Die Gartenlaube (1880)/Heft 28
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No. 28. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Die Neugierde gehörte nicht zu Oswald's Fehlern, und er würde es indiscret gefunden haben, irgend etwas zu untersuchen, was, wenn auch offen, im Zimmer seiner Tante lag; hier aber leitete ihn ein sehr verzeihlicher Irrthum. Er hatte bereits gestern die Gräfin um ein Bild seines verstorbenen Vaters ersucht, das sich im Besitze von dessen Bruder befunden hatte und wahrscheinlich in dem Nachlasse desselben noch vorhanden war. Oswald wünschte bei seiner bevorstehenden Abreise dieses Familienandenken, das nur für ihn Werth hatte, mitzunehmen; die Gräfin war auch bereit gewesen, es ihm abzutreten und verhieß, nachzusehen. Jedenfalls, so sagte er sich, hatte sie jetzt das Gesuchte gefunden.
In dieser sicheren Voraussetzung griff Oswald, der sich jenes kleinen Bildes nur dunkel erinnerte und gar nicht wußte, ob es sich in einem Rahmen oder einer Kapsel befunden hatte, nach der letzteren. Ihr verblichenes Aussehen schien seine Vermuthung durchaus zu bestätigen, und so öffnete er sie denn.
Die Kapsel enthielt in der That ein Bild, ein auf Elfenbein gemaltes Portrait, aber es war nicht das gesuchte. Schon beim ersten Blicke darauf stutzte Oswald und schien im höchsten Grade überrascht zu sein.
„Edmund's Bild?“ fragte er sich halb laut. „Seltsam, das habe ich ja noch nie gesehen, und er hat ja auch niemals Uniform getragen.“
Er betrachtete mit steigendem Befremden erst das Bild, das unverkennbar die Züge des jungen Grafen trug, und dann die altmodische und verblichene Kapsel, in die es sichtlich schon seit langer Zeit eingefügt gewesen war. Die Sache war ihm durchaus räthselhaft.
„Was soll das bedeuten? Das Bild ist alt – das zeigen die Farben und die Umhüllung, und doch stellt es Edmund dar, wie er jetzt aussieht. Freilich, ganz ähnlich ist es nicht: es hat einen durchaus fremden Zug und – Ah!“
Der letzte Ausruf wurde mit wilder Heftigkeit hervorgestoßen. Dem jungen Manne war urplötzlich das Verständniß aufgegangen. Wie ein zündender Blitz war die Erkenntniß der Wahrheit niedergefahren und hatte ihm das Räthsel gelöst. Mit einer stürmischen Bewegung trat er dicht vor das lebensgroße Oelgemälde des Grafen Edmund, das im Zimmer der Mutter hing, und die geöffnete Kapsel in der Hand, begann er Zug um Zug, Linie um Linie zu vergleichen.
Es waren dieselben Züge, dieselben Linien, auch die dunklen Haare und Augen, nur der Ausdruck des Gesichts war ein anderer auf jenem kleinen Bilde, das Edmund so täuschend glich, als habe er selbst dazu gesessen, und das doch einen Anderen darstellte. Einen ganz Anderen! Das ergab sich bei der längeren Prüfung mit überzeugender Gewalt.
„Also doch!“ sagte Oswald dumpf. „Ich hatte Recht mit meinem Verdachte.“
Der Ausruf verrieth weder Triumph noch Schadenfreude – im Gegentheil, es sprach ein unverhülltes Grauen daraus, aber als der Blick des jungen Mannes jetzt auf den Schreibtisch und das noch offenstehende geheime Fach fiel, da ging jede andere Empfindung unter in der ausbrechenden Bitterkeit.
„Ganz recht!“ murmelte er. „Sie hat es tief genug verborgen, so tief, daß ein fremdes Auge es wohl nie erblickt hätte, wenn die Todesangst um Edmund ihr nicht alle Besinnung geraubt hätte. Und gerade in meine Hände mußte es fallen – das war mehr als Zufall. Ich denke denn doch,“ hier richtete sich Oswald stolz und drohend empor, „ich denke, ich habe ein Recht, zu fragen, wen dieses Bild vorstellt, und ich werde es nicht eher wieder aus den Händen geben, bis mir die Antwort darauf geworden ist.“
Damit schob er die Kapsel in seine Brusttasche und verließ rasch das Zimmer.
Die Schreckensnachricht, die Eberhard der Gräfin gebracht hatte, erwies sich in der That als sehr übertrieben. Der Unfall, der den jungen Grafen betroffen, war von gar keiner ernsteren Bedeutung. Beim unvorsichtigen Uebersteigen einer Hecke hatte sich sein Jagdgewehr entladen, aber der Schuß hatte zum Glück nur die linke Hand gestreift – es war mehr eine Verletzung, als eine Wunde. Trotzdem gerieth das ganze Schloß in Aufruhr; Baron Heideck eilte sofort zu seinem Neffen, und die Gräfin beruhigte sich nicht eher, bis der eiligst herbeigerufene Arzt ihr versicherte, daß nicht das Geringste zu befürchten sei und die Verletzung in wenigen Tagen geheilt sein werde.
Edmund selbst nahm die Sache am leichtesten. Er lachte und scherzte alle Besorgnisse seiner Mutter hinweg, protestirte energisch dagegen, sich als Verwundeter behandeln zu lassen, und war nur mit Mühe zu bewegen, der Anordnung des Arztes nachzukommen und auf dem Sopha zu bleiben.
So war der Abend herangekommen. Oswald befand sich allein in seinem Zimmer, das er seit jener Entdeckung noch nicht wieder verlassen hatte. Die auf dem Tische brennende Lampe erhellte nur matt das große und ziemlich düstere Gemach mit [450] den dunklen Ledertapeten und seinem mächtigen Erker. Die Einrichtung war gediegen, wie in allen Räumen des Ettersberg'schen Hauses, aber sie war seit Jahren nicht erneuert worden und stand in scharfem Gegensatze zu der Pracht, die im Hauptgebäude des Schlosses und in den Zimmern des jungen Grafen herrschte. Den Neffen, den Sproß der Seitenlinie, hatte man in den Nebenflügel verwiesen. Er mußte hier, wie in Allem, hinter dem Majoratsherrn zurückstehen, und wie der Charakter Oswald's nun einmal geartet war, würde er niemals den Schutz und die Vertretung Edmund's bei diesen fortwährenden Zurücksetzungen angenommen haben.
Auf dem Schreibtische lagen verschiedene Briefschaften und Papiere, die Oswald vor seiner Abreise noch hatte ordnen wollen; jetzt dachte er nicht mehr daran. Mit rastlosen Schritten durchmaß er immer wieder das Zimmer, während die tiefe Blässe seines Gesichtes und die heftig arbeitende Brust verriethen, wie furchtbar die Aufregung war, die in ihm wühlte. Was Jahre lang wie eine dunkle quälende Ahnung in seiner Seele gelegen, was er oft genug mit dem Aufgebot all seiner Willenskraft von sich gewiesen, das stand jetzt in voller Klarheit vor ihm. Mochte ihm der Zusammenhang der Ereignisse und die Geschichte jenes Bildes auch noch dunkel bleiben, es erhob den lang genährten Verdacht zur Gewißheit und rief einen Sturm widerstreitender Empfindungen in ihm wach.
Oswald blieb jetzt vor dem Schreibtische stehen und nahm von Neuem das verhängnißvolle Bild in die Hand, das dort zwischen den Papieren lag.
„Was nützt das schließlich Alles!“ sagte er bitter. „Ich brauche freilich keinen anderen Beweis mehr, aber es fehlt die Bestätigung, und die Einzige auf der ganzen Welt, die sie geben könnte, wird schweigen. Sie würde eher sterben, als zugestehen, was sie und ihren Sohn zugleich vernichtet, und zwingen kann ich sie nicht. Ich kann und darf die Ehre unseres Geschlechtes nicht öffentlich preisgeben, selbst wenn es die Herrschaft in Ettersberg gilt. Und doch muß ich Gewißheit haben – ich muß! Koste es, was es wolle!“
Er schloß langsam die Kapsel und legte sie wieder nieder, während er düster nachsinnend vor sich hinblickte.
„Einen Weg gäbe es vielleicht, einen einzigen. Wenn ich mit diesem Bilde vor Edmund hinträte und ihn zur Erklärung, zur Nachforschung aufriefe. Er erzwingt die Wahrheit von seiner Mutter, wenn er ernstlich will, und er wird es wollen, wenn ich den Verdacht in seine Seele werfe – darauf kenne ich ihn. Aber freilich, der Schlag würde ihn furchtbar treffen, ihn, mit seinem reizbaren Ehrgefühl, mit seiner wahren, offenen Natur, die nie eine Lüge gekannt hat. Und nun herausgerissen zu werden aus der ahnungslosen Sicherheit, aus der Fülle des Glückes, zum Werkzeuge eines Betruges gestempelt zu sein – ich glaube, er ginge zu Grunde an diesem Bewußtsein.“
Die Liebe zu dem Jugendfreunde regte sich in ihrer alten Macht, aber mit ihr zugleich erwachten auch andere, feindseligere Regungen. Sie wiesen drohend auf den begangenen unerhörten Verrath und flüsterten und raunten dem Schwankenden in's Ohr:
„Willst Du wirklich schweigen und auf die Rache verzichten, die das Schicksal selbst in Deine Hand gelegt hat? Willst Du schweigend von hier gehen, hinaus in eine dunkle, ungewisse Zukunft, Dich Fremden unterordnen, Dich mühsam emporarbeiten und vielleicht untergehen im vergeblichen Ringen, während Du Herr sein kannst auf diesem Boden, der Dir von Rechtswegen gehört? Soll die Frau, die von jeher Deine bitterste Feindin gewesen ist, triumphirend die Macht behaupten und ihren Sohn mit allen Gütern des Lebens überschütten, wo Du unterdrückt und ausgestoßen bleibst aus dem Erbe Deiner Väter? Wer hat nach Deinen Empfindungen, nach Deinen Kämpfen gefragt? Gebrauche die Waffe, die der Zufall Dir gegeben! Du kennst die Stelle, wo sie trifft.“
Sie hatten Recht, diese anklagenden Stimmen, und sie fanden ein nur zu lautes Echo in Oswald's Brust. All die Zurücksetzungen, all die Demüthigungen, die er jahrelang erlitten, erhoben sich jetzt von Neuem und drückten den Stachel tiefer in seine Seele. Was er so lange in stummem Groll als ein Verhängniß getragen, das stachelte ihn jetzt, wo er es als Verrath erkannte, zur wildesten Empörung. Jede andere Regung ging unter in Haß und Bitterkeit. Die Gräfin würde doch wohl gezittert haben, wenn sie jetzt das Antlitz ihres Neffen gesehen hätte. Er konnte nicht mit einer offenen Anklage vor sie hintreten, aber er kannte die Stelle, wo sie verwundbar war.
„Es giebt keinen anderen Weg,“ sagte er entschlossen. „Mir wird sie keinen Schritt weichen; mir trotzt sie bis zum letzten Athemzuge. Edmund allein ist im Stande, ihr das Geheimniß zu entreißen. So mag er es denn erfahren! Ich will nicht länger das Opfer eines Verrathes sein.“
Ein leichter, rascher Schritt draußen auf dem Corridor unterbrach den Gedankengang des jungen Mannes. Er schob rasch das Bild unter die auf dem Schreibtische liegenden Papiere und warf einen unmuthigen Blick nach der Thür, aber er fuhr beinahe zusammen, als er den Eintretenden erkannte.
„Edmund – Du!“
„Nun, so erschrick doch nicht, als ob Du ein Gespenst vor Dir sähest,“ sagte der junge Graf, indem er die Thür wieder schloß. „Noch gehöre ich zu den Lebenden und komme sogar, um Dir in eigener Person anzuzeigen, daß Du trotz meiner sogenannten Wunde noch gar keine Hoffnung auf das Majorat hast.“
Edmund ahnte nicht, wie furchtbar sein unbefangener Scherz und sein Erscheinen gerade in diesem Augenblicke seinen Vetter berührten. Oswald bedurfte einer gewaltsamen Anstrengung, um sich zu fassen. Seine Stimme klang beinahe rauh, als er erwiderte:
„Wie kannst Du so unvorsichtig sein und durch die langen, kalten Corridore gehen! Du sollst ja heute Dein Zimmer nicht verlassen.“
„Ich kümmere mich viel um die weisen Verordnungen des Doctors,“ sagte Edmund leichthin. „Denkst Du, ich werde mich als Schwerverwundeter behandeln lassen, weil ich eine Schramme an der Hand davongetragen habe? Einige Stunden habe ich das ausgehalten, meiner Mutter zu Liebe, nun ist es aber genug. Mein Diener hat strengen Befehl, auf jede Nachfrage zu erklären, daß ich schlafe, und ich bin eigens herübergekommen, um mit Dir zu plaudern. Ich kann Dich unmöglich entbehren, Oswald, an dem letzten Abende, den Du in Ettersberg zubringst.“
Die letzten Worte waren so voller Herzlichkeit, daß Oswald sich unwillkürlich abwandte.
„So laß uns wenigstens in Deine Gemächer zurückkehren,“ sagte er hastig.
„Nein, hier sind wir ungestörter,“ beharrte Edmund, indem er sich in einen Armstuhl warf. „Ich habe Dir noch so Manches zu erzählen, zum Beispiel, wie ich zu dieser vielbesprochenen und vielbeklagten Wunde gekommen bin, die ganz Ettersberg in Aufruhr brachte, obgleich sie nicht der Rede werth ist.“
Oswald's Blick richtete sich unruhig auf die Papiere, unter denen die Kapsel verborgen lag.
„Wie Du dazu gekommen bist?“ wiederholte er zerstreut. „Ich denke, Deine Büchse ist losgegangen, als Du eine Hecke übersteigen wolltest.“
„Ja, das haben wir allerdings der Dienerschaft gesagt, und auch Mama und der Onkel werden nichts Anderes erfahren. Dir brauche ich ja aber kein Geheimniß aus der Sache zu machen. Es war ein Rencontre mit einem der gleichfalls zur Jagd geladenen Gäste, dem Baron Senden.“
„Mit Senden?“ fragte Oswald aufmerksam werdend. „Was ist denn zwischen Euch vorgefallen?“
„Er ließ eine verletzende Aeußerung gegen mich fallen. Ich stellte ihn darüber zur Rede; ein Wort gab das andere, und wir kamen schließlich überein, die Sache gleich am nächsten Morgen auszumachen. Du siehst, sie ist ziemlich ungefährlich verlaufen. Ich werde höchstens acht Tage lang die Hand verbunden tragen, und Senden ist mit einem ebenso leichten Streifschuß an der Schulter davongekommen.“
„Also deshalb bist Du über Nacht ausgeblieben! Warum ließest Du mich denn nicht durch einen Boten hinüberrufen?“
„Als Secundanten? Das war nicht nöthig, unser Wirth hat mir diesen Dienst geleistet, und als leidtragender Verwandter wärst Du ja immer noch früh genug gekommen.“
„Edmund, sprich nicht so leichtsinnig von ernsten Dingen!“ sagte Oswald unwillig. „Bei einem Duell steht doch immer das Leben auf dem Spiele.“
Edmund lachte. „Mein Gott, ich hätte wohl gar erst ein Testament machen, Dich feierlichst zum Abschiede herbeirufen und ein rührendes Lebewohl an Hedwig hinterlassen sollen? Solche
[451] Dinge muß man möglichst leicht nehmen und sich im Uebrigen auf sein Glück verlassen.“
„Du scheinst doch die Worte Deines Gegners nicht leicht genommen zu haben. Womit hat er Dich denn eigentlich beleidigt?“
Das Antlitz des jungen Grafen verfinsterte sich, und seine Stimme nahm einen erregten Ton an.
„Es war von dem ehemaligen Streite um Dornau die Rede. Man neckte mich wegen meiner praktischen Idee, den Proceß durch eine Verlobung zu erledigen. Ich ging auch unbefangen auf den Scherz ein. Da Dornau ja nun doch an Ettersberg fiele, so seien gewisse frühere – Bemühungen in dieser Hinsicht ganz überflüssig gewesen.“
„Du weißt ja, daß der Baron sich bei Deiner Braut ein Nein geholt hat,“ sagte Oswald achselzuckend. „Er trägt Dir nun natürlich bei jeder Gelegenheit eine möglichste Gereiztheit entgegen.“
„Die Aeußerung war aber gegen meine Mutter gerichtet,“ brauste Edmund auf. „Es ist ja kein Geheimniß, daß sie entschieden gegen die Heirath ihrer Cousine mit Rüstow Partei genommen und ganz auf der Seite des erzürnten Vaters gestanden hat. Sie hegt nun einmal eine hohe Meinung von ihren Standesvorrechten und hat sich damals verpflichtet gefühlt, das aristokratische Princip mit aller Energie zu vertreten. Eben deshalb rechne ich ihr das Opfer, das sie mir jetzt bringt, um so höher an. Jene Bemerkung klang aber, als sei das Testament des Onkel Franz aus eigennützigen Rücksichten beeinflußt worden, um Dornau mir zuzuwenden. Sollte ich das vielleicht dulden?“
„Du gehst zu weit. Ich glaube nicht, daß Senden einen derartigen Hintergedanken gehabt hat.“
„Gleichviel, ich habe es so aufgefaßt. Weshalb widerrief er nicht, als ich ihn zur Rede stellte? Es mag sein, daß ich das etwas allzu heftig that, aber in dem Punkte vertrage ich nun einmal nichts. Du wirfst mir oft genug meinen Leichtsinn vor, Oswald, es giebt aber eine Grenze, wo er aufhört, und dann nehme ich die Dinge ernster als Du.“
„Ich weiß es,“ sagte Oswald langsam. „Es giebt zwei Punkte, in denen Du tief und ernst empfinden kannst: Dein Ehrgefühl und – Deine Mutter!“
„Und die gehören zusammen!“ fiel Edmund beinahe drohend ein, „und wer sie auch nur mit dem Schatten eines Verdachtes beleidigt, der treibt mich zum Aeußersten.“
Er war aufgesprungen und stand jetzt hoch aufgerichtet da. Der sonst so heitere, sorglose Ausdruck seiner Züge war einem tiefen Ernste gewichen, und seine Augen blitzten in leidenschaftlicher Erregung.
Oswald schwieg; er stand an seinem Schreibtisch und hatte bereits die Papiere ergriffen, um sie bei Seite zu schieben und das Bild hervorzuziehen, bei den letzten Worten des jungen Grafen aber hielt er unwillkürlich inne. Warum mußte in diesem Augenblick auch gerade ein solches Gespräch aufkommen?
„Ich habe nie geahnt, daß jenes Testament zu einer derartigen Auffassung Anlaß geben könnte,“ nahm Edmund wieder das Wort, „sonst hätte ich schon damals, bei dem Tode des Onkels, der Erbschaft entsagt und nie die Einleitung des Processes geduldet. Wenn mir Hedwig nun fremd geblieben wäre und die Gerichte mir Dornau zugesprochen hätten, ich glaube, die Verleumdung hätte sich nicht gescheut, mich zum Helfershelfer eines Betruges zu machen.“
„Man kann auch das Opfer eines Betruges sein,“ sagte Oswald dumpf.
„Das Opfer?“ wiederholte der junge Graf, indem er mit eine raschen Bewegung vor seinen Vetter hintrat. „Was meinst Du damit?“
Oswald's Hand lag schwer auf den Papieren, die so Verhängnißvolles deckten, aber seine Stimme klang kalt und unbewegt, als er erwiderte:
„Nichts! Ich sprach in diesem Augenblicke gar nicht von Dornau. Wir wissen ja am besten, daß der Onkel ganz nach eigenem Willen gehandelt hat. Aber das Testament lautet nun einmal zu Deinen Gunsten, mit Uebergehung der Tochter; da hat die Verleumdung immer Spielraum und spricht von Beeinflussung. In diesem Falle würde man es vielleicht sogar natürlich gefunden haben, wenn eine Mutter sich im Interesse ihres Sohnes über alle Bedenken hinwegsetzt.“
„Das wäre aber eine Erbschleicherei gewesen,“ rief Edmund von Neuem aufflammed. „Ich begreife Dich nicht, Oswald. Wie kannst Du mit einer solchen Gleichgültigkeit von einer derartigen Annahme, einer derartigen Beschimpfung sprechen? Oder wie nennst Du es denn, wenn der rechtmäßige Erbe verdrängt und ein Anderer an seine Stelle gesetzt wird, um diesem das Vermögen zu sichern? Ich nenne das einen Betrug, eine Ehrlosigkeit, und der bloße Gedanke schon, daß man so etwas mit dem Namen Ettersberg in Verbindung bringen könnte, macht mein Blut sieden.“
Oswald's Hand glitt langsam von dem Schreibtische und er trat einige Schritte seitwärts in den Schatten, wohin der Lichtkreis der Lampe nicht reichte.
„Dir würde man auch schweres Unrecht thun mit einem solchen Gedanken,“ sagte er mit Nachdruck. „Aber die Welt urtheilt meist in gehässiger Weise; freilich macht sie auch oft gehässige Erfahrungen. Gerade in unseren Lebenskreisen spielen so manche dunkle Familiengeschichten, die, jahrelang verborgen, plötzlich durch irgend ein Verhängniß an's Licht gezogen werden, und so Mancher, der eine glänzende Stellung behauptet, trägt das Bewußtsein einer Schuld mit sich herum, die ihn vernichten würde, wenn man sie aufdeckte.“
„Nun, ich könnte das nicht,“ sagte der junge Graf, indem er das schöne, offene Antlitz seinem Vetter voll zuwendete. „Ich muß mit freier Stirn dastehen vor der Welt und vor mir selber, muß frei athmen und jede Verleumdung verachten können – sonst giebt es für mich kein Leben mehr. Dunkle Familiengeschichten! Gewiß, es giebt mehr dergleichen, als man ahnt, aber ich würde einen solchen Schatten in meinem Geschlechte nicht dulden, und sollte ich ihn selbst an's Licht bringen.“
„Und wenn Du schweigen müßtest um der Familienehre willen?“
„Dann würde ich vielleicht daran sterben; denn leben mit dem Bewußtsein, daß ein Makel auf mir und meinem Namen ruht – das könnte ich nicht.“
Oswald fuhr mit der Hand über die Stirn, die von kaltem Schweiße bedeckt war, während sein Blick in furchtbarster Spannung jeder Bewegung seines Vetters folgte. Es bedurfte vielleicht seines Eingreifens nicht mehr, der Zufall nahm ihm die schwere Pflicht ab, die doch nun einmal vollzogen werden mußte. Edmund war an den Schreibtisch getreten und warf, während er erregt weiter sprach, die einzelnen Papiere durch einander, ohne sie anzusehen. In der nächsten Minute schon konnte er die Kapsel entdecken, deren Form ihm nothwendig auffallen mußte, und dann – dann kam die Katastrophe.
„Wenigstes weiß man es jetzt, wie ich derartige Andeutungen auffasse,“ fuhr er fort, „und die Lehre, die Senden erhalten hat, wird auch für Andere von Nutzen sein. Der Verleumdung ist ja nichts heilig, mag es noch so rein und hoch dastehen, mag es einem Anderen das Ideal sein.“
„Auch Ideale können in den Staub sinken,“ warf Oswald ein. „Du hast das freilich noch nicht erfahren.“
„Ich sprach von meiner Mutter,“ sagte der junge Graf mit tiefer Empfindung.
Oswald gab keine Antwort, aber es war gut, daß er so tief im Schatten stand; so sah der Andere wenigstens nicht, wie diese Unterredung ihn marterte. Es kam ja so selten vor, daß Edmund einmal ernst war, und gerade heute war er es, gerade jetzt zeigte er die ganze Tiefe seiner Empfindung. Dabei blätterte seine Rechte immer noch mechanisch in den Papieren, und er kam dem verhängnißvollen Punkte immer näher. Oswald's Arm zuckte, um den Ahnungslosen zurückzureißen, aber es geschah nicht, der junge Mann verharrte unbeweglich auf seinem Platze.
„Du begreifst es jetzt wohl, warum ich der Mama dieses Rencontre verschweige, trotz seines ungefährlichen Ausganges,“ nahm Edmund wieder das Wort. „Sie würde nach dem Anlaß fragen, und der würde sie kränken. So lange ich noch dastehe, soll ihr aber auch nicht die leiseste Kränkung nahen. Ehe ich dulde, daß sie von der Verleumdung auch nur berührt wird – eher gebe ich das Leben hin.“
Er hatte die einzelnen Papiere, Blatt für Blatt, bei Seite geworfen und griff nun nach dem letzten, unter welchem das Bild lag; in demselben Augenblicke aber legte sich Oswald's Hand auf die seinige und hinderte ihn daran.
„Was soll das?“ fragte Edmund erstaunt. „Was hast Du denn?“
Statt aller Antwort umfaßte ihn Oswald und zog ihn einige Schritte seitwärts.
[452] „Komm Edmund! Wir wollen uns auf das Sopha drüben setzen.“
„Und deshalb ziehst Du mich so gewaltsam von Deinem Schreibtische fort? Du thust ja, als ob er in der nächsten Minute explodiren müsse. Hast Du eine Mine dort gelegt?“
„Vielleicht!“ sagte Oswald mit einem seltsamen Lächeln. „Laß die Papiere liegen, komm!“
„O, Du brauchst keine Indiscretion von meiner Seite zu befürchten,“ erklärte der Graf mit heftig aufwallender Empfindlichkeit. „Du brauchtest nicht so verbietend die Hand auf Deine Papiere zu legen. Ich habe sie nicht angesehen; es geschah rein zufällig, daß ich sie in die Hand nahm. Du scheinst da Geheimnisse zu haben, und ich störe Dich wohl überhaupt im Ordnen Deiner Briefschaften. Es ist daher besser, ich gehe.“
Er machte wirklich Miene, zu gehen, aber Oswald hielt den Arm fest, der sich ihm unwillig entziehen wollte.
„Nein Edmund, so darfst Du nicht von mir gehen. Heute darfst Du das nicht.“
„Ja freilich, es ist der letzte Abend, den Du hier verlebst,“ sagte Edmund, halb grollend, halb versöhnt. „Du thust Dein Mögliches, mir zu zeigen, wie gleichgültig Dir das ist.“
„Du thust mir Unrecht – die Trennung wird mir schwerer, als Du ahnst.“
Oswald's Stimme bebte so hörbar, daß Edmund ihn betroffen ansah und all seine Empfindlichkeit fahren ließ.
„Mein Gott, was ist Dir denn? Du bist ja todtenbleich. Du warst überhaupt so seltsam den ganzen Abend. Doch, ich errathe es. Du hast da in den alten Papieren und Schriften gekramt, die wohl noch von Deinen Eltern herstammen, und das hat Dir schwere Erinnerungen wachgerufen.“
„Jawohl, sehr Schweres!“ sagte Oswald mit einem tiefen Athemzuge, „aber jetzt ist es überwunden. Du hast Recht, es waren alte Erinnerungen die mich verstimmten. Ich werde jetzt ein Ende damit machen.“
„Dann will ich wirklich gehen,“ erklärte Edmund. „Ich vergaß, daß Du noch Vieles zu ordnen hast, und wir sehen uns ja noch morgen früh. Gute Nacht, Oswald!“
Er wollte seinem Vetter die Hand reichen, aber dieser schloß ihn, wohl zum ersten Male in seinem Leben, fest und innig in die Arme.
„Gute Nacht, Edmund! Ich bin Dir wohl oft herb und kalt erschienen, wenn Du mir Deine Freundschaft so warm und voll entgegenbrachtest. Ich habe Dich aber doch sehr lieb gehabt, wie sehr, das hat mir erst diese Stunde gezeigt.“
„Die Scheidestunde!“ sagte Edmund mit halbem Vorwurf, während er doch zugleich die Umarmung mit vollster Herzlichkeit erwiderte. „Sonst wäre dieses Geständniß auch nie über Deine Lippen gekommen. Ich habe aber trotzdem gewußt, was ich Dir werth war.“
„Vielleicht doch nicht so ganz. Weiß ich es doch selbst erst seit heute. Aber nun geh! Du darfst bei Deiner Wunde wirklich nicht länger aufbleiben. Geh zur Ruhe!“
Den Arm um die Schulter seines Vetters gelegt, begleitete er diesen zur Thür und durch den Corridor. Dort trennten sie sich, aber während der junge Graf nach seinem Zimmer zurückkehrte, stand Oswald wieder vor seinem Schreibtische, das Bild in der Hand. Noch einmal ruhten seine Augen darauf; dann schloß er mit festem Drucke die Kapsel und sagte halblaut:
„Er würde daran sterben – um den Preis will ich nicht Herr in Ettersberg sein.“
Es war in Verona; der Sommertag neigte sich seinem Ende zu. Ein einsamer Spaziergänger, hatte ich das Freie aufgesucht. Um mich her zuckte noch eben das nervöse Leben der Straße, doch bereits ermüdet, wie die erlöschende Gluth eines durch Leidenschaft erschöpften Herzens. Hier draußen ward es stiller und stiller. Düsterbrütend ragen die fernen Bergzinnen in die goldig blaue Luft; Abendlieder ertönen in den Thälern; die Cypressen stehen lauschend und sinnend. Wahrlich, in Italien ist der Abend das Beste vom Tage!
Die Dunkelheit steigt endlich herab, und ich schlendere nach Hause. Außer meinem Hund und meinem Kanarienvogel warten folgende Zeilen auf mich:
„Du mußt mir einen Gefallen thun, mein Freund. Gewiß verfügst Du über einen alten, fadenscheinigen Rock, einen schäbigen Hut und ein paar geflickte Beinkleider – kurz, über eine Uniform, die das Gegentheil von Salongarderobe bedeutet. Lege dieselbe hübsch an und erwarte mich um sieben Uhr am Haupteingange des Amphitheaters. Ich hoffe, Dir etwas Extrafeines bieten zu können: weltschuttbestaubte Mauern und zerbrechliche Baracken, Gladiatoren und Pulcinelli, Stiergefechte und Heirathsscenen, je nachdem Deine Phantasie mitspielen hilft oder nicht. Das ist einmal etwas zur Förderung der lieben Literatur. Mache also nicht langen Trödel und komme pünktlich! Enrico.“
Was war da zu thun! Die Einladung hatte sich schon den ganzen Nachmittag auf meinem Tische gelangweilt. In einer halben Stunde wollte es sieben Uhr hämmern. Ich warf mich hastig in die vorgeschriebene Toilette, erhöhte den Totaleindruck durch ein paar Stiefel, die infolge der Wanderungen auf den Lavafeldern des Vesuvs mit sich selbst uneinig geworden – eine Sohle zeigte bisweilen große Lust, neben dem Stiefel einherzulaufen – und befand mich zur bestimmten Zeit am Platze.
Eigenthümliche Gefühle entquellen beim Anblicke dieser ehrwürdigen Ruine dem Herzen. Der gewaltige Bau, welcher wie ein Gespenst aus fernen Jahrhunderten zu mir herüberlugt, scheint kein Gebilde der Menschenhand, sondern ein Werk jenes großen Künstlers zu sein, der die ewigen Pyramiden der Alpen aufgerichtet und, die Fackel des Vesuvs entzündet. Diese mächtigen Säulen, wie kühn sie trotz der zerklüftenden Spalten emporstreben! … Diese lustigen Bogen, die sich darüber hinwölben, um dem ganzen architektonischen Hymnus, so möchte ich sagen, eine tiefharmonische Klangfarbe zu geben!
Und ringsum das echte, phantastische, hüpfende, marionettenhafte italienische Volksleben. Hier wogt eine toll durch einander gewürfelte Menge heimathloser Armuth: Bettler, Vagabonden, Krüppel, aus denen gar seltsam, aber imponirend der auf das Ohr gedrückte Cylinder eines Pflastertreters hervorlauscht. Daneben verkaufen zerlumpte Knaben Cigarrenstummel, die sie auf allen Straßen zusammengelesen, offeriren gelbe Frauengesichter Kürbiskörner, damit die Zähne bei den theatralischen Vorstellungen etwas knuspern können, während im nahen Café über den Köpfen der Gäste vom Stiefelputzen eine Staubwolke schwebt.
Enrico klopft mir auf die Schulter.
„Endlich! … Alle Wetter, ich warte schon eine halbe Ewigkeit.“
„Dafür wirst Du auch hier, wo sonst Löwen und Tiger brüllten, die feinsortirtesten Witze eines Hanswurstes hören und so einmal zur Genüge sehen, wie jetzt die Zeiten eingeschrumpft sind.“
„Wie meinst Du das?“
„Nun, wir wollen einer Vorstellung in der elenden Bretterbude beiwohnen, die hier in der Arena errichtet ist. Kannst die ganze Welt von Treuenbrietzen bis Kuhschnappel, oder von China bis San Francisco durchbummeln, wirst nicht gleich wieder finden, wie Sonst und Jetzt einander so grell berühren.“
Wir treten ein.
Mitten in dem immensen Raum, der einst an zwanzigtausend Zuschauer faßte und dessen Sand so viel Blut getrunken, erhebt sich ein flitterhaft aufgeputztes Theater, in welchem Ritter-, Räuber- und Spectakelgeschichten vorgeführt werden. Davor befindet sich ein bretterner Aufbau, vor ihm zwei Flügelansätze rechts und links, alles zusammen vielleicht ein Zehntel der Arena bedeckend, mit Plätzen für die Zuschauer. Eine Treppe führt rechts wie links an der Basis der Flügel auf den Raum hinauf; die Zugänge bewacht je ein schäbig aussehender Cerberus vor einem Tische, welcher die klingenden Münzen im Teller sammelt.
Zwei Ueberraschungen noch: der Zuschauerraum ist geradezu überfüllt und das Publicum, wenngleich ein gemischtes, so doch zum guten Theil den besseren Ständen angehörend. In der von wenigen Laternen spärlich erhellten Dämmerung gewahre ich wohl
[453][454] vielfach die charakteristische Bauerntracht und die unbekümmerte Dürftigkeit und Beweglichkeit des niederen Stadtvolks, und es scheint, daß diese Elemente in dem Raum vor der Bühne überwiegen, aber seitlich auf den Flügeltribünen gruppiren sich die Promenadetoiletten der guten Gesellschaft; der hohe Cylinder, der elegante Strohhut haben die Herrschaft, weiße Frauennacken blinken, Fächer regen sich, und trotz der Munterkeit, welche auch hier die Kopf an Kopf sich hindehnende Menschenmenge bewegt, liegt das Maß gesellschaftlicher Bildung darüber.
„Aber zum Teufel, Enrico, wozu diese Räuberkleidung, welche Dein Billet mir vorgeschrieben, wenn wir die Aussicht hatten, uns zu anständigen Leuten setzen zu können?“
„Ruhig Blut!“ war die lachende Antwort. „Wenn ich in anständiger Gesellschaft Theater genießen will, gehe ich nicht hierher; Andere mögen das halten, wie sie wollen. Uebrigens wird das Publicum in wenig Tagen ein anderes, sobald die Sache den Reiz der Neuheit eingebüßt hat. Was uns betrifft, so werden wir mit Deiner Erlaubniß einen höheren Standpunkt einnehmen, damit Du die Wirkung des Spectakels in ungetrübter Reinheit beobachten kannst.“
„Um Gotteswillen, doch nicht – –?“ Und ich zeigte, von einer Ahnung erfaßt, auf die antiken Sitzreihen in luftiger Höhe, wo sich eine verdächtige Anhäufung von muthmaßlich zahlungsunfähigen Gästen knäuelte.
Enrico nickte. Ich sah seufzend an meinem auswendigen Menschen hernieder und sagte mir in der Stille, daß die olympische Verborgenheit da oben in der That den angemessensten Platz für mich biete. So folgte ich denn dem Freunde, und wir schlichen durch einen der Aufgänge und kletterten empor.
Es ging durch ärmliches Volk, Gelächter und lebhaftes Gespräch in einem abscheulichen Gassenjargon von Italienisch; zuweilen umspülte uns ein penetranter Duft von Zwiebel oder Knoblauch, oder auch die Ausdünstung übermäßigen Weingenusses; ich war froh, daß wir möglichst hoch über diese Atmosphäre hinaus stiegen. Endlich nahmen wir auf einem der alten Steinsitze Platz. Der Himmel hatte sich inzwischen gelichtet – der Mond mußte aufgegangen sein. Seitlich saßen einige dunkle, wüst und zerlumpt aussehende Gesellen, über die man sich nicht eben freuen würde, wenn sie einem so zufällig begegneten und nach der Zeit fragten; unter uns saß eine Gruppe Betrunkener, welche von sehr unsaubern Erlebnissen in Ostindien erzählten; neben ihnen ein hageres Individuum in grauem Cylinder und schwarzem Rock, auf dem Metallknöpfe blinkten, weßwegen ein paar halbnackte Knaben in der Nähe ziemlich ungenirt den Verdacht äußerten, eine „Eccellenza“ vor sich zu haben. Unten aber wogt und rauscht und summt es, und eine Weile hängt mein Auge gefesselt an dem phantastisch originellen Bilde dieser Arena, bis ich des Eindrucks müde geworden.
Unterdeß haben zwei Violinen und eine heisere Trompete, welche das Orchester vorstellen, bereits drei Ouvertüren durchprobirt, ohne daß eine Andeutung baldigen Beginns der Vorstellung erfolgt. Ich versuche, während Enrico in vollem Behagen mit einem Taschenperspectiv um sich späht, den Widerwillen gegen meine Umgebung durch Erinnerungen zu betäuben. Die Phantasie träumt sich zurück, weit, weit zurück in vergangene Zeiten. Die Natur vergrößert, das Herz erweitert sich; längsterstorbene Schatten leben auf. Die steinernen Sitze, die mächtigen Mauern helfen das Bild vervollständigen.
Es ist ein römischer Festtag. Wunderprächtig blaut der Himmel; die Sonne scheint so heiter, daß man fast die Freude in den Herzen lesen kann. Tausende über Tausende drängen nach der Arena. Der Boden erglänzt von Goldsand und Carmin, damit das Blut der Kämpfenden sich weniger bemerkbar macht, und über die weitgeschwungenen Sitzreihen spannen sich große orientalische Purpurplanen, das Licht dämpfend und den Eindruck des Schauspieles erhöhend. Chorgesang und Musik ertönt, und die Menge schwatzt von den Neuigkeiten.
Plötzlich ein Zeichen! Die Menge verstummt. Lächelnd, nach allen Seiten grüßend, erscheinen die Gladitoren, kampfesmuthig, als winkte ihnen ein freudevolles Fest, nicht der unerbittliche Tod. Glitzernde Rüstungen, nackte Leiber, dreizackige, scharfgeschliffene Messer werden sichtbar. Es tobt der Kampf. Athemlos lauscht das Volk. Verstümmelte Glieder, aufgeschlitzte Körper, ängstliches Schluchzen, Stöhnen der Sterbenden, vom Tod entstellte Gesichter … Endlich in thierischer Lust ein ungeheuerer Beifallssturm, in den sogar die Löwen und Tiger, welche nun die Scene betreten sollen, durch Brüllen mit einstimmen.
Ein langgedehntes „Ah“ der Versammelten reißt mich aus den Träumereien. Enrico reicht mir sein Perspectiv.
Vor dem Vorhang der Bretterbude erscheint, die Cigarre im Munde und die Mütze unternehmend schief auf dem schwarzen Krauskopf, ein Theaterdiener. Er schlägt einen Augenblick voll großer Entschiedenheit die Arme in einander und starrt mit einer Mischung von Bewunderung und Verachtung in's Publicum. Dann bückt er sich nieder, putzt die Oellampen und schraubt die Flammen höher. Nun ist dem starken Ueberfluß an Gesichtsfarbe, welcher vermuthlich bei den Priestern und Priesterinnen dieses Kunsttempels vorherrscht, die rechte Beleuchtung gesichert, und Alles läßt auf den Anfang des Stückes schließen.
Mir kommt ein Einfall.
„Weißt Du was, Enrico? Mich lüstet, da unten Studien hinter den Coulissen zu machen. Geht das an?“
„Warum nicht?“ sagt der Freund, der Verona wie seine Taschen kennt. Und wir erheben uns und klettern noch etwas höher, um droben entlang bis zu dem Abstieg zu schreiten der hinter dem Theater in die Arena einmündet.
Unten, im Rücken der Bühne, hebt mein Führer ein rissiges Stück Leinwand; es geht durch kleine schmale Gänge hin.
„Achtung, mein Junge!“ ertönt unterwegs Enrico's Warnungsruf. „Falle nicht über jenen zu den ‚Requisiten‘ gehörenden Tellerkorb. Wie sollte dann im fünften Act das ‚Heer‘ dort ein Siegesmahl halten!“ Und er zeigt auf drei schmutzige Gesellen mit korkgeschwärzten Gesichtern, in alten grauen Waffenröcken und kothigen Stiefeln, welche sich vorläufig an einer umfangreichen Schüssel Macaroni mit Pomidore stärken.
Enrico fragt nach dem Director und erhält den Bescheid, derselbe befinde sich im Ankleidezimmer nebenan.
Und da stehen wir mitten in der Aufregung der letzten Augenblicke vor Beginn des Schauspiels. Der dicke Director, der sich unausgesetzt den Schweiß von dem rothbraunen Antlitz wischt, bittet um Geduld – er hat keine Zeit für uns übrig; desto mehr Zeit haben wir, die Gesellschaft zu mustern, die uns kaum einen flüchtigen Blick schenkt.
Sämmtliche Künstler und Künstlerinnen sind bereits in Costüm. Dort der kleine Ladenjunge ist ein türkischer Sultan, daneben die junge, gluthäugige Dame ein geraubtes Christenmädchen, weiterhin der simpelhaft aussehende, säbelbeinige Kerl der tiefbetrübte Vater des armen Kindes. Soeben hilft er in seinem faltigen Gesichte den Spuren des Grams durch ein paar kühne Pinselstriche nach, während seine traute Gemahlin, ein ungeheuer dickes Weib, christliche Ergebung in ihre Physiognomie aufträgt.
Der erste Liebhaber, der das geraubte Kind aus den Händen der Ungläubigen zu retten hat, kann vor Begeisterung kaum den Anfang der Vorstellung erwarten. Er weiß, daß er in der Sterbescene ungeheueren Effect machen wird, und murmelt immer und immer im Declamationston aus seiner Rolle: „Addio, addio per sempre!“ Dann klopft er etwas auf dem Kilo Kolophonium herum, damit der „Schloßbrand“ mehr Furore erweckt, und gedenkt, seinem plötzlich in ein sanftes Schmachten umschlagenden Mienenspiel nach zu urtheilen, einiger sonnigeren Partien der Tragödie …
„Allons! Allons! meine Herrschaften, das Publicum zerbricht bald die Bänke!“
Es erfolgt ein allgemeiner Aufbruch nach der Bühne.
„Nun,“ ruft der Director und nimmt die Liste zur Hand, welche hinter der ersten Coulisse hängt: „Erster Auftritt, einsame Gegend, Nacht, Donner und Blitz – Alles in Ordnung, Giovanni?“
„Fein in Ordnung.“
„Recht so. – Zweiter Auftritt, Schloß am Meer. Ist das Schloß am Meer heruntergelassen?“
„Ja.“
„Giovanni, wenn das Zeichen erfolgt, ziehe die überschwemmte Gegend hinauf in die Wolken.“
„Va bene.“
„Jetzt die Ohren gespitzt. Seid Ihr Alle da?“
„Alle.“
„Gut also. Weg von der Bühne! Giovanni, pfeife zum Anfang!“
Das Orchester schweigt, der Vorhang rauscht in die Höhe, [455] das Trauerspiel beginnt, und wir sehen von der allem Vermuthen nach gesichertsten Stelle in den Coulissen zu.
Was soll ich über die dramatischen Ungeheuerlichkeiten des Stückes, über die Kränze von Blödsinn, mit denen fast alle Scenen durchwoben sind, was über die Darstellung sagen! Man muß diesen Streit mit den „Todtengräbern“, diese sehnsuchttriefenden Liebesmonologe, dieses durch Kniewackeln unterstützte Schluchzen gehört, den „Schloßbrand“ gerochen haben, um zu wissen, wie nahe das Erhabene dem Lächerlichen steht.
Stürmischen Beifall erntete der erste Liebhaber, der nach einer ziemlich hitzigen Gefechtsscene – zu sterben hatte. Er schlug sich wohl zehn Minuten mit vier stangenbewaffneten Räubern wie ein gereizter Löwe herum, fiel auf die Kniee, kämpfte in dieser Stellung, sprang dann wieder auf und focht weiter. Erst nachdem ihm der Hut vom Kopfe gefallen, fing er an zu wanken, drehte sich so, daß der Sturz nicht wehe thun konnte, und empfing den Todesstoß. Im Verscheiden schrie er dann aus allen Leibeskräften: „Addio! addio per sempre!“
Dies wirkte derart, daß ein Orchestermitglied beinahe vom Schlafe aufgeschreckt wurde und ein Wasserverkäufer vor Erstaunen stehen blieb, anstatt mit den Gläsern von Bank zu Bank zu schleichen, während allenthalben sich Taschentücher vor die gerührten Augen legten.
Wir hatten genug und verzichteten darauf, dem Direktor Aufklärung über unsere Anwesenheit hinter den Coulissen zu geben, Addio, Amphitheater, addio per sempre! Wenn die Seelen der alten Geschlechter, die ehemals hier jubelten und lachten, aus dem Staube stiegen und gewahrten, was die alte Arena heute mit ansehen muß!
Enrico nahm mich am Arm; wir schlichen uns in’s Freie und verließen das Amphitheater durch den nächsten Ausgang. Der Himmel hing voll vereinzelter, dunkler, wandelnder Wolken, Cypressen und Lorbeerbüsche warfen im weichen Schimmer des Mondlichts weithin kriechende Schatten.
Es is scho Hirgscht,[1] as Laab im Berg werd gelb.
Aber halt d’Sunna – die scheint no so fein.
Und in der Fruah scho is der Tag so lind!
Vor sein braun Häusl, auf der Bank heraußt,
Da sitzt der Hagerbaur mit siebezg Jahr.
Er sitzt alloans, d’Händ hat er in der Schooß,
Die andern all san heunt in d’Kirchen fort.
Weil der alt Hofer eingrabn werd von Schliers.
Er schaugt so außi – grad in Himmel nein.
Und luust,[2] wie’s läut so schön im Kirchei drent.
Mei (denkt er si) – jetzt werd’s mi aa bald ham,[3]
No, wegn meina![4] – aber ’s reut mi nit,
Und kaam i heunt nomal auf d’Welt, is wahr,
I möcht nix anders wern, als was i bin.
Da auf dem Feld und vor dem Hoamet[5] da,
Da hab i gspielt als kloaner Bua davor,
Da hab i g’arbeit in die guaten Jahr,
Da rast i aus in meine alten Tag.
Wie schön war dös, wenn so im Lanks[6] im Mai,
Die Kerschbaam blüht und d’Vögein gsunga habn;
Wenn ma im Summer, auf Johanni rum,
So gmaht[7] ham draußt, um Viere in der Fruah,
Daß d’Sans’ ganz tropft vor lautern frischen Thau!
Und alls ghört Dein, die Traden[8] und dös Feld!
Wie schön is ’s Leben, wenn oan ebbes[9] wachst! –
Und na im Hirgscht – es war dös aa scho fein,
Wenn ma so droschen ham im Tenna[10] hint,
Daß ma’s glei hallern hört bis auf Ellmau.
Und z’Weihnacht erscht san ma mi’n Schlitten naus
Ins Holz und durchn Schnee durch, auf die Berg.
Da war’s erst schö, wennst hoam kimmst aufn Abnd,
Und’s Feuerl brinnt, und d’Kinder san dahoam.
Und derfst di strecka auf der Ofenbank.
So hat a jede Jahrzett halt sei Sach,[11]
A jede kimmt und geht und hat sei Freud,
Alls is so fest gmacht und dös thuat so wohl.
Und na der Sunta und der Kirta erscht![12]
O mein Gott, nein, i hab ja dieweil gmoant,
So schön, wie’s i hab, kunnt’s koa Mensch nit habn.
Und lustiger, wie’s is, kunnt’s nimmer wern!
Und auf der Kahralm[13] – bei mein Lisei droben,
Wenn so der Mond gscheint hat und d’Kalma woaden,[14]
Und bei der Musi(k) auf der Klausen drunt,
Dös war a Lebn – heunt giebt’s mir no an Riß!
Und meiner Lebtag nie koa Stund nit krank! – –
Jetzt aber geht’s wohl aa schön staad dahin;[15]
’S hat lang gnua dauert und mei Zeit is um;
Es freut mi ’s Lebn und fürcht mi nit vorn Sterbn.
Na muaß as Wei(b) halt um an Pfarrer num.
Daß der no kimmt mit unsern Herrn[16] auf d’letzt;
Denn unser Herrgott, der verlaßt mi nit.
As Sach und d’Hoamet aber kriegt der Bua,[17]
Und den und seine Buabn freut’s nachher aa,[18]
Wenn ebbes wachst – und wo i’s lahna laß,[19]
Nimmt er’s: mei Sans’, und maht damit sei Feld,
Und meins, mein Vatern und mein Ahnl seins. –
So hat der Alt sinnirt – d’Luft is so lind.
Er spielt mi’n Katzei in der Sunna dort,
Er schaugt die Vögein zua im Kerschbaam drobn
Und luust, wie schön ’s im Kirchei drenten läut.
Und übers Feld hoam kemment d’Kirchenleut.
„Grüß Di Gott, Vater!“ sagens. – „Grüß Gott aa!“
Ihm is so guat – er kunnt’s nit schöner habn,
Alls is so fest gmacht und dös thuat so wohl –
Dös Bauernlebn is wier an ewigs Leben!
Wie’s draußen stürmt! – Der Wind geht in die Baam;
Wie’s finster is – und wie der Regen schlagt!
Drin in der Kammer, auf sein Bett, da sitzt
Der Hagerbaur und lahnt sein Kopf auf d’Knie
Und tracht und tracht – es werd ihm hoaß und kalt,
Dös g’locket Haar um d’Stirn um wird ihm naß.
Es schlagt scho zwölfe – und er schlaft nit ein. – –
Luus nur, wie’s stürmt – er ziehgt ’n Athem an –
Und zletzt, zletzt sagt er’s dengerscht zu sein Wei(b):
„Muader – morgn kemmens – morgen – die vom G’richt,
Alls is verspielt – Alls Han i durchschall,[20]
Mei Feld, mei Holz, mei Hoamet und mei Sach –
I han’s verspielt – und zletzt Di selber aa.
Oft hamma[21] gherzt in dera Kammer da –
Na[22] aber han i nimmer auf Di g’acht
Vor lautern Großthun, lautern Draußtensein;
Zletzt is nix überbliean, als wie dös Herz,
Dös einigschni(tt)n in unser Bettstatt is.
Sei staad[23] – i woaß’s – i bin nix mehrers werth.
Muader – i geh! Morgn kemmens in der Fruah,
Und wenns na fragn: Wo’is sei Viech? – na mach
Nur d’Stallthür auf, wo’s alles laar is drin.
Wo is sei Holz?[24] Na zoag nur hin am Berg
Und sag: ,Dort is’s, wo alles zsammgschlagn is‘
Und wenns zletzt fragn: ,Wo is na er, er selm?‘
Na sagst: ,Fort is er – durch!’ – und sagst dazu:
,Um so an Lumpen is’s ja wohl koa Schad!’
Ja, so derfst sagn, es is ja wahr a so,
Nur dös schaug halt – daß’s d’Kinder halt nit hören.“
As Wei(b) schlagts Deckbett von ihr weg und schreit.
Und nimmtn um an Hals mit all zwoa Händ:
„Na,[25] Bader, na!“ – Er aber redt dahin,
Daß d’ moanst, du hörst die bösen Geister redn:
„I bin verspielt – verspielt – i woaß schier nit,
Bin i dran schuldi oder is’s die Zeit,
Die heuti Zeit – es is als wier a Fluach,
Als leidet’s koan mehr, daß er zfrieden is
Und ehrli bei sein Sach – dös treibt und treibt,
Nix hat koan Halt mehr – all’s is feil und feil,
Muader, mir is’s, als brennet’s unter mei!
Sei staad! – Guat Nacht! – Schaug, daß D’ no schlafen kannst,
Und wennst no schläfst, na steig i aus und geh.
Es siecht mi koaner von die Nachbarn nit.
Muader – bhüt Gott – morgn kemmens in der Fruah.“
„Dasjenige Bier, welches nicht getrunken wird, hat seinen Beruf verfehlt.“ Dieser unsterbliche Satz floß am 21. Januar 1880, bei Gelegenheit der Berathung des Gesetzentwurfs betreffend die Steuer vom Vertriebe geistiger Getränke aus dem Munde eines preußischen Abgeordneten, welcher durch diese inzwischen unter die „Geflügelten“ erhobenen Worte eine Heiterkeit des Hauses erregte, die bei allen Bieranbetern, in Tausenden von deutschen Kneipen und salamanderreibenden Kreisen ein freudiges Echo weckte und dem klarsehenden Redner sogar unzählige gereimte und ungereimte Dankschreiben sowie lustig dedicirte Fäßlein Gerstensaft einbrachte. Wenn dem parlamentarischen Biervertheidiger auch nur das „Baierische“ vorschwebte, so fanden seine weiteren geistvollen Ausführungen (vergl. den stenographischen Bericht) nichtsdestoweniger die begeistertste Zustimmung einer Biergemeinde Berlins, die mit stolzer Verachtung auf das braune Gebräu herabblickt und nur dem Weißbier huldigt.
Bei der culturgeschichtlichen Mission, die das Weißbier unbestritten erfüllt, und dem Adelsrang, den das Berliner (nur aus Weizen gebraute) Nationalgetränk unter den „Stoffen“ einnimmt, ist billiger Weise zunächst die „Ahnenfrage“ zu erörtern. Das Berliner Weißbier ist nach den gewissenhaftesten Stammbaumstudien ein wohlgerathener Nachkomme des „Broihan“, eines Trankes, der 1547 in Halberstadt auftauchte und nach seinem „Erfinder“ Conrad Broihan benannt wurde. Den sonstigen Erfahrungen entgegen, scheint diese „Erfindung“ von den Zeitgenossen des Halberstädter Brauers sofort in ihrem vollen Werthe begriffen worden zu sein; denn nach einem von dem „Bär“ (Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde) mitgetheilten Distichon aus jener Zeit soll sogar Zeus dieses Weizenproduct bei seinen olympischen Gastmählern eingeführt haben:
„Grandia si summo fierent convivia coelo,
Broihanum superis Jupiter ipse daret.“
(„Wenn auf dem hohen Olymp commersirten die seligen Götter –
Broihan setzte gewiß Zeus den Unsterblichen vor.“)
Die Kunst, das himmlische Naß herzustellen, verpflanzte sich bald nach dem Hauptplatze der Mark; in einem kurbrandenburgischen Kochbuche aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges wird bereits das „Berliner Weitzenbier“ neben andern empfehlend genannt, „denn es ist so beschaffen, daß man es im Mangel eines guten Broihans brauchen kann, um damit vornehme Personen herrlich zu tractiren“.
Die Stürme der Zeiten haben nichts über dieses Bier vermocht; die verschiedenen, oft mit den wunderlichsten Namen belegten Brauproducte, ein treffliches „Spiegelbild des deutschen Particularismus“, traten zwar in Concurrenz, das vornehmthuende „Bairisch“ schien ihm den Rang ablaufen zu wollen, trotzdem aber ist der Consum mit einigen Schwankungen ein steigender gewesen, denn heute widmen sich „am grünen Strand der Spree“ mehr als zwanzig Brauereien der Herstellung des schäumenden Getränkes. Im Hinblick auf die große Güte und allgemeine Beliebtheit desselben ist es durchaus begreiflich, wenn am 26. Februar ein Gedenktag gefeiert wurde, an welchem die Bewohner der Residenz in Gedanken, Wort und That den innigsten Antheil nahmen: es war das fünfzigjährige Jubiläum des Weißbierlocals von Clausing, Zimmerstraße 80.
Ein halbes Jahrhundert ist verflossen, seitdem der „alte Clausing“ in dem Hause, wo sich bereits seit 1781 eine Weißbierstube befand, die erste „kühle Blonde“ ausschenkte. „Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen“, welchen bezaubernden Reiz der Ruf: „eine Weiße“, eine „kühle Blonde“ für den Spree-Athener hat, ja schon der Name Clausing weckt in dem echten Berliner, auf welchem Punkte des Erdballes er sich auch befinde,
„Der dunkeln Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunderbar schliefen.“
Wer von den Einheimischen hätte „Vater Clausing“ in seinem schwarzen Sammetkäppchen nicht gekannt? Die Kinder auf der Straße grüßten den alten Herrn; den Fremden wurde er gewissermaßen als Berliner Wahrzeichen und lebendiges Wappenbild gezeigt; denn die von ihm meisterlich gepflegte „kühle Blonde“ galt als unübertrefflich und schien nur in seinen Händen gedeihen zu wollen.
Kein anderes Getränk fordert nämlich in seiner Behandlungsweise Intelligenz und persönliche Hingabe in dem Maße heraus, wie es das Weißbier thut. Viele Factoren: Keller, Gefäße, Sauberkeit, Temperatur, Gährungsproceß, Kruken, Pfropfen, Aufstellung, sogar Licht und Schatten müssen zusammenwirken, um jene perlende, kohlensäurehaltende, prickelnde Flüssigkeit zu erzeugen, zu deren Quelle sich die durstende Seele zurücksehnt, wie der Rom-Pilger zu den einmal gekosteten Wassern der Fontana Trevi in der ewigen Stadt. Wo deshalb immer Berliner sich eine neue Heimath gründen, da folgt ihnen auch die ersehnte „Weiße“, und das Clausing'sche Haus schickt seine kunstvoll „geproppten“ Kruken in alle Welt hinaus, oder genauer gesagt, nur nach der nördlichen Erdhälfte, da das Spreewasserproduct den Aequator noch nicht passiren gelernt hat, ohne ein verzweifelt saures Gesicht zu machen. Es ist übrigens eine noch nicht hinlänglich bekannte Thatsache, daß sich das gute Weißbier nur aus dem Elemente der Spree brauen läßt; das ganze übrige deutsche Flußnetz, so respectable Eigenschaften sich auch von ihm nachweisen lassen – zu echten kühlen Blonden läßt es sich doch nicht verwirthschaften.
Gleich seinem Bier hat auch das Clausing'sche Local selbst seine Geschichte. Wie ehedem die Heroen der Dicht- und Schauspielkunst in der Weinstube von Lutter und Wegner (vergleiche „Gartenlaube“ Nr. 49, Jahrgang 1856) zu fröhlichem Zechen und Scherzen zusammenkamen, so versammelte sich auch bei „Clausing“ allabendlich eine „Tafelrunde“, deren Geist, obgleich ganze Geschlechter hinweggeweht sind, noch heute in den Räumen fortlebt. Der Weißbiergeist ist aber ein ganz besonderer Kauz, der mit dem Geist auf sonnigen Hügeln gezeitigten Traubensaftes nichts gemein hat. Dieser regt das Gemüth des Menschen auf, läßt das Blut schneller in den Adern rollen und ist fähig, wie die Geschichte der weintrinkenden romanischen Völker lehrt, zu allem Außergewöhnlichen zu reizen. Nicht so der andere. Das kühlende, Hunger und Durst zugleich vertreibende Weißbier macht den Trinker ruhig, nachdenklich und bedächtig und läßt ihm Besinnung genug, bei Allem, was er thut, auch das maßgebende Ende zu bedenken, indem es zugleich das angeborene kritische, moquirende und witzelnde Element zu fröhlicher Entfaltung befördert.
Dort an dem Stammtisch, umgeben von tabakgebräunten, schmucklosen Wänden, saßen Mimen und Sänger, wie Gern, Iffland, Hendrichs, Mantius in Gesellschaft von allerhand Geheimräthen, Universitätsprofessoren, Doctoren, Gelehrten, Beamten und dem biederen, wohlhabenden Bürger, der es nie versäumt, bevor er zum Werke des Trinkens schreitet, neben sich auf den eichenen Tisch die mächtige Dose und das bunte Schnupftuch aufzubauen; hier reiften die Urtypen der in Vatermörder versunkenen Weißbierphilister „Neumann“, „Schwabbe“, „Bohmhammel“ und Andere. Aus praktischen Gründen bildete sich unter ihnen, wie bei allen Weißbiertrinkern, ein Consortium, welches nur aus einem Glase trinkt; dieser Modus trägt offenbar dazu bei, durch den ohne Rast und Ruhe kreisenden ungeheuerlichen, nur mit zwei Händen zu regierenden Humpen nebst „Strippe“ (Kümmel) ein gleichmäßiges Fluidum zu verbreiten. Wer nennt ein politisches oder unpolitisches Thema, das nicht an dem „Raisonnirtisch“ mit echter deutscher Gründlichkeit verarbeitet worden wäre, um, wenn irgend möglich, schließlich mit einer von Spott und Hohn gesättigten „Tunke“ begossen zu werden! Vater Clausing verstand es vortrefflich, durch zeit- und kunstgemäßes Einschenken den Rede- und Bierfluß im Gange zu erhalten. Aber auch „Mutter Clausing“, ein Muster aller Gastwirthinnen, wurde hoch in Ehren gehalten; zeigte die am Schenktisch aufgehängte schwarze Tafel in den altmodischen, mit Kreide geschriebenen Buchstaben Gänsebraten, Karpfen oder gar Eisbein mit Sauerkohl, so gab es keinen Stammgast, der nicht seine „Protection-Portion“ à drei Groschen beansprucht hätte.
Das mit Allem, nur nicht mit den Wirkungen des Weißbieres in Zusammenhang zu bringende „tolle Jahr“ 1848 warf seine Wellen auch in die Atmosphäre des Clausing'schen Locals.
Der ruhige Bürger mußte zur Wehr greifen; er stellte dieselbe aber mit Vorliebe nach gethaner Wache oder sonstigem [457] kriegerischem Geschäft Abends friedlich in eine Ecke bei Clausing und spülte alle politischen Beklemmungen durch mehrere Weiße mit verschärften Strippen hinab. Wie eine wohlverbürgte Tradition berichtet, hatte sich trotz der dort vorherrschenden „angenehmen Temperatur“ eines Tages ein „revolutionärer Redner und Wühler“ eingeschlichen, um von einem Tische aus Propaganda für Freiheit und Gleichheit zu machen. Seine Bemühungen scheiterten indeß an der Gesinnungstüchtigkeit der „Mutter Clausing“, die weniger den neuen Ideen, als vielmehr dem unberufenen Schreier mit kräftiger Hand „unter die Arme griff“ und ihn unter Beifallsrufen der anwesenden Gäste zum Hause hinausbrachte.
Besonders lebhaft ging es in den traulich düstern Kneipräumen während des Berliner Jahrmarktes zu, dessen Budenreihen sich vom Dönhofsplatze bis zur Zimmerstraße erstreckten. Die Verkäufer waren um Gründe, sich einen guten Trunk zu leisten, nicht verlegen; gute Geschäfte wurden in Gesellschaft der Kunden durch mehrere Weiße gefeiert, während die schlauen Handelsleute und feilbietenden Handwerker der bösen Laune über mangelnden Umsatz und das sprüchwörtliche „Jahrmarkts-Hundewetter durch mannhaftes Trinken bei Clausing geschickt das Gleichgewicht zu halten wußten. Wer von seinem „Stande“ unabkömmlich war, ließ sich eine „Blonde“ holen, sodaß an manchem Tage tausend Weiße „über die Straße“ verkauft wurden. Der „alte Clausing“ ist, nachdem er durch Millionen Kruken den Durst seiner Mitwelt gelöscht hat, im Jahre 1857 heimgegangen; er hat, wie jener König von Thule, Alles, sogar noch den „Becher“ seinen Erben gegönnt; denn sein Sohn wandelt, unterstützt von einer wackeren, thätigen Hausfrau, in den Fußstapfen des Vaters weiter.
Das Fest des fünfzigjährigen Jubiläums gestaltete sich deshalb zu einem Ehren- und Erinnerungstage, der seine wohlausgenutzten vierundzwanzig Stunden zählte und welchem Hekatomben von Weißen („auf Eis“ und „in Civil“) und – Kuhkäse geopfert wurden.
Wenn auch der Charakter des Locales etwas vom Zeitgeiste benagt und beeinflußt worden ist, das alte patriarchalische Verhältniß zwischen Gästen und Wirth ist doch geblieben; den dem Letzteren ist es durch das erstaunlich pünktliche, über Tag und Nacht gleichmäßig vertheilte Kommen und Gehen der Besuche ziemlich leicht gemacht, Fühlung zu behalten. Da erscheint in den ersten Vormittagsstunden die „angeblich wegen Studien“ in der Residenz sich massenhaft aufhaltende akademische Jugend in der ausgesprochenen Absicht, das bekannte geschwänzte Hausthier, Kater genannt, zu ertränken; ihnen folgen die Mannen des täglichen Stammfrühstücks, und sodann vereinzelte Mittagsgäste, denen sich am Nachmittag beziehungsweise Abend die eigentlichen Weißbierhelden anreihen. Ministerial-, Magistrats- und sonstige Beamte mit Titel und Würden, Militärs z. D. und a. D., Künstler, Schauspieler, Abgeordnete, Journalisten, Rentiers, Kaufleute, Handwerker wechseln in bunter Reihenfolge bis nach Mitternacht; es soll nicht verschwiegen werden, daß in der Neuzeit in dem neuen modernen Anbau auch die sonst in diesem Hause nicht gesehene Damenwelt Eingang gesucht und an der „Blonden“ großen Geschmack gefunden hat.
Die Aegypter, Phönicier, Tyrer, Karthager und andere Völker des Alterthums mußten, wie der Eingangs erwähnte Parlamentsredner in derselben Sitzung behauptete, nach kurzem Glanze schnell untergehen, „weil sie nichts Vernünftiges zu trinken gehabt haben“. Berlin wird demnach ewig blühen; denn es hat sein Weißbier. Du aber, o Wanderer, sollten sich je deine Schritte nach der Zimmerstraße lenken, so gedenke des tiefsinnigen Wortes: Dasjenige Bier, welches nicht getrunken wird, hat seinen Beruf verfehlt.
Wie lautete die Kunde, welche wie ein Blitz in die schwüle Stimmung fiel, von der die russische Nation befangen war?
Sie lautete: Der Stamm Ruriks ist noch nicht erloschen. Der Zaréwitsch und rechtmäßige Nachfolger Iwans des Schrecklichen, der junge Dmitry, welchen man irrthümlich todt und zu Uglitsch ermordet glaubte, ist noch am Leben. In der polnischen Provinz Lithauen von einem Woiwoden gastfreundlich aufgenommen, hat er den angesehensten Männern der Republik Polen, sowie dem Könige Sigismund dem dritten selber sich zu erkennen gegeben und schickt jetzo sich an und verschreitet dazu, sein klares Recht auf den russischen Zarenthron als letzter rechtmäßiger
[458] Sproß des Hauses Rurik, als legitimer Sohn des vierten Iwan Wassiljewitsch, mit der Hilfe Polens geltend zu machen.
„Mit der Hilfe Polens.“ Schon dieser Beisatz hätte die Russen stutzig machen können und sollen. Aus Polen und mit Polens Hilfe kam der Prätendent, also aus dem Lande und mit der Unterstützung von Russlands Erbfeind. Aber wann und wo haben Menschendummheit, Volksaberglauben und Parteiwuth gezögert, auf einen kolossalen Lügenköder begierig anzubeißen? Nimmer und nirgends! Wann und wo haben sie angesichts eines frechen Schwindels verständige Erwägungen angestellt? Zu keiner Zeit und an keinem Ort!
Der wirkliche Sohn des „grausen“ Zaren, der wahre Dmitry, war zweifellos ermordet, todt und begraben. Das hinderte aber nicht, daß die große Mehrzahl der Russen in einem nachgemachten Dmitry einen Helden, Herrn und Heiland sah und ihn geradezu vergötterte, für eine Weile nämlich, das heißt gerade so lange, als er Glück hatte.
Der historische Roman vom falschen Demetrius, welchen man, wie im Schlußkapitel dieser Historie gezeigt werden soll, füglich einen Tendenzroman nennen darf, hat also angehoben.
Um die Mitte des Jahres 1603 stand im Schlosse zu Brahin in Lithauen ein junger Mensch als Bereiter oder Unterstallmeister im Dienste des polnischen Fürsten Adam Wiszniewiecki. Eines Tages wurde der Bereiter krank, todtkrank, das heißt er stellte sich krank, todtkrank, und ließ den Hauskaplan des Fürsten, welcher Geistliche ein Jesuit war – wohlgemerkt! – zu sich bitten, um diesem seine angeblich letzte Beichte abzulegen. Solchem Beichtvater nun anvertraute das Beichtkind, daß es der todtgeglaubte russische Zaréwitsch Dmitry wäre und folglich der rechtmäßige Zar aller Reußen, dessen angestammten Thron ein grausamer Usurpator innehätte. Zur Bekräftigung dieser großen Neuigkeit erzählte – dem Berichte des Jesuitenpaters zufolge – der Scheinkranke eine höchst romantische Geschichte, allwie er durch einen deutschen Arzt den mörderischen Anschlägen des Boris entrissen und wie an seiner statt zu Uglitsch der Sohn eines leibeigenen Knechtes ermordet worden wäre – ein ganz dummes, schlecht ersonnenes und schlecht stilisirtes Märchen. Aber in solchen Fällen heißt es bekanntlich: „Je dümmer, desto schöner!“ Als Beglaubigung seiner Fabel brachte, wie der Beichtvater erzählte, der Bereiter ein Siegel vor, welches Wappen und Namen des Zaréwitsch Dmitry zeigte, sowie ein kleines goldenes, angeblich mit Edelsteinen besetztes Kreuz, welches ihm, behauptete er, bei seiner Taufe sein Pathe, der Fürst Mstislawski, geschenkt hätte.
So die Aufstellung, so die Beweisstücke. Und daraufhin – es klingt ebenfalls märchenhaft – wurde der Stallknecht von seinem Brotherrn, dem Fürsten Adam Wiszniewiecki, als wirklicher und wahrhafter Zaréwitsch Dmitry anerkannt – rasch auch von anderen, so von dem Bruder des lithauischen Magnaten, dem Fürsten Konstantin Wiszniewiecki, und von dessen Schwiegervater, dem Woiwoden von Sendomir, Jurii Mniszek. Diese beiden Großbarone, beide als fanatische Anhänger der Gesellschaft Jesu bekannt, erklärten dem Könige Sigismund, der Bruder und rechtmäßige Nachfolger des verstorbenen russischen Zaren Feodor wäre wunderbarer Weise gerettet, aufgefunden und erkannt worden. Sigismund, von dem päpstlichen Nuntius an seinem Hofe, Monsignore Rangoni, gehörig bearbeitet, glaubte oder stellte sich an, als glaubte er an eine Sache, welche mehr und mehr die Gestalt einer von langer Hand her vorbereiteten und inscenirten Komödie annahm und dann auch ganz ungescheut als ein gegen Russland, gegen das anatolisch-byzantinisch-rechtgläubige Russland gerichtetes jesuitisch-polnisches Intrikenspiel weiterspielte.
Der Stalldiener Wiszniewiecki's wurde unter der Hand an den polnischen Königshof nach Warschau geladen. Dort ist er im folgenden Jahre (1604) im Palaste des Nuntius (oder im Jesuitenkollegium?) von der griechisch-katholischen zur römisch-katholischen Kirche übergetreten, was wohl auch nur eine Scene der ganzen Komödie war, insofern der nachgemachte Zaréwitsch höchst wahrscheinlich von Geburt ein Polak und demnach schon von Haus aus römisch-katholisch gewesen ist. Aber die feierliche Posse war durchaus im Sinne der Leiter des ganzen Stückes, das heißt der Jesuiten, nothwendig, um der Welt einen zum römischen Katholicismus bekehrten russischen Zaréwitsch vorschauspielen zu können. Bei seinem angeblichen Uebertritt in die römische Kirche, welcher übriges vorläufig noch geheim gehalten werden sollte, mußte der junge Mann geloben, auch Russland zu dieser Kirche herüberzubringen, was ja schon seit längerer Zeit der heiße Wunsch der Gesellschaft Jesu und der Zweck von schon mancher offen oder versteckt gethanen Arbeit derselben gewesen. Das geleistete Gelöbniß war der Preis, um welchen die Jesuiten den kläglichen Waschlappen von Polenkönig, Sigismund den Dritten, vermochten, den erdichteten und zurechtgeschneiderten Dmitry förmlich als Zaréwitsch, als echten und legitimen Sprössling von Iwan Wassiljewitsch anzuerkennen. In feierlicher Audienz ließ sich der „König“ der „Republik“ Polen – die Verkuppelung dieser beiden Worte kennzeichnet sprechend die polnische Anarchie – durch den päpstlichen Nuntius den Prätendenten vorstellen und richtete an denselben die Worte: „Gott behüte Dich, Demetrius, Fürst von Moskau! Deine Herkunft ist uns bekannt und durch achtungswerthe Zeugen bestätigt. Wir weisen Dir ein Jahrgehalt von 40,000 Gulden an, betrachten Dich als unsern Freund und Gast und ermächtigen Dich, von den Rathschlägen und Diensten unserer Unterthanen Gebrauch zu machen.“
Der Sinn des Schlußsatzes war nichts weniger als dunkel. Die „Republik“ Polen zwar befand sich dazumal im Frieden oder wenigstens in einem auf 20 Jahre geschlossenen Waffenstillstand mit Russland; allein das hinderte den „König“ von Polen nicht, Russland sofort den Krieg zu machen, wenigstens mittelbar, indem er den angeblichen Zaréwitsch ermächtigte, „von den Rathschlägen und Diensten“ der polnischen Großen Gebrauch zu machen, d. h. mit Hilfe derselben einen Kriegszug gegen den Zaren Boris zu rüsten.
Bis dahin war diese politische Komödie großen Stils ganz vortrefflich gegangen. Die feinen und frommen Herren von der Gesellschaft Jesu waren eben sehr geschickte Inscenesetzer und Marionettenlenker. Sie hatten das auch in der Auswahl des „Helden“ ihres Stückes bewiesen, indem sie unter der Hand zu verbreiten verstanden, der wiedergefundene Zarensohn hätte alle die körperlichen Merkmale an sich, welche, behaupteten sie, an demselben in seiner Kindheit zu Uglitsch wahrgenommen worden wären. So das Merkmal, daß sein rechter Arm etwas länger als der linke; weiter, daß er eine Warze auf der Stirn und eine zweite unter dem rechten Auge habe. Auch sei er von mittlerem Wuchse wie sein Vater Iwan und sehr braun von Gesichtsfarbe wie seine Mutter Marfa. Im übrigen war unser Abenteurer nach den übereinstimmenden Zeugnissen solcher, die ihn oft gesehen, keineswegs ein Adonis, sondern im Gegentheil ein hässlicher Bursche, dessen impertinent blondes Haar, blaßblaue Augen, breites Gesicht mit vorstehenden Backenknochen, dicke Knollnase und wurstlippiger Mund von beträchtlichem Umfang keine verführerische Physiognomie ausmachten. Dem Anschein nach zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre alt, war der junge Mann breitschultrig, kräftig, behend und ein vortrefflicher Reiter, ein so vortrefflicher, daß die Sage, er wäre unter den Kosaken am Don aufgewachsen, vielleicht nicht grundlos sein mag. Seine geistige Kultur war der Meinung polnischer und russischer Edelleute von damals zufolge nicht gering. Denn er verstand rasch und hübsch zu schreiben, sprach polnisch und russisch – die letztgenannte Sprache freilich mit polnischem Accent und häufiger Einmischung polnischer Worte – und kannte sogar etliche Brocken vom Küchenlatein. Die Geschichte Russlands hatte er augenscheinlich sehr eifrig studirt. Er kannte sie genau und war namentlich in der Genealogie der russischen Aristokratie gut bewandert. Seine Rolle als geborner Prinz spielte er meisterlich, indem er sich unter den polnischen Magnaten so sicher und gewandt bewegte, als wäre er sein Lebtag nie in anderer Gesellschaft gewesen. Kurz, bislang machte das Geschöpf der Jesuiten seinen Schöpfern oder wenigstens Ausbildnern alle Ehre.
Es wurde nun unverweilt zur Ausführung des wohlangelegten Plans geschritten, welcher begründet war auf die sklavische oder, besser gesagt, geradezu hündische Anhänglichkeit der russischen Volksmassen an das Haus Rurik und ihre Unzufriedenheit mit dem Regimente des Boris.
Dieser hatte die erste Botschaft vom Auftreten des nachgemachten Zaréwitsch in Lithauen und am polnischen Königshofe leicht genommen. Allein spätere und genauere Nachrichten hatten ihm hinsichtlich des Ernstes der Sache keinen Zweifel mehr gelassen. Er beschloß, den Weitergang der polnischen Kabale – als welche ja ihm, der nur allzu gut wußte, daß der wahre [459] Dmitry todt und wie derselbe gestorben, der ganze Schwindel sofort erscheinen mußte – dadurch zu hemmen, daß er den Russen zu wissen that, der falsche Dmitry wäre eigentlich ein verlaufener Mönch, der als Söffer und Wüstling weithin verrufene Grischka (Gregor) Otrepiew. Diese Erklärung ließ der Zar durch eine Gesandtschaft auch dem König von Polen überbringen, mit dem Beisatze, daß der besagte lüderliche Mönch, welcher im Kloster zu Tschudow die Tonsur erhalten, im Jahre 1603 aus Russland nach Lithauen entwichen wäre. Dann ließ Boris durch seine Gesandten die Auslieferung des frechen Betrügers fordern. Allein die Minister Sigismunds, zweifelsohne mit im Komplott, wußten der angebrachten und wiederholten Auslieferungsforderung allerhand Ausflüchte entgegenzustellen, und so konnte das Spiel seinen Fortgang nehmen. Um so leichter und rascher, als die zarische Kundgebung inbetreff des Grischka Otrepiew in Russland keinen Glauben fand.
Begleitet und geleitet von zwei Jesuitenpatres begab sich der nachgemachte Zaréwitsch von Krakau nach Galizien, allwo sich auf den Gütern des Woiwoden Mniszek bereits abenteuerlustige Scharen polnischer Edelleute, natürlich so ziemlich lauter Sprösslinge der ungeheuer großen Familie Derer von Habe- und Taugenichts, zu einem kriegerischen Zuge gegen Moskau zu sammeln angefangen hatten. Mit dem Staatsgeschäfte, das man in majorem dei gloriam begonnen hatte, wußte man nun auch noch ein Familiengeschäft zu verbinden, mit dem utile das dulce. Nämlich Pan Mniszek, der Woiwode von Sendomir, hatte eine sehr schöne Tochter, die Panna Marina, und neben diesem sehr schönen Besitz hatte er auch den sehr hässlichen einer kolossalen Schuldenlast, wie das eben bei den polnischen Magnaten damaliger Zeit zum adeligen Stil und Ton gehörte. Aus dieser Voraussetzung ergab sich, wie die Sachen lagen, unschwer die logische Schlußfolgerung, daß am 25. Mai von 1604 der angebliche Sohn Iwans des Schrecklichen einen Vertrag unterzeichnete und beschwor, kraft dessen er sich verpflichtete, nach seiner mit dem Beistande von Mniszek und dessen Freunden zu erlangenden Inthronisirung auf dem russischen Zarenthron 1) Russland in den Schoß der alleinseligmachenden römischen Kirche zurückzubringen, 2) die schöne Marina Mniszek zu seiner zarischen Gemahlin zu erheben, 3) mit russischem Gelde die polnischen Schulden des lieben Herrn Schwiegervaters in spe zu bezahlen, 4) die russischen Fürstentümer Groß-Nowgorod und Pskow seiner geliebten Gemahlin in spe als erb- und eigenthümliche Besitzthümer zu überliefern, 5) dem künftigen Herrn Schwiegerpapa die Fürstenthümer Smolensk und Sewerien als erbliche Lehen zu verleihen, 6) etliche noch näher zu bezeichnende russische Landschaften an die Republik Polen abzutreten.
Daraus ist zu ersehen, daß man mit dem Felle des zu erlegenden russischen Bären sehr freigebig umging. Man traf aber auch zur Jagd auf denselben ernstliche Anstalten, deren Kosten zuvörderst die Firma Mniszek, Wiszniewiecki und Kompagnie aufzubringen hatte. Das ganze Geschäft war eine Art von Aktienschwindelunternehmen im Stile jener Zeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts thun sich „Konsortien“ zur Aufschwindelung von breit- und schmalspurigen Eisenbahnen oder von nationalen und internationalen Banken zusammen; damals, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts schwindelten Jesuiten und polnische Magnaten, welche letztere mehr Schulden als Haare auf dem Kopfe hatten, mitsammen in Eroberungen von Land und Leuten. Es hat eben jede Zeit ihre eigene Manier, zu schwindeln, aber dem Wesen nach bleibt die menschliche Schwindelei allzeit dieselbe und wird es bleiben, so lange es Schwindler und Beschwindelte gibt, also bis an's Ende der Tage. Zweifelhaft ist nur, ob der letzte Mensch der letzte Betrüger oder aber der letzte Betrogene sein werde, und vielleicht hilft man sich aus diesem Dilemma am anständigsten heraus, indem man sagt, der letzte Mensch werde der letzte betrogene Betrüger sein.
Wo immer zur Zeit, von welcher hier gehandelt wird, in den Gränzbezirken zwischen Polen und Russland etwas los war, da strömten sofort ganze Scharen von Krapülenskis und Waschlappskis, will hier sagen von Habe- und Taugenichtsen, Vagabunden und Räubern zuhauf, um mitzuthun.
Die Werber, welche der Prätendent und seine Helfershelfer in die Gegend von Kiew, in die Ukraine, zu den saporogischen und don'schen Kosaken entsandten, hatten demnach leichtes Spiel.
So vermochte sich denn der nachgemachte Zaréwitsch schon am 15. August 1604 an der Spitze von 1500 Mann regelmäßiger polnischer Truppen, d. h. polnischer Schlachtschitzen (Edelleute oder auch Freibauern, Mitglieder der Schlachta, des niederen Adels in dessen ganzem Umfange), welche zu Pferde dienten und von Magnaten befehligt wurden, gegen die Ufer des Dnepr in Bewegung zu setzen, um den Krieg nach Russland zu tragen, während doch die Republik Polen und ihr König mit dem Zarenreiche im Frieden zu sein und zu bleiben behaupteten. In der Nähe von Kiew vereinigten sich andere Banden mit ihm, insbesondere tausende von Kosaken, die der verlaufene Mönch Grischka Otrepiew, welcher uns bei dieser Gelegenheit ganz bestimmt und deutlich als einer der Spießgesellen, Treiber und Werber des falschen Demetrius vorgeführt wird, angeworben, gesammelt und in Bewegung gesetzt hatte. Das kleine Heer, womit der Prätendent am 23. Oktober oberhalb Kiews über den Dnepr ging, um 8 Tage später bei Morawsk das russische Gebiet zu betreten, mochte etwa 15,000 Streiter und Mitläufer zählen. Den Kern bildeten die polnischen „Hussaren“, nicht zu verwechseln mit der späteren ursprünglich ungarischen leichten Reiterart der Husaren; denn jene polnischen Reiter waren recht eigentlich „schwere“, ganz wie die deutschen „Kyrisser“ zu Ausgang des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts. Sie ritten auf schweren Schlachthengsten, hatten Stahlhelme und Eisenpanzer, führten als Hauptwaffe die Lanze und trugen als eigenthümlichen Schmuck zwei Adler- oder Geierflügel, welche mittels silberner Haften auf ihren Schultern befestigt waren. Beim Betreten Russlands ließ der Prätendent ein Manifest ausgehen, worin er dem russischen Volke kundgab, daß er käme, um als der rechtmäßige, wunderbar gerettete Sohn Iwans sein Thronrecht gegen den Usurpator Boris geltend zu machen. Auch Pan Mniszek, der Woiwode von Sendomir, erließ ein Proklam, worin er erklärte, daß die polnischen Pane in diesem Dmitry den echten Zaréwitsch erkannt und darum beschlossen hätten, selbigem zur Besitznahme seines väterlichen Thrones zu verhelfen.
Das abenteuerliche Unternehmen des Schwindlers und seiner Mitschwindler in den Einzelnheiten der militärischen Handlungen zu verfolgen ist an diesem Orte unthunlich und auch überflüssig. Es genügt ja, zu sagen, daß der Abenteurer binnen wenigen Monaten einen vollständigen Erfolg erzielte, obzwar er nach einem kriegerischen Unfall, welchen er auf seinem Zuge nach Russland hinein erlitt, einmal schon zur Rückflucht nach Polen sich anschickte. Diese Rückflucht verhinderten aber Russen, welche sich ihm, nachdem er den russischen Boden betreten, sofort angeschlossen hatten. Sie erklärten ihm, falls er feige genug wäre, sein Unternehmen aufzugeben und sie im Stiche zu lassen, so würden sie ihn am Kragen nehmen, um ihn entweder dem Boris auszuliefern oder aber ihn kurzweg todtzuschlagen. So mußte der Schwindler wohl oder übel beharren und ausharren, und bald darauf wurde ihm ein Triumph zutheil, welcher ebenso leicht errungen als glänzend war.
Denn ganz Russland schien ja von der Tarantel gestochen, schien vom Veitstanz ergriffen zu sein. Ein seltsamer, ein epidemischer Rausch war auf die gesammte Bevölkerung gefallen. Die plumpe Lüge vom Wiedererstandensein des Sohnes Iwans des Schrecklichen und von seinem Herankommen übte eine geradezu magische Wirkung. Massen von Bauern, eine Menge von Bojaren und Edelleuten schlossen sich dem Prätendenten auf seinem Zuge gen Moskau an; scharenweise liefen die Soldaten des Boris zu ihm über, und eine Stadt nach der andern öffnete ihm ihre Thore. In der Hauptstadt verließen die Ratten nach Rattenart das gefährdete Schiff, d. h. im Kremlin ward es mehr und mehr leer und öde um den Zaren Boris her. Das Verhängniß lag bleischwer auf den Schultern des Mannes. Er vermochte nicht aufzukommen wider die Last, sondern brach darunter zusammen. Am Morgen vom 13. April 1605 hielt er noch einen Rathschlag mit den obersten Staatswürdenträgern; am Abend desselben Tages war er todt. Ob er Gift genommen, ob ein Schlagfluß ihn weggerafft, ist unbestimmt und unbestimmbar. Doch ist der Schlagfluß wahrscheinlicher als das Gift. Im 15., 16., 17. und 18. Jahrhundert konnte ja bekanntlich kein mächtiger oder auch nur vorragender Mann eines jähen Todes sterben, ohne daß er dem Glauben der Leute nach vergiftet worden sein oder sich selbst vergiftet haben mußte. Es ist das für die Sittlichkeitsbegriffe und die Sittenzustände der „guten alten frommen Zeit“ sehr kennzeichnend. [460] Auf die Sittlichkeitsbegriffe und die Sittenzustände der russischen Gesellschaft zur Zeit des falschen Demetrius wirft ein erschreckend kennzeichnendes Streiflicht, was unmittelbar nach dem Tode von Boris in Moskau geschah. Obgleich nämlich die ganze Bewohnerschaft der Hauptstadt im Herzen willig und schon bereit war, dem herankommenden Schwindler zuzufallen und zuzujubeln, huldigten alle Moskauer, alle, vom Erzbischof-Patriarchen an bis zum letzten Kleinbürger, der Witwe des Boris, der Zarin Maria, ihrem sechszehnjährigen Sohne Feodor, sowie ihrer Tochter Xenia, und die Huldigenden alle verpflichteten sich mittels furchtbarer Eidschwüre, mit unverbrüchlicher Treue an der Zarin-Witwe und ihren Kindern unentweglich festzuhalten. So that auch der Bojar Peter Basmanow, welcher als der fähigste der russischen Generale an der Spitze eines neuausgerüsteten Heeres dem Prätendenten entgegengeschickt wurde.
Schon am 7. Mai jedoch erklärte sich derselbe Basmanow, welcher gar wohl wußte, wie es mit der Zarensohnschaft des angeblichen Dmitry bestellt wäre, und welcher dieses sein Wissen gegenüber dem ehrlichen Konrad Bussow, unserem Hauptgewährsmann, ohne Umstände verlautbart hatte – ja, derselbe Basmanow erklärte sich für den Betrüger und mit ihm das ganze Heer.
Das gab den Ausschlag. Boten, welche Dmitry nach der Hauptstadt sandte, um dieselbe zur Unterwerfung und Huldigung für ihn, als den rechtmäßigen Zaren aufzufordern, wurden mit Jubel empfangen. Die Spitze von Adel, Klerus und Bürgerschaft traten zusammen, anerkannten den Dmitry als den echten Zaréwitsch und den rechten Zaren und sandten ihm eine Abordnung von Bojaren nach Tula entgegen, um ihn einzuladen, in seine „getreue“ Hauptstadt einzuziehen. Er erklärte gnädig, bald kommen zu wollen. Bevor er aber kam, sandte er Befehle, die Zarin-Witwe Maria und ihren Sohn Feodor zu erdrosseln, was dann am 10. Juni geschah. Der Tochter des Boris, der jungen Xenia, war noch Schlimmeres bestimmt als der Tod. Dmitry, der Mörder ihrer Mutter und ihres Bruders, zwang sie, seine Kebse zu werden. Weiter hat man von ihr nichts mehr vernommen.
Am 20. Juni von 1605 hielt Zar Dmitry, wie er jetzo sich nannte und nennen ließ, seinen Triumphalpompeinzug in Moskau unter Voranritt der polnischen Hussaren, welche in Gliedern von 20 Mann hoch einherzogen, mit eingelegten Lanzen und unter dem Getön ihrer Trompeten und Kesselpauken. Dann schritt die Klerisei in Procession mit Fahnen und Heiligenbildern vor dem Zaren einher, welchen Bojaren in höchster Gala umgaben. Von der Pracht seiner Erscheinung kann eine Vorstellung schon der Umstand geben, daß er einen Halskragen im Werthe von 150,000 Dukaten trug. Das Volk jubelte dem Götzen des Tages zu: „Hoch unser Väterchen! Gott segne und erhalte dich! Wir waren im Finstern. Jetzt aber mit dir ist die rothe Sonne (krasnoe zolnza) Russlands wieder über uns aufgegangen.“
Neun Tage später ist Dmitry in der Marienkirche zu Moskau feierlich-prunkhaft zum Zaren aller Reußen gekrönt worden.
Es fehlte aber noch das Tüpfelchen auf dem i dieser zarischen Herrlichkeit. Das war die Anerkennung des neue Zaren durch die noch lebende Mutter des wirklichen Dmitry. Damit, d. h. mit der Erlangung dieser Anerkennung, sollte allen etwaigen Zweifeln ein Ende bereitet werden. Die zwei ersten Bojaren des Reiches, der Fürst Feodor Mstislawski und der Fürst Wassily Schuisky, wurden in das Kloster im Norden entsendet, wo Marfa Nagoy, die Witwe und letzte Frau Iwans des Schrecklichen, lebte, um sie nach Moskau zu holen. Sie kam und wurde von Dmitry mit der ganzen Ehrfurcht und Zärtlichkeit eines Sohnes empfangen. Was die Beiden mitsammen gesprochen, weiß man nicht; das aber weiß man, daß Beide vortrefflich schauspielten. Marfa hat zwar nie förmlich ausgesprochen, daß der falsche Zar ihr Sohn wäre. Wie konnte sie das auch, sie, welche den wirklichen Dmitry todt in ihren Armen gehalten hatte? Aber sie fand die Rolle der Zarin-Mutter mehr nach ihrem Geschmack als das Klosterleben und lebte demzufolge mit ihrem angeblichen Sohn im besten Einverständniß. Will man die Gefühle zergliedert sehen, welche die Witwe des „grausen“ Zaren bestimmten, die ihr angebotene Rolle und Stellung anzunehmen, so lese man im Demetrius-Fragment Schillers die herrliche Scene zwischen Marfa und dem Erzbischof Hiob – eine Scene, wie sie eben nur Schiller schaffen konnte.
Es ist wenig über ein halbes Jahrhundert her – es war im Jahre 1825 – daß zu dem deutschen Boisseré’schen Prachtwerke über den Kölner Dom, welches im Verlage der Cotta’schen Buchhandlung erschien, Titelblatt und Vorrede in deutscher Sprache mit deutschen Lettern in Paris gedruckt werden mußte, weil in Deutschland, der Wiege der großen Erfindung Guttenberg’s, typographisch nichts geleistet werden konnte, was den Forderungen der Schönheit und des guten Geschmacks entsprochen haben würde.
Die französische Typographie und ihre Schwesterkünste, namentlich die Holzschneidekunst, waren damals der deutschen weit voran geschritten, und mit dem Aufschwung dieser Künste hatte sich auch der Unternehmungsgeist der französischen Buchhändler weit über den der deutschen erhoben. Der Buchhändler Masson kündigte unter anderen Werken gleichzeitig an: „Voyage pittoresque en Autriche“, „Collection des vases grecs“, einen „Buffon“ mit 1150 Kupfern, „Monumens de la France“, „Biographie universelle“, in 50 Bänden, Werke, die 1000 bis 2000 Franken kosteten. Die „Description de l’Égypte“ (die freilich auf Kosten der Regierung erschien) kostete sogar 4000 bis 6000 Franken. Außer Masson waren Didot, Panckoucke, Bertrand, Bossange und Andere berühmt wegen der Großartigkeit ihrer Unternehmungen. Namentlich wurden Reisewerke auf das Prachtvollste ausgestattet, wie die von de Laborde, Choiseul, Gouffier, d’Ohsson etc. Luxuriöse Ausstattung war sozusagen Tagesmode, aber diese Mode wurde in Deutschland, das sonst leider nur zu schnell ausländischen Tand nachzuahmen liebt, nicht nachgeahmt.
Allerdings war schon früher auch in Deutschland ein rühmenswerther Anlauf zu geschmackvoller Verschönerung der typographischen Ausstattung gemacht worden. Der Verlagsbuchhändler Georg Joachim Goeschen entfaltete seit 1787 eine hochbedeutsame Geschäftsrührigkeit, seitdem er eine Prachtausgabe von Wieland’s Werken mit lateinischen Lettern drucken und seine eigene Buchdruckerei etabliren wollte, da die vorhandenen Druckereien seine ästhetischen Forderungen nicht erfüllen konnten. In der Blüthezeit des dickverfilzten Zopfthums, des Zunft- und Innungswesens mußte Goeschen in seinem Concessionsgesuche an den Kurfürsten 1793 geltend machen, daß er nur „mit lateinische Lettern nach Didot“ drucken wolle, daß diese in Leipzig nicht vorhanden, daß seine Typen noch schöner seien, als die von Unger in Berlin, daß Leipzigs Buchdruckerruhm dadurch steigen würde u. dergl. m. Außerdem wolle er nur für sich drucken und sogar nur solche Artikel seines Verlages, die Andere nicht ausführen könnten – trotzalledem mußte er 1797 seine Druckerei nach Grimma verlegen, wo er unbeschränkte Dispensation von allem Zunftzwang erhielt.
Die Gesamtausgabe von Wieland’s Werken war etwas noch nie Dagewesenes in Deutschland; sie erschien in vier Ausgaben, von denen die große Prachtausgabe in 42 Quartbänden, mit Antiqua gedruckt und mit 36 Kupfern geschmückt, 250 Thaler kostete. Das Werk machte das Aufsehen einer Wundererscheinung, und als Wieland nach Leipzig kam, wurde ihm der erste Band unter festlichem Gepränge von griechisch gekleideten Genien überreicht, während die Muse ihn mit einem Lorbeerkranze schmückte.
Aber schon die Napoleonische Invasionszeit war nicht geeignet, die deutsche typographische Kunst zu fördern, und noch ärger, als der Kriegsdruck des fremden Feindes, wirkten nach den ruhmreichen Siegen im sogenannten Freiheitskriege die Karlsbader Beschlüsse, die schnöden Polizeigesetze der 38 deutschen Landesväter auf den Aufschwung der Literatur, der Presse, der typographischen Kunst. Daher mußte auch Alexander von Humboldt zur Herausgabe seines amerikanischen Reisewerks nach Paris gehen. Es waren [461] nicht blos die wissenschaftlichen Institute und der Beistand gelehrter Freunde, die ihn dahin zogen, es waren auch die vorzüglichen technischen Anstalten und die größere Bereitwilligkeit der Pariser Buchhändler zu großen literarischen Unternehmungen. Noch im October 1826 schrieb er aus Paris an Berghaus, als er diesem den Prospect zur „Géographie des Plantes“ für die „Hertha“ schickte: „Ein Werk dieser Art kann nur in Frankreich veröffentlicht werden. In Deutschland wäre es unmöglich. Engherzigkeit und langes vieles Bedenken kennt Hr. Gide, mein Verleger, nicht.“
So waren die Zustände des Buchhandels, der Typographie und ihrer Schwesterkünste in Deutschland und Frankreich – und sie mußten hier als Hinter- und Untergrund unserer Darstellung gezeichnet werden – als der noch nicht fünfzehnjährige Johann Jakob Weber, der Sohn eines unbemittelten Kleinbürgers in Basel, als Lehrling in die dortige Buchhandlung von Thurneisen eintrat. Weber hatte nur mäßigen Schulunterricht genießen können, aber er besaß einen angeborenen Wissensdrang, unermüdliche Arbeitslust, hartnäckigen Fleiß, dabei Kunst- und Schönheitssinn, einen idealen Trieb, stets das Vollkommenste und Schönste zu erstreben, und das Glück – – daß die Bestimmung seiner Berufsthätigkeit seinen Neigungen vollkommen entsprach. So vollendete er denn die Lehrlings-Laufbahn mit bestem Nutzen; es folgte eine mehrjährige Thätigkeit bei Paschoud in Genf, worauf der nun Zwanzigjährige 1823 zu Firmin Didot nach Paris, dann für kurze Zeit zu Breitkopf und Härtel nach Leipzig, zu Herder nach Freiburg im Breisgau und bald wieder nach Paris, zu Bossange Père, zurück ging.
So sehen wir den jungen Mann in der kurzen Frist weniger Jahre in sechs Buchhandlungen thätig, bald in französischen, bald in deutschen. Dieser stete Wechsel, diese Unruhe und geringe Ausdauer könnte bedenklich erscheinen, da alle Geschäfte, in denen er conditionirte, zu den berühmtesten ihrer Zeit gehörten. Wurde Weber von seinen Principalen entlassen? Mit nichten! Alle erkannten seine Fähigkeit und seine Eifer in vollem Maße an; alle wünschten, daß er länger bei ihnen bleibe, aber die rastlos arbeitende Unruhe seines Geistes trieb ihn von Ort zu Ort, von Geschäft zu Geschäft – – er wollte die Verschiedenheit, die Vorzüge und die Mängel des französischen und des deutschen Buchhandels in allen seinen Eigenheiten kennen lernen und beide zu lebhafterem Verkehr, zu Austausch großer gegenseitiger Interessen verbinden. Ein, wie wir jetzt geläufig sagen, internationaler Verband in buchhändlerischen Interessen war das Ziel, welches ihm als Ideal vorschwebte. Diese Wanderjahre Weber's, mit solchen Zielen, waren sicher einzig in ihrer Art, und hierzu kam seine vollständige Kenntniß und Beherrschung der deutschen wie der französischen Sprache und Literatur. Bossange erkannte bald die Vorzüge des jungen Mannes, erwies ihm volles Vertrauen und etablirte auf dessen Anregung 1832 eine Filiale in Leipzig; der Leiter dieses Geschäfts ward – J. J. Weber.
Um diese Zeit trat der Buchhändler Charles Knight in London unter den Auspicien der Society for the diffusion of useful knowledge mit dem „Penny Magazine“ hervor. Dieses Unternehmen ethusiasmirte Weber's rastlos sinnenden Geist; er veranlaßte den Franzosen Bossange, nach diesem englischen Muster ein deutsches „Pfennigmagazin“ herauszugeben, und der leitende Geist, der eigentliche Spiritus familiaris des Geschäfts war wieder J. J. Weber. Monsieur Bossange aber war stolz auf seine Erfindung, obwohl er nicht ein Wort deutsch verstand, und schmeichelte sich, etwas vollbracht zu haben, was selbst dem großen Kaiser nicht gelungen sei: eine unzertrennliche Allianz zwischen Frankreich und Deutschland. Mit Energie und großem Geschick wurde das Unternehmen unter Weber's Leitung trotz aller Schwierigkeiten durchgeführt, und das „Pfennigmagazin“ erreichte schnell die in Deutschland damals monströse Abonnentenzahl von sechszigtausend.
Die Schwierigkeiten bestanden nicht blos in Beschaffung des literarischen und technischen Materials, der technischen Ausführung und des Drucks, es erhoben sich auch Bedenken und Hindernisse gegen den Vertrieb der Pfennigliteratur, und namhafte Buchhandlungen, wie z. B. Duncker und Humblot in Berlin, schickten alle Pfennig-Zusendungen zurück. Auch die besseren Schriftsteller glaubten sich durch diese Literatur gefährdet, durch den erlaubten partiellen Nachdruck, durch das Ueberwuchern von Arbeiten unwissender literarischer Dienstmänner. Man glaubte, die Masse regellos zusammengeworfener realistischer Curiosa ziehe das Publicum von den Schöpfungen der Phantasie ab und ersticke die Theilnahme für ernste Leistungen. Aber alle diese und ähnliche Bedenken schwanden; denn sie beruhten auf nur oberflächlicher Ansicht der Verhältnisse.
Unendlich wichtig wurde die Pfennigliteratur ganz besonders für die Fortschritte der deutschen Industrie. Das deutsche [462] Volk bedurfte populärer naturwissenschaftlicher Aufklärung über die Benutzung physikalischer, chemischer, mechanischer Kräfte und Gesetze, über die verborgenen Naturschätze seines Grund und Bodens zur Vereinfachung der Gewerbe. Das große deutsche Volk brauchte polytechnische Belehrung, erziehende, bildende Unterhaltung, und die Pfennig-Literatur bot dieselbe in anziehender, billigster Weise. Sie war zugleich ein probates, homöopathisches Mittel gegen die Kost der zahllosen seichten Bücher, welche man damals dem Volke für schweres Geld in die Hand gab. Weber war ein wahrhafter Homöopath in diesem Zweige der Literatur. Gegen die großen teuren Schriften, welche keinen Pfennig werth waren, gab er kleine Dosen guter Blätter, die nur einen Pfennig kosteten. –
Und das geschah in der Zeit, als die Schwingungen der Pariser Julirevolution auch Deutschland nachhaltig erschütterten, als das „Junge Deutschland“ in Literatur und Buchhandel zu frischem, kräftigem Leben empordrang und Leipzig die Fundamente zur neuen Buchhändlerbörse legte, in deren Hallen der buchhändlerische Geschäftsverkehr in neuen Formen geregelt, in neue Bahnen geleitet und international erweitert werden sollte. Damals, in ein und demselben Jahre, 1834, gründeten J. J. Weber und Otto Wigand ihre eigenen Geschäfte. War Wigand der heißblütige, begeisterte Schutzpatron aller literarischen Unternehmungen im Geiste freisinnigen Fortschrittes und der Volksbildung, so war Weber, mehr künstlerisch angelegt, der ästhetische Reformator des deutschen Bücherdruckes. Sein Dichten und Trachten, seine Ziele und Aufgaben bei allen Unternehmungen waren Schönheit des Druckes und der gesammten Ausstattung, Anwendung und Vervollkommnung der alten deutschen Kunst des Holzschnittes zu typographischer Illustration. Mit großer Vorliebe wandte er sich der Herstellung illustrirter Werke zu, welche die Vorzüge der besten englischen und französischen erreichen, womöglich übertreffen sollten.
Gleich seine ersten Verlagsartikel waren illustrirte Werke aus der französischen und deutschen Geschichte, anfangs mit französischen dann mit deutschen Stahlstichen, und nicht lange darauf, 1832, erschienen die „Geschichte Napoleon’s“ und „Die Soldaten des Kaiserreichs“ mit französischen Holzschnitten nach Vernet.
Die Herausgabe aller dieser Werke war aber nur Vorbereitung, auch in Deutschland bei Zeichnern und Holzschneidern Lust und Liebe, beim großen Publicum Sinn und Verständniß für die Verwendung des Holzschnittes zu Illustrationen zu wecken. Ehe wir indeß diese Bestrebungen in ihrem Zusammenhange verfolgen, muß zuvor einer anderen Richtung der Wirksamkeit Weber’s gedacht werden, welche seine ideale Auffassung auch der praktischen Berufsthätigkeit, seinen Eifer für Reform des Geschäfts charakterisiert.
Gleich nach Eröffnung der neuen Buchhändlerbörse im Jahre 1836 war Weber der Erste, der für die erwünschte Reform Hand an’s Werk legte. Er gab das „Bibliopolische Jahrbuch“ (1836-42) heraus, das nicht blos eine damals vortreffliche Handhabe für den praktischen Geschäftsdebit des Buchhandels war, sondern auch über die geistigen Interessen und über die Vorgänge literarischer Rechtsverhältnisse im In- und Auslande die beste Auskunft gab. In ähnlicher Weise suchte auch 1838-39 Weber’s „Zeitung für Buchhandel und Bücherkunde“ zu wirken. Beide Zeitschriften sind nicht ohne wohlthätigen Einfluß geblieben.
Von einem höheren, man kann sagen wissenschaftlichen Geiste war Weber’s „Allgemeine Preß-Zeitung“ (1840-43) getragen, ein Unternehmen, das ein wahrhaftes Bedürfniß der Zeit geworden war.
Im Glanz des jungen Ruhmes, in der Blüthezeit unserer Literatur war nämlich das Urtheil über das Recht des Eigenthums der Dichter und Schriftsteller, über ihr Autorrecht an ihren Werken verdunkelt und verwirrt worden. Die Gesetzlosigkeit hatte im Buchhandel eine wüste Anarchie hervorgerufen. Während der Buchhändler im Süden Deutschlands nach jedem geistigen Product seine Fangfäuste ausstreckte, hatte er sich im Norden hinter Wall und Graben des starren Rechts materiellen Eigenthums zurückgezogen. Einerseits war die Ansicht zum Bewußtsein gekommen, daß ein Product des Geistes, ebenso wie es aus dem Bewußtsein der Nation hervorgegangen, auch dem Gemeinbesitz derselben wieder anheimfalle, daß der Autor seine besten Werke nur von dem Genius der Zeit zu Lehen trage. Das nachwachsende Geschlecht erkannte immer mehr, daß die Werke seiner Classiker das theuerste Erbtheil seiner Vergangenheit seien, daß diese Werke ihm gehören, daß es sich den wünschenswerthen Besitz derselben nicht länger durch „allergnädigste Privilegien“ verkümmern lassen wolle. Es wollte die Werke seiner Classiker in billigen, in Volksausgaben haben. Andererseits hing die Theorie des ewigen Verlagsrechts, die in die Gesetzgebung Preußens und Sachsens übergegangen war, im starren abstracten Begriff des materiellen Eigenthums. Erst nach mehr als zwanzigjährigem „Hangen und Bangen“ gaben die Frankfurter Bundesbeschlüsse vom 2. April 1835 und November 1837 dem literarischen Eigenthumsrecht eine positive Basis für ganz Deutschland, und erst seitdem konnte der Boden für eine Preßgesetzgebung urbar gemacht werden.
Und wieder finden wir Weber auch bei dieser Arbeit in vorderster Reihe. Die Presse hatte damals für ihre eigenen Rechtsangelegenheiten noch kein selbstständiges Organ; Weber unternahm es, dem literarischen Recht ein solches Organ zu geben, und gründete eben die „Allgemeine Preß-Zeitung“. Hülfreich standen ihm hierbei zu Seiten zwei der tüchtigsten Männer in rechtswissenschaftlichem Gebiete: der ehemalige preußische Criminaldirector Hitzig und der sächsische Advocat Dr. Schellwitz. Hitzig hatte, nachdem er den Staatsdienst verlassen, im Verein mit dem Xylographen Professor Gubitz, dem Dichter Chamisso und dem Romanschriftsteller Haering (Wilibald Alexis) in Berlin die „Vereinsbuchhandlung“ gegründet; er galt als juristische Autorität, war mit dem praktischen Buchhandel vollkommen vertraut, interessirte sich für denselben mit Eifer und Einsicht und trat an die Spitze der Redaction, und die „Preß-Zeitung“ hat unter seiner tüchtigen Führung ein wahrhaft schätzenswerthes Material für die Revision der Gesetzgebung geliefert.
Wenden wir uns nunmehr zu derjenigen Thätigkeit Weber’s, die der eigentliche Mittel- und Brennpunkt seines Schaffens war, in der er seine Eigenart am schärfsten und ausdrucksvollsten ausgeprägt hat – zu seinen Bestrebungen, die deutsche Holzschneidekunst neu zu beleben und den Holzschnitt als Illustrationsschmuck in deutschen Druckwerken zu verwerthen.
Durch Hitzig lernte Weber dessen Schwiegersohn, den Kunsthistoriker Franz Kugler, und ferner den Maler Adolf Menzel persönlich kennen.
Der bloße Namenklang beider Männer erinnert an die Eigenart und Bedeutsamkeit ihrer Werke. Es liegt die Vermuthung nahe, daß Weber bei der großen Befriedigung, die er in der Herausgabe der vorgenannten französischen Werke, der „Geschichte Napoleon’s“ und der „Soldaten des Kaiserreichs“, gefunden hatte, die Idee zur Herausgabe eines ähnlichen deutschen Werkes zur Geschichte Friedrich’s des Großen gefaßt haben mochte und daß Kugler und Menzel ihn sehr wesentlich zur Ausführung aufgemuntert haben. Lag doch in Weber der unermüdliche, im besten Sinne ehrfüchtige Drang, das fremde Schöne und Gute schöner und besser in deutschen Werken darzustellen. Friedrich der Große und seine Zeit boten zu einem solchen Werke den historisch reichsten und künstlerisch idealsten Stoff. – Wir wissen, daß das Triumvirat Kugler, Menzel, Weber ein herrliches, wahrhaft monumentales Werk geschaffen hat. Aber welche Arbeit, Mühe und Kosten dieses Werk erforderte, davon hat man in unseren Tagen, in denen Illustrationen überall wie Unkraut emporwuchern, kaum eine annähernde Vorstellung.
Weber’s damaliger Geschäftsgenosse, Karl B. Lorck, der kenntnißreiche Historiograph der modernen typographischen Kunst, sagt in seinem Nachrufe an den Freund:
„Wer da zusieht, mit welcher Leichtigkeit jetzt die bedeutendsten illustrirten Werke in den vorzüglich eingerichteten Druckereien auf Schnellpressen im Fluge gedruckt werden, kann sich wohl kaum eine rechte Vorstellung von den Schwierigkeiten machen, mit welchen die Bahnbrecher für die bessere und geschmackvollere Ausstattung der Bücher, zu welchen Weber in erster Reihe gehörte, zu kämpfen hatten, als man weder das in der Fabrik geglättete Papier, noch eine Satinirmaschine hatte, als feine Illustrationsfarbe in Deutschland noch nicht in Gebrauch, die künstlerische Zurichtung noch unbekannt und der Druck von Illustrationen auf der Schnellpresse vollends etwas Unerhörtes war. Die Einführung der hierauf bezüglichen Verbesserungen in Leipzig verdankt man namentlich den ersten Unternehmungen Weber’s. Hierin liegt hauptsächlich seine Bedeutung für die moderne illustrirende Typographie.“
[463] Die Holzschneidekunst war damals in Leipzig nur durch einen strebsamen Anfänger, Eduard Kretschmar, vertreten, und in Berlin waren Unzelmann, Gubitz, die beiden Vogel anderweitig vollauf beschäftigt. Weber wandte sich also an die besten Meister der Engländer und Franzosen. Die ersten ersehnten Probedrucke kamen und gingen nach Berlin, aber Schrecken über Schrecken: Menzel hatte sie, durchstrichen, mit dem Marginal à la Friedrich zurückgeschickt: „Lieber jeden anderen Tod erleiden, als sich von französischen und englischen Messern zerfleischen lassen.“
Doch gelang es endlich der unermüdlichen Anstrengung Kretschmar’s und dem Eifer Weber’s, der keine Kosten gescheut hat, Menzel’s strengen Anforderungen zu genügen und damit, man darf es sagen, eine Schule der neueren deutschen Xylographie heranzubilden.
Die Bewährung des Holzschnitts zum Schmuck der Druckwerke ermuthigte, nach dem Vorbilde der „Illustrated London News“ und der Pariser „Illustration“ auch die Tagesgeschichte durch Illustrationen zu erläutern und durch Bild und Wort eine Anschaulichkeit der Zeitvorgänge hervorzurufen, die das Interesse an derselben erhöht, das Verständniß derselben erleichtert und die Rückerinnerung um vieles reicher und angenehmer macht. Am 1. Juli 1843 erschien die erste Nummer der „Illustrirten Zeitung“, und schon nach sechs Monaten war eine Auflage von 7500 Exemplaren nothwendig. Die Probe war ruhmvoll und erfolgreich. Das Unternehmen wuchs fort und fort zu außerordentlicher Bedeutung, und was es seitdem geleistet, wie es seinen Werth in Wort und Bild fortwährend erhöht, das liegt vor in den 37 Jahrgängen, in 74 Foliobänden mit 40,000 Bildern und zwingt auch das blödeste, wie das tadelsüchtigste Urtheil zu respectvoller Anerkennung. Kretschmar’s Atelier wurde ganz für die Bedürfnisse der „Illustrirten Zeitung“ eingerichtet und ging nach seinem Tode 1858 in den Besitz Weber’s über; es beschäftigte regelmäßig etwa 40 Holzschneider, und zahlreiche Schüler haben sich in demselben zu Meistern ausgebildet, deren Leistungen vielfach die englischen und französischen Vorbilder übertroffen, jedenfalls alle sonst noch auftauchende Concurrenz weit überflügelt haben.
Wohl wäre es von Interesse, hier auch noch die technische Vervollkommnung der Holzzeichnung und des Holzschnitts, die Zunahme seiner Anwendung für Illustrationen, die nationale Verschiedenheit der Engländer, Franzosen, Deutschen in der künstlerischen Behandlung der Zeichnung, des Schnitts, des Drucks in Betrachtung zu ziehen. Wir sind indeß schon hart an dem Rahmen des für unseren Zweck zugemessenen Raumes, und so sei nur noch wiederholentlich hervorgehoben, daß die meisten der in Weber’s Verlag erschienenen Werke durch Illustrationen verschönert und veranschaulicht wurden. Eine Perle derselben ist Tschudi’s „Thierleben der Alpenwelt“, illustrirt von Rittmeyer und Georgy, oft neu aufgelegt, in künstlerischer Naturtreue ein wahres Prachtwerk, bei dessen Kostenaufwand materielle Geschäftszwecke, wie bei manchem andern Werke, wohl unbeachtet geblieben sein mögen.
Zu den „Illustrirten Katechismen“, Belehrungen aus dem Gebiete der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, ist wohl die Idee lediglich von Weber selbst ausgegangen, und daß er auch hier das Richtige getroffen, beweist der Umstand, daß ihre Zahl schon fast hundert erreicht hat und viele derselben in oft wiederholten Auflagen, der „Katechismus für Musik“ in der zwanzigsten, erschienen sind. Aus dem reichen Bilderschatz der „Illustrirten Zeitung“ wurden auch die Prachtwerke, die „Kriegschroniken“ der Jahre 1849, 1864, 1866, 1870 und 1871, 1876 bis 1878 auf das Splendideste ausgestattet. Hatte doch Weber überall die besten Zeichner und Schlachtenmaler an Ort und Stelle, die mit den französischen und englischen Künstlern auf das Erfolgreichste wetteiferten.
Und welche werthvolle Blätter in diesem Schatze der „Illustrirten Zeitung“ noch immer aufgehäuft blieben, das beweisen die in jüngster Zeit begonnenen Ausgaben der „Meisterwerke der Holzschneidekunst“ sowie der „Bilder für Schule und Haus“, zwei Werke, die nach der Schönheit und der Menge des Gebotenen im Verhältniß zu der außerordentlichen Billigkeit des Preises in hohem Maße bemerkenswerth erscheinen.
Wir sind am Schluß und charakterisiren die in langem Leben eigenthümliche Gesammtthätigkeit des unermüdlichen Mannes mit dem kurzen Wort: sie war für die Vervollkommnung des Holzschnitts als Illustration, für die Verschönerung des Drucks und der Ausstattung von Schriftwerken bahnbrechendes Muster und Vorbild.
Wir geben versprochenermaßen im Nachfolgenden einen ausführlicheren Bericht von Ort und Stelle über das traurige Geschick der Oberlausitzer, das augenblicklich in Sachsen und im weiteren Vaterlande die Herzen bewegt und die Hände öffnet, fügen aber zugleich einen Hinweis auf die nicht viel geringeren Verwüstungen hinzu, welche die Wassersnoth auch im preußischen Schlesien angerichtet hat und welche die Mildthätigkeit ganz in der nämlichen Weise herausfordern, wie der Wasserschaden in der Oberlausitz.
„Der südliche und östliche Theil der sächsischen Oberlausitz, der zu den am dichtesten bevölkerten und industriereichsten Gegenden nicht nur Sachsens, sondern ganz Deutschlands gehört“ – so schreibt unser Berichterstatter – „erlitt einen furchtbar schweren, in allen seinen Folgen noch gar nicht zu ermessenden Schlag durch die Wuth entfesselter Elemente, die binnen wenigen Stunden zahlreiche Menschenleben zum Opfer forderte, das Hab und Gut Tausender vernichtete und überhaupt die grauenhaftesten Verheerungen anrichtete, die in ihrem ganzen Umfange keine Feder zu schildern vermag.
Am Morgen des 14. Juni strömte der Regen, der schon in der vorhergehenden Nacht sehr stark gefallen war, unaufhörlich und mit zunehmender Heftigkeit herab, sodaß bald alle Bäche anschwollen. Doch ahnte Niemand etwas Schlimmes.
Da aber fiel am Kottmar ein gewaltiger Wolkenbruch, und die tosenden Wassermassen ergossen sich nun in südlicher und östlicher Richtung mit solcher Gewalt in die Niederungen, daß es schien, als solle die alte Volkssage Bestätigung finden, welche den Kottmar einst für die Oberlausitz verderblich werden läßt, denn derselbe soll – so spricht die Sage – in seinem Innern großartige Wassermassen bergen, die dereinst sich ergießen und das ganze Land überfluthen werden.
Südlich am Kottmar liegt Ober-Oderwitz, und an dieses schließen sich Mittel- und Nieder-Oderwitz, welche drei Orte eine eng zusammenhängende, fast zwei Stunden lange Häuserreihe bilden, und fast in jedem Hause klappert der Webstuhl, denn hier ist ein Hauptsitz der sächsischen Leinenindustrie. Ober-Oderwitz wurde zunächst durch die vom Kottmar und den umgebenden Berghängen herabströmenden Wassermassen auf eine furchtbare Weise überschwemmt, und dabei strömte unter schweren Donnerschlägen der Regen ununterbrochen mit größter Heftigkeit nieder, die Wassermassen stets nährend, sodaß sie, gleich einem reißenden Strome dahinbrausend und von Minute zu Minute steigend, bald die ganze Thalsohle füllten und die furchtbarsten Verwüstungen anrichteten. Die Fluthen rissen fast alle in den letzten Jahren von der Gemeinde unter großen Opfern erbauten Brücken und die Stege mit fort, wühlten metertiefe Löcher in die Dorfstraßen, drangen in die tieferliegenden Häuser, die Wohnstuben manchmal bis an die Decke füllend, demolirten Häuser, drückten Wände ein und schwemmten alles ihnen Erreichbare mit fort – Hausgeräthe, Gartenzäune, Bretter, Balken, Bäume, Reisigbündel trieben in wildem Chaos dahin. Die Bewohner der bedrohten Häuser mußten eilends flüchten und Hab und Gut dem tobenden Elemente überlassen. Doch zu allem Glück ging hier kein Menschenleben zu Grunde.
Gräßlicher noch wüthete die Fluth in Mittel- und Nieder-Oderwitz, wo sie die Höhe von neun Meter über dem gewöhnlichen Wasserstand erreichte, eine Höhe, wie sie seit dem 17. August 1595 nicht mehr dagewesen. Kleine Häuser standen bis an das Dach im Wasser, in anderen Häusern drang das Wasser in die Oberstuben, das dorthin Gerettete verderbend und die dahin Geflüchteten auf die Dachböden scheuchend. Mehrere Häuser wurden hier gänzlich weggerissen, andere dem Einsturze nahe gebracht, und eine große Zahl mehr oder minder schwer beschädigt. Auch fielen hier neun Menschenleben dem rasenden Elemente zum Opfer.
Von hier ergoß sich die Fluth in die Mandau, die nun, hoch anschwellend, in Zittau die niederen Stadttheile überschwemmte und an Häusern, Brücken, Gärten und Straßen höchst bedeutenden Schaden anrichtete. Die gleichfalls ihre Ufer überströmende Neiße verursachte in Hirschfelde – besonders in der Müller’schen Flachsspinnerei – und in Ostritz große Verwüstungen.
In östlicher Richtung befindet sich am Kottmar die Quelle der Pließnitz, bis zu Euldörfchen die Patersbach genannt. Die durch Ruppersdorf fließende, erst so winzige Wasserader schwoll in Folge jenes Wolkenbruches schnell zu einem wüthenden Strome an, der um so höher stieg, als der große herrschaftliche Teich in Ober-Ruppersdorf seinen Damm zerriß und seine Wassermassen mit jenen vereint über das unglückliche Dorf ergoß, Alles zerstörend und acht Menschenleben vernichtend. Das Unglück voll zu machen, fiel in der Gegend von Euldörfchen ein neuer Wolkenbruch nieder, schwellte die von Ruppersdorf sich daherwälzenden Fluthen noch höher an, und die ganze ungeheure Wassermasse ergoß sich über Rennersdorf, die Thalsohle in der Höhe von vierzehn Meter füllend und in rasendem Wirbel Alles mit sich fortreißend, Häuser, Brücken und Menschen.
[464] Die immer höher steigenden Wasser stürzten sich nun verheerend über Kunnersdorf, drangen nach Bernstadt, wo elf Menschen ertranken und neun Häuser und eine Scheune fortgerissen wurden, und überflutheten Alt-Bernsdorf, wo die Verheerung ihren Gipfelpunkt erreichte, denn hier waren an einer Stelle die dahertreibenden Trümmer fast haushoch zusammengeschwemmt. Beim Abräumen derselben fand man Leichen Ertrunkener.
In Schönau auf dem Eigen, dem letzten sächsischen Orte an der Pließnitz, waren die Verwüstungen kaum minder gewaltig. Hier drang das Wasser auch in die Kirche, demolirte daselbst Alles und füllte den Raum fußhoch mit Schlamm.
Außer diesen Orten wurden noch Alt-Eibau, Ober- und Nieder-Kunnersdorf bei Löbau und Kiesdorf hart von der Ueberfluthung getroffen.
Als nach einigen Stunden das Wasser sich etwas verlaufen hatte, da erkannte man erst den ganzen Umfang der Verwüstungen, welche des entfesselten Elementes Wuth angerichtet. Bei jedem Schritte begegnete man Spuren der grauenhaftesten Zerstörung an Gebäuden, von manchem Hause war kaum noch die Stelle zu erkennen, wo es einst gestanden. Dazu zertrümmerte oder weggeführte Brücken, zerrissene, aufgewühlte Wege, entwurzelte oder umgebrochene Bäume, versandete, verschlammte oder zerwühlte Gärten, von denen der gute Boden fortgeschwemmt worden. Stellenweise boten sich dem Auge herzzerreißende Bilder.
Im Ganzen sind 70 Personen ertrunken, 47 Häuser gänzlich weggerissen, 138 müssen abgetragen werden, 230 sind stark beschädigt. Geringer beschädigte Gebäude sind in Menge vorhanden.
Der Gesammtschaden ist noch nicht festgestellt, dürfte sich aber auf viele Millionen Mark belaufen. Nieder-Oderwitz allein berechnet seinen Schaden auf 600,000 Mark, Schönau auf dem Eigen den seinen allein an Wohnhäusern auf 226,170 Mark. Von den übrigen Orten liegen noch keine Angaben vor.
Am härtesten leidet der sogenannte Eigensche Kreis, dessen Fluren zwei Tage vor der ihn so schrecklich heimsuchenden Katastrophe – am 12. Juni – von einem verheerenden Hagelschlage betroffen worden waren, wobei z. B. in der Gegend von Alt-Bernsdorf die Hagelkörner in der Größe einer kleinen Wallnuß fielen.
Furchtbar ist nun das Unglück in den so schwer heimgesuchten Ortschaften, denn die Gemeinden sind meistens arm und der Schaden betrifft in der Mehrzahl arme Weber und Handarbeiter, von denen die ersteren unter der allgemeinen Geschäftsstockung der letzten Jahre ohnehin schon so schwer zu leiden hatten und um kargen Lohn arbeiten mußten. Jetzt ist das Wenige, was sie etwa in jahrelangem Mühen durch der Hände Fleiß sich erworben, verloren, die Webestühle sind meist beschädigt, die Ketten verdorben, Scheerrahmen, Treibräder, Werkzeuge, Hausgeräthe, Möbel, Kleider, Wäsche, Betten entweder fortgeschwemmt oder unbrauchbar geworden. Gar Mancher hat nichts gerettet als das, was er eben auf dem Leibe trug, und fragt sich verzweiflungsvoll: ‚Was soll nun werden?‘
Wenn irgendwo, so ist hier Hülfe, schnelle, thatkräftige, reichliche Hülfe nöthig. Wer ein fühlendes Herz für unverschuldetes Elend seiner Mitmenschen besitzt, der helfe – und helfe bald!Soweit unser Bericht! Dasselbe schwere Schicksal hat nun aber auch den preußischen Kreis Lauban betroffen. Nach amtlicher Feststellung sind dort in den Ortschaften Seidenberg, Küpper, Berna, Ober- und Mittel-Bellmannsdorf, Heidersdorf, Ober- und Nieder-Halbendorf, Ober- und Nieder-Linda und in Ober-, Mittel- und Nieder-Gerlachsheim im Ganzen 105 Wohnhäuser ganz oder zum größten Theil zerstört worden und 51 Menschen um’s Leben gekommen. Berna verlor allein 25 Gebäude und hat 18 Menschenleben zu beklagen. Der Schaden an Vermögen ist noch nicht zu berechnen.
Wir bitten unsere Leser, ihre Gaben da hier Eile dringendst geboten ist, an die ihnen zunächst gelegenen Sammelstellen, die sich in vielen Städten bilden werden, oder für die Oberlausitzer direct „an die Kreishauptmannschaft in Bautzen“ zu senden. Für Lauban ist „die Kreiscommunalcasse“ daselbst die Centralsammelstelle.
Fünftes allgemeines deutsches Turnfest. Die deutsche Turnerschaft wird in diesem Jahre vom 25. bis 29. Juli zu Frankfurt am Main ihr fünftes gemeinsames Turnfest feiern; die früheren allgemeinen deutschen Turnfeste wurden zu Coburg, Berlin, Leipzig und Bonn abgehalten, und zwar gestaltete sich bekanntlich das Leipziger, mit der fünfzigjährigen Gedenkfeier der Völkerschlacht verbundene zu einer großartigen nationalen Kundgebung. Seit jenen sechsziger Jahren hat nun freilich in weiten Kreisen eine nüchternere Auffassung von der Bedeutung großer Nationalfeste für das Volksleben Platz gegriffen; man hat deren Berechtigung überhaupt bestreiten wollen. Trotzdem glaubt die deutsche Turnerschaft auf die Abhaltung gemeinsamer Feste nicht verzichten zu sollen; denn sie sieht in derselben vor Allem eines der vornehmsten Mittel, um ihren Zweck: „die Förderung des Turnwesens als Mittel zur körperlichen und sittlichen Kräftigung des deutschen Volkes“, zu verwirklichen, und so ist denn das Programm für das Frankfurter Fest folgendermaßen festgestellt:
Am 25. Juli finden statt: 1) allgemeine Frei- und Ordnungsübungen, 2) Musterturnen einzelner Turnkreise, Gaue und Vereine, sowie ausländlicher Turner, 3) allgemeines Kürturnen; am 26. Juli: 1) Turnen einzelner Kreise, Gaue und Vereine, 2) Wettturnen; am 27. Juli: Fortsetzung des Wettturnens; am 28. Juli: 1) Beendigung des Wettturnens, 2) Kürturnen der geübtesten Turner, 3) Verkündigung der Sieger; am 29. Juli: allgemeine Turnfahrt. Das Wettturnen wird diesmal eine wesentlich andere Gestalt annehmen, als bisher. Für die turnerischen Wettkämpfe früherer Feste waren die Grundsätze der althellenischen Agonistik maßgebend; wer in einer der „volksthümlichen“ Wettübungen des Laufens, Springens, Werfens etc. das Ausgezeichnetste leistete, erhielt denn Siegerkranz. Die neue deutsche Wettturnordnung dagegen, welche im vorigen Jahre auf dem allgemeinen deutschen Turntage zu Berlin beschlossen wurde, macht den Sieg von einer allseitigen gymnastischen Durchbildung des Leibes abhängig: nur wer an drei Hauptturngeräthen je drei Uebungen tadellos ausführt und in drei „volksthümlichen“ Uebungen Ausgezeichnetes leistet, hat Aussicht, in Frankfurt als Sieger verkündet zu werden. Außer dem Wettturnen wird auch noch ein besonderes Wettringen und Preisfechten mit Säbeln stattfinden.
Die Betheiligung seitens der deutschen Turnerschaft verspricht eine überaus zahlreiche zu werden; in allen den zweitausend deutschen Turnvereinen des deutschen Reiches und Deutsch-Oesterreichs, welche zusammen den Verband der „deutschen Turnerschaft“ bilden, rüstet man sich schon längst eifrig zu dem Feste. Die gemeinsam auszuführenden Freiübungen werden fleißig geübt und Vorbereitungen zu turnerischen Mustervorführungen getroffen. Von fast allen Centralpunkten des Weltverkehrs in Deutschland werden Extrazüge eingerichtet, welche Sonnabend den 24. Juli Nachmittags nach Frankfurt fast gleichzeitig Tausende von Turnern aus allen Gauen des Vaterlandes bringen werden. Auch die deutschen Turnvereine des Auslandes, die überall, wo Deutsche in größerer Zahl zusammen wohnen, die Sammelpunkte deutschen Volksthums bilden, werden zahlreich in der alten Mainstadt erscheinen. Schon sind in diesen Tagen 450 deutsche Turner des nordamerikanischen Turnerbundes mit dem Dampfer „Silesia“ in Hamburg eingetroffen, festlich empfangen von der Turnerschaft Hamburgs und feierlichst begrüßt von einem Delegirten Frankfurts.
Auch die sächsischen Turnvereine Siebenbürgens haben ihre Ankunft gemeldet; und nicht minder sind Abgesandte der deutschen Turnvereine aus London, Paris, Brüssel, Liverpool und anderen großen Städten Europas zu erwarten. So wird das allgemeine deutsche Turnfest, auf dem sich die deutschen Volksgenossen der ganzen Welt ein Stelldichein geben, sich unwillkürlich zu einem großen nationalen Feste gestalten.
Im Hinblick auf die hohe Blüthe, zu welcher sich das Turnen durch die sorgfältige Pflege in den deutschen Turnvereinen entfaltet hat, werden auch Vertreter fremdländischer Turngenossenschaften in der Feststadt nicht fehlen. Die beiden Conföderationen der italienischen Turner, die eidgenössischen Turnvereine der Schweiz, der belgische und niederländische Turnerbund werden Abordnungen nach Frankfurt entsenden; auch diese durch gleiches Streben den deutschen Turnern verbundenen Turner des Auslandes werden hochwillkommen sein bei dem nationalen deutschen Feste. Möge ein günstiges Gestirn über den Tagen von Frankfurt walten!
Von der Nessel gestraft. (Zu dem Bilde auf Seite 461.) Nicht unter Palmen allein wandelt man „nicht ungestraft“ – wie unser Bildchen drastisch genug vor Augen führt, hat auch das Wandeln auf einer idyllischen deutschen Blumenhalde seine Gefahren. Ganz abgesehen von derjenigen Gattung, welche in Gestalt brummiger Flurwächter in die Erscheinung tritt und panische Schrecken erzeugt, sowie gewissen Schlangen, welche „unter Blumen lauern“, hat die Pflanzenwelt ihre eigene Polizei in der Brennnessel, jenem heimtückischen Kraut, das sich mit dem harmlosesten Gesicht von der Welt unter dem übrigen Gewächs verliert und an den blumenpflückenden Händen zumeist ganz überraschend „der Blumen Rache“ übt. Man muß eben allerwegen im Leben vorsichtig sein –
Ei, Junge, paß auf!
Selbst den Blumen der Auen
Ist nicht zu trauen –
Grüne Blätter mit Unschuldsmienen
Bergen das falsche Gift der Bienen.
Sieh sie dir an!
Und wirst du ein Mann:
Hüt dich, Junge, und denke dran!
Eine Erbschaft muß unerhoben liegen bleiben, bis der Erbe, Schuhmachergeselle Karl Robert Dietze aus Leipzig, dessen Aufenthaltsort seit dem 7. August des voriger Jahres unbekannt ist, sich wieder gefunden hat.
Den Einsendern von Anerbietungen auf unsere Anfrage in Nr. 24, Anstalten zur lebenslänglichen Pflege eines Kranken (Lahmen) betreffend, hiermit zur Antwort, daß ihre Pensionate und Pflege-Anstalten, sämmtlich privater Natur, bei Nachfragen von uns genannt werden. Zwei Anstalten, welche auf öffentlichen Charakter Anspruch haben, sind das Stephans-Stift vor Hannover, als dessen Vorsteher uns Pastor L. Fricke genannt ist, und das Asyl der Congregation der barmherzigen Schwestern in der Riedenburg bei Salzburg, dessen Vorsteherin die Schwester-Oberin M. Katharina Angerer ist – beide Anstalten unter geistlicher Aufsicht.
Eine langjährige Abonnentin. So weit aus der Erfahrung ein Urtheil möglich, ist St. Bl. für Sie ganz passend.
M. G. in Prag; Tr. in St. Ueber die Trunksucht finden Sie in „Gartenlaube“ 1857, Seite 344, einen Artikel von Bock, der kein besseres Heilverfahren kennt, als den festen Besserungswillen des Trunksüchtigen.
C. V. 1500. Jeder Sortimentsbuchhandel wird Ihnen die gewünschte Auskunft ertheilen. Das Gute liegt so nahe!
- ↑ Herbst.
- ↑ horcht.
- ↑ wird mich der Tod auch bald erreichen.
- ↑ Nun, meinetwegen.
- ↑ Heimath, heimischer Hof.
- ↑ Frühling, Lenz.
- ↑ gemäht.
- ↑ Wiesen.
- ↑ etwas.
- ↑ Tenne.
- ↑ ihren Vorzug
- ↑ Sonntag und Kirchweih erst.
- ↑ Kahralpe.
- ↑ Kälber weiden.
- ↑ langsam mit mir zu Ende.
- ↑ mit dem Abendmahl.
- ↑ der Sohn.
- ↑ auch.
- ↑ wo ich meine Sense lehnen lasse.
- ↑ durchgebracht.
- ↑ haben wir.
- ↑ dann.
- ↑ still.
- ↑ Wald.
- ↑ Nein.