein Papier, welches das bekannte Aussehen des italienischen Papiergeldes an sich trägt – man nimmt es ohne weitere Prüfung als echt an, um am folgenden Tage vielleicht zu erleben, daß ein anderer Händler jene Zettel zurückweist. Man ärgert sich, gelobt sich größere Vorsicht, ist aber gleichwohl nicht im Stande, seinem Gelübde treu zu bleiben – und schließlich nimmt und verausgabt man die empfangenen Zettel ohne Prüfung und trägt damit zur Begünstigung der Falschmünzerei sein Theil bei.

Denn, daß „Gelegenheit“ nicht nur „Diebe“, sondern auch „Falschmünzer“ macht, davon ist Italien ein redendes Beispiel, da in diesem Lande vielleicht mehr falsches Papiergeld, als in den Ländern des übrigen Europas zusammengenommen, umläuft. Rechnet man zu den genannten verführerischen Umständen noch hinzu, daß das Land vielfach einsame, von Menschen wenig besuchte Orte darbietet, in denen die Herstellung der falschen Noten möglichst gefahrlos betrieben werden kann, so erscheinen hier alle Voraussetzungen gegeben, um die Falschmünzerei zur Blüthe zu [655] bringen, bis auf eine, allerdings hochwichtige und unerläßliche, nämlich die, das falsche Geld massenhaft und ohne Verdacht zu erregen in den Verkehr zu bringen.

Im Allgemeinen ist das Verfahren dieses, daß die eigentlichen Unternehmer des verbrecherischen Gewerbes, um nicht sich selbst und damit die Fabrikation zu gefährden, den Vertrieb des falschen Geldes an Agenten oder sozusagen Geschäftsreisende übertragen, welche ihrerseits nur durch Mittelspersonen, nicht aber unmittelbar mit den Unternehmern in Verbindung treten. Der Erwerber, welcher durch Agenten als zuverlässig ermittelt worden, pflegt die eigentlichen Unternehmer niemals kennen zu lernen; mit Empfang und Bezahlung der falschen Noten nach einem vereinbarten oder ein- für allemal festgesetzten Course (etwa zu fünfzig oder fünfundsiebzig Procent) ist seine Verbindung mit der Fabrikation bis auf Weiteres, das heißt bis zu neuem Bedarf, völlig unterbrochen. Er hat bei etwaiger Entdeckung durchaus kein Interesse, die Bezugsquelle des falschen Geldes den Behörden anzuzeigen, wird daran vielmehr durch Hülfsversprechungen auf der einen und Rache-Androhungen auf der anderen Seite gehindert.

So viel war mir durch Unterredungen mit Polizeibeamten und Untersuchungsrichtern im Allgemeinen bekannt geworden. Näheres sollte ich erst auf Sicilien, in einer der Haupthandelsstädte an der südlichen Küste der Insel, erfahren.

Ich hatte meine deutschen Markscheine in Rom bei einem zuverlässigen Bankhause in Hundertlire-Scheine umsetzen lassen, die ich nach Bedarf bei dem Inhaber meines Hôtels in kleinere Scheine zu zehn und fünf Lire umzuwechseln pflegte. Eines Tages wurde ich veranlaßt, dieses Geschäft des Wechselns dem Kellner aufzutragen; ich gab mehrere von ihm erhaltene kleine Scheine sofort aus. Als ich am folgenden Morgen ausgehen wollte, bat mich der Portier des Hôtels um eine kurze Unterredung. Er war ein ehrlich aussehender Mann, der, dreißig Jahre im Dienst, vom früheren Hôtelbesitzer auf den gegenwärtigen vererbt worden; der Verstorbene hatte ihn dem Sohne auf dem Todtenbette als eine Perle an das Herz gelegt. Er theilte mir mit, es seien zwei Händler anwesend, die behaupteten, am gestrigen Tage von mir falsche Fünflire-Scheine empfangen zu haben, und fragte bei mir an, ob ich diese Scheine (er zeigte drei dergleichen vor) jenen Händlern in Zahlung gegeben habe? Ich hatte in der That dort Einkäufe gemacht und mit sicilianischen Fünflire-Scheinen bezahlt; ob mit den vorgelegten, wußte ich nicht, doch bemerkte ich, daß ich sie gestern durch den Kellner von seinem Herrn empfangen habe. Er sah mich mit einem traurigen Blick an, schüttelte den Kopf, erklärte, der Wirth sei gerade ausgegangen, er werde dem Händler für die falschen Scheine sofort andere echte geben. Nachdem dieses geschehen, befragte er mich, ob ich gestern noch andere Scheine von seinem Herrn empfangen habe, ließ sich, nachdem ich die Frage bejaht, die noch in meinem Besitze befindlichen, gestern erhaltenen Fünflire-Scheine vorlegen, erklärte sie bis auf einen für falsch und wechselte mir dieselben für seinen abwesenden Herrn sofort in gute, nicht sicilianische Scheine um. Dabei verdüsterte sich seine Stirn immer mehr; er seufzte wiederholt, sah mich mehrere Male nachdenklich an und sagte endlich mit dem Tone eines Mannes, der einen sicheren Entschluß gefaßt hat: „Auf diesen meinen Armen habe ich den Herrn getragen, als er noch ein Kind war. Unter meinen Augen ist er aufgewachsen. Wenn das sein Vater wüßte, sein Vater, ein so braver, rechtlicher Mann! Bitte, lieber Herr, sprechen Sie über die Sache nichts zum Padrone; ich werde mit ihm reden, und zwar ein ernstes Wort. Das muß anders werden.“

Man kann sich denken, welche Schlüsse ich aus den Worten des alten, treuen Dieners ziehen mußte; ich wollte Näheres erfahren, doch er bat mit traurigem Tone, mit bekümmertem Gesichte, ich möge nicht weiter in ihn dringen, und gerührt von dem Kummer des alten ehrlichen Mannes versprach ich ihm Schweigen.

Auf dem Spaziergange ging mir die Sache im Kopfe herum. Gerade dieser Hôtelbesitzer hatte einen besonders günstigen Eindruck auf mich gemacht; er war ein durchaus gebildeter, daneben ein reicher Mann – und Er sollte der Agent einer Falschmünzerbande sein? Freilich, seine Stellung war zu solchem verbrecherischen Gewerbe die denkbar günstigste. Fast täglich reisten Fremde mit dem Dampfboot von hier nach Neapel. Wie leicht und in welcher Masse konnte er falsche Noten in Umlauf bringen, und wie schwierig, wie weitläufig war es dem Fremden, ihn mit Ersatzforderungen zu belästigen, selbst wenn der Betrug schon in Neapel entdeckt wurde! Wie viele dieser Wechselgeschäfte gingen außerdem durch die Hände der Kellner! Und dann – würde der ehrliche, alte Portier so zu mir gesprochen haben, hätte er nicht längst Verdacht geschöpft?

Welche Zustände! Ich hatte mich in dem angenehmen Familienkreise meines Wirthes so wohl gefühlt; wie manchen Abend hatte ich, in Gesellschaft mit einigen anderen Fremden, dort angenehm verlebt! Jetzt war das vorbei; fortwährend würden mir in diesem Kreise die unheimlichen Gestalten der Verbrecher vorgeschwebt haben; ich würde an die heimlichen Zusammenkünfte im Dunkel der Nacht haben denken müssen; ich hätte nicht unterlassen können, in die Zukunft zu blicken, die mir den geachteten Mann in der blutrothen Jacke und mit den Ketten des Galeerensträflings zeigte. Ich wollte fort; womöglich morgen schon die Stadt verlassen, um nicht Zeuge eines vielleicht schrecklichen Ausgangs der Angelegenheit zu werden.

In dieser Stimmung, die sich auf meinem Gesichte wohl ausprägen mochte, traf ich mit einem Bekannten zusammen, dessen plötzliches Erscheinen mir gerade jetzt einen heftigen Schrecken erregte, was man begreiflich finden wird, wenn ich erwähne, daß mein Freund Polizeibeamter war, ein Deutscher von Geburt, der, nach der Abtretung der Lombardei in italienische Dienste getreten, den Kampf gegen das Verbrecherthum mit wahrer Leidenschaft und vermöge seines scharfen Verstandes, seiner feinen Beobachtungsgabe mit bedeutenden Ergebnissen führte. War diese zufällige Begegnung vielleicht ein Fingerzeig des Schicksals? Wenn jener unglückliche Mann, an dem ich ein so warmes Interesse nahm, aus den schrecklichen Ketten des Verbrechens überhaupt noch zu retten war, so konnte es nur durch diesen Beamten geschehen. An seinem guten Willen durfte ich nicht zweifeln, da er den Hôtelbesitzer kannte und, wie mir bekannt war, schätzte. Bevor ich aber zu einer Mittheilung schreiten durfte, mußte ich erkunden, wie weit ich dem Beamten gegenüber gehen durfte, um den Hotelbesitzer nicht bloßzustellen. Ich erhielt sein Versprechen, daß er meine Mittheilungen durchaus als Privatmann aufnehmen und denselben ohne meine Einwilligung eine amtliche Folge nicht geben werde, und so erzählte ich denn, was mir begegnet, und theilte ihm die Schlüsse mit, die ich aus den Worten des alten Giuseppe, des Portiers, gezogen hatte.

Wir hatten uns allmählich seiner Wohnung genähert und ich war auf seine Einladung bei ihm eingetreten.

„Es ist schade,“ sagte er, „daß Sie nicht noch im Besitze wenigstens eines der falschen Scheine sind.“

Ich öffnete meine Geldtasche, und, siehe da! es fand sich noch einer jener sicilianischen Fünflire-Scheine vor, die ich am gestrigen Tage empfangen hatte. Derselbe war von mir heute Morgen, bei Aushändigung der übrigen an den Portier, vergessen worden. Herr Bergi (in dieser Weise hatte mein Freund seinen deutschen Namen zur größeren Bequemlichkeit für seine jetzigen Landsleute italienisirt) – Herr Bergi prüfte denselben genau und gab ihn mir mit dem Bemerken zurück, daß der Schein aus der Banknotenpresse einer Bande stamme, die schon seit mehreren Jahren in der Provinz, wahrscheinlich nur wenige Meilen von der Stadt entfernt, ihr Wesen treibe, deren Mitglieder und Hauptagenten aber bisher, strengster Nachforschungen ungeachtet, stets unentdeckt geblieben seien. „Entfernte Handlanger haben wir oft bei der Verausgabung der falschen Noten entdeckt, aber die Elenden fürchteten die Rache ihrer Mitschuldigen und bewahren das Geheimniß, obgleich ich ihnen Straflosigkeit, Geld und Sicherheit versprochen, und obgleich sie wußten, daß ich mein Wort noch immer gehalten.“

Zu einer Meinungsäußerung über den Fall selbst, der mir am Herzen lag, vermochte ich ihn nicht zu bewegen; dagegen bat er mich, den einen falschen Fünflire-Schein noch heute bei einem bestimmten Händler zu bestimmter Stunde zu verausgaben, dessen Reclamation abzuwarten und dann so zu handeln, wie ich gehandelt haben würde, wenn die beiden Händler heute Morgen selbst mit mir gesprochen hätten und die Einmischung des alten Portiers nicht eingetreten wäre.

Ich that, wie verabredet. Früh am folgenden Morgen trat mit tausend Entschuldigungen der Händler, bei welchem ich den falschen Schein verausgabt, bei mir ein und bat, daß ich die Gnade haben möge, statt dieses falschen Scheines, mit dem ich betrogen sei, ihm einen anderen, guten Schein auszuantworten. Ich hieß ihn warten und begab mich in das Bureau des Hôtelbesitzers,

[656]

Die letzten Augenblicke der Girondisten.
Nach Karl von Piloty’s Gemälde auf Holz gezeichnet.

[657] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [658] dessen Aeußeres heute auf mich nicht den günstigen Eindruck machte, wie bisher stets. In seinem Auge schien mir List und Verschlagenheit und zugleich jene Unruhe zu liegen, welche durch die Furcht vor einem drohenden Unheile erzeugt wird. Das ist, sagte ich mir, augenscheinlich der Eindruck jenes „ernsten Wortes“, das der treue Diener mit seinem leichtsinnigen Herrn geredet hat. Meine Voreingenommenheit gegen den Mann, der mir bisher so angenehm gewesen, war bereits so stark, daß ich kaum den gewohnten freundlichen Ton einzuhalten vermochte.

Nach kurzer Begrüßung trug ich ihm meinen Fall vor: daß ich gestern einen Hundertlire-Schein bei ihm gewechselt und fast ausschließlich sicilianische Fünf- und Zehnlire-Scheine empfangen habe, von welchen mir soeben dieser Fünflire-Schein, den ich ihm vorlegte, als falsch von einem Händler zurückgebracht sei. Der Hôtelbesitzer warf einen flüchtigen Blick auf den Schein und sagte:

„Gewiß! Der Schein ist falsch, aber Sie irren, mein Herr, ich habe vorgestern Ihnen nicht gewechselt; den Schein müssen Sie aus anderer Hand empfangen haben.“

„Von einem Irrthum meinerseits ist keine Rede. Vorgestern Morgen um acht Uhr habe ich den Zimmerkellner mit einer Hundertlire-Note zu Ihnen geschickt, habe von Ihnen sicilianische Fünf- und Zehnlire-Noten erhalten, und dieser von Ihnen als falsch anerkannte Schein ist einer der von Ihnen empfangenen.“

Er sah mich auf diese scharf betonten Worte mit einem eigenthümlich fragenden Blicke an, schien eine rasche Entgegnung zu unterdrücken und sagte dann vollkommen ruhig:

„Sie gestatten wohl, daß ich den Kellner befrage, ob er Ihren Auftrag an mich ausgeführt und von mir gegen Ihren Hundertlire-Schein sicilianische Noten empfangen hat.“

Ich nickte nachlässig mit dem Kopfe und dachte bei mir: Jetzt wird der Kellner die Sache auf sich nehmen und erklären, daß er in Abwesenheit des Hôtelbesitzers bei einer anderen Person gewechselt habe. Diese vorausgesetzte Verabredung ließ das Thermometer meiner Achtung noch um ein Bedeutendes sinken. Wie viel höher stand nicht der ehrliche, durch die Schande seines Herrn niedergedrückte Diener gegen diesen, der mit seinen Kellnern listige Verabredungen traf und mir gegenüber mit frecher Stirn den Unschuldigen spielte!

Der Zimmerkellner erschien. Bevor der Hôtelbesitzer ein Wort zu sprechen vermocht, redete ich ihn an:

„Haben Sie vorgestern, acht Uhr Morgens, hundert Lire von mir empfangen, um dieselben bei dem Herrn zu wechseln?“

Der Gefragte erröthete heftig und stammelte eine leise Bejahung meiner Frage.

„Haben Sie meinen Auftrag ausgeführt?“

Der Kellner gerieth in stärkere Verlegenheit und antwortete:

„Ja; nur, weil der Oberkellner sagte, er wolle das besorgen, habe ich diesem den Hundertlire-Schein übergeben, und von ihm habe ich die kleinen Scheine erhalten, die ich auf das Zimmer gebracht habe.“

Der Zimmerkellner mußte bei Seite treten; der Oberkellner erschien und gab an, da der Portier häufig Geld wechsele und ihm gesagt habe, er wünsche die kleinen Scheine, die er von den Gästen für Auslagen oder als Trinkgeld erhalte, in größere Scheine umzuwechseln, so habe er den mehrberegten Hundertlire-Schein dem Portier übergeben, welcher jene kleinen sicilianischen Scheine geliefert, die ich durch den Zimmerkellner empfangen.

Der Portier! Ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte. War das Verabredung? Wollte der alte treue Diener die Schuld seines Herrn auf sich nehmen? Gespannt harrte ich der Entwickelung.

Nachdem die beiden Kellner abgetreten, wurde der Portier herbeigerufen. Er trat durchaus unbefangen ein.

„Giuseppe,“ redete ihn der Hôtelbesitzer an, „Du weißt, daß ich allen meinen Leuten und auch Dir verboten habe, den Herrschaften Geld zu wechseln. Ich erfahre jetzt, daß Du den Oberkellner bewogen hast, dies bei Dir zu thun. Warum das? Vorgestern hast Du diesem Herrn Geld gewechselt und ihm dabei diesen Schein gegeben, den Du als Sicilianer als falsch erkennen mußtest. Wenn mein Vater Dich nicht auf dem Sterbebette mir empfohlen hätte, Du wärest noch heute Deines Dienstes entlassen, und Du bist es, wenn dergleichen noch einmal vorkommt. Ist es ehrlich, einen Fremden mit diesen Lumpen zu betrügen?“

Der Mann sprach mit solchem Ernste, mit solcher Strenge, daß er ein Meister der Verstellung hätte sein müssen, wenn er schuldig gewesen wäre. Andererseits warf mir der Alte einen so vorwurfsvollen Blick zu, daß ich mich genöthigt sah, um in's Klare zu kommen, die Geschichte dieser Geldwechselung vollständig zu erzählen.

Kaum hatte der Hôtelbesitzer erfahren, daß die sämmtlichen Scheine, die ich empfangen, falsch gewesen seien, und daß der Portier mich in dem Glauben gelassen habe, diese falschen Scheine rührten aus seiner, des Hôtelbesitzers Casse her, als derselbe in eine namenlose Wuth gerieth. Rasch errieth er, daß ich ihn für einen Betrüger gehalten haben müsse; frühere Vorkommnisse ähnlicher Art mochten ihm die Gewißheit geben, daß mancher seiner Gäste eine sehr schlechte Meinung von ihm mitgenommen haben möge.

Die nun folgende Unterredung zwischen Herr und Diener, diese heftigen Fragen des Einen, diese anfangs rückhaltenden, allmählich aber zur Offenheit übergehenden Antworten des Anderen, die Ausrufungen und leidenschaftlichen Gesticulationen Beider, das auf und ab Gehen und Rennen der Betheiligten – diese Erregbarkeit und Hast der beiden Sicilianer zu schildern ist geradezu unmöglich. Das Ergebniß der mehrstündigen Unterredung fasse ich in Kürze folgendermaßen zusammen:

Zum Verbrecher war der Alte vor etwa fünf Jahren, wie er selbst sagte, durch Zufall geworden: für eine außerordentliche Dienstleistung hatte er eines Tages von einem reichen Fremden das für dortige Verhältnisse ungewöhnliche Trinkgeld von fünf Lire empfangen. Voll Freude über den glänzenden Verdienst geht er in's Weinhaus, thut sich und einigen Bekannten gütlich, sieht den Fünflire-Schein vom Weinwirth als falsch zurückgewiesen und wird in Folge dessen von den Freunden, die er bewirthet, ausgelacht und verhöhnt. Rasch entschlossen begiebt er sich zu dem reichen Fremden, klagt diesem sein Unglück und bittet um einen echten Schein, wird aber mit dieser Bitte unter der beleidigenden Voraussetzung des Fremden, daß es auf eine Prellerei abgesehen sei, schroff abgewiesen.

Dieser unglückliche Geldschein wurde die Ursache seines Falles; nachdem er denselben bei nächster Gelegenheit einem Fremden als echt beim Wechseln einer großen Summe aufgehängt, um den durch einen anderen Fremden erlittenen Schaden wieder einzubringen, muß er denselben Schein, der dem Empfänger vielleicht bedenklich erschienen, sofort in echte Einlira-Scheine umwechseln; der Schein kehrt mehrere Male in seinen Besitz zurück; er darf die Annahme nicht ablehnen, weil sein Unglück bekannt geworden ist. Dadurch wächst natürlich sein Trieb, den Schein für immer los zu werden, was nach einigen Tagen bei einem abreisenden Fremden glücklich gelingt. Dieses Mittel wird von nun an immer angewendet, wenn er selbst einmal wieder in den Besitz falscher Scheine gekommen ist.

Bald wenden die Kellner, wenn sie solche angenommen haben, sich an ihn; er gewährt die erbetene Hülfe anfangs unentgeltlich; bald darnach kauft er die falschen Scheine ihnen zu fünfundsiebenzig Procent ab. Das Geschäft geht gut; er beginnt, falsche Scheine zu suchen – und eines Tages trifft er mit „Jemandem“ zusammen, der ihm die Lieferung falschen Geldes in beliebiger Masse zusagt. So ist er einer der besten Agenten der Falschmünzerbande geworden und hat auf diese Weise ein nicht unbedeutendes Vermögen erworben. Größere Summen wurden nur denjenigen Fremden aufgehängt, welche unmittelbar nach dem Wechselgeschäfte abreisten, und jene hundert Lire, die ich empfangen, waren für einen Anderen bestimmt gewesen und nur aus Versehen an mich gelangt. Im Ganzen, behauptete er, seien Reclamationen nur selten vorgekommen; wenn, wie in meinem Falle, die Zurücknahme der falschen Scheine nicht zu vermeiden war, so wußte der alte, wie gesagt, allgemein beliebte Mann immer durchzusetzen, daß der Hôtelbesitzer von der Sache nichts erfuhr. Glaubte er diesen Zweck bei Dem und Jenem nicht auf andere Weise erreichen zu können, so spielte er eine ähnliche Komödie, wie mit mir – und erreichte stets seinen Zweck.

„Und stets hielt man mich für einen Spitzbuben,“ schrie der Wirth in äußerster Entrüstung.

Giuseppe schwieg und wurde vorläufig aus dem Zimmer entlassen.

[659] Es folgte nun eine lange Berathung mit meinem guten Freunde, dem erwähnten Polizeibeamten, eine Berathung, deren Ergebniß in Kürze war, daß der Hôtelbesitzer wegen seiner eigenen Sicherheit den Portier nicht sofort entlassen dürfe und daß die ganze Sache vorläufig verschwiegen bleiben solle, um durch sorgfältigste geheime Bewachung des Alten den Hauptschuldigen auf die Spur zu kommen. Mein Hôtelier erkannte an, daß ich, wie die Sachen nun einmal lagen, nicht umhin gekonnt, gegen ihn Verdacht zu fassen, und wir trennten uns bald darauf als die besten Freunde. Da der Alte sein verbrecherisches Gewerbe seit etwa fünf Jahren betrieben hatte, so mußten durch ihn sehr bedeutende Massen falschen Geldes in Umlauf gekommen sein.

Das war meine erste Berührung mit italienischen Falschmünzern; eine zweite, mit sehr tragischem Ausgange, fand etwa ein Jahr später in Rom statt, und sie war mir um so mehr interessant, da ein Theil der im Vorigen geschilderten Personen bei dieser zweiten Begegnung die Hauptrollen spielte.




Es war im Jahre 1871, zur Zeit des Carnevals, als ich eines Tages in Rom mit dem eben erwähnten Polizeibeamten, Herrn Bergi, zusammentraf. Nach den üblichen persönlichen Fragen, welche in diesem Falle freilich mehr als Förmlichkeiten waren, erfuhr ich, daß er nach langen Mühen den eigentlichen Sitz und Fabrikationsort der Bande entdeckt und das Nest ausgenommen hatte. Etwa fünfzehn Personen waren zu schweren Galeerenstrafen verurtheilt worden, der eigentliche Chef der Bande aber, ein gewisser Antonio, und der alte Giuseppe hatten Freiheit und Vermögen durch rechtzeitige Flucht gerettet. Des alten Giuseppe Entkommen hatte er ziemlich rasch verschmerzt, die Flucht Antonio's aber konnte er noch nicht verwinden. Er schilderte ihn mir als einen äußerst gewandten, energischen und gefährlichen Menschen, der zugleich eine seltene Verstellungskunst besitze.

Während des Carnevals fand der eifrige Beamte natürlich fast keinen Augenblick Muße zur Erholung; wir trafen uns daher nur selten; um so mehr war ich überrascht, als er kurz vor dem Ende der tollen Zeit mich eines Abends zu einem Streifzug durch die Straßen, die Redouten, die Kneipen aufforderte. Meiner Einwilligung gewiß, hatte er bereits für Maskenanzüge gesorgt, welche, sobald wir eines der größeren Locale verließen, mit anderen im Voraus gewählten gewechselt wurden. Hieraus und aus einigen kleinen Nebenumständen bemerkte ich bald, daß er unter der Maske des Vergnügens lediglich seinem Amte oblag, und sein an diesem Abende ganz besonderer Eifer, eine gewisse, ihm sonst fremde Erregtheit wurden mir erklärlich, als er mir in einer Droschke mittheilte, daß er Antonio und Giuseppe, den ersteren wieder als Chef einer Falschmünzerbande, hier vermuthe und jene Personen beim Ausgeben falschen Geldes womöglich noch heute betreffen wolle. Und es gelang ihm.

Nachdem wir verschiedene Theater und Tanzlocale besucht, glaubte mein Freund unter den Ballgästen im Correa-Theater seine Leute gefunden zu haben. Ich, im einfachen Domino, erhielt die Weisung, mich bei Seite zu halten; mein Freund begann nun, durch sein ganzes Auftreten, in jeder seiner Bewegungen den reisenden Engländer so treffend zu markiren, daß gerade Leute wie Giuseppe und Antonio, weil sie mit den Manieren der Engländer vermöge ihres langjährigen Berufes vollkommen bekannt waren, den Beamten für das halten mußten, was er naturgetreu und ohne jede Uebertreibung darstellte. Er wußte dann am Büffet mit ihnen zusammen zu treffen und hatte richtig berechnet, daß ihre Eitelkeit sie veranlassen werde, auf eine in englischer Sprache nicht an sie unmittelbar gerichtete, sondern ohne bestimmte Adresse hingeworfene Bemerkung oder Frage in der fremden Sprache Antwort zu geben. So kam er mit ihnen in's Gespräch, ließ sich mit ihnen an einem Tische zum Trinken nieder, fragte schließlich, ob sie ihm, da er sein italienisches Geld verausgabt, eine Zehnpfund-Note wechseln könnten, und da der gelegentlich in unverfänglichster Weise sich bietende Gewinn reizte, so gingen sie in die Falle und übten ihrem schlimmsten Feinde gegenüber ihr verbrecherisches Gewerbe aus, indem sie in seine Hand einen Haufen falscher Lire-Scheine legten.

Man kann sich denken, in welch gehobener Stimmung der Beamte etwa eine Stunde später den Ball verließ.

„Ich hätte mich fast verleiten lassen, sofort die Verhaftung der Kerle anzuordnen,“ sagte er, „aber es wäre ein Fehler gewesen, weil ihre Genossen und die Fabrikationsapparate mir entgangen wären, namentlich die Platten, die – ich muß es gestehen – ausgezeichnet gearbeitet sind. Sie müssen einen Kupferstecher ersten Ranges gewonnen haben. Ohne ihn wäre der Fang der beiden Gauner nur halbe Arbeit.“

Es mochten zwei weitere Tage vergangen sein – der Carneval war mittlerweile beendet – als ich an meinem Freunde eine fast fieberhafte Aufregung bemerkte. Er gestand mir, daß er sich einen Vorwurf daraus mache, nicht doch zur sofortigen Verhaftung geschritten zu sein.

„Die Umstände, lieber Freund, die Umstände! Die Kerle haben gestern einen Coup ausgeführt, sie haben der Bank eine große Summe Geldes abgelockt! Das ist Eins. Dieser große Betrug wäre gehindert worden, wenn ich die Leutchen sofort verhaftet hätte. Numero Zwei ist, daß sie mich seit gestern erkannt haben und seitdem beobachten lassen. Für meine Person fürchte ich zwar nichts; allein ich zweifle, ob mir der Fang so vollständig gelingt, wie ich's wünsche.“

Mir war bei dieser letzten Mittheilung nicht wohl zu Muthe, aber schon am folgenden Tage theilte er mir mit, daß er morgen die ganze Gesellschaft mit einem Schlage in einem einsamen Hause, der Stätte der Notenfabrikation, aufheben werde. Der Erfolg sei, wie er mir sagte, verbürgt.

So schied ich mit einem herzlichen Glückwunsche und wegen der ihm drohenden Gefahren mehr als je beruhigt von ihm, um ihn – lebend nicht wiederzusehen.

Am folgenden Morgen durchlief die Stadt das Gerücht, daß in der Via Rosa ein Polizeibeamter in dem von ihm bewohnten Hause auf der Treppe durch zahllose Dolchstiche ermordet gefunden sei. Sowie ich den Namen der Straße hörte, wußte ich genug, und der Augenschein bewies, daß meine Befürchtungen nur allzu sehr begründet gewesen. Fünfzehn Dolchstiche waren in den Körper des eifrigen Beamten eingedrungen; aus mehreren, dem linken Oberarme beigebrachte Stichen und aus der Thatsache, daß auf der Treppe ein dem Ermordeten zugehöriges Dolchmesser aufgefunden wurde, schloß man, daß zwischen dem Mörder und seinem Opfer im Dunkel der Nacht ein erbitterter Kampf stattgefunden haben müsse, von dessen gewiß starkem Geräusche unglücklicher Weise keiner der Hausbewohner, auch nicht die im zweiten Stocke wohnende Gattin des Ermordeten etwas wahrgenommen hatte.

Die Polizei konnte aber bereits am zweiten Tage zur Verhaftung des Mörders und seiner Genossen schreiten, da der Unglückliche noch soweit wieder zum Bewußtsein gelangte, daß er über die letzten Stunden seines Lebens eine Aussage zu Protokoll geben konnte. Diese ergab im Wesentlichen Folgendes:

Nachdem der Beamte die Gewißheit erlangt hatte, daß die beiden Gauner ihn als ihren Verfolger erkannt und deshalb seine Thätigkeit ihrerseits beobachten ließen, fürchtete er, die volle Frucht seiner Bemühungen zu verlieren, wenn es ihm nicht gelänge, sämmtliche Theilnehmer der Bande wenigstens einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Er gewann deshalb den Eigenthümer des Hauses, in welchem die Bande ihre Zusammenkunft hielt, und wurde von diesem in ein Nebenzimmer geführt, von dem aus er durch in die Thür geschnittene Löcher im Stande war, die Gesichtszüge der einzelnen Mitglieder der Bande sich einzuprägen. Eine halbe Stunde, nachdem die Gauner sich entfernt, verließ auch er das Haus, wurde aber unglücklicher Weise von Giuseppe und Antonio, welche sich, da man Verdacht geschöpft, in der Nähe versteckt gehalten, beim Verlassen des Hauses entdeckt und von dem ersteren scharf verfolgt. Seiner Ortskenntniß und großen Gewandtheit gelang es, dem Verfolger zu entkommen, und er glaubte sich geborgen, als er, ehe der Verfolger ihn eingeholt, in sein Haus eingetreten und die Hausthür hinter sich verschlossen hatte. Noch athemlos vom eilige Laufe, schickte er sich an, die dunkle Treppe zu ersteigen, als er von Antonio angegriffen wurde, welcher, um des Verhaßten unter allen Umständen sich zu entledigen, auf dem geradesten Wege im raschesten Laufe vorangeeilt war und in das Haus seines Todfeindes sich eingeschlichen hatte. Auf der dunklen Treppe hatte dann ein heftiger Kampf stattgefunden, in welchem der Mörder selbst nicht unerheblich verletzt wurde.

Die fast im Todeskampfe abgegeben Aussage des in Erfüllung seiner Pflicht gefallenen Beamten ermöglichte, außer den [660] beiden Mördern auch die übrigen Mitglieder der Falschmünzerbande zu verhaften, sodaß man mit Recht sagen kann, dieser Beamte habe noch im Tode der öffentlichen Sicherheit einen erheblichen Dienst geleistet.

Die Verhandlungen vor dem Schwurgerichte ergaben weiter, daß nur die Rache und die Furcht, zum zweiten Male durch ihn an der Fortsetzung ihrer verbrecherischen Thätigkeit gehindert zu werden, als die Ursachen zur Begehung der That zu betrachten seien.

Da die übrigen Mitglieder der Bande der Mordthat völlig fremd waren, so kamen sie mit langjähriger Galeerenstrafe davon; die Geschworenen erkannten Antonio des Mordes und Giuseppe der Anstiftung zum Morde schuldig – wie in Italien zur Vermeidung der gesetzliche Todesstrafe fast regelmäßig geschieht: unter Annahme „mildernder Umstände“, ein Verdict, aus welchem sich die Verurtheilung der Beiden zu lebenslänglicher Galeerenstrafe von selbst ergab.

Der bekannte, vielberufene „Fluch der bösen That“ zeigt sich im Leben des alten Giuseppe in seiner vollen, fürchterlichen Kraft; die Kette, welche das erste kleine Unrecht, das in den Augen des Thäters nicht einmal ein Unrecht, sondern nur die nach seiner Meinung nicht ungerechte Abwälzung eines von einem „Forestiere“ ihm widerfahrenen Unrechts auf einen anderen „Forestiere“ war, die Kette, sage ich, welche jenes erste kleine Unrecht mit dem entsetzlichen Entschlusse zum Morde verbindet, liegt in diesem Falle so klar, wie selten sonst, zu Tage. Aus jenem ersten kleinen Unrechte entsprangen alle folgenden Verbrechen und schließlich nach altitalienischer Sitte „la vendetta contra la spia“, die Rache am spionirenden Beamten.




Aus Belgiens Jubeltagen.


Jüngst kam ich an von Flandern und Brabant.
So viele reiche, blühende Provinzen!
Ein kräftiges, ein großes Volk – und auch
Ein gutes Volk – und Vater dieses Volkes,
Das, dacht’ ich, das muß göttlich sein!

Diese Worte Schiller’s kamen mir in den Sinn, sowie ich die belgische Grenze überschritten, und oft mußte ich ihrer in den Tagen gedenken, da ich in Belgien geweilt. Es ist wunderbar, mit wie wenig Worten unser großer Dichter das Land und das Volk zu kennzeichnen verstanden, und wie vollkommen richtig zugleich. Wie er im Tell die Natur der Schweiz gemalt, als ob er lange in derselben gelebt, wie er im Wallenstein mit poetischer Anschauung das Richtige geahnt, noch ehe die nachfolgenden Untersuchungen ihm Recht gegeben, so hat er auch in Bezug auf die Niederlande ein historisches Denkmal von größter Wahrheit geschaffen. Mir sagte ein alter General, der sich jetzt in einem Städtchen nahe bei Brüssel niedergelassen hat und dort das Bürgermeisteramt verwaltet: „Ich lese Ihren Schiller fortwährend, und seinen ‚Abfall der Niederlande‘ kenne ich auswendig; es ist wunderbar, mit welcher Treue und wie wahr Alles geschildert und erzählt ist, und ich, als alter Militär, bewundere noch besonders die absolute Richtigkeit aller seiner taktischen Angaben.“

Und dieses schöne Land, dieses edle Volk feierte jetzt seine fünfzigjährige Befreiung von einer vielfach wechselnden Fremdherrschaft, unter der es Jahrhunderte lang geschmachtet, bis das Jahr 1830 ihm durch Lossagung von Holland die lang ersehnte Freiheit gab.

Es war dies die Zeit, wo einmal wieder die Göttin der Freiheit ihren Triumphzug durch Europa hielt, wo der Thron der Bourbons in Frankreich gestürzt, wo Griechenlands Unabhängigkeit anerkannt wurde und wo das unglückliche Polen eine neue, schnell in Blut ertränkte Hoffnung schöpfte. Damals erlebte die Welt auch das wunderbare Schauspiel, daß selbst die katholische Geistlichkeit sich dem Liberalismus anschloß und daß französische wie belgische Kleriker erklärten, an das Gesetz der Vernunft und des Fortschritts zu glauben. Alle stimmten den fundamentalen Forderungen dieser Zeit bei: Freiheit des Glaubens, des Unterrichts, der Association und der Presse.

In Brüssel versammelte sich der Nationale Congreß und entwarf die Verfassung, ein ebenso kühnes, wie erhabenes Werk, auf das Belgien stolz ist. „Der König regiert, aber er herrscht nicht.“ Dieses Wort ist hier zur Wahrheit geworden. Und König Leopold der Erste hatte den Muth und das Vertrauen, die Krone dieses Landes anzunehmen, sowie die Weisheit, sich getreu an die Bestimmungen der Constitution zu halten. Das Volk aber ehrte und liebte ihn darum von ganzem Herzen, und sein Sohn, der jetzige König, ist der Erbe dieser edlen Gesinnungen seines Vaters, sowie der schwärmerischen Liebe des Volkes geworden. Letztere sprach aus allen kleinen Zügen wie aus allen großen Festen, die ich dort gesehen, ebenso wie die dankbare Erinnerung an den Verstorbenen, den Gründer dieser Dynastie.

Viele kleine Züge coursiren als Zeugnisse, wie Leopold der Zweite, der stets populär, nie vulgär zu werden und sich in heiterer, ungezwungener und doch stets königlicher Weise unter seinem Volk zu bewegen versteht, die Bestimmungen der Verfassung zu wahren gesonnen ist. Als z. B. bei dem „patriotischen Fest“ die Sonne arg brannte, erlaubte er den Ministern, wie seiner ganzen Umgebung, sich zu bedecken. Der Ministerpräsident Frère-Orban trat zu einer Meldung, den Hut auf dem Kopfe, an den König heran, sich mit den Worten entschuldigend: „Auf Ihren Befehl, Sire!“ – „Halt,“ unterbrach ihn der König, „das Wort kann ich nicht annehmen; es paßt nicht in unsere Institutionen!“ Denn der König von Belgien befiehlt eben nicht – er führt nur aus. Es ist dies aber ein goldenes Wort, das wohl der Aufbewahrung werth ist.

So führt Belgien seit fünfzig Jahren ein glückliches Leben, keine besonderen Unruhen, selbst im Jahre 1848 nicht, haben seinen Frieden gestört – nur der Culturkampf ist auch dort mit großer Härte aufgetreten. Aber die Freiheit daselbst hat gesiegt, das geistige Leben Belgiens ist nur desto mehr angeregt worden, was der Umstand beweist, daß bei manchen Wahlen neunzig Procent der eingeschriebenen Wähler erschienen – ungebeugt steht der Staat der Kirche gegenüber und vertheidigt siegreich sein Recht gegen dieselbe.

Und auch von socialistischer Seite hat Belgien nichts zu fürchten, obgleich es vorzugsweise ein Land der Industrie, der großen Fabriken, der Arbeiterbevölkerung ist. Mitten in den Festtagen wurde in Brüssel ein socialistisches Meeting abgehalten – 4000 bis 5000 Teilnehmer hatten sich versammelt – aber das Ganze verlief ruhig und ohne daß, außer den Betheiligten, eine Seele es für der Mühe werth hielt, sich darum zu kümmern.

Die Jubelfeier Belgiens dauerte vom Juni bis zum September – eine so weit gegriffene Spanne Zeit, daß wohl Keiner, wenigstens kein Fremder, sich dürfte rühmen können, den sich drängenden Festlichkeiten vom Anfange bis zum Ende des Programms beigewohnt zu haben. Ich selbst traf in Brüssel ein, nachdem der erste internationale literarische Congreß sowie die Eröffnung der verschiedenen Ausstellungen vorüber waren, also im Anfange des Augusts, und zwar zu den Sitzungen des „Congrès littéraire belge“, welche am 12. jenes Monats eröffnet wurden.

Schon beim Eintritt in das Land, gleich von Verviers an, entzückte mich der Anblick dieser dichten und doch so wohlhabenden Bevölkerung und der herrlichen Landschaft; in malerischer Lage, im üppigen Grün und von herrlichen Bäumen umgeben, Flecken und Dörfer; überall freundliche, saubere Häuser, alle massiv gebaut, alle mit Ziegeln gedeckt; wenig Landwirthschaft, viel Gartenbau und am meisten Fabriken – das ist der Charakter dieses Landstrichs. Beim Anblick desselben aber begreift man auch leicht, daß die Volksdichtigkeit hier eine sehr große sein muß, und in der That kommen auf die Quadratmeile in Belgien 9511 Menschen, in Deutschland dagegen 3906, und nur der Regierungsbezirk Düsseldorf, das am meisten bevölkerte Stück des deutschen Reichs, nähert sich mit 9000 Seelen pro Quadratmeile etwa der belgischen Durchschnittszahl. Trotzdem ist die Zahl der jährlich Auswandernden eine verhältnißmäßig geringe.

Es ist hier nicht der Ort, eine Beschreibung von Brüssel zu geben; nur das Eine will ich sagen, daß mich diese Stadt mit ihren schönen breiten Straßen, ihren Boulevards, Parks, und Palästen, ihren hochinteressanten alten Baulichkeiten wie ihren neuen architektonischen Meisterwerken, diese Stadt voll bewegten Lebens

[661]

Altrömisches Brautopfer.
Nach dem Gemälde von Fritz Schneider auf Holz übertragen.

[662] wahrhaft entzückt hat. Der Belgier ist übrigens mäßig im Genuß von Spirituosen – trotz der großen Zahl von Restaurants und Cafés und des bunten Treibens, das sich vor letzteren auf Stühlen und Bänken bis mitten auf die Straße hinaus geltend zu machen pflegt und spät in die Nacht hinein dauert. Nur Bier wird in Brüssel mehr consumirt, als selbst in München oder irgend einer deutschen Stadt, und das will gewiß viel sagen.

Was dem Aufenthalt in Belgien einen besonderen Reiz verleiht, das sind neben den in Kirchen und Museen gehäuften Kunstschätzen die sich fortwährend aufdrängenden Erinnerungen an die große Vergangenheit des Landes, die sich allerdings zumeist auf die spanische und habsburgische Zeit beziehen.

Den ersten Nachmittag und Abend nach meiner Ankunft in Brüssel verwandte ich dazu, mir einen Ueberblick über die Stadt zu verschaffen und das herrliche, nahe gelegene „Bois“ zu besuchen, das die Brüsseler gern ihr Bois de Boulogne nennen, einen Park mit mächtigen Bäumen und breiten Wegen. Am folgenden Tage wohnte ich der Eröffnung des literarischen Congresses bei, zu welchem ich eine Einladung erhalten hatte. Hierbei, wie während meines ganzen Aufenthaltes in Belgien, hatte ich Gelegenheit, zu beobachten, in welch hoher Achtung daselbst die Presse steht. Die Städte wetteiferten, einmal die Vertreter der europäischen Tagesliteratur als Gäste bei sich zu sehen. Zu allen Festen wurden wir geladen; zu allen Schaustellungen erhielten wir die besten Plätze, und die gesammte Bevölkerung, vom König herab bis zum letzten Schaffner der Eisenbahn, bezeigte uns Wohlwollen und Achtung. Manch stiller Seufzer des Neides wurde da gehört – Belgien ist eben ein freies Land, und nur ein solches vermag den Werth der Presse zu schätzen.

Der Congreß versammelte sich in dem prächtigen, am Parke gelegenen Palast der „Künste und Wissenschaften“; eine mit Statuen und Blumen geschmückte Marmortreppe führte hinauf zu den Sälen, deren schönster, mit Marmorsäulen und zwölf großen allegorischen Gemälden von Slingeneijer geschmückt, heute die Versammlung aufnahm. Im Zuhörerraum befand sich eine stattliche Gesellschaft von Damen und Herren; am Präsidialtische saßen unter Anderen Mr. Graux, der Finanzminister, und Dr. Rolin-Jacquemyns, der Minister des Inneren; unter den Mitgliedern des Congresses fanden wir die berühmtesten Namen: die Herren Henri Conscience, den Nationalökonomen Demeures, den Generalprocurator des Cassationshofes Faider, den Feuilletonisten Frédérix, den Volksschriftsteller Gilon, den Romanschriftsteller Greyson, den Journalisten Hymans, den Kunstkritiker Lemonnier, den Führer der Freidenker Belgiens Potvin, den Repräsentanten der vlämischen Literatur Sleeckx, den Maler Wanters und viele Damen, so die junge, begabte Schriftstellerin Fräulein Van de Wiele, die Malerin Madame Potvin, Madame Popp, die Redactrice des politischen Theils des „Journal de Bruges“, und Andere.

Zur bestimmten Zeit erschien auch der König, und der begeisterte, jubelnde und zugleich herzliche Empfang, der ihm zu Theil wurde, gab mir einen ersten Beweis der großen Liebe, welche derselbe bei seinem Volke genießt; sein freundliches, frohes Grüßen zeigte andererseits, wie wohl er sich unter seinem Volke fühlt und wie gern er mit demselben verkehrt. Er blieb auch bis zum Schlusse der Feier.

Zuerst hielt der Präsident des Congresses eine Rede, dann der Finanzminister, welcher die Bedeutung der Presse für Belgien, ihre Theilnahme an dem politischen und besonders dem geistigen Befreiungswerke hervorhob, von ihrer jetzigen Aufgabe sprach und mit einem begeistert aufgenommenen Hoch! auf den König schloß. Dann verlas der Secretär des Congresses, B. Greyson, seinen Bericht, nannte die eingeladenen Fremden und trug darauf an, diejenigen darunter, welche sich zur Theilnahme an den Arbeiten des Congresses bereit erklärt hatten, zu Vicepräsidenten zu ernennen, ein Antrag, der mit Acclamation aufgenommen wurde. Mit erneutem Hoch! auf den König schloß die Eröffnungsfeier.

Zum Abend waren wir Alle zu einem Essen in den Räumen des ebenfalls dem Künstler- und Literatenverein gehörigen „Vauxhall“ geladen. Die Zwischenzeit benutzte ich, um zuerst die Ausstellung von Werken des Malers Wanters in dessen Hause zu besuchen; der Zutritt zu dieser wie zu der großen Industrie-Ausstellung, zu den Museen wie zu den besten Theatern stand uns Allen auf unsere Einladungskarte frei; ebenso war uns auf allen belgischen Bahnen jeder Zeit freie Fahrt gewährt. Die Theater hatten übrigens alle für diese Zeit eine Reihe von Festvorstellungen arrangirt, denen nach Belieben beizuwohnen Jedermann gestattet war.

Was die Ausstellung Wanters’scher Bilder betrifft, so gewährte ihre Besichtigung hohen Genuß. Schon die Treppen, die Flure und das Entrée des Gebäudes, in dem sie placirt waren, machte einen würdigen Eindruck; überall Waffen, Teppiche, Decken, Schränke und Geräthe aus alter Zeit, schön geordnet und effectvoll aufgestellt. Und nun die Sammlung selbst, sechsundvierzig Nummern umfassend, die von ihren jetzigen Besitzern zu diesem Zwecke hergeliehen waren und die einen Ueberblick über die vielseitige Kunst des Meisters gestatteten: treffliche historische Gemälde, die werth befunden worden, die belgischen Museen zu zieren, Portraits, welche an Feinheit der Auffassung, an Zartheit und zugleich an Lebendigkeit der Ausführung zu den besten der Neuzeit gerechnet werden können, architektonische und landschaftliche Werke von charakteristischer Wahrheit und Aquarellen, duftig und elegant, bildeten diese interessante Sammlung, interessant auch deshalb, weil sie noch der alten Schule angehören. Auch in der neueren belgischen Kunst haben die Entwickelungsphasen rasch gewechselt. In dem neu eröffneten großartigen Museum moderner Künstler finden wir alle belgischen Schulen der letzten fünfzig Jahre vertreten, die romantische, die antikisirende, die das Mittelalter so genau nachahmende, daß man die Köpfe und Figuren den Illustrationen alter Manuskripte entnommen glaubt, und nun wieder die naturalistische, die aber sich zum Glück noch fern hält von dem jetzt so vielfach eingerissenen Unwesen des geistlosen Abschreibens der Natur. Wanters gehört dieser Richtung nicht an; er ist ein Vertreter der idealen Kunstschule.

Nach diesem Kunstgenuß besuchte ich die nahegelegene Industrie-Ausstellung, die ebenfalls dem Jubiläum zu Ehren in’s Leben gerufen worden. Der ganze Weg dorthin war besetzt mit Panoramen, Schießständen, Cafés, Estaminets etc.; die Gebäude der Ausstellung selbst, wie der dazu gehörige Park zeigten die üblichen Formen; im Garten schnurrte die elektrische Eisenbahn, auch ein Ballon captif und eine Sammlung von Turnapparaten waren vorhanden. Was aber der Ausstellung ein besonderes Interesse verlieh, das war der in den beiden Flügeln des Gebäudes veranschaulichte Gegensatz der alten und der neuen belgischen Industrie; auf der einen Seite boten sich dem Auge Gobelins, Spitzen, kostbare Holz- und Elfenbeinschnitzereien, wahre Meisterwerke der Sculptur; auf der anderen erblickte man alles Dies und natürlich noch unendlich viel Anderes in modernem Stil und in moderner Arbeit, und ich gestehe gern, daß, so sehr ich die letzteren Gegenstände bewunderte, mir doch in vieler Beziehung jene den Vorrang zu verdienen schienen. Auch der Maschinenraum imponirte, und die berühmte Brüsseler Wagenbaukunst feierte glänzende Triumphe. Ein reich ausgestattetes Lesezimmer mit einer großen Bibliothek und den Journalen aller Völker, natürlich zur freien Benutzung Aller geöffnet, sowie ein Correspondenzzimmer für die Presse waren dankenswerthe Zuthaten.

Der Abend, wie schon erwähnt, versammelte nun die Congreßmitglieder mit ihren Damen in den Sälen und den strahlend erleuchteten Gärten des Vauxhall zu heiterem, ungezwungenem Zusammensein bei stattlich ausgerüstetem Büffet. Auch hier erschien gegen zehn Uhr der König, sich leutselig unter der Menge bewegend und mit Vielen plaudernd; er verweilte bis gegen Mitternacht. Leider vertrieb ein starker Regen die im Garten Sitzenden, und so verließ auch ich das Vauxhall früher, als ich beabsichtigt.

Am folgenden Tage wohnte ich den Sitzungen des literarischen Congresses bei; derselbe hatte sich in vier Sectionen getheilt. Die erste Section verhandelte die Rechte der Schriftsteller; die zweite die äußeren Verhältnisse derselben (literarische Associationen, Staatshülfe, Aufgaben des Buchhandels, Unterstützungs- und Wittwencassen), die dritte, der ich mich hatte zuschreiben lassen, die Aufgabe der Literatur im Volks- und höheren Unterricht, und die vierte die Literatur als Kunst, wobei namentlich über Realismus und Naturalismus verhandelt wurde.

Eine höchst interessante Episode aus den Verhandlungen der letzten Section bot eine donnernde Philippika, welche ein Redner gegen Zola hielt, und die geistvolle, überwältigende Vertheidigung des Letzteren durch den Präsidenten dieser Abtheilung, den bekannten Potvin, der mit Begeisterung von diesem Schriftsteller sprach, dessen „Assommoir“ und „Nana“ Bücher von höchstem moralischem Verdienste nannte, die zwar die Nachtseiten [663] des Lebens zeigten, aber um sie zu bessern, um den Staat und der Gesellschaft ihre Pflicht für den Einzelnen, den Armen, den Unglücklichen, ja auch den Lasterhaften zu zeigen, und der zuletzt erzählte, wie er einen wüsten Trunkenbold, der Frau und Kind mißhandelte, durch Lesung gerade des „Assommoir“ gerettet! Großer Beifall zeigte, wie sehr seine Rede gezündet. (Wir unsererseits müssen die Romane Zola’s auch fernerhin für eine wüste Lectüre halten. D. Red.)

Zwischen den einzelnen Debatten hatte ich das oben erwähnte Museum neuerer Meister – ein würdiger, schöner Bau, durchweg mit Oberlicht – besucht, und Abends ging ich in das Alhambra-Theater, wo als eine der acht Gratisvorstellungen ein fünfactiges Drama Potvin’s (des Redners aus dem Congresse) gegeben wurde: „La mère de Rubens“. Es behandelt die Geschichte der Eltern des Rubens, das Verhältniß des Vaters mit Anna von Sachsen, die edle Opferwilligkeit der Mutter und endlich den Sieg ihrer Liebe und Treue über die Machinationen der Nebenbuhlerin. Das Ganze, in Versen geschrieben, spannend, voll edler Gedanken fand großen Beifall, und der Verfasser wurde dreimal gerufen, obwohl ich mich mit der Darstellung und dem hohlen declamirenden Pathos der französischen Schauspieler nicht befreunden konnte, sie sogar herzlich schlecht fand; nur die Darstellerin der Titelrolle, eine Madame Caty-Dorback, bildete eine rühmliche Ausnahme.

Am folgenden Tage – verzeihen Sie, es gab so viel Schönes, daß ich es tagebuchartig und der Reihe nach erwähnen muß – waren wir fremden Journalisten zur Ausstellung geladen, wo uns Commissäre herumführten und dann der Vorsteher des Concils uns zu einem solennen Lunch im Restaurant der Ausstellung geleitete. Es wurde viel und gut gegessen und getrunken, viel getoastet, und als Einer der Herren die „freie“ Presse gefeiert und Einer der Gäste, ein Deutscher, ihm erwiderte, daß leider die Presse noch nicht überall frei sei, daß er aber die Herren bitte, mit ihm dahin zu wirken und jetzt darauf zu trinken, daß die freie Presse bald ein Eigenthum aller Völker sein möge, da zeigte der jubelnde Zuruf, wie sehr dieses Wort gezündet. Berlin, Leipzig, Paris, Amsterdam, Madrid, Frankfurt am Main, Barcelona, Wien, London, Moskau, Haarlem, Genf, Lausanne, Utrecht, Pest und Mailand waren die Städte, welche Vertreter für einheimische Journale gesandt hatten.

Den Nachmittag (nach unserer Zeiteintheilung; dort aber dinirt man von fünf bis sieben Uhr) besuchte ich das Rathhaus, das schönste des ganzen Landes, das schon in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts vollendet worden. Rings umgeben von den alten Gildehäusern, welche in ihrer Eigenart erhalten sind und den Platz vor dem Rathhaus originell umfassen, ragt es weit über alle hinaus, mit seinem hundertvierzehn Meter hohen prachtvollen Thurme und den weit über hundert Statuen, welche die Vorderseite schmücken; im Innern sind die Corridore und Säle geziert mit historischen Gemälden aus der belgischen Geschichte und mit Gobelins, welche ebenfalls solche Vorwürfe behandeln. In dem Saale der bürgerlichen Trauungen dürfte es manchem jungen Paare einen eigenthümlichen Eindruck machen, wenn sie denken, daß an derselben Stelle, wo sie jetzt für’s Leben verbunden werden – einst die Grafen Egmont und Hoorn zum Tode verurtheilt wurden!

Nahe dabei sah ich auch „Le plus ancien bourgeois de Bruxelles“, wie ihn seine Landsleute nennen, den kleinen Manneken-Piß, den naivsten aller Springbrunnen, einen kleinen, auf einem Brunnen stehenden ehernen Cupido. Heute hatte der kleine Herr, des Festes wegen, seinen Gala-Anzug angelegt; er besitzt nämlich acht Anzüge, mit denen er an Festtagen bekleidet wird; jetzt war es die stattliche Uniform der Bürgergarde. Auch eigenes Vermögen besitzt er, aus Schenkungen herrührend; er hält sich einen eigenen Kammerdiener, der für seine Anzüge zu sorgen hat und, von der Stadt ernannt, zweihundert Franken Gehalt bezieht.

Am folgenden Tage – um in der Tagebuchform fortzufahren – folgten wir einer Einladung des „Cercle Artistique“ von Antwerpen, und wir hatten es nicht zu bereuen, diese alte Scheldestadt mit ihren mächtigen Bassins, ihrem Hafen, ihren vielen, zum Theil sehr großen Seeschiffen, die bis in die Stadt hineinfahren können, da Ebbe und Fluth bis hierher reichen, besucht zu haben. Um elf Uhr fuhren wir mit einem Zuge der Nordbahn ab, und wieder sah ich voll Verwunderung die große Fruchtbarkeit der Gegend, namentlich von Mecheln ab, wo nicht zwei Minuten vergingen, ohne daß wir zu unserer Seite eine Anzahl freundlicher und wohlhabend aussehender Häuser, theils vereinzelt, theils in ganzen Dörfern erblickten. Es war gegen zwölf Uhr, als wir in das berühmte, mit großen Bronzestatuen gezierte Festungsthor einfuhren. Im Cercle Artistique empfing uns der Präsident mit herzlicher Begrüßungsrede und dem Ehrentrunke nach guter alter Sitte; ein Frühstück wartete unser im Nebensaale. Dann vereinzelte sich die Gesellschaft; Viele blieben im Garten, wo ein Concert die Elite der Stadt versammelt hatte; ich suchte die wundervolle Kathedrale mit ihrem hundertdreiundzwanzig Meter hohen, wie in feinster Filigranarbeit ausgeführten Thurm auf.

Antwerpen ist so recht die Pflanzstätte der niederländischen Kunst; hier besteht noch eine Akademie, die aus der alten St. Lucas-Gilde entstanden ist; hier stehen die Standbilder der Rubens, Teniers, van Dyck und Anderer; hier ist die Hauptsammelstätte ihrer Werke; sie und andere Meister, wie Massys, Jordaens, de Crayer, Zeghers, Neefs etc., lebten und wirkten hier und hinterließen ihre Traditionen den Nachstrebenden, unter denen van Brée, Braekelaer, Wappers, de Keyser und namentlich Leys (der auch ein Denkmal erhalten) die bedeutendsten aus unserer Zeit sind. Jedes Mitglied der Lucas-Gilde ist verpflichtet, dem Museum ein Werk zu liefern.

In der Kathedrale bewunderte ich zuerst Rubens’ weltberühmtes Meisterwerk: „Die Kreuzesabnahme“; daneben Murillo’s „Sanct Franciscus“; am Hochaltar Rubens’ „Mariä Himmelfahrt“ – kurz diese Kirche ist gefüllt mit den herrlichsten Werken der Malerei und der Bildhauerkunst. Da übrigens gerade das Fest der Himmelfahrt Mariä begangen wurde, war das Standbild der Jungfrau besonders ausgestellt und geschmückt mit silberbrokatenem Mantel und goldener Krone, und die Kirche war so gefüllt von mächtigen Blumensträußen, welche Andächtige gebracht, daß selbst der Weihrauchgeruch vom Blumenduft überwunden wurde.

Antwerpen selbst ist streng katholisch, wie schon die vielen, an den Häusern angebrachten Marien- und Heiligenbilder zeigen, und dabei vorwiegend vlämisch, so sehr, daß nicht einmal die Droschkenkutscher französisch verstanden.

Als ich zum Cerele zurückgekehrt, statteten wir Alle gemeinsam dem Rathhaus einen Besuch ab, wo uns die städtischen Behörden empfangen und durch Beamte in den interessanten alten Zimmern und Sälen mit ihren vielen historischen Gemälden umherführen ließen; auch den weltberühmten Kamin im Bürgermeisterzimmer bewunderten wir; derselbe, aus Marmor, im Renaissancestil, zeigt in reicher Bildhauerarbeit „die Hochzeit zu Cana“, „die Aufrichtung der Schlange“, „die Kreuzigung“ und „das Opfer Abraham’s“.

Von hier aus besuchten wir eine andere Merkwürdigkeit Antwerpens, das „Musée Plantin“. Es ist dies ein ganz altes, in seinem Bau, seiner inneren Einrichtung getreu erhaltenes, sehr umfangreiches – Buchdruckerhaus. Die Firma wurde gleich nach Erfindung der Buchdruckerkunst von Plantin gegründet, dann von seinem Schwiegersohn Moretus fortgeführt, in dessen Familie das Haus bis vor Kurzem geblieben; der letzte Sproß hat es der Stadt billig verkauft, damit es als Ganzes erhalten bleibe. Hier sahen wir all die großen Säle, Gänge, Zimmerchen und Ecken, welche ein altes Bürgerhaus so wohnlich machten, noch in ihrer vollen, gediegenen Einrichtung, mit Gobelins- oder gepreßten Ledertapeten; in den Sälen reiche Sammlungen der herrlichsten alten Mönchsschriften mit ihren kunstvollen Initialen, Bilder, Münzen, die ältesten Druckwerke, auch die alten Typen, Pressen und Schriftgießereien, sowie Holzschnitte und Kupferstiche, theils auf den Platten, theils im Druck, eine riesige Bibliothek in altehrwürdigem, schweinsledernem Aussehen und auch Zimmer für die Correctoren, so bequem und praktisch eingerichtet, daß sich manche moderne Druckerei ein Muster daran nehmen könnte.

Dann ging ich zum Museum und staunte die Menge der auf brabantischem Boden entsprossenen Meisterwerke an; es ist nicht möglich, sie hier alle auch nur zu nennen; das Museum ist ja in der Kunstwelt bekannt genug; ich darf nur anführen, daß jeder der Heroen der Malerei und jeder namhafte Künstler des Landes hier in seinen besten Werken vertreten ist.

Endlich widmete ich dem Hafen einen Besuch, besichtigte die neuen im Bau begriffenen großen Docks, welche die Kleinigkeit [664] von 80 Millionen kosten sollen, die alten Bassins, die Quais mit ihren Lagerhäusern, die aus der Blüthezeit der Hansa stammen, und kehrte gegen sechs Uhr zum Cercle zurück, in dessen schönem Festsaal uns bis gegen neun Uhr ein solennes Diner versammelt hielt, das wieder durch vielfache Toaste und Tischreden gewürzt war.

Nachdem wir noch zur Abkühlung den schönen, festlich illuminirten Garten der „Harmonie“ (wiederum mit Empfang, Ansprache und Ehrentrunk!) besucht, kehrten wir um zehn Uhr nach Brüssel zurück.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die letzten Augenblicke der Girondisten. (Zu dem Piloty’schen Bilde auf Seite 656 und 657.) Es war am 31. Mai 1793. Mit Tagesanbruch hörte man in Paris die Sturmglocke läuten, und auf dem Pont-Neuf donnerte von Minute zu Minute die Alarmkanone. Siebenunddreißig den Jacobinern ergebene Bürgersectionen vereinigten sich mit 40,000 bewaffneten Sansculotten der Vorstädte und zogen vor dem Palais des Nationalconvents auf. Das Volk stand wieder in Waffen; gegen wen erhob es sich jetzt? Das Königreich war ja bereits gestürzt, der König auf dem Schaffot gerichtet, der Adel theils in den Gefängnissen ermordet, theils über die Landesgrenze geflüchtet. – An jenem Tage spaltete sich die Revolution, um, wie Saturn, ihre eigenen Kinder zu verschlingen: die Jacobiner eröffneten gegen die Girondisten den Kampf.

Wie rasch wechselten die Rollen der Parteien in diesen blutigen Jahren! Noch in der ersten gesetzgebenden Versammlung Frankreichs, die über Erwartung zu dem monarchischen Principe hinneigte, machten die Girondisten, eine Gruppe von Abgeordneten, deren Führer man in dem Departement der Gironde gewählt hatte, die Linke aus. Sie waren es, welche durch ihre feurige Beredsamkeit die erlöschende Begeisterung für eine Umgestaltung der Gesellschaft wieder anfachten. Ihre Führer Brissot, Vergniaud und Andere predigten sowohl im Parlamente, wie in den berühmten Abendgesellschaften der Madame Roland als Apostel der republikanischen Idee und waren die Erzieher der zukünftigen Jacobiner Robespierre und Danton. Aber schon am 21. September 1792, als der Nationalconvent zusammentrat, wurden sie durch die radicalere Jacobinerpartei aus ihrer Stellung verdrängt und bildeten, da die monarchische Partei vollständig geschwunden war, die äußerste Rechte des neuen gesetzgebenden Körpers, welche von ihren Gegnern reactionärer Umtriebe beschuldigt wurde. Sie wußten dem Drängen der Bergpartei keinen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen, stimmten gegen ihre innere Ueberzeugung für den Tod des Königs und besiegelten damit ihr eigenes Schicksal.

Als die Sitzung des Nationalconvents vom 31. Mai 1793 eröffnet wurde, drängten sich in den Saal bewaffnete Deputationen des von den Jacobinern aufgehetzten Pariser Pöbels und verlangten die Versetzung von 42 Abgeordneten der Gironde in den Anklagezustand wegen Verraths an Frankreich und der Republik, wegen angeblicher Verschwörung mit dem gerichteten König und dem verrätherischen General Dumouriez. Drei Tage lang, bis zum 2. Juni, dauerte der parlamentarische Kampf und endete mit dem Siege der Jacobiner. Der Verhaftungsbefehl gegen die verdächtigen Girondisten wurde erlassen, wiewohl ihr eigentliches Verbrechen gegen die neue Ordnung der Dinge nur darin bestand, „daß ihr Republikanismus für das Loos des Königs und der Emigranten Thränen hatte“.

Die Mehrzahl der Geächteten floh in die Departements und sammelte dort eine Armee, um Frankreich von dem Terrorismus der Hauptstadt zu befreien. Wenige nur, unter ihnen Vergniaud, die Seele der Partei, blieben in Paris, wo sie mit Hausarrest belegt wurden. Die späteren, theilweise von den flüchtige Girondisten verursachten Erhebungen gegen die Pariser Regierung in der Vendée, in Calvados, Marseille, Lyon und Toulon und die Niederlagen der französischen Armee gegen die äußeren Feinde steigerten inzwischen die Wuth des Pöbels, der immer stürmischer die Verurtheilung der „Verräther“ forderte. Am 3. October erhob schließlich Amar im Nationalconvent die Klage gegen 21 Deputirte der Gironde, um sie der Verschwörung gegen die Einheit und Untheilbarkeit der Republik zu überführen.

Ihre Gefangenschaft wurde von der Zeit an verschärft, und bald befanden sich unter demselben Dache der Conciergerie die Girondisten und das arme Opfer ihrer früheren Politik, die Königin Marie Antoinette.

Dort warf Vergniaud das Gift, welches er seit dem 2. Juni bei sich trug, durch ein Fenster von sich, um das Loos seiner Gefährten zu theilen; dort schrieb Brissot seine Memoiren, die ihn und seine Partei vor der Nachwelt rechtfertigen sollten; dort gewann Abbé Fauchet die Ueberzeugung, daß die Republik ohne Religion nicht bestehen könne, und versöhnte sich wieder mit seinem alten Glauben.

Am 26. October wurde im Justizpalaste der Proceß eröffnet, und am 30. October, in der Nacht, verlas man den einundzwanzig Girondisten ihr Todesurtheil. – Unmittelbar nach Verkündigung desselben erdolchte sich Valazé vor seinen Richtern; die übrigen Girondisten sammelten sich um die Leiche, um von ihr Abschied zu nehmen, und verließen den Saal mit dem Rufe: „Wir sterben unschuldig. Es lebe die Republik!“

Sie warfen Geld, welches sie noch bei sich führten, unter das Volk und kehrten zum letzten Male in die Conciergerie zurück. In den Gängen des Gefängnisses stimmten sie die Marseillaise an. Da erwachten in den Zellen die Gefangenen, und Abschiedsrufe erschallten hinter den Mauern; denn Alle wußten es wohl, daß die Girondisten ihr Grablied sangen. Ein Freund, der sich heimlicher Weise in Paris aufhielt, hatte die Wächter gewonnen und für die Verurtheilten ein letztes Festmahl bereitet. Alte Weine und theuere Speisen waren auf der langen Tafel aufgestellt; Lichter beleuchteten düster den merkwürdigen Speisesaal. Vergniaud präsidirte bei diesem Mahle mit derselben Würde und Ruhe, wie einst in den Sitzungen der Partei. „Wir haben uns getäuscht,“ sagte er in seiner letzten Rede, „wir glaubten in Rom gewesen zu sein, aber wir lebten in Paris.“

Mit Tagesanbruch wurde ihnen vom Henker das Haar abgeschnitten, und sie traten den letzten Gang an. Die Leiche Valaze’s mußte mit zur Guillotine; so lautete der nachträgliche Spruch des Jacobinergerichts. Sie wurden nach dem Grève-Platz in fünf Wagen gefahren.

Meister Piloty hat diesen Augenblick verewigt. Wir sehen auf seinem Bilde, welches unsere heutige Nummer wiedergiebt, die Girondisten, wie sie vor der Guillotine ankommen. Zwei Wagen sind bereits hinter dem Schaffot verschwunden. Auf dem letzten liegt die Leiche Valaze’s; in der Mitte steht begeistert Vergniaud, der Ruhm und die Seele der Partei; ihm reichen Brissot stehend und Gensonné sitzend die Hände. Mit gefalteten Händen, in Gedanken, vielleicht in Gebet vertieft, sitzt neben ihnen Abbé Fauchet. Auf dem vorletzten Wagen übergiebt Lasource einem Soldaten einen Brief; er hebt die linke Hand in die Höhe; er giebt genau den Auftrag; er scheint dringend zu bitten, daß das Schreiben wirklich an die richtige Adresse gelange. Hinter ihm umarmen sich Ducos und Fonfrède. Ruhig sitzt neben ihnen Du Chastel. Antiboule, Gardien und Sillery folgen im drittletzten Wagen, während die jüngeren Mainville und Duprat ihre Hüte schwenken und mit dem Rufe: „Es lebe die Republik!“ die Guillotine begrüßen.

Die berüchtigten Strickweiber sehen von ihrer Tribüne herab dem außergewöhnlichen Schauspiel zu, zum Theil gleichgültig, zum Theil die Verurtheilten verhöhnend, zum Theil ihnen fluchend, wie das Volk, das sich neugierig, von Soldaten abgehalten, zu dem Wagen drängt. – Ueber das Geländer des Schaffots gebeugt, mustert der Scharfrichter, Bürger Samson, die Ankommenden; er forscht, ob die Zahl stimmt, ob richtig zwanzig Lebende und eine Leiche gebracht werden. Die Zahl stimmt; der Augenblick, den der Künstler festgebannt, fliegt vorüber – bald sammeln sich die Girondisten an den Stufen des Schaffots. Sie stimmen wiederum das Freiheitslied, die Marseillaise an; einzeln werden sie hinaufgeführt; immer schwächer wird der Sängerchor; schließlich hört man nur eine sympathische Stimme – Vergniaud singt allein. Aber bald verstummt auch er; bald nimmt ein gemeinsames Grab die Leichen auf. – Später fand man in alten Archiven eine Rechnung, die also lautete: „Für einundzwanzig Deputirte der Gironde; für Särge 147 Franken, Begräbnißkosten 63 Franken, zusammen 210 Franken“ – das letzte amtliche Document, welches sich auf die Begründer der französischen Republik bezieht.




Das Brautopfer der Römerin.[1]
(Mit Abbildung S. 661.)

Bringt die Blumen, fromm zum Kranz gewunden,
Festlich schmückt der Cypria Altar!
Nun mein Herz den liebsten Mann gefunden,
Opfr’ ich, was der Jugend theuer war.
Dank, ihr Laren, meiner Kindheit Leiter,
Die beglückt mich sahn vom Kindertand!
     An der Hand
Einer höhern Gottheit wandl’ ich weiter.

Puppen, die ich ahnungsvoll einst herzte,
Und ihr bunten Bälle, fahret hin!
Wenn ich solche Opfer nicht verschmerzte,
Wär’ ich werth, daß ich so selig bin?
Mädchen, wirf den Weihrauch auf die Schale,
Und du, Knabe, weck’ der Flöte Laut,
     Daß die Braut
Ihren Zoll der Liebesgöttin zahle!

Hör’ mich, die du alle Herzen zwingest:
Nimm mich an, du schaumentstiegner Stern!
Jenen Bann, mit dem du mich umschlingest,
Schöne Göttin, ach! ich duld’ ihn gern.
Für den Liebsten wob ich treu den Schleier,
Seit dein Wink ihn mir entgegen trug;
     Bald genug
Flammt die Fackel mir zur Hochzeitsfeier.

Meiner Jugend Freuden will ich missen;
Nimm, was ihre Tage mir geschmückt!
Nur das Eine will ich fürder wissen,
Daß Er mein, daß ich durch Ihn beglückt.
Mit dem Spielzeug – mag die Jungfrau sterben;
Meiner Zukunft große Herrscherin:
     Was ich bin,
Spend’ ich dir – nun schlage du’s in Scherben!



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die altrömische Braut opferte ihr Kinderspielzeug feierlich bestimmten Gottheiten, in früherer Zeit Hausgöttern (Penaten oder Laren), später, wahrscheinlich durch griechischen Einfluß, der Venus-Aphrodite, wie auf unsrem Bilde.
    D. Red.