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Die Gartenlaube (1880)/Heft 20

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[317]

No. 20.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Alle Rechte vorbehalten.
Frühlingsboten.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Oswald, der das Kopfzerbrechen seines Vetters überflüssig zu finden schien, lehnte sich schweigend in die Ecke zurück, und die Fahrt wurde nunmehr ohne weiteres Hinderniß, aber mit der früheren Langsamkeit fortgesetzt. Man hatte, zum großen Aerger des Grafen, auf allen Stationen statt der verlangten vier Postpferde nur zwei erhalten, da in Folge des Schneefalls die Thiere bei den gewöhnlichen Posten Aushülfe leisten mußten, und so hatten die Reisenden sich seit der Abfahrt von der Bahnstation heute Mittag um volle zwei Stunden verspätet. Die Dunkelheit brach schon herein, als der Wagen endlich in den Schloßhof von Ettersberg rollte, wo die Ankömmlinge augenscheinlich längst erwartet wurden. Die Thüren der großen, hell erleuchteten Eingangshalle standen weit offen, und mehrere Diener eilten geschäftig herbei. Einer derselben, ein alter Mann, der gleichfalls die reiche Ettersberg’sche Livrée trug, trat sofort an den Wagen.

„Guten Abend, Eberhard!“ rief Edmund fröhlich. „Da sind wir, trotz Sturm und Schneegestöber. Es ist doch Alles wohl zu Hause?“

„Gott sei Dank, ja, Herr Graf! Aber die Frau Gräfin waren schon in großer Sorge wegen der Verspätung und fürchteten, daß die jungen Herrschaften einen Unfall gehabt hätten.“

Damit öffnete Eberhard den Schlag, und gleichzeitig erschien oben auf den Treppenstufen, die von der Eingangshalle in das Innere des Schlosses führten, eine Dame von imposanter Gestalt, in dunklem Seidenkleide. Aus dem Wagen springen, in die Halle stürzen und die Stufen hinauffliegen, war für Edmund das Werk eines Augenblicks, schon im nächsten lag er in den Armen seiner Mutter.

„Mama! geliebte Mama, endlich sehe ich Dich wieder.“

Der Ruf hatte nichts von jenem tändelnden Uebermuthe, den der junge Graf bisher ausschließlich gezeigt. Das war der volle, echte Herzenston, und derselbe Ausdruck leidenschaftlicher Zärtlichkeit lag in der Stimme und in den Zügen der Gräfin, als sie den Sohn in die Arme schloß und küßte.

„Mein Edmund!“

„Wir kommen spät, nicht wahr?“ fragte dieser. „Die verschneiten Wege und die elenden Posteinrichtungen sind schuld daran, und dann hatten wir auch unterwegs ein kleines Abenteuer.“

„Wie konntest Du überhaupt in solchem Wetter reisen!“ sagte die Gräfin mit liebevollem Vorwurf. „Ich erwartete stündlich die Nachricht, daß Du in B. bleiben und erst morgen eintreffen würdest.“

„Sollte ich noch vierundzwanzig Stunden von Dir getrennt sein?“ unterbrach sie Edmund. „Nein, Mama, das hätte ich sicher nicht vermocht, und das hast Du auch nicht geglaubt.“

Die Mutter lächelte. „Nein, und eben deshalb habe ich mich während der letzten beiden Stunden so geängstigt. Aber jetzt komm! Du mußt Dich von der kalten und stürmischen Fahrt erholen.“

Sie wollte den Arm ihres Sohnes nehmen, aber dieser blieb stehen und sagte mit leisem Vorwurfe:

„Mama, siehst Du denn Oswald nicht?“

Oswald von Ettersberg war seinem Vetter schweigend gefolgt. Er stand seitwärts im Schatten des Treppenpfeilers und trat erst hervor, als die Gräfin sich zu ihm wandte.

„Willkommen, Oswald!“

Die Begrüßung klang sehr kühl, und ebenso kühl und förmlich war die Art, mit welcher der junge Mann seine Lippen auf die Hand der Tante drückte, deren Blick jetzt befremdet über seinen Anzug hinglitt.

„Du bist ja vollständig durchnäßt. Was ist denn vorgefallen?“

„Mein Gott, das habe ich ganz vergessen zu erzählen,“ rief Edmund. „Er gab mir beim Aussteigen seinen Mantel und hat nun selbst die ganze Witterung aushalten müssen. Oswald,“ wandte er sich an seinen Vetter, „ich hätte ihn Dir doch wenigstens im Wagen zurückgeben können; warum erinnertest Du mich auch nicht daran? Nun bist Du noch eine volle Stunde lang in dem nassen Ueberrock gefahren. Wenn Dir das nur nicht schadet!“

Er nahm hastig den Mantel ab und legte die Hand prüfend auf den allerdings völlig durchnäßten Ueberrock Oswald’s; dieser machte eine abwehrende Bewegung.

„Laß doch – es ist ja nicht der Rede werth.“

„Das glaube ich auch,“ nahm die Gräfin das Wort, der diese Sorgfalt entschieden zu mißfallen schien. „Du weißt ja, daß Oswald Witterungseinflüssen ganz unzugänglich ist. Er braucht nur die Kleider zu wechseln. Geh, Oswald! Aber noch eins,“ setzte sie flüchtig und wie beiläufig hinzu, „ich habe Dir ein anderes Zimmer anweisen lassen – eines drüben im Seitenflügel.“

„Weshalb denn das?“ fragte Edmund betroffen. „Wir haben ja sonst stets neben einander gewohnt.“

„Ich habe einige Aenderungen in Deiner Wohnung getroffen, mein Sohn,“ sagte die Gräfin in sehr bestimmtem Tone, „und [318] mußte dabei nothgedrungen über Oswald's Zimmer verfügen. Er wird wohl nichts dagegen einzuwenden haben; er ist drüben in der Erkerwohnung auch recht gut logirt.“

„Gewiß, liebe Tante!“

Die Erwiderung klang vollkommen ruhig und gleichgültig, aber es mußte doch irgend etwas darin liegen, was dem jungen Grafen auffiel. Er runzelte leicht die Stirn und war im Begriff, etwas zu sagen, unterdrückte es aber mit einem Blick auf die umstehenden Diener. Statt dessen trat er plötzlich auf seinen Vetter zu und ergriff dessen Hand.

„Nun, das wird sich ja finden. Aber jetzt geh, Oswald, und kleide Dich sofort um! Hörst Du, auf der Stelle! Du darfst keine Minute länger in den nassen Kleidern bleiben, wenn ich mir nicht ernstlich Vorwürfe machen soll. Thu' es mir zu Liebe; wir warten jedenfalls bei Tisch auf Dich.“

„Edmund, ich warte auf Dich, klang die Stimme der Gräfin in unverkennbarer Schärfe.

„Im Augenblick, Mama! Eberhard, leuchten Sie Herrn von Ettersberg und sorgen Sie unverzüglich für trockene Kleider!“

Mit diesen Worten reichte er seiner Mutter den Arm, um sie hinaufzuführen. Oswald hatte die so herzlich kundgegebene Sorgfalt mit keiner einzigen Silbe beantwortet. Er blickte den Beiden einige Secunden lang nach und nahm dann dem alten Diener, der soeben herantrat, den Armleuchter aus der Hand.

„Es ist gut, Eberhard. Ich finde den Weg schon allein. Sehen Sie nach meinem Koffer!“

Damit trat er in den nur schwach erleuchteten Corridor, der nach dem Seitenflügel des Schlosses führte. Die Kerzen warfen ihren hellen Schein auf das Gesicht des jungen Mannes, das jetzt, wo er sich allein sah, seinen gleichgültige Ausdruck verloren hatte. Die Lippen waren fest auf einander gepreßt, die Brauen finster zusammengezogen, und ein Ausdruck fast des Hasses entstellte seine Züge, als er halblaut murmelte:

„Wann endlich werde ich frei werden?“




Das Geschlecht der Grafen von Ettersberg war ursprüglich ein großes und weitverzweigtes gewesen, aber im Laufe der Jahre hatten der Tod oder die Vermählung der weiblichen Mitglieder einen Zweig nach dem andern abgelöst, und gegenwärtig existirten außer der verwittweten Gräfin, die in Ettersberg lebte, nur noch zwei Vertreter des Namens, Graf Edmund, der jetzige Majoratsherr, und sein Vetter Oswald.

Der Letztere theilte das Schicksal aller jüngeren Söhne in den Familien, wo die Güter ausschließlich Majorat sind. Ohne jedes Vermögen, war er gänzlich auf die Abhängigkeit von dem Chef des Hauses angewiesen, wenigstens so lange, bis ihm eine eigene Lebensstellung zu Theil wurde. Freilich war das nicht immer so gewesen – im Gegentheil, seit seiner Geburt ward er von seinen Eltern als der voraussichtliche Majoratserbe begrüßt. Das damalige Haupt der Familie, Edmund's Vater, war kinderlos und erst in vorgerücktem Alter Wittwer geworden; sein einziger Bruder, der bedeutend jünger war und in der Armee diente, konnte sich also mit Fug und Recht als dereinstigen Erben betrachten. Es galt ihm deshalb auch als besonderes Glück, als ihm nach längerer Ehe, die bisher nur mit früh verstorbenen Töchtern gesegnet war, ein Sohn geboren wurde. Auch der Oheim begrüßte dieses Ereigniß, das die Zukunft seines Hauses sicherte, mit großer Freude, und die Aussichten des kleinen Oswald während seiner ersten Lebensjahre waren die glänzendsten.

Da trat eine ganz unerwartete Schicksalswendung ein. Der mehr als sechszigjährige Graf Ettersberg führte ein zwanzigjähriges Mädchen als zweite Frau zum Altar. Die junge Gräfin war sehr schön, aber sie stammte aus gänzlich verarmter, wenn auch edler Familie. Es hieß damals, ihre Familie habe Alles aufgeboten, um die glänzende Partie zu ermöglichen, die allerdings die Herzensbedürfnisse eines jungen Mädchens nicht befriedigen konnte, um so weniger, als, wie allgemein behauptet wurde, das Band einer schon bestehenden Neigung durch jene Werbung jäh und plötzlich zerrissen worden war. Ob dabei von Seiten der Verwandten Zwang oder nur Ueberredung vorwaltete, das wußte Niemand; jedenfalls willigte die junge Dame in die Verbindung, die ihr eine vielbeneidete Lebensstellung gab. Der alte Graf Ettersberg erlag so vollständig dem Zauber dieser so spät auflodernden Leidenschaft, daß er alles Andere darüber vergaß, und als er nun vollends das kaum mehr erhoffte Glück hatte, einen Majoratserben in seinen Armen zu halten, da war die Herrschaft der schönen und klugen Frau vollständig gesichert.

Es war begreiflich, daß der jüngere Bruder diese vollständige Vernichtung seiner Aussichten sehr peinlich empfand, und ebenso begreiflich, daß er seiner Schwägerin keine besondere Freundschaft entgegenbrachte. Das ehemals herzliche Verhältniß zwischen den Brüdern machte der Kälte und Entfremdung Platz, die bis zum Tode des jüngeren andauerte. Er und seine Gattin starben rasch hinter einander, und der verwaiste Knabe kam in das Haus des Oheims, wo er gemeinschaftlich mit dem jungen Majoratserben erzogen wurde.

Aber auch der alte Graf Ettersberg überlebte den Bruder nicht lange. In seinem Testamente hatte er Sohn und Neffen der Vormundschaft seines Schwagers, des Bruders seiner Gemahlin übergeben, welcher der Schwester denn auch überall zur Seite stand, wo eine männliche Vertretung nothwendig war.

Im Uebrigen aber sicherte jenes Testament der Gräfin die vollste Freiheit und Selbstständigkeit aller Verfügungen, und sie leitete auch selbst die Verwaltung der Familiengüter und die Erziehung der beiden Knaben.

Jetzt war die letztere vollendet; Graf Edmund hatte während des Winters, in Begleitung seines Vetters, eine längere Reise nach Frankreich und Italien unternommen und war nunmehr zurückgekehrt, um sich mit der Verwaltung seiner Güter vertraut zu machen, die er bei seiner bevorstehenden Mündigkeit selbst übernehmen sollte, während Oswald sich darauf vorbereitete, in den Staatsdienst zu treten. – –

Es war am Morgen nach der Ankunft der beiden jungen Männer. Das Wetter hatte sich aufgehellt, aber die Landschaft bot noch einen völlig winterlichen Anblick. In ihrem Wohnzimmer befand sich die Gräfin allein mit ihrem Sohne. Die Dame hatte sich, obgleich sie bereits in der Mitte der Vierzig stand, doch ihre einst so blendende Schönheit noch größtentheils zu bewahren gewußt. Man hätte in dieser imposanten, aber noch beinahe jugendlichen Erscheinung schwerlich die Mutter eines vierundzwanzigjährigen Sohnes vermuthet, um so weniger, als kein einziger Zug auf eine Aehnlichkeit zwischen ihnen hindeutete. Edmund mit seinen dunklen Haaren und Augen, mit dem sprudelnden, feurigen Uebermuth, der sich in jedem Worte, in jeder Bewegung kundgab, war der directe Gegensatz zu seiner schönen ernsten Mutter, deren hellblondes Haar und blaue Augen mit der kühlen Ruhe harmonirten, die ihr gewöhnlich eigen war und die nur dem Lieblinge gegenüber einem wärmeren Ausdruck Platz machte.

Der junge Graf schien soeben eine Beichte abgelegt zu haben über das, was Oswald seine „Tollheiten“ nannte, aber es mußte ihm wohl nicht allzu schwer geworden sein, Verzeihung zu erlangen; denn die Mutter schüttelte zwar den Kopf, aber der Ton klang weit mehr zärtlich, als vorwurfsvoll, in dem sie sagte:

„Du Wildfang! Es ist Zeit, daß ich Dich wieder in meine Obhut nehme. Du scheinst in der schrankenlosen Freiheit da draußen den mütterliche Zügel arg gelockert zu haben. Wirst Du ihn denn jetzt wieder ertragen?“

„Von Deiner Hand – immer!“ versicherte Edmund, ihre Hand innig an die Lippen drückend, dann aber, sofort wieder in seinen alten übermüthigen Ton fallend, setzte er hinzu: „Ich habe es dem Oswald vorhergesagt, daß mein Urtheil auf Gnade lauten würde. Ich kenne meine Mama.“

Das Gesicht der Gräfin verfinsterte sich.

„Oswald scheint seiner Pflicht sehr wenig nachgekommen zu sein,“ entgegnete sie, „das ersah ich schon aus Deinen Briefen. Als der Aeltere und Besonnenere sollte er Dir zur Seite stehen; statt dessen ließ er Dich überall allein, wo er nicht unbedingt folgen mußte. Wenn Deine eigene Natur Dich nicht davor bewahrt hätte, mehr als bloße Thorheiten zu begehen, er hätte es sicher nicht gethan.“

„Nun, gepredigt hat er genug,“ sagte Edmund. „Es war schließlich meine Schuld, wenn ich nicht darauf hörte. Aber jetzt vor allen Dingen eine Frage, Mama! Weshalb ist Oswald in den Seitenflügel verbannt worden?“

„Verbannt? Welch ein Ausdruck! Du hast ja die Aenderungen [319] gesehen, die ich in Deinen Zimmern vorgenommen habe. Gefällt Dir die neue Einrichtung nicht?“

„Ja, aber –“

„Es ist nothwendig, daß Du jetzt eine eigene Wohnung erhältst,“ schnitt die Gräfin ihrem Sohne das Wort ab. „Wenn Du als Majoratsherr Deine Güter übernimmst, kannst Du nicht wie bisher die gleichen Zimmer mit Deinem Vetter theilen. Er wird das selbst einsehen.“

„Es war aber nicht nöthig, ihn deshalb in den alten Bau zu weisen, der nur in Ausnahmefällen benutzt wird,“ warf Edmund ein. „Es sind im Hauptgebäude Zimmer genug zur Verfügung. Deine Anordnung hat Oswald verletzt; ich sah es ganz deutlich. Nimm sie zurück – ich bitte Dich.“

„Das kann ich nicht, ohne mich vor der ganzen Dienerschaft lächerlich zu machen,“ sagte die Gräfin in sehr bestimmtem Tone. „Wenn Du es meinem ausdrücklich gegebenen Befehle gegenüber thun willst, so steht es Dir frei.“

„Mama!“ rief der junge Graf unwillig. „Du weißt ja, daß ich nie in Deine Beschlüsse eingreife. Aber die Aenderung hätte für jetzt wohl unterbleiben können; Oswald verläßt uns ja ohnehin in einigen Monaten.“

„Ja, im Herbste! Bis dahin wird mein Bruder die nöthigen Schritte thun, um ihm den Eintritt in den Staatsdienst zu öffnen.“

Edmund sah zu Boden.

„Ich glaube, Oswald hat andere Zukunftspläne,“ sagte er mit einem gewissen Zögern.

„Andere Zukunftspläne?“ wiederholte die Gräfin. „Ich will doch nicht hoffen, daß er uns zum zweiten Male Ungehorsam entgegensetzt. Damals, als es sich um seine Bestimmung für die Armee handelte, hast Du allein mir die Nachgiebigkeit abgezwungen. Du warst ja wie immer auf seiner Seite. Ich habe ihm den damaligen Trotz noch heute nicht vergeben.“

„Es war kein Trotz,“ vertheidigte Edmund. „Nur die Ueberzeugung Oswald's, daß er als Officier und Vertreter eines altadeligen Namens nicht in der Armee existiren konnte, ohne dauernd meine Beihülfe in Anspruch zu nehmen.“

„Die Du ihm doch wohl überreichlich gewährt hättest.“

„Die er aber um keinen Preis annehmen will. Er besitzt nun einmal einen unbeugsamen Stolz.“

„Sage lieber einen unbändigen Hochmuth,“ fiel die Gräfin ein. „Ich kenne das; ich habe damit zu kämpfen gehabt von dem Tage an, wo er in unser Haus kam. Wäre es nicht die ausdrückliche, testamentarische Bestimmung meines Gemahls gewesen, daß er Deine ganze Erziehung, all Deine Studien und Reisen theilen sollte, ich hätte Dich nie so ausschließlich in seiner Gesellschaft gelassen. Mir war er nie sympathisch. Ich ertrage nun einmal nicht diese kalten, spürenden Augen, die immer wachsam, immer auf der Lauer sind, denen nichts verborgen bleibt, und wäre es das Geheimste.“

Edmund lachte laut auf.

„Aber Mama, Du machst ja einen förmlichen Criminalisten aus Oswald. Er ist allerdings ein ungewöhnlich scharfer Beobachter, das hört man an seinen gelegentlichen Bemerkungen über Menschen und Verhältnisse, an denen Anderen nicht das Geringste auffällt. Hier in Ettersberg kann er das doch aber nicht geltend machen; wir haben ja Gott sei Dank keine Geheimnisse.“

Die Gräfin beugte sich über die auf dem Tische liegenden Papiere und schien irgend etwas darin zu suchen.

„Gleichviel! Ich habe Deine blinde Vorliebe nie begriffen. Du mit Deiner warmen, offenen Natur, die sich immer voll und ganz giebt, und Oswald's eisige Verschlossenheit! Ihr paßt zusammen wie Wasser und Feuer.“

„Vielleicht ziehen wir uns gerade deswegen gegenseitig an,“ scherzte Edmund. „Oswald ist nicht liebenswürdig – das gebe ich zu, und gegen mich ist er es nun vollends nicht. Trotzdem zieht es mich immer wieder zu ihm, und er hat mich gleichfalls lieb – das weiß ich.“

„Meinst Du?“ fragte die Gräfin kalt. „Da täuschest Du Dich entschieden. Oswald gehört zu den Naturen, welche diejenigen hassen, von denen sie Wohlthaten annehmen müssen. Er hat es mir nie vergeben, daß meine Vermählung seine und seines Vaters Aussichten vernichtete, und Dir verzeiht er es nicht, daß Du zwischen ihm und dem Majorate stehst. Ich kenne ihn besser als Du.“

Edmund schwieg; er wußte aus Erfahrung, daß seine Vertheidigung die Sache nur verschlimmerte; denn hier sprach die mütterliche Eifersucht mit, die sich jedesmal regte, so oft der Sohn seine Zuneigung zu dem Vetter und Jugendgefährten offen eingestand. Die Fortsetzung des Gespräches verbot sich überdies von selbst, da der Gegenstand desselben eintrat.

Oswald's Begrüßung war ebenso förmlich und die Antwort der Gräfin ebenso kühl, wie gestern Abend; welcher Art ihre Empfindungen dem Neffen gegenüber auch sein mochten, die Förmlichkeit dieses Morgengrußes und der Erkundigung nach dem Befinden der Tante wurde ihm nie erlassen. Für diesmal gab die eben vollendete Reise Anlaß zu einem längeren Gespräche. Edmund schilderte einige Erlebnisse derselben; Oswald ergänzte und vervollständigte und so kam es, daß der Besuch, der sich sonst immer nur auf wenige Minuten beschränkte, über eine Viertelstunde dauerte.

„Ihr habt Euch Beide verändert während der sechs Monate,“ sagte die Gräfin endlich. „Du besonders, Edmund, siehst mit Deinem jetzt so dunklen Teint vollständig wie ein Südländer aus.“

„Ich bin auch oft genug dafür gehalten worden,“ entgegnete Edmund. „In dieser Hinsicht habe ich leider gar nichts geerbt von meiner schönen blonden Mama.“

Die Mutter lächelte.

„Nun, ich dächte, Du könntest zufrieden sein mit dem, was Dir die Natur gegeben hat. Mir gleichst Du allerdings nicht, eher Deinem Vater.“

„Dem Onkel? Schwerlich!“ warf Oswald ein.

„Wie willst Du das beurtheilen?“ fragte die Gräfin etwas gereizt. „Du und Edmund, Ihr waret ja noch Knaben, als mein Gemahl starb.“

„Nein, Mama, gieb Dir keine Mühe, irgend eine Aehnlichkeit zu entdecken,“ fiel Edmund ein. „Ich erinnere mich des Papa freilich nur noch dunkel, aber wir haben ja sein lebensgroßes Bild, das ihn im kräftigsten Alter darstellt. Ich habe auch nicht einen einzigen Zug von ihm, und das ist eigentlich wunderbar; denn gerade in unserem Geschlechte pflegen die Familienzüge besonders stark ausgeprägt zu sein. Sieh Dir Oswald an! Das ist ein Ettersberg vom Scheitel bis zur Sohle. Der gleicht Zug um Zug den alten Familienportraits drüben im Saale, bei denen sich von Generation zu Generation immer dieselben Linien wiederholen. Der Himmel weiß es, weshalb ich allein dieser historischen Aehnlichkeit nicht gewürdigt worden bin. – Was siehst Du mich so an, Oswald?“

Das Auge des jungen Mannes lag allerdings scharf und prüfend auf dem Gesichte seines Vetters.

„Ich finde, daß Du Recht hast,“ entgegnete er. „Du hast auch nicht einen einzigen Ettersberg'schen Zug.“

„Das ist nun wieder eine von Deinen gewagten Behauptungen,“ sagte die Gräfin in scharf zurechtweisendem Tone. „Solche Familienzüge fehlen in der Jugend oft ganz und treten im späteren Alter um so deutlicher hervor. Das wird auch bei Edmund der Fall sein.“

Der junge Graf schüttelte lachend den Kopf. „Ich glaube kaum. Ich bin nun einmal gänzlich aus der Art geschlagen und frage mich oft, wie ich mit meinem brausenden, leicht beweglichen Blute, diesem Leichtsinne und Uebermuthe, um deren willen mir fortwährend der Text gelesen wird, in dieses Geschlecht gerathen bin, das von jeher so verzweifelt ernsthaft und verständig und nebenbei ein wenig langweilig und schwerfällig gewesen ist. Oswald würde sich weit besser zum Chef desselben eignen, als ich.“

„Edmund!“ rief die Gräfin zürnend. Man wußte nicht, galt der Ausruf der letzten Behauptung oder dem leichtsinnigen Ausfalle auf die Vorfahren.

„Ja so,“ sagte Edmund etwas beschämt. „Ich bitte die Schatten meiner Ahnen um Verzeihung. Du siehst es ja, Mama, ich habe leider nichts von ihren hundertjährigen Vortrefflichkeiten geerbt, nicht einmal die Verständigkeit.“

„Ich glaube, die Tante meinte etwas Anderes,“ sagte Oswald ruhig.

Die Gräfin preßte die Lippen zusammen. Ihr Gesicht zeigte, daß sie wieder einmal den vollsten Widerwillen gegen die „kalten, spürenden Augen“ empfand, die jetzt auf ihr ruhten.

„Laßt doch endlich den Streit über die Familienähnlichkeiten!“ sagte sie abbrechend. „Die Tradition weist da mindestens [320] ebenso viele Ausnahmen wie Regeln auf. – Oswald, ich wünsche, daß Du einmal diese Papiere durchsiehst. – Du bist ja auch Jurist. Unser Rechtsanwalt scheint den Ausgang der Sache für zweifelhaft zu halten, ich hoffe aber, Edmund ist meiner Meinung, daß wir sie bis auf’s Aeußerste verfolgen müssen.“

Damit schob sie die auf dem Tische liegenden Papiere ihrem Neffen hin, der einen flüchtigen Blick hineinwarf.

„Ah so! Es handelt sich um den Proceß gegen den Oberamtsrath Rüstow auf Brunneck.“

„Mein Gott, ist die Geschichte noch nicht zu Ende?“ fragte Edmund. „Der Proceß wurde ja schon eingeleitet, ehe wir abreisten.“

Oswald lächelte etwas spöttisch. „Du scheinst einen eigenthümlichen Begriff von der Dauer solcher gerichtlichen Proceduren zu haben. Das kann jahrelang währen. Wenn Du erlaubst, Tante, so nehme ich die Papiere mit in mein Zimmer, um sie dort durchzusehen, wenn nicht Edmund vorher –“

„Nein, mich verschont mit dergleichen!“ wehrte der Graf ab. „Ich habe die Geschichte schon halb und halb wieder vergessen. Dieser Rüstow hat ja wohl die Tochter des Onkels Franz geheirathet und erhebt nun Ansprüche auf Dornau, das der Onkel mir in seinem Testamente vermacht hat?“

„Und mit vollem Rechte,“ ergänzte die Gräfin, „denn jene Heirath fand wider seinen ausdrücklichen Willen statt. Seine Tochter hat durch ihre Mesalliance mit ihm und der gesammten Familie gebrochen. Es war natürlich, daß er sie vollständig enterbte, und ebenso natürlich, daß er, da keine näheren Verwandten existiren, Dornau dem Majoratsbesitz unserer Familie hinzufügen wollte, also Dir vermachte.“

Auf der Stirn Edmund’s zeigte sich eine leichte Wolke bei dieser Auseinandersetzung.

„Das mag sein, aber mir ist die ganze Sache peinlich. Was brauche ich als Herr von Ettersberg nach dem Besitze von Dornau zu fragen? Ich komme mir da wie ein Eindringling in fremde Rechte vor, die doch nun einmal trotz aller Familienzerwürfnisse und Testamente den directen Erben zustehen. Ich würde am liebsten sehen, wenn irgend ein Vergleich geschlossen würde.“

„Das ist unmöglich,“ sagte die Gräfin mit Bestimmtheit. „Die Schroffheit Rüstow’s hat der Sache von vornherein eine Wendung gegeben, die jeden Vergleich ausschließt. Die Art, wie er das Testament anfocht und gegen Dich, den erklärten Erben, auftrat, war förmlich beleidigend und machte jede Nachgiebigkeit unsererseits zu einer unverzeihlichen Schwäche. Ueberdies hast Du kein Recht, die ausdrückliche Willensmeinung unseres Verwandten umzustoßen. Er wollte nun einmal diese 'Frau Rüstow' gänzlich von der Erbschaft ausgeschlossen wissen.“

„Sie ist aber doch auch schon seit Jahren todt,“ warf Edmund ein. „Und ihr Mann ist doch in keinem Falle erbberechtigt.“

„Nein, aber er erhebt die Ansprüche im Namen seiner Tochter.“

Die beiden jungen Männer blickten gleichzeitig auf; Edmund fuhr wie elektrisirt in die Höhe.

„Seiner Tochter? Er hat also eine Tochter?“

„Gewiß! Ein achtzehnjähriges Mädchen, so viel ich, weiß.“

„Und diese junge Dame und ich sind also die beiden feindlichen Erbschaftsprätendenten?“

„Allerdings! Aber was interessirt Dich denn auf einmal so an der Sache?“

„Victoria, ich habe es!“ rief Edmund. „Oswald, das ist unsere reizende Bekanntschaft von gestern. Deshalb also fand sie das Zusammentreffen so unbeschreiblich komisch; deshalb verweigerte sie uns den Namen; daher die Hindeutung auf die Beziehungen zwischen uns – es trifft Alles zu, Wort für Wort. Es ist gar kein Zweifel möglich.“

„Willst Du mir denn nicht endlich sagen, was das alles zu bedeuten hat?“ fragte die Gräfin, welche diese Lebhaftigkeit sehr unpassend zu finden schien.

„Gewiß, Mama, auf der Stelle! Wir lernten gestern eine junge Dame kennen, oder vielmehr ich lernte sie kennen; denn Oswald kümmerte sich wie gewöhnlich gar nicht darum. Ich that es aber für uns Beide“ – und nun begann der junge Graf das gestrige Abenteuer mit allen Einzelnheiten zu erzählen, mit unverkennbarem Triumphe darüber, daß er seine schöne Unbekannte entdeckt hatte, und mit der sprudelndsten Laune. Trotzdem gelang es ihm nicht, ein Lächeln auf dem Gesichte seiner Mutter hervorzurufen. Sie hörte schweigend zu, und als er mit einer sehr enthusiastischen Schilderung endigte, sagte sie sehr kühl und gemessen:

„Du scheinst diese Begegnung als ein Vergnügen zu betrachten. Mir an Deiner Stelle wäre sie peinlich gewesen. Es ist nicht angenehm, mit Personen zusammenzutreffen, denen man feindlich gegenübersteht.“

„Feindlich?“ rief Edmund. „Einer Dame von achtzehn Jahren stehe ich nie feindlich gegenüber, und dieser nun vollends nicht, und wenn sie Ettersberg selbst beanspruchte. Ich würde ihr mit Vergnügen ganz Dornau zu Füßen legen, wenn –“

„Ich bitte mir aus, Edmund, daß Du die Sache nicht mit diesem Leichtsinn behandelst,“ fiel ihm die Gräfin in das Wort. „Ich weiß, Du liebst dergleichen Thorheiten, wo es sich aber um ernste Dinge handelt, müssen sie zurückstehen, und diese Angelegenheit ist ernster Natur. Der Proceß wird von Seiten der Gegenpartei mit einer Erbitterung und Rücksichtslosigkeit geführt, die jede persönliche Berührung ausschließt. Ich hoffe, Du wirst das einsehen und etwaige fernere Begegnungen mit aller Entschiedenheit vermeiden. Ich erwarte das mit Bestimmtheit.“

Damit erhob sie sich, und um dem Sohne ja keinen Zweifel über ihre völlige Ungnade zu lassen, verließ sie das Zimmer.

Der junge Majoratsherr, dessen Stellung die Mutter bei jeder Gelegenheit betonte, schien gleichwohl noch sehr unter dem mütterlichen Scepter zu stehen; denn er wagte kein Wort der Erwiderung, obgleich der Proceß im Grunde doch nur ihn allein anging.

(Fortsetzung folgt.)




Das Haftpflichtgesetz und seine Revision.
Von Karl Biedermann.
(Schluß.)

Der erste Theil dieses Aufsatzes (in Nr. 17) sprach im Hinblick auf die Revisionsbedürftigkeit des Haftpflichtgesetzes die Hoffnung aus, daß eine Revision desselben in nicht ferner Zeit erfolgen werde. Allein vor der Hand besteht das Gesetz noch in der Gestalt fort, in welcher es 1871 erlassen wurde, und muthmaßlich dürfte es auch noch in allernächster Zeit unverändert fortbestehen, da wohl frühestens beim nächstjährigen Reichstag eine Revision zu erwarten steht. Unter diesen Umständen mag es denn nicht überflüssig sein, zu untersuchen, welche Wirkungen das Haftpflichtgesetz bisher gehabt hat und voraussichtlich auch, so lange es seine gegenwärtige Gestalt behält, noch haben wird. Denn für die dabei Betheiligten ist es nicht gleichgültig, wie das Gesetz in der Praxis wirkt, da es von der Kenntniß dieser Wirkungen wesentlich mit abhängt, ob ein Beschädigter eine gerichtliche Klage auf Entschädigung glaubt anstrengen zu sollen, oder ob er vorzieht, sich in Güte mit dem Unternehmer zu einigen, umgekehrt; ob der Letztere es auf einen Proceß ankommen lassen, oder im Wege der Güte eine angemessene Entschädigung dem Verletzten, beziehungsweise den Hinterlassenen eines Getödteten, gewähren soll.

Die bisher in Bezug auf Unglücksfälle gemachten Beobachtungen scheinen darzuthun, daß einerseits öfters Processe auf Grund des Haftpflichtgesetzes angestrengt werden, deren Erfolglosigkeit vorauszusehen war (z. B. in den Fällen, wo die Verletzung zweifellos durch eine Unvorsichtigkeit des Verletzten selbst herbeigeführt ward), andererseits Beschädigte oder deren Familien von dem Anspruch auf Entschädigung, den die Gesetzgebung ihnen gewähren wollte, keinen Gebrauch machen, entweder weil sie das Gesetz überhaupt nicht genügend kennen, oder weil sie der vorgefaßten Meinung sind (in welcher sie leider durch gewissenlose Agitatoren bestärkt werden, welchen die Verhetzung der Arbeiter mehr gilt, als deren materielles Wohl), als ob ein solcher Anspruch wohl auf dem Papier stände, in der Praxis aber niemals durchzuführen wäre.

[321] 

Der erste Schreck.
Originalzeichnung von Emil Schmidt in Leipzig.

[322] In dieser Beziehung wird hoffentlich das öffentliche Gerichtsverfahren, welches seit Einführung der großen Reichsjustizgesetze auch im Civilprocesse zur Anwendung kommt, wohlthätig wirken. Die Entscheidungen und die Entscheidungsgründe der Gerichte in Haftpflichtsachen werden allmählich mehr und mehr bekannt werden, und es wird sich so nach und nach in Volkskreisen eine deutlichere Kenntniß des Gesetzes und seiner Anwendung herausbilden.

Bisher waren es fast nur Erkenntnisse der Gerichte höherer Instanz, und vornehmlich der höchsten, welche in die Oeffentlichkeit gelangten. Allerdings sind aber auch gerade diese Erkenntnisse ganz besonders wichtig und werden es auch künftig sein, da ja unter Umständen Jeder, der einen Proceß auf Grund des Haftpflichtgesetzes anstrengt, oder gegen den ein solcher angestrengt wird, in die Lage kommen kann, im Wege der Berufung an diese höchste Instanz zu appelliren, da ferner mit Grund anzunehmen ist, daß die unteren und mittleren Gerichte bei ihrer Auslegung des Haftpflichtgesetzes sich nach den in ähnlichen früheren Fällen ergangenen Entscheidungen der obersten Instanz mehr und mehr richten werden. Es dürfte daher wohl in der Aufgabe eines so vielverbreiteten und den Interessen aller Schichten des Volkes gewidmeten Blattes wie die „Gartenlaube“ liegen, zum Bekanntwerden wenigstens einiger besonders wichtiger Erkenntnisse dieser Art auch in weiteren Kreisen beizutragen.

Bis zum 1. October 1879 war die höchste Instanz in allen Haftpflichtprocessen das Reichsoberhandelsgericht; seit dem 1. October 1879 ist es das Reichsgericht. Von jenem ersten liegt eine größere Reihe von Erkenntnissen in Haftpflichtsachen aus einer fast achtjährigen Praxis vor; aber auch dieses letztere, obschon seine Thätigkeit noch nicht einmal so viel Monate alt ist, hat doch schon eine Anzahl solcher Fälle entschieden. Die von Dr. Hans Blum unter Mitwirkung von Dr. Karl Braun bei Duncker und Humblot in Leipzig herausgegebenen „Annalen des Reichsgerichts“ enthalten in ihren ersten drei Heften elf solche Entscheidungen, darunter einige seht interessante und principiell wichtige. Um jedoch chronologisch zu verfahren, beginnen wir mit jenen früheren des Reichsoberhandelsgerichts.

Da stoßen wir denn zuerst auf einen allgemeinen Grundsatz, der sich zwar für den Juristen von selbst versteht, der aber dem nicht juristisch gebildeten Publicum wohl häufig unbekannt oder doch unklar ist. Bei größeren Unglücksfällen, namentlich Massenunfällen, pflegt immer alsbald eine amtliche Erörterung und eventuell eine strafrechtliche Untersuchung einzutreten, um zu ermitteln, ob eine von Amtswegen zu bestrafende Verschuldung vorliege. So geschah es z. B. bei dem jüngsten großen Grubenunglück in dem Kohlenschacht bei Zwickau. Da hieß es nun in öffentlichen Blättern: „die amtliche Erörterung hat keine Verschuldung herausgestellt,“ und sofort wurde daran die Schlußfolgerung geknüpft: „somit erweist sich wieder einmal das Haftpflichtgesetz als unwirksam.“ Diese Folgerung ist eine unberechtigte. Ein Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts vom 19. October 1874 spricht ausdrücklich aus, daß der Ausfall einer strafrechtlichen Erörterung oder Untersuchung für den Civilrichter, der das Haftpflichtgesetz zu handhaben hat, in keiner Weise ausschlaggebend oder auch nur bestimmend sein kann, daß recht wohl der Strafrichter keine Schuld finden mag, die zu einem strafrechtlichen Verfahren Anlaß böte, wohl aber der Civilrichter eine solche, welche ausreicht, um darauf eine civilrechtliche Haftpflicht und folglich die Verbindlichkeit zur Schadloshaltung eines Verletzten, beziehentlich der Hinterlassen eines Getödteten, zu begründen.

Die Entscheidung des Civilgerichts in Haftpflichtsachen ist eben eine gänzlich und nach allen Seiten hin freie, lediglich von der eigensten Ueberzeugung des Richters, wie sich diese aus seiner Gesammtanschauung des Sachverhaltes herausbildet, abhängige. Diese „freie richterliche Ueberzeugung“ ist seit Einführung der Civilproceßordnung für das deutsche Reich allgemeingültiger Grundsatz unserer Civilrechtspflege geworden; vorher bestand sie nur in Haftpflichtsachen in Folge einer ausdrücklichen diesfallsigen Vorschrift im Haftpflichtgesetze selbst. Nach den früheren allgemeinen processualischen Bestimmungen mußte der Richter gewisse Dinge als bewiesen annehmen, durfte er andere nicht als bewiesen gelten lassen, je nachdem bestimmten, genau vorgeschriebenen Beweisregeln von den Parteien genügt oder nicht genügt worden war. Jetzt steht es ihm frei, eine Beweisaufnahme zu verfügen wenn sie ihm nothwendig scheint, oder sie zu unterlassen, wenn er ihrer zur Gewinnung einer bestimmten Ansicht von dem Rechtsfalle nicht zu bedürfen glaubt. Oder – wie es in den Motiven zur deutschen Civilproceßordnung heißt – „der Richter ist nicht genöthigt, nur das von den Parteien Bewiesene, beziehentlich Behauptete für wahr anzunehmen, sondern er hat sich, ganz unabhängig davon, ein Bild von dem Thatbestande zu machen“.

Dieses völlig freie Ermessen der Gerichte – welches, um das noch zu erwähnen, in dem durch die deutsche Civilproceßordnung auch im Civilverfahren eingeführten mündlichen Verfahren eine wichtige Verstärkung und Unterstützung finden wird – kommt, wie wir wohl kaum zu sagen brauchen, vorzugsweise dem klagenden Theil in Haftpflichtprocessen, also zumeist den durch Unfälle in Fabriken, Bergwerken etc. beschädigten Arbeitern oder ihren Familien, ferner dem bei Eisenbahnkatastrophen betheiligten Publicum zugute. Dem Beschädigten, der eine solche Klage anstellen will, mag es oft schwer fallen, eine bestimmte „Verschuldung“ des Betriebsunternehmers oder seiner Bevollmächtigten und deren ursachlichen Zusammenhang mit der Beschädigung dergestalt nachzuweisen, daß nirgends eine Lücke im Beweise bleibt, doppelt schwer den Hinterlassenen eines solchen, wo nicht einmal der Mann selbst mehr über das Vorgefallene etwas angeben kann. Hier aber tritt nun eben das Gericht mit seinem freien Ermessen ergänzend ein: es verfolgt die vom Kläger gegebene Spur weiter; es sucht, nach seiner eigenen besten Kenntniß, von dem, was zu einem solchen Beweise nothwendig, das noch Fehlende auf, indem es sich seiner discretionären Gewalt bedient, um die ihm nöthig scheinenden Beweismittel herbeizuschaffen, und stellt so nach Möglichkeit eine gewisse Gleichheit zwischen den Parteien her. Denn zu leugnen ist ja nicht, daß mindestens bei Processen nach § 2 des Haftpflichtgesetzes (bei Unglücksfällen in Bergwerken, Steinbrüchen, Fabriken) der Unternehmer, als der Verklagte, von Haus aus in einer günstigeren Lage sich befindet, als der Beschädigte, welcher ihm oder seinen Vertretern eine bestimmte Verschuldung nachweisen soll – ganz abgesehen von den sonstigen Schwierigkeiten, mit denen namentlich der vermögenslose, von seinem Arbeitgeber abhängige Arbeiter bei einem Processe mit diesem oder vollends mit einer denselben vertretenden Unfallversicherungs-Gesellschaft zu kämpfen hat.

Um nun den zugleich so wichtigen und so schwierigen Nachweis einer Schuld zu erleichtern, hat die oberste richterliche Instanz im Uebrigen bereits gewisse Linien gezogen, welche in einer für den Beschädigten sehr günstigen Weise den Begriff des „Verschuldens“ in der einen und der andern Richtung feststellen.

So heißt es in dem schon erwähnten Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts vom 19. October 1874 wörtlich:

„Unter ‚Verschulden‘ ist vor Allem die Nichtbeobachtung des nach allgemeinen Rechtsprincipien erforderlichen Grades von Aufmerksamkeit zu verstehen. Das Gericht hat dies im civilrechtlichen Sinn nach freier Ueberzeugung zu entscheiden, selbst wenn eine criminelle Freisprechung stattgefunden hat.“ Ferner in einem vom 30. Juni 1875: „Da bei den betreffenden Personen (Beauftragten von Unternehmern) eine besondere Sachkenntniß vorauszusetzen, so gehört bei ihnen zum ‚Verschulden‘ jede Uebertretung der allgemeinen und speciellen, gesetzlichen oder polizeilichen Vorschriften, Instructionen, Reglements, gleichviel ob nach Reichs- oder Landesgesetzen, ob für das ganze Land oder einen einzelnen Bezirk erlassen, vornehmlich der §§ 16, 18, 24, 25, 107, 108, 147 Nr. 2, 148 Nr. 10 der Reichsgewerbeordnung, der Verordnung des Bundesraths über Anlegung von Dampfkesseln vom 29. Mai 1871 und der Ausführungsverordnungen dafür in den Einzelstaaten etc. Als ‚Verschulden‘ stellt es sich ferner dar, wenn diejenige Vorsicht zur Verhütung von Unfällen nicht aufgewendet ist, welche Wissenschaft und Erfahrung dem Angestellten zur Pflicht machen. Bei der Mannigfaltigkeit der hier in Betracht kommenden Fragen wird sich dies im einzelnen Falle wohl nur durch Anhörung von Sachverständigen entscheiden lassen. Der Richter wird dabei von der Voraussetzung ausgehen müssen, daß sich jeder derartige gefährliche Betrieb auf der Höhe der technischen etc. Erfahrung halten, das heißt alle diejenigen Sicherheitsvorkehrungen treffen muß, welche nach der herrschenden Verkehrsanschauung erforderlich sind. Er wird andrerseits die concreten Umstände genauer zu berücksichtigen haben, die Möglichkeit solcher Einrichtungen nach den localen Verhältnissen etc.“

Zu dem „Verschulden“ eines Angestellten rechnet es daher [323] auch das Reichsoberhandelsgericht, wenn derselbe solche Sicherheitsvorkehrungen oder Maßregeln anzuwenden unterließ, „welche nach Gesetz, Wissenschaft, Erfahrung, allgemeiner vernünftiger Verkehrsanschauung zur Verhütung von Unfällen erforderlich sind“, ebenso, wenn er eine unrichtige, also jenem Zweck nicht entsprechende Anordnung des Betriebsunternehmers selbst wider besseres Wissen oder fahrlässiger Weise zur Ausführung brachte, ohne dagegen Vorstellung zu machen; wenn er untaugliche Maschinen, welche Jener angeschafft, ohne weiteres zur Verwendung bringen ließ etc. Kann der Angestellte beweisen, daß er den Betriebsunternehmer auf das Ungenügende oder Zweckwidrige gewisser Vorrichtungen aufmerksam gemacht, Letzterer aber nichts desto weniger darauf beharrt hat, so ist der Angestellte schuldlos. Die Klage ist dann gegen den Betriebsunternehmer selbst zu richten, der nach allgemeinen Landesgesetzen für solche Verschuldungen an erster Stelle verantwortlich ist.

Ein „Verschulden durch Unterlassung“, also einen Grund zur Haftbarkeit, erblickt das Reichsoberhandelsgericht ferner darin, wenn ein Betriebsleiter die Benutzung einer von den Arbeitern hergestellten ungeeigneten und gefährlichen Arbeitsvorrichtung (z. B. eines zu schwachen Gerüstes) nicht verhindert oder verbietet, überhaupt gegen ein ungeeignetes Verhalten der Arbeiter, durch welches sie sich selbst oder ihre Mitarbeiter in Gefahr bringen können, einzuschreiten unterläßt.

Ja schon wenn der Betriebsleiter verabsäumt, solche Arbeiter, die er zu besonders gefährlichen Verrichtungen verwendet, über diese Gefahr, die Schutzmittel dagegen und das von ihnen bei der betreffenden Verrichtung einzuhaltende Verfahren zu belehren, ist dies nach einem Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts ein ausreichender Grund, den Betriebsleiter für schuldig und folglich den Betriebsunternehmer für haftbar wegen der dadurch veranlaßten Körperverletzung zu erklären – es wäre denn, daß die zu der gefährlichen Arbeit verwendete Person, wie dem Betriebsleiter bekannt war, die dazu erforderliche Sachkunde und Erfahrung bereits besaß.

Der Kläger muß allerdings die Verletzung auf irgend eine schuldbare Handlung oder Unterlassung beim Betriebe seitens eines der Angestellten zurückführen; allein auf der andern Seite genügt es, wenn nur die durch die Schuld des Angestellten herbeigeführte Möglichkeit einer solchen Verletzung nachgewiesen wird. „Wollte man,“ sagt das Reichsoberhandelsgericht, „von dem Kläger den strengen Nachweis verlangen, daß die Verletzung auf keine andere Weise eintreten konnte, als durch ein schuldbares Verfahren des Angestellten, so würde die Haftpflicht des Unternehmers beinahe in allen Fällen rein illusorisch sein.“ Beispielsweise: wenn der mit Prüfung und Herrichtung der Sicherheitslampen in einem Kohlen- oder Bergwerke beauftragte Betriebsbeamte nachweisbar hierbei nachlässig gehandelt hat und es ist nun ein Unfall durch eine schlecht hergerichtete Sicherheitslampe entstanden, so ist die Haftpflicht begründet und es bedarf nicht des Nachweises, daß dadurch allein, nicht etwa durch ungeschickte Handhabung der Lampe seitens des Verletzten der Unfall herbeigeführt ward. Nur wenn der Betriebsunternehmer nachweisen kann, daß auch bei völlig guter Beschaffenheit der Lampen der Unfall dennoch (durch eine unabwendbare höhere Gewalt) eingetreten sein würde, ist derselbe haftfrei.

Natürlich sind die Fälle nicht selten, wo es ungewiß erscheint, ob die Verletzung eines Arbeiters durch dessen eigenes Verschulden oder durch das Verschulden eines Angestellten eingetreten sei. Das Reichsoberhandelsgericht nimmt nun an, daß überall da keine Haftpflicht eintrete, wo zwar ein Verschulden des Angestellten vorhanden war, wo aber trotzdem die Verletzung (beziehentlich Tödtung) nicht erfolgt wäre, wenn nicht der Arbeiter selbst pflichtwidrig gehandelt hätte. Wenn also z. B. eine Maschine in zu schnellen Gang gebracht und dadurch ein Arbeiter verletzt worden ist, der Verletzte aber der Maschine unbefugter Weise oder gegen erfolgte Warnung zu nahe gekommen ist, so gilt hier die Verletzung als durch die eigene Schuld des Arbeiters herbeigeführt. Ebenso, wenn eine Grube polizeiwidrig offen stand, der Arbeiter aber, der hineinstürzt, wider Verbot und Warnung jenen Ort betrat. Daß der Arbeiter durch sein verbotswidriges oder überhaupt schuldbares Verhalten sich selbst die Verletzung zugezogen habe, muß aber vom Beklagten bewiesen werden. Wenn z. B. – erklärt ein Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts – ein Arbeiter auf einem fehlerhaft erbauten Gerüste steht und dort eine Handlung vornimmt, die verbotswidrig ist, und das Gerüst bricht, so muß erst bewiesen werden, daß der Zusammenbruch des Gerüstes in Folge dieser verbotswidrigen Handlung des Arbeiters erfolgt sei. Kann dies nicht bewiesen werden, so gilt die fehlerhafte Construction des Gerüstes als Ursache des Unfalles, und der Betriebsunternehmer bleibt dafür haftpflichtig.

Die angeführten Beispiele werden genügen, um darzuthun, in welch hohem und freiem Sinne das Reichsoberhandelsgericht seiner Zeit das Haftpflichtgesetz ausgelegt und angewendet hat. Daß das an seine Stelle getretene Reichsgericht auch diese Erbschaft seines Vorgängers voll und ganz antreten werde, konnte im voraus nicht zweifelhaft sein. Und in der That finden wir schon in den während dieser kurzen Zeit seiner Thätigkeit ergangenen Erkenntnissen des Reichsgericht in Haftpflichtsachen mehrere höchst bemerkenswerthe Entscheidungen. In einer derselben, vom 2. December 1879, wird nicht nur der auf Eisenbahnen bezügliche § 1 des Haftpflichtgesetzes unbedingt auch auf Pferdebahnen angewendet, sondern wird ferner auch der Grundsatz ausgesprochen, daß eine Eisenbahngesellschaft auch für solche Unglücksfälle aufkommen müssen, welche durch bloßen „Zufall“ (nicht „höhere Gewalt“) veranlaßt waren.

„Höhere Gewalt“, heißt es in den Entscheidungsgründen, „bezeichnet, im Unterschiede vom Zufall, ein äußeres, durch elementare Naturkräfte, die schädigende Wirkung von Naturereignissen, oder durch Menschenkräfte, die Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereigniß, welches den Unfall verursacht hat und dessen schädigende Wirkung nach der allgemeinen Verkehrsanschauung durch geeignete Vorkehrungen zu vermeiden unmöglich ist.“ Es handelte sich im gegebenen Falle um die Beschädigung eines fünfjährigen Knaben, der, gerade als die Pferdebahn herankam, vom Trottoir auf das Geleise herabsprang und so unter die Pferde gerieth. Das Reichsgericht scheint nun diese Bewegung des Kindes, die den Unfall herbeiführte, als einen „Zufall“ zu betrachten. Eine „eigene Verschuldung“ sei nicht anzunehmen, weil nach sächsischem Recht (der Fall kam in Leipzig vor) bis zum siebenten Jahre die „Kindheit“ dauert, welche jede „Handlungsfähigkeit“, folglich auch jede „Verschuldung“ ausschließt. Dahingegen unterscheidet das Reichsgericht streng zwischen Verletzungen, die wirklich beim Eisenbahnbetriebe, und solche, die zwar auf dem Terrain einer Eisenbahn, doch ohne Zusammenhang mit dem Betriebe derselben vorgekommen, und schließt die letzteren unbedingt von der Unterstellung unter das Haftpflichtgesetz aus.

Ein anderer interessanter Fall ist folgender: Ein junger Mensch von nicht ganz vierzehn Jahren, an eine Kreissäge gestellt, um daran größeren Knochenplatten eine bestimmte Gestalt zu geben, war beim Herbeilangen neuer Platten von der Säge am Arme erfaßt und dieser ihm verstümmelt worden. Hier entstand die Frage: Lag eigene Verschuldung oder Verschuldung des Angestellten vor, der den Knaben an die Kreissäge gestellt hatte? Das Reichsgericht nahm letzteres an, indem es sagte: „Schon in der Anstellung des noch nicht vierzehnjährigen Knaben an der Cirkelmaschine liegt das Verschulden des von dem Knaben erlittenen Unfalls. Eine Cirkelsäge, sie mag groß oder klein sein, ist eine Maschine, deren Gebrauch die größte Vorsicht erfordert und bei der geringsten Unvorsichtigkeit durch die Schnelligkeit ihrer Umdrehungen den an ihr beschäftigten Arbeiter in die Gefahr einer schweren Verletzung bringt. Der gänzlich unerfahrene, mit der Handhabung einer Kreissäge nicht im Mindesten vertraute Knabe sollte auf einmal durch eine Unterrichtung des Werkführers die erforderliche Geschicklichkeit im Gebrauche der Kreissäge und die zur Vermeidung einer Gefahr der Verletzung erforderliche Vorsicht erlangt haben!“ Hiernach also habe der Werkführer durch Anstellung des Knaben an der Kreissäge dessen Unglück verschuldet, umsomehr, als er gar nicht abgewartet, ob derselbe mit der Maschine richtig umgehen werde, vielmehr sich alsbald fortbegeben und den Knaben ohne Aufsicht die gefahrvolle Arbeit habe vollführen lassen. Das Reichsgericht findet diesen Thatbestand, der den Anspruch auf Schadenersatz begründet, dermaßen „für bewiesen zu erachten“, daß nach seiner Ansicht „es nicht erst, wie seitens der Vorinstanzen geschehen, einer besonderen Beweisauflage mittelst Erkenntnisses bedurfte“.

Eine ähnliche Collision zwischen fremder und eigener Verschuldung schien vorzuliegen, als in einer Glashütte ein Gerüst zusammengestürzt und ein Arbeiter dadurch schwer beschädigt [324] worden war. Der morsche Zustand des Gerüstes war erwiesen, aber der Beklagte behauptete, dasselbe würde nicht eingestürzt sein, wenn nicht der Beschädigte selbst zu viel Holz darauf gelegt hätte. Das Gericht indeß erklärte: „Es könne darauf entscheidendes Gewicht schon darum nicht gelegt werden, weil es die Pflicht des Angestellten gewesen wäre, wenn er das schadhafte Gerüst weiter benutzen ließ, den Arbeitern genaue Anweisung zu ertheilen, bis zu welchem Maße es belastet werden dürfe.“ Gleichermaßen wird es einem Angestellten als „Verschulden“ angerechnet, daß derselbe einen einfachen Fabrikarbeiter mit einer Arbeit betraute, die besondere Geschicklichkeit erforderte, „ohne ihm mindestens genaue Verhaltungsmaßregeln zu geben oder ihm den Beistand eines technischen Sachverständigen zu gewähren“.

Von besonderem Interesse ist auch ein Fall, wo ein Gießer als „Vorarbeiter“ eine gemeinschaftliche Arbeit zugleich commandirte und selbst mit verrichtete, und wo er durch die Art seines Zugreifens die Schädigung seines Mitarbeiters veranlaßte. Die unteren Instanzen hatten hier angenommen, der Gießer sei in diesem Falls nur als gewöhnlicher Arbeiter thätig gewesen; das Reichsgericht erkennt dagegen, daß das thätige Miteingreifen des Gießers seine Verantwortlichkeit als „Vorarbeiter“, als Leiter dieser bestimmten Verrichtung, nicht aufhebe, und verurtheilt deshalb den Unternehmer zur Entschädigung des verletzten Arbeiters.

Günstiger für die Unternehmer ist ein anderes Erkenntniß des Reichsgerichts, welches ausführt: die Benutzung einer Maschine könne zwar wegen ihrer großen Gefährlichkeit für die Arbeiter den Gewerbetreibenden für den dadurch herbeigeführten Schaden verantwortlich machen, allein dazu gehöre eine ganz besondere Gefährlichkeit. Wollte man alle für gefährlich zu erachtende Maschinen beseitigen, so würde eine große Reihe von Fabriken unmöglich werden. Nach § 107 der Gewerbe-Ordnung hätten die Arbeiter lediglich einen Anspruch auf „Sicherung“, soweit sie durch Einrichtungen „thunlich“ sei.

Wie in der Beurtheilung des Entschädigungsanspruchs selbst, so ist das Gericht auch vollkommen frei in Feststellung der Höhe der zu gewährenden Entschädigung. Nach dem Haftpflichtgesetze soll dem Beschädigten der durch die Beschädigung ihm erwachsende Vermögensnachtheil ersetzt werden. Schon das Reichsoberhandelsgericht hat nun angenommen, daß hierfür maßgebend sei die Summe des Erwerbes, welchen der Beschädigte zur Zeit der Beschädigung hatte. Dieses Einkommen muß ihm erhalten bleiben; bei gänzlicher Erwerbsunfähigkeit in Folge der Beschädigung muß ihm dasselbe vollständig ersetzt, bei nur partieller muß der Ausfall vergütet werden, den er in Folge dessen an jenem früherer Einkommen erleidet. Bei einem ungleichmäßigen Erwerbe wird der Durchschnitt der letzten Jahre als Norm genommen. War bei einer Fortsetzung derselben Arbeit (ohne Versetzung in eine andere Stelle) eine Erhöhung des Einkommens mit Bestimmtheit zu erwarten (z. B. bei Zugführern u. dergl.), so ist auch darauf Rücksicht zu nehmen. Wird dem noch theilweise Erwerbsfähigen von dem Entschädigungspflichtigen eine Arbeit zugetheilt, die ihm einen entsprechenden Erwerb gewährt, so muß er diese annehmen, wenn sie seiner bisherigen Beschäftigungsart angemessen ist, was bei dem gewöhnlichen Arbeiter leicht zu bewirken sein wird. Wissenschaftlich oder technisch Vorgebildete brauchen nur wieder in eine ebensolche Arbeit einzutreten. Das Reichsgericht hat dem von der Kreissäge beschädigten Knaben, da sein rechter Arm unverletzt geblieben, er also noch mit diesem arbeiten konnte, als Entschädigung eine der Hälfte seines Wochenlohns entsprechende Rente zugebilligt.

Eine eigenthümliche Frage entstand bei dem beschädigten fünfjährigen Knaben. Hier konnte von einem Verluste der Erwerbsfähigkeit augenblicklich noch keine Rede sein, und das Reichsgericht wies daher den Anspruch auf eine bestimmte Entschädigung „zur Zeit“ ab. Andererseits war zu erwägen, daß nach dem Haftpflichtgesetz jeder Anspruch auf Entschädigung, wenn nicht geltend gemacht, nach zwei Jahren erlischt. Um diesen Nachtheil von dem Beschädigten abzuwenden, entschied das Reichsgericht, „daß die Beklagte (die Pferdebahngesellschaft) dem Kläger (dem Vater des Beschädigten) für dessen Sohn Ersatz des Vermögensnachtheils zu leisten schuldig sei, welcher für Letzteren in Folge der Verletzung durch Verminderung der Erwerbsfähigkeit in Zukunft entstehen“. Auf Grund dieser Entscheidung kann der Beschädigte später, wem er in das Alter der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist und hierbei sich die Folgen der erlittenen Verletzung in Bezug auf eine Verminderung dieser Erwerbsthätigkeit herausstellen, auf die wirkliche Leistung einer Entschädigung Anspruch erheben.

Aus all diesen oberstrichterlichen Entscheidungen in Haftpflichtfällen erhellt so viel, daß auch schon das gegenwärtige Gesetz für den Schutz des Publicums und speciell der Arbeiter nicht wirkungslos gewesen ist – dank der erleuchteten, auf möglichste Ausgleichung der im Gesetze noch enthaltenen Ungleichheiten und Schwierigkeiten sorgsam bedacht gewesenen Praxis dieser höchsten Gerichte. Das darf indessen nicht abhalten, das Gesetz zu verbessern, wo es noch mangelhaft ist, und damit den Gerichten selbst eine freisinnige Auslegung desselben im Geiste der Gerechtigkeit und Billigkeit noch mehr zu erleichtern.




Ein deutscher Gesangsmeister.
Von J. C. Lobe.

Seit einem Menschenalter beobachte ich die stille, ernste Berufsthätigkeit eines Künstlers, der in der schwierigsten Disciplin der Musik, im Gesangunterricht, so beachtenswerthe Erfolge erzielt hat, daß er als eine Zierde deutschen Kunstlebens und Kunststrebens einen Platz im Gedächtniß der Nation verdient, nachdem in den engeren Fachkreisen sein Ruf längst über Deutschland, ja über Europa hinaus gedrungen. Oft schon war es meine Absicht, auf das künstlerische Wirken des bedeutenden Mannes aufmerksam zu machen, aber die stete Geneigtheit desselben, sich von der Oeffentlichkeit zurückzuziehen, durchkreuzte immer wieder mein Vorhaben. Die Aufzeichnungen blieben aus diesem Grunde unter meinen Papieren verborgen, bis sie jetzt wieder in die ordnende Hand des Greises fielen und mich allen Ernstes mahnten, eine gebotene Pflicht zu erfüllen und, den Widerstand des Meisters besiegend, das Leben und Wirken des gegenwärtig vielleicht gediegensten Gesangsbildners Deutschlands, wenn auch nur in kurzen Zügen, dem großen Lesekreise der „Gartenlaube“ vorzuführen.

Das Haupt einer ehrenfesten Tuchmacherfamilie in Neustadt an der Orla war Franz Götze’s Großvater. Er müßte kein Thüringer gewesen sein, wenn er an der monotonen Handhabung des Zettels und Einschlags, wie das Färberhandwerk sie erheischt, Genüge gefunden hätte.

Musik liegt dem Thüringer Völkchen im Blute; sie ist sein belebender, erheiternder Motor und kennzeichnet Land und Leute. Jedes Kind der zahlreichen Familie tractirte sein Instrument bei den fröhlichen Liedern und Tänzen der Feierstunde. Der Sohn David, Gründer einer ansehnlichen Kunst- und Schönfärberei im Orte der hundert Tuchmacher, dilettirte zugleich auf drei verschiedenen Instrumenten. Seine sämmtlichen neun Kinder waren wiederum mit Trieb und Lust zur Musik ausgestattet. Der älteste Sohn Eduard, ein entschiedenes Talent für das Clavierspiel, versuchte sich sogar in kleinen Compositionen, während er dem Handwerke des Vaters treu zugethan blieb.

Der dritte Sohn, Franz, der hier im wohlgelungenen Bildnisse erscheint, 1814 zu Neustadt an der Orla geboren, war gleichfalls für die Färberei bestimmt, und als es, wie üblich, zur Wahl eines Instrumentes kam, fiel die Wahl auf die Geige, da noch Niemand ahnte, daß der Knabe das beste Instrument in seiner Stimme mit auf die Welt gebracht hatte.

Der kleine Violinist gab bald Zeugniß von Talent und Fleiß. Als Ende der zwanziger Jahre der Vater mit seinem Geschäfte nach dem benachbarten Städtchen Pößneck übergesiedelt war, fanden sich einige junge gebildete Männer an mehreren Tagen jeder Woche bei der Färberfamilie ein, um sich an den musikalischen Unterhaltungen der beiden erwähnten kaum dem Knabenalter entwachsenen Söhne zu erfreuen. Einer der Musikfreunde, Kaufmann Sänger, der sich selbst als Clavierspieler an den Productionen gern betheiligte, wußte den Vater zu bestimmen, dem Sohne Franz gründlichen Unterricht auf der Geige geben zu lassen. Kein Geringerer als der Altmeister Spohr wurde als Lehrer ausersehen, [325] und mit dem Glauben an seinen neuen Beruf schied der fünfzehnjährige Färberlehrling von der ehrbaren Zunft, um sich in Kassel ganz der Kunst zu widmen. Spohr war als der größte Violinist seiner Zeit bekannt. Seine Virtuosität, die Kraft und Schönheit seines Tones und Spieles verfehlte nicht, großen Eindruck auf den lernbegierigen Schüler zu machen, der sich auch bald für die hervorragenden Compositionen des Meisters erwärmte, durch welche ihm der Einblick in die ideale Kunst erschlossen wurde.

Zu den Aufführungen des kurfürstlichen Hoftheaters, an dem Spohr Capellmeister war, hatten die Schüler freien Eintritt mit der Verpflichtung, zuweilen im Orchester auszuhelfen, es zu verstärken. Natürlich wurde hiervon ausgiebig Gebrauch gemacht. Die Oper übte in vortrefflichen Aufführungen unter der ausgezeichneten Leitung Spohr’s eine wunderbare Anziehungskraft aus. Die Autorität des hochgeschätzten Lehrers und die Verehrung seiner Meisterschaft war zu einem Grade gestiegen, daß in den Augen der Schüler selbst Paganini, als er sich in Kassel hören ließ und zur Bewunderung hinriß, nicht vermochte, dem deutschen Altmeister den Rang streitig zu machen.

Franz Götze.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

Nach den mit Fleiß und Ausdauer betriebenen Studien trat später Götze, auf Hummels Veranlassung, als erster Violinist in die großherzogliche Hofcapelle in Weimar ein.

Das Weimarische Theater stand noch von der classischen Zeit der Goethe’schen Oberleitung her in hohem Ansehen; jetzt glänzte es auch durch eine gute Oper unter Hummel’s Direction. Dem neuen Orchestermitgliede war damit andauernd Gelegenheit geboten, seine dramatisch-musikalischen Neigungen weiter zu cultiviren. Die in den bessern Umgangskreisen der Dichterstadt herrschende ästhetische Bildung regte ihn gleichzeitig zu eifrigen Studien in dieser Beziehung an. Er hatte erkannt, daß seine bisherige Schulbildung eine ungenügende gewesen, und suchte mit der ihm eigenen Gründlichkeit alles Wissenswerthe zu erlernen; nachdem er die Ueberzeugung gewonnen, daß das Ziel aller Kunst, nur auf Grund wahrer Bildung zu erstreben sei. In den Hof- und anderen Concerten errang der junge Virtuos bei Solovorträgen auf seinem Instrument neben Hummel und anderen Musikalischen Celebritäten reichen Beifall, und als Wieck mit seinem Wunderkind Clara (Schumann) in Weimar ein Concert veranstaltete, wurde Götze zu einem Duo gewonnen, das der greise Goethe sich in seinem Hause wiederholen ließ. Der gemessene freundliche Ausdruck von Seiten des unsterblichen Dichters blieb dem jungen Künstler eine theure Errungenschaft für’s Leben.

Bei den nach damaligen Verhältnissen noch sehr gering dotirten Stellen in der großherzoglichen Hofcapelle warfen noch einige zu ertheilende Privatstunden, deren ansehnliches Honorar nicht mehr als zwei gute Groschen betrug, das Nöthige zum spärlichen Haushalt ab. Die Ferienzeit benutzte Götze wiederholt zu Reisen nach Kassel, um bei Spohr zu weiterer Ausbildung Unterrichtsstunden zu nehmen. Dabei bot sich ihm auch die erste Gelegenheit, als Sänger im kleinen Kreise durch Vortrag von Liedern die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der Violoncellist Hasemann, im dortigen Orchester angestellt, gab auch Gesangunterricht und musicirte viel mit dem in Kassel anwesenden großen Tenoristen Wild aus Wien, den auch Götze dort mit Bewunderung hörte. Hasemann gewann beim Hören der klangvollen Stimme und dem natürlichen gefühlvollen Vortrag des Letztem die Ueberzeugung, daß aus dem Violinisten sich ein Sänger von Bedeutung entwickeln müsse, und gab ihm Veranlassung zu weiteren Stimmübungen.

Ein durchaus begabter Autodidakt, suchte Götze nun, allerdings unterstützt durch seine tüchtige musikalische Vorbildung, sich seine eigene Theorie für Gesangstudien und seine Methode zu gründen, ausgehend von einer gesunden Natürlichkeit der Tonbildung (dieses Problems der Gesangskunst) wie des Vortrags. Was er sich aus vorhandenen Lehrbüchern holen konnte, erschien ihm durchaus ungenügend, zum Theil verwerflich, während er, auf seiner eigenen Bahn vorgehend, erfreuliche Fortschritte bemerkte, die ihn nach einiger Zeit zu theatralischen Versuchen auf der Hofbühne zu Weimar ermuthigten. Obgleich diese zur Zufriedenheit gelangen und Beifall fanden, wurde der Platz des Violinisten im Orchester nicht aufgegeben; hinderte er ihn doch nicht, die Gesangübungen gründlich fortzusetzen!

Eine plötzliche Wendung nahm die Sache, als in Folge der Erkrankung des ersten Tenors der dortigen Bühne, des beliebten und gefeierten Knaust, eine große Verlegenheit für die Oper erwuchs. Aus ihr herauszukommen, richtete man sein Augenmerk sofort auf Götze. Derselbe lernte zunächst als Ersatzmann die erforderlichen Partien in unglaublich kurzer Zeit, trat auf und wurde durch rauschenden Beifall für seine in jeder Weise bewundernswerthen Leistungen belohnt.

Hiermit war die Entscheidung für die künftige Künstlerlaufbahn Götze’s gefallen. Er widmete sich nun ausschließlich der Bühne, bei der er als erster Tenor angestellt und bald vom Publicum zum erklärten Liebling erkoren wurde.

Mit dem ehrenvollen Engagement für das große Feld aller ersten Tenorpartien fielen ihm außer den lyrischen, seiner eigentlichen Sphäre, auch die Heldenpartien zu, denen er, bei den nicht allzu großen räumlichen Verhältnissen der dortigen Bühne, vollständig gewachsen war. Auch sein ergötzlicher Humor, in einigen komischen Darstellungen, lebt noch heute frisch in meiner Erinnerung.

Fortgesetzte vielseitige Studien hatten seine ästhetische Bildung zu einer Reife gebracht, die, getragen von einem ungewöhnlichen [326] musikalischen Verständniß, für die Darstellung und den Vortrag von großer Bedeutung war und beim Zuhörer jenes wohlthuende Gefühl anmuthenden natürlichen Gefallens erzeugte, wie es blendende Mittel und Effecthascherei niemals vermögen. Seine Stimme gehörte nicht zu den mächtigen, aber zu den sympathischen, wie ich sie im bewunderungswürdigen Cantabile lyrischer Rollen und in seelenvollen Liedervorträgen schöner nie gehört habe.

Bei den gesteigerten Anforderungen, die nun an den Künstler auf der Bühne herantraten und die er vor Allen an sich selbst stellte, arbeitete er mit einer Strenge und Gewissenhaftigkeit, wie sie ihm eigenartig, an seiner höhern, künstlerischen Ausbildung fort. Von der Richtigkeit und Zweckmäßigkeit seiner Gesangsmethode konnte er mehr und mehr überzeugt werden, da er in dieser Zeit auf Grund derselben eine junge Dame, Fräulein Rosalie Aghte, ausbildete, welche bald als Frau von Milde bei der Oper in Weimar als eine ganz hervorragende dramatische Sängerin glänzte; gleichwohl war es ihm vom höchsten Interesse zu wissen, wie Garcia, der berühmteste Gesanglehrer seiner Zeit, Unterricht ertheilte, was von ihm noch zu erlernen sei, und in wie weit derselbe mit der Methode und den Leistungen des deutschen Sängers übereinstimme. Ein zu diesem Behufe erlangter Urlaub von einigen Monaten wurde benutzt, nach Paris zu reisen, um in die vielgerühmten Geheimnisse der Stimmausbildung und des Kunstgesanges einzudringen.

Götze erlangte da die Genugthuung, daß sein bisheriger Studiengang im Grunde der rechte gewesen war, und gewann mit der Anerkennung des berühmten Gesangsmeisters die Ueberzeugung, auf dem betretenen Wege weiter gehen zu sollen; denn ein Genügen, ein Ausruhen auf dem Lorbeer giebt es für ihn überhaupt nicht; sein Streben nach Wahrheit und Vollkommenheit in seiner schönen Kunst wird erst mit ihm selbst endigen.

Von größter Bedeutung für ihn war jene Zeit, als auf der Weimarischen Bühne ein Stern erster Größe in Wilhelmine Schröder-Devrient aufging, die zu einem längeren Gastspiel eintraf. Dieser hochbegabten größten dramatischen Sängerin Deutschlands war es ein Vergnügen, hier eine stimmungsvolle edle Künstlernatur in Götze zu finden, mit dem sie eine ganze Anzahl Rollen in ihrer genialen Weise einstudirte. Der Gewinn, den Götze aus dem Zusammenwirken mit der Schröder-Devrient für Darstellung und dramatischen Gesang zog, war ein so hoher, der Eindruck, den die unvergleichliche Frau auf ihn machte, war ein so tiefer, daß seine Verehrung für sie noch heute den Lorbeer um ihr Bildniß schlingt, welches sie ihm mit einer eigenhändigen Widmung nebst einem werthvollen Ringe beim Abschiede von Weimar verehrte.

Als jüngsthin Frau Marie Wilt, die während ihres Engagements in Leipzig die Aufmerksamkeit Götze’s durch ihre phänomenalen Gesangsmittel gefesselt hatte, dem liebenswürdigen Meister des Gesanges scheidend einen Lorbeerkranz überbrachte, wollte er ihn mit den Worten zurückweisen: „Was soll ich damit? Der gebührt mir nicht – aber,“ setzte er sogleich hinzu, „da hängt das Portrait einer großen echten Künstlerin, das wollen wir damit schmücken,“ und der Kranz wurde um das Bildniß der Schröder geschlungen.

Unter Chelard’s und Liszt’s Direktion gewann das umfangreiche Repertoire der Weimarischen Hofbühne immer mehr an Ausdehnung. Es umfaßte die deutsche Oper von der classischen Periode, von den Werken Gluck’s, Mozart’s, Beethoven’s, an bis zur neuern romantischen Zeit, zu den Opern Weber’s, Spohr’s, Marschner’s etc., wie die Oper der alten und neuen Franzosen und Italiener. Götze’s vielseitiges Talent beherrschte alle die bedeutenden ersten Tenorpartien darin, unter steigender Theilnahme des kunstgebildeten Publicums.

Wenn Götze seiner ganzen Natur nach den unsterblichen Werken unserer classischen Componisten mit Vorliebe zugethan war, so hielt ihn das nicht ab, jeder Kunsterscheinung von Werth warmes Interesse entgegen zu bringen, wie er es auch in neuester Zeit der Muse Richard Wagner’s und Liszt’s widmete. In nähere freundliche Beziehung zum geistreichen Liszt trat Götze noch, indem er einer der Ersten war, der dessen Liedercompositionen vortrug, die dadurch allgemein bekannt und gewürdigt wurden.

Im weiteren Verfolge seiner Künstlerlaufbahn wurde Götze bei angestrengter Thätigkeit am Theater wiederholt leidend, und so reifte der Wunsch in ihm, von der Bühne zu scheiden und sich dem liebgewonnenen Berufe, Unterricht in seiner Kunst zu ertheilen, ganz zu widmen. Ein wiederholt vom Direktorium des Conservatoriums zu Leipzig an ihn gelangter Ruf bestimmte ihn, die Stelle als Gesangslehrer daselbst anzunehmen. Weimar empfand den schweren Verlust tief und schmerzlich, und der Großherzog würdigte die Verdienste des Scheidenden durch Verleihung des Titels als Professor der Musik.

Im Jahre 1853 trat Götze seine Stelle in Leipzig an, mit der Hoffnung, hier die Erfahrungen, die ihm ein langes geliebtes Studium verschafft, möglichst allgemein und nützlich zu verwerthen. Gewissenhaftigkeit und Consequenz, eine mit liebreicher Theilnahme verbundene Strenge waren Eigenschaften bei seiner Unterrichtsweise, die ihm eine seltene Autorität und eine Zuneigung seitens der Schüler erwarben, wie sie nur dem besten Lehrer zu Theil werden. Zahlreiche Beweise von Anerkennung und rührender Dankbarkeit wurden ihm von vielen Seiten dargebracht.

Nach einer fünfzehnjährigen Wirksamkeit am Conservatorium widmete sich Götze von 1868 an lediglich dem Privatunterricht, darin das eigentliche Mittel erkennend, stimm- und talentbegabte Schüler bis zu derjenigen Ausbildung zu bringen, die den Künstler berechtigt, vor die Oeffentlichkeit zu treten. Ist der Schüler nach langen gründlichen Studien zu jener Stufe gelangt, so weiß ihn der Meister auch bezüglich der Darstellungskunst in einem Grade vorzubereiten, daß sein erstes Auftreten die Leistung als die eines Anfängers kaum erkennen läßt.

Es würde zu weit führen, die zahlreichen Schüler, welche durch Götze zu bedeutenden und hervorragenden Künstlern gebildet worden sind, hier alle aufzuführen; es genüge, einige aus neuerer Zeit zu nennen; wie: Georg Herrschel, der als Concertsänger auch außer Deutschland, in England und Rußland, die größten Erfolge erzielt, Bulß, Hofopernsänger in Dresden, Bariton Karl Meyer am Hoftheater in Kassel, der dort in die frühere Stelle von Bulß getreten, lyrischer Tenor Landau in Hamburg bei Pollini, Bariton Goldberg in Königsberg, ferner Frau Gutschbach-Lißmann, früher in Leipzig, jetzt in Hamburg, Fräulein Lammert, jetzt Frau Dr. Damm, Hofopernsängerin in Berlin, Fräulein von Hartmann in Königsberg und Fräulein Friedländer zur Saison in London mit großem Erfolge singend.

Aus Götze’s Schule sind aber auch Lehrer, die in seinem Geiste mit der an sich selbst erprobten Methode lehren, hervorgegangen. So weit sie mir bekannt, sind es: Professor von Bernuth in Hamburg, Fritz Rebling (lange Zeit hindurch ein vorzüglicher Oratorien- und höchst brauchbarer Bühnensänger), Fräulein Natalie Schilling in Leipzig, Fräulein Elise Eicke in Bremen, Frau von Milde in Weimar und Götze’s eigene reichbegabte Tochter, Fräulein Auguste Götze in Dresden, welche die jetzt an der Frankfurter Bühne thätige vortreffliche und Aufsehen erregende Sängerin Frau Morau-Olden herangebildet hat. Mögen sie die empfangene wahre reine Lehre in alle Welt verbreiten und damit der Klage über den Verfall der Gesangslehre in Deutschlands abhelfen, die von Denen erhoben wird, welche das ernste geräuschlose Wirken Götze’s, dem freilich nichts mehr als die Reclame verhaßt ist, nicht kennen.

Zum Schlusse sei es mir noch gestattet, einige Worte über die Kunst des Gesanges, wie sie von Götze verstanden wird und von der ganzen Welt verstanden werden sollte, hinzuzufügen.

Die menschliche Stimme ist das vollkommenste aller Instrumente, weil sie, aus der schöpferischen Hand der Natur hervorgegangen, allein die Fähigkeit in sich trägt, die leisesten Regungen der Seele zum Ausdruck zu bringen; daß dieser Ausdruck aber wahrhaft künstlerisch, das heißt allezeit wahr und schön sei, dazu muß der Sänger das vorzutragende Musikstück, nachdem er es seinem Musikalischen und geistigen Inhalte nach völlig in sich aufgenommen hat, vor seiner Seele in höchster Tonschönheit hervorzurufen verstehen und seine Stimme so durchaus beherrschen, daß sie, mühelos seinem Willen gehorchend, das Empfundene ungetrübt zur Erscheinung bringt.

Diese wenigen Worte enthalten das Wesentliche aller Gesangskunst und können dem Laien wohl kaum einen Begriff von dem jahrelangen Mühen und Ringen geben, dem selbst ausgesprochene Talente sich unterziehen müssen, wofern sie über die Mittelmäßigkeit sich erheben wollen. Es gilt eben, in der Seele des Sängers ein Ideal heranzubilden, welches sein Denken und Empfinden so völlig beherrscht, daß ihm jede Unschönheit als Verneinung der Kunst widerwärtig, ja als Unmöglichkeit erscheint, [327] und zu gleicher Zeit seinem Instrumente, der Stimme, die Kraft und Geschmeidigkeit zu verleihen, deren sie zur Bewältigung der mannigfaltigen schwierigen und anstrengenden Aufgaben, welche die Kunst ihr stellt, bedarf.

Das intellectuelle und technische Können seiner Schüler nun gleichmäßig so weit zu entwickeln, wie es die Fähigkeit und der Fleiß des betreffenden Individuums überhaupt gestatten, versteht Götze in meisterlicher Weise. Vom Leichten zum Schwierigen aufsteigend, das dem Schüler von der Natur Verliehene festigend und entwickelnd, das Versagte oder Verkümmerte ihm zum Bewußtsein bringend und durch Erweckung des Sinnes dafür ergänzend, müht sich Götze rastlos; er opfert freudig seine Zeit und selbst seine Gesundheit seinen gesangspädagogischen Zwecken und sieht stets den wahren Lohn seiner Anstrengungen in den Fortschritten des Schülers. Dieser aber empfindet vom ersten Augenblicke des Unterrichts an jenes unbegrenzte Vertrauen in seinen Lehrer, das dem sichern Meister wie von selbst zufällt, das aber auch allein die überraschenden Unterrichtserfolge Götze’s zu erklären vermag. Welcher Art aber dieselben sind, davon soll ein Anderer Zeugniß ablegen, der leider zu früh verstorbene edle Dichterkomponist Peter Cornelius, der gelegentlich des Meininger Musikfestes im Jahre 1867 in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ Nr. 250 desselben Jahres Folgendes schrieb:

„Der dritte Concertabend war vorzugsweise der Gesangslyrik gewidmet. Da war ein Quartett von Schülern des Professor Götze aus Leipzig, die in dem spanischen Liederspiel von Schumann einen wahren Sturm von Beifall und da capo-Rufe über da capo-Rufe errangen. Es waren die Fräulein Emilie Wigand und Clara Martini, die Herren Joseph Schild und Paul Richter. Es läßt sich nichts Vorzüglicheres denken. Wie diese beiden Damen aussprechen, wie sie Alles ungezwungen und natürlich geben! Gewisse Worte, wie ,An ihn! an ihn!’ aus der ,Botschaft’, oder wenn Schild mit seiner goldenen Stimme sang: ,Also lieb’ ich Euch, Geliebte’, oder das ,Wer mich liebt, den lieb’ ich wieder’ des Fräulein Martini, sind für’s Leben unvergeßlich.“

Möchte es Deutschland, das seit anderthalb Jahrhundert durch seine Componisten allen Nationen der Erde voransteht, gelingen, auch den Ruhm zu gewinnen, die Kunst des Gesanges, deren Verfall in ihrem Mutterlande Italien offenkundig ist, zu neuer Blüthe entwickelt zu haben! Das aber zu erreichen, dazu dürfen uns niemals Männer fehlen, die Meister Götze gleich all ihre Kraft im Dienst des unvergänglichen Ideals einsetzen.




Das englische Clubwesen sonst und jetzt.
Von Leopold Katscher.
2. Jetzt.

Als der vor etwa einem Jahre verstorbene französische Schriftsteller und Senator Alphonse Esquiros vor fünfundzwanzig Jahren zum ersten Male in der Gegend des Londoner Saint-James-Parkes promenirte, fielen ihm die vielen Prachtbauten auf, die er in der Nähe erblickte und die diesem Stadttheil ein millionärmäßiges, imposantes Aussehen verliehen. Da sah er alle möglichen Baustile, den griechischen, den romanischen, den italienischen, einfach und überladen. Seine Ueberraschung wuchs in der eleganten Straße Pall-Mall, wo die Paläste reihenweise neben einander stehen; er kam dort aus den Colonnaden, Portiken, Basreliefs und Friesen nicht heraus. Er fragte sich, welche alten Adelsfamilien reich genug seien, um so kostspielige Wohnhäuser unterhalten zu können. Bald gab man ihm die Auskunft, daß jede dieser fürstlichen Residenzen von einem „Collectiv-Lord“ bewohnt werde: er hatte nämlich eine Anzahl der schönsten Club-Häuser vor sich – jener modernen Vereinshäuser, die Eigenthum eines Clubs sind und alle Vorzüge eines Hôtels, eines Speisehauses, eines Cafés, einer Bibliothek und eines Vereinigungsortes für gesellige Zwecke unter einem Dache vereinigen.

Diese prächtigen Clubhäuser sind wahre Denkmäler des heutigen England, und die heutigen Clubs erinnern in ihrer ganzen Organisation an die moderne englische Staatsverfassung. Die ältesten der modernen Londoner Clubs gehen nicht weiter zurück als bis 1815. Jene vier Clubs, die älter sind und sämmtlich in Saint-James-Street stehen, nämlich: „White’s“, „Boodle’s“, „Crockford’s“ und „Brookes’“, sind anders organisirt, als die modernen: sie werden je von einem Privatmann gehalten, der seinen Subscribenten für eine Eintrittsgebühr und einen Jahresbeitrag gewisse Vortheile bietet, die denen der vereinsartigen Clubs ähneln. Diese Art von Unternehmungen heißt „Subscriptionsclubs“ und bildet gleichsam einen Uebergang von den alten zu den neuen Clubs, doch haftet ihnen der Makel an, daß sie arge Pflegstätten des Hazardspiels sind, während dieses in den modernen Schwesteranstalten untersagt ist oder doch nur in geringem Maße getrieben wird.

William Crockford war ein Fischhändler gewesen; als er durch ausgedehntes Hazardspielen ein reicher Mann geworden, begründete er eine Art Clubhaus, das von der aus der Oper kommenden Elite der Gesellschaft besucht zu werden pflegte und in welchem fabelhafte Summen verspielt wurden. Die Küche war als vorzüglich berühmt; der kostbarste Wein floß in Strömen; der Oberkoch Ude galt seiner Zeit als der größte culinarische Meister Europas. Crockford, mit dem Beinamen „Leviathan des Spiels“, starb 1844, einen unermeßlichen Reichthum hinterlassend.

„Brookes’“ war ursprünglich ein Kaffeehaus, das gegen 1770 den Häuptern der Opposition zum Stelldichein diente. Um Brookes, den ersten Besitzer, schaarten sich Fox, Burke, Grenville, Windham, Grey, Selwin, Sheridan. Die Bewerbung Sheridan’s um die Aufnahme in den Club war dreimal erfolglos gewesen; denn zur Ablehnung genügte eine einzige schwarze Kugel, und diese war jedes Mal von Seldon abgegeben worden; damit Sheridan in den Club komme, mußte bei der Abstimmung über dessen vierte Bewerbung der Prinz von Wales Seldon durch eine eigens angeknüpfte Conversation zurückhalten. In den hier geführten Gesprächen wurde viel Geist, in den hier gespielten Spielen sehr viel Geld verausgabt. Ohne gänzlich auf einen politischen Anstrich zu verzichten, ist „Brookes’“ heute eigentlich doch nur ein geduldetes Spielhaus.

„White’s“ stammt vom Cafétier White her, der im Jahre 1698 an derselben Stelle, an der das Clubhaus heute steht, ein Kaffeehaus errichtete; dasselbe verwandelte sich achtunddreißig Jahre später in einen von Tories frequentirten politischen Club, der unter Pitt, Dundas, Rose und Canning schöne Tage sah. Im Beginne unseres Jahrhunderts war der Club ungemein reich, sodaß er im Jahre 1814 dem Kaiser von Rußland, dem König von Preußen und den übrigen Verbündeten ein Bankett geben konnte, das zehntausend Pfund Sterling kostete, und drei Wochen darauf dem Herzog von Wellington zu Ehren ein ebenso glänzendes. Jetzt ist dieser Club nur noch durch seine guten Diners bemerkenswerth, und durch die Freundschaftlichkeit, mit der seine reichen, phlegmatischen, conservativen Subscribenten mit einander verkehren.

Wenden wir uns nun wieder zu der in England, namentlich London äußerst zahlreichen Classe der modernen Clubs, welche zum großen Theile wahrhaft aristokratische, aber auf Sparsamkeit berechnete Hauswirthschaften sind! Ihre Entstehung ist dem Militär zu verdanken. Die Officiere der englischen Armee hatten längst eingesehen, daß das Associationsprincip, auf die Tafel angewandt, große Vortheile biete. Als die Beendigung der anglo-französischen Kriege eine Herabsetzung des Heeresstandes nach sich zog, mußten die entlassenen Officiere die gemeinsamen Tafeln, zu denen sie sich vereinigt hatten, natürlich aufgegeben. Da es ihnen schwer fiel, mit ihrer schmalen Pension auszureichen, kamen sie auf den Gedanken, die gemeinsamen Tafeln auch im Civilleben zu führen. Verschiedene Besprechungen führten zur Gründung des ersten auf den nun allgemein verbreiteten Principien beruhenden Clubs: die alten Waffenbrüder kamen einstweilen in einem gemietheten Local zusammen, um gemeinschaftlich zu speisen und in gemüthlichem Geplauder militärische Erinnerungen auszutauschen. Da die Anreger wußten, daß auch viele Marine-Officiere sich in derselben geldknappen Lage befanden, zogen sie auch solche heran, und der Verein nahm demgemäß den Titel „United Service-Club“ an. Die Mitglieder schossen Geld zusammen behufs Erbauung [328] eines Clubhauses, das 1819 eröffnet wurde, aber die Mitgliederzahl mehrte sich so rapid, daß man schon nach sechs Jahren zum Aufbau eines neuen Gebäudes schreiten mußte. Mit diesem begann im Jahre 1828 die Reihe der „Pall-Mall“-Clubs. Der „United Service“ zählte damals schon 1500 Mitglieder, deren hervorragendstes der Herzog von Wellington war. Bald brach ein wahres Clubfieber aus; binnen kurzem hatten sämmtliche höhere Zweige der Armee ihre Clubs; da gab es einen „Junior United Service“, einen „Guards“, einen „Army and Navy“, einen „Junior Army and Navy“, alle in „Pall-Mall“. Die günstige Folge war, daß die Officiere dem Schenken- und Kaffeehausleben entzogen wurden. Das Beispiel der Armee fand Nachahmung bei allen Schichten des Bürgerthums, und zwar vereinigte man dabei das Wahlverwandtschaftsprincip der alten Clubs mit der Organisation der neuen. Ehemalige Universitätshörer, die während ihrer Studienjahre gewohnt waren, täglich zusammen zu speisen, zu studiren und zu lesen, fühlten sich in London kläglich vereinsamt. Sie begründeten den „United University-Club“. Eine andere Gruppe bildete unter ganz ähnlichen Umständen den „Oxford and Cambridge Universities-Club“; beide Clubs bestehen der Mehrheit nach aus Geistlichen. Auch die Rechtsgelehrten ließen sich schon vor fünfzig Jahren ein schönes Clubhaus bauen, in dem sie den „Law-Club“ unterbrachten.

An der Spitze des Londoner Clubwesens stehen nächst dem hauptsächlich aus Gelehrten und Schriftstellern zusammengesetzten „Athenaeum-Club“ zwei politische Clubs: der „Carlton“ und der „Reform“. Die von der großen Wahlreform beunruhigten Tories begründeten 1830 den „Carlton“, dem die Whigs alsbald den wahrhaft fürstlich aussehenden „Reform“ entgegenstellten. Zu derselben Zeit entstanden und aus demselben politischen Ereigniß hervorgegangen, stehen die beiden Gebäude in Pall-Mall als feindliche Brüder neben einander. Das eine spielt im politischen Leben der englischen Hauptstadt die Rolle eines Hauptquartiers der Tories, das andere die eines Hauptquartiers der Liberalen. Beide haben seit fast einem halben Jahrhundert in hohem Maße zur Festigung der Rede- und Actionsfreiheit beigetragen. In einem gewissen Zusammenhang mit dem „Carlton“ steht der „Conservative“, der ursprünglich blos eine Brutstätte für künftige Bewerber um die Mitgliedschaft des „Carlton“ war. Die Häupter der conservativen Partei gehören in der Regel beiden Clubs an.

Eine Art Vorschule für das politische Leben bilden die zahlreichen „Debating Clubs“, denen sich namentlich Jünglinge der besseren Classen gern anschließen und deren Hauptaufgabe es ist, ihre Mitglieder durch Debatten über alle möglichen, besonders politische, Fragen in der Gabe der Beredsamkeit zu üben. Vor etwa fünfzig Jahren gab es in Cambridge einen solchen Debattir-Club, dem die Leiter der politischen Parteien große Aufmerksamkeit schenkten; fiel ihnen ein geschickter Redner daselbst auf, so nahmen sie dessen Vorbereitung auf die parlamentarische Laufbahn in Aussicht.

Die wichtigsten Clubs der Literatur- und Theaterfreunde sind der „Garrick“, der „Savage“ („Club der Wilden“) und der erwähnte, besonders berühmte und vornehme „Athenaeum-Club“.

Interessant ist der „Travellers’“ („Club der Reisenden“), in den nur Ausländer oder reisende Inländer aufgenommen werden. Bei der vom Lord Londonderry angeregten Gründung handelte es sich darum, Ausländern, die entweder sich in der Reisendenwelt einen Namen gemacht haben oder von berufenen Leuten Empfehlungsbriefe mitbringen, in London einen Club zu bieten; Talleyrand besuchte während seines Aufenthalts in der britischen Metropole den „Travellers’“ fast täglich. Engländer können nur dann Aufnahme finden, wenn sie den Nachweis führen, daß sie mindestens fünfhundert englische Meilen weit in gerader Richtung von London aus gereist sind. Je größere Reisen ein Candidat gemacht, desto günstiger stehen natürlich seine Chancen; denn die Länder, die er besucht, die Abenteuer, die er bestanden, die verschiedenen Volkssitten, die er beobachtet, liefern der Club-Conversation selbstverständlich ausgiebige Stoffe. Dieser Club kann sich immer einer sehr gewählten Gesellschaft rühmen; denn ihm gehören die höchsten Zweige der englischen Aristokratie und die Elite der Mitglieder beider Häuser des englischen Parlaments an. Einen geographischen Anstrich hat auch der „Oriental-Club“, in welchem die in Ostindien etablirten Engländer, die zeitweilig zu ihrem Vergnügen oder in Geschäften nach London kommen, sich vor der in solchen Riesenstädten leicht eintretenden Vereinsamung retten können, da sie dort Ihresgleichen finden. Auch die pensionirten Civil- und Militärbeamten der ehemaligen Ostindischen Compagnie gehören theilweise dem „Oriental“ an; ein anderer Theil hält sich an den „East India United Service“. Eine gewisse Aehnlichkeit mit dem „Travellers’“ besitzt der „Hanover Square-Club“, auch „Circle des Nations“ betitelt, einer der neuesten Clubs, dessen Eröffnung Schreiber dieses am 1. Januar 1876 beiwohnte. Hier ist die Aufnahme nicht von Reisen abhängig, sondern jeder Ausländer – aber auch jeder Inländer – der bei der geheimen Abstimmung über die Candidaten nicht durchfällt, kann Mitglied werden. Auswärtige Mitglieder bezahlen nur den vierten Theil des auf die Londoner berechneten Jahresbeitrages, und können den Club während ihres jeweiligen Aufenthaltes in London benützen; dieser Club ist von besonderem Vortheil für auswärtige bemittelte Herren, die in London nicht zur Genüge bekannt sind; sie können dort vorzüglich speisen, die Zeitungen ihrer Heimath lesen, ihren Kaffee nehmen, ihr Spielchen machen, mit Landsleuten zusammenkommen, ihre Post expediren und sogar schlafen, denn der „Hanover Square“ gehört, gleich vielen anderen vornehmen Clubs, zu den Hôtel-Clubs.

Was ein Hôtel-Club ist, wird uns klar werden, wenn wir die Organisation und die innere Einrichtung der Londoner großen Clubs näher in's Auge fassen. Wenn die modernen Clubhäuser äußerlich durch Größe und architektonische Schönheit auffallen, so überraschen sie noch mehr durch die Eleganz ihres Innern. Das Peristyl führt in eine Vorhalle, in welcher der Besucher von einem Portier und seinem Gehülfen empfangen wird, welche beide Diener die Aufgabe haben, Niemand zuzulassen, dessen Name nicht im Mitgliederbuche steht, oder der nicht von einem Mitgliede als Gast eingeführt wird. Gäste haben in der Regel das Recht, den Club eine Woche hindurch zu benutzen. Die genannten zwei Functionäre tragen schwarze Anzüge und weiße Cravatten und verfügen über einen ober zwei livrirte Pagen, denen die Besorgung der Post und der Gänge für die Mitglieder obliegt. Ueberbringer von Botschaften erwarten die Antwort in einem besonderen „Empfangszimmer“. Von der Vorhalle gelangt man in den Vorsaal, der in fast allen wichtigen Clubs mit großer Pracht ausgestattet ist. Ahorn- oder Mahagonithüren führen in die verschiedenen Parterreräumlichkeiten: das „Vormittagszimmer“, die Garderobe, das Lesezimmer, die Speisesäle; überall sieht man maßlos hohe Spiegel, enkaustische Gemälde, guirlanden- und karnießengeschmückte Plafonds, die schönsten Kronleuchter, die theuersten Möbel. Eine gewöhnlich sehr elegante Treppe führt zu den zwei oder drei oberen Stockwerken. Im ersten befinden sich: der Salon, die Bibliothek, das Rauchzimmer und das Spielzimmer für Whistspieler. Das letztere ist, um die Zahl der Spieler einzuschränken, in der Regel klein angelegt. Auf’s Rauchzimmer verwendet man viel weniger ausschmückende Sorgfalt als auf die übrigen Gemächer. Auch die Bibliotheksäle vieler Clubs zeichnen sich durch herrliche Ausstattung aus, abgesehen von dem Umfang der Büchersammlungen. Das zweite Stockwerk enthält Säle für Billards und andere Spiele, das dritte die Wohnungen der Beamten und Diener des Clubs. Eine Reihe von Clubs geht so weit, den Mitgliedern auch Wohnung zu bieten, zu welchem Behufe im dritten und vierten Stockwerke eine Anzahl von elegant möblirten Zimmern eingerichtet sind, die den Club-Junggesellen zu mäßigen Preisen zur Verfügung stehen. Die hervorragendsten „Hôtel-Clubs“ sind der „Reform-Club“ und der „Hanover Square“. In allen besseren Clubhäusern giebt es auch Badezimmer oder doch wenigstens Wasch- und Toilettenzimmer. Eine wichtige Rolle spielt natürlich die Küche, und sie gehört mit ihrer blendenden Reinlichkeit, ihren sauberen Küchen, ihren lichterlohen, prasselnden Feuern und ihren ungeheueren Tischen zu den größten Sehenswürdigkeiten der großen Clubs. In vielen Clubs hat man im Souterrain auch Apparate, um das Wasser in die höheren Stockwerke zu leiten, die Wärme zu vertheilen und die verschiedenen Räume im Nothfall mit kühler Luft zu versehen. Die Speisesäle sind von gewaltiger Ausdehnung; der des „Hanover Square“ enthält einen Tisch, an dem dreihundert Personen Platz haben. Will ein Mitglied mit einem Gast allein speisen, so steht ihm eines der kleineren Speisezimmer, die eigens zu diesem Behufe vorhanden sind, zur Verfügung. Natürlich sind so schöne Gebäude mit so herrlicher Einrichtung nicht um einen Spottpreis herzustellen. [329] Das Haus des „Athenaeum-Club“ hat 35,000 Pfund Sterling gekostet, die Möblirung 5000 Pfund, die Wäsche 2500 Pfund; im Keller liegen immer Weine im Werthe von 3500 und 4000 Pfund. Das Gebäude und die Einrichtung des „Reform-Club“ kosteten gar 80,000 Pfund; dieser Club zahlt für Brennmaterial zu Heizungs- und Beleuchtungszwecken jährlich 2000 Pfund, für Schreibrequisiten 250 Pfund, 2000 Pfund für Weine und andere Getränke, 100 Pfund für Eis.


„Kukuk!“ Von Meyer von Bremen.
Nach einer Photographie aus dem Verlage der „Photograph. Gesellschaft in Berlin“ auf Holz übertragen.


Der jeweilige Kellervorrath des „United Service“ wird auf 8000 Pfund geschätzt. Aber auch der geistigen Seite des Lebens wird in den Clubs hohe Aufmerksamkeit geschenkt. Der „Athenaeum-Club“ verausgabt für das Abonnement von Zeitungen und Revuen jährlich 600, der „Reform-Club“ 400 Pfund. Die Bibliothek des „Athenaeum“ enthält mindestens 60,000 Bände, und jährlich werden neue Bücher, Karten und Stiche im Werthe von 500 Pfund angeschafft.

Die neuartigen Clubs sind nicht, wie die weiter oben beschriebenen „Subscriptions-Clubs“, das Eigenthum einzelner Personen, die den von diesen Etablissements abgeworfenen Gewinn allein einstreichen. Wer als Mitglied in einen heutigen Club aufgenommen ist und die zwischen 20 und 40 Pfund variirende Eintrittsgebühr sowie den 5 bis 10 Pfund betragenden Jahresbeitrag entrichtet, kann den Club nach Belieben zum Speisen, Spielen, Lesen, Plaudern, Schreiben und eventuell zum Schlafen benutzen; er ist im Club zu Hause.

Die Verwaltung der Clubangelegenheit liegt in Gemäßheit des Autonomieprincips einem aus dreißig bis vierzig Mitgliedern bestehenden Comité ob, und der aus drei bis acht Mitgliedern bestehende Executivausschuß desselben tritt wöchentlich einmal zur Regelung der Finanzen zusammen. Dem Verwaltungscomité stehen verschiedene Subcomités zur Seite, z. B. ein Wein-, ein Buch-, ein Billardausschuß etc. Der greifbarste materielle Vortheil, dessen die Mitglieder für ihre Jahresbeiträge theilhaftig werden, besteht darin, daß sie die besten Speisen und Getränke zum Kostenpreise bekommen.

Selbstverständlich hat, da bekanntlich nichts auf Erden vollkommen ist, das Clubwesen auch seine Schattenseiten. Die Moralisten sind der Ansicht, es lockere die Familienbande, untergrabe den Sinn für das Familienleben und halte die Männer vom Umgange mit dem weiblichen Geschlechte ab; in der That hören die englischen Damen nicht auf, den Clubs den Krieg zu erklären. Aber bei der bekannten Vorliebe des Engländers für's „home“, für den häuslichen Herd, ist dem Clubwesen kein allzu schädigender Einfluß zuzutrauen, keineswegs ein so arger, wie dem Schenken- und Kaffeehauswesen.

Wer in England gelebt hat, wird erkennen, daß etwas dem dortigen Clubwesen Aehnliches auf dem Continent vorderhand unmöglich ist. Dasselbe bedingt bürgerliche Rechte, gesetzliche Gewährleistungen und überhaupt eingewurzelte freiheitliche Einrichtungen, wie sie anderswo in Europa nicht zu Hause sind. Geselligkeitsliebe – naturgemäß der Hauptanlaß zur Einführung der Clubs – ist gewiß auch in anderen Ländern vorhanden, aber in England kommen ihr die Gesetze und der Nationalcharakter zu Hülfe.

Die Geschichte des altenglischen Clubwesens ist die Geschichte des englischen Nationalcharakters und seiner Entstehungsweise. Die Organisation des heutigen englischen Clubwesens giebt ein Bild der gegenwärtigen bessern Gesellschaften Englands mit ihrer Vorliebe für den Luxus, die Ordnung und ein bequemes materielles Leben. Diese Art der Vereinigung ist in England zum unabweisbaren Bedürfniß geworden, was sich am deutlichsten darin zeigt, daß das Clubwesen, welches noch vor einem Jahrzehnt auf die reichen und wohlhabenden Classen beschränkt war, sich im Mittelstande und in den untersten Schichten der Gesellschaft, natürlich auf bescheidenerem Fuße, immer mehr Bahn zu brechen beginnt.[1]


[330]
Martha und Maria.
Novelle von Hieronymus Lorm.
(Fortsetzung.)

Als die Freunde allein waren, sagte Sergey:

„Du fragtest noch nicht nach dem Ereigniß, das mich in Dein Haus geschneit hat; nach unserm Vertrag dürfte es doch nur etwas Außerordentliches sein.“

„Dein Kommen ist mir immer ein Ereigniß,“ erwiderte Nikolai, „Du erfüllst also die Vertragsclausel schon dadurch, daß Du kommst. Uebrigens hast Du ja auch etwas Außerordentliches in der Tasche, wie Du sagst: den Brief der Gräfin.“

„Nun, es kann etwas werden,“ lächelte Sergey, „meine gute Tante will mich verheirathen! Lies!“

„Jedes Wort ist eine Perle,“ rief Nikolai, nachdem er den Brief der Gräfin gelesen hatte. „Du bist natürlich dagegen, und wir fangen gleich wieder zu streiten an.“

„Diesmal nicht, Nikolai. Denn das Ereigniß ist, daß ich mich entschlossen habe, zu heirathen.“

Nikolai sprang auf und umarmte seinen Freund.

„Hurrah! Und wen hast Du gewählt?“

„Ich habe Dir schon im Salon gesagt, daß die Sache zunächst Dein Geheimniß ist. Du mußt für mich wählen.“

„Du bist nicht gescheidt, Sergey Iwanowitsch; ich komme nicht mehr in die Welt, sehe keine Weiber mehr; ja, wenn Du mich vor fünf Jahren gefragt hättest! Die schönsten Mädchen, die ich kannte, sind seitdem alt geworden oder haben ihre Männer.“

„Du hast aber zwei im Hause, die noch ganz Knospe sind.“

„Meine Mädchen!“ sagte Nikolai fast bestürzt und schlug die Hände wie bei einer unangenehmen Ueberraschung zusammen; „welche Fliege hat Dich gestochen? Du bildest Dir wohl ein, die Mitgift läge hier im Kasten? Ich sage Dir, Sergey Iwanowitsch, sie bekommen keinen Kopeken. Mütterliches war niemals vorhanden, und ich, Gott sei's geklagt, bin ein armer Teufel. Daran hast Du wohl noch nicht gedacht?“

„Es ist wahr,“ erwiderte Sergey, „daran habe ich nicht gedacht. Aber – Du kennst mich ja als einen verstockten und eigensinnigen Menschen – ich denke auch jetzt nicht daran und werde niemals daran denken. Ich denke nur daran, um jeden Preis Dein Schwiegersohn zu werden.“

„Hast Du Dich denn schon mit meinen Töchtern verständigt? Welche von Beiden liebt Dich, welche liebst Du?“

„Höre mich an, mein theurer Freund!“ sagte Sergey in einem Tone, der seinen Ernst und seine tiefe Bewegung verrieth. „Ich bin Quietist, und wie ich selbst ein Mann ohne Leidenschaft bin, so weiß ist[2], daß ich auch schwerlich Leidenschaft zu erregen vermag. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, also fast schon ein Alter, bin ein wenig melancholisch und obgleich ich mich stets bemühte, dies vor Anderen zu verbergen, kann es doch ohne mein Wissen zum Vorschein gekommen sein. Ich bin nach alledem, wie Du siehst, weder liebenswerth noch liebenswürdig. Nun finde ich aber die Gründe meiner Tante Varinka ganz richtig, warum sollte ich es nicht versuchen, was sich durch Liebe nicht mehr erreichen läßt, vielleicht durch Freundschaft zu erreichen?“

„Erkläre mir das näher!“

„Du zweifelst wohl nicht, daß meine Freundschaft für Dich und Deine Kinder groß genug ist, um mich wünschen zu lassen, zur Familie zu gehören. Es fragt sich, ob auch die Freundschaft eines Deiner Kinder groß genug ist, um, blos auf dieses Gefühl gestützt, einen Lebensbund schließen zu wollen. Da ich keine von Beiden liebe, so liebe ich Beide; das will sagen: da ich keine Leidenschaft habe, so habe ich auch kein Recht, zwischen Beiden zu wählen. Diejenige aber, die sich für mich entscheiden sollte, wird sich im Freunde nicht getäuscht finden.“

Nikolai dachte lange nach, dann sagte er:

„Laß mich's überschlafen, und vorläufig kein Wort zu den Mädchen!“

Die Freunde begaben sich in den Salon zurück, wo inzwischen der Abendtisch vorbereitet worden war. Wenn bisher die unausgesprochene Betrübniß des Familienvaters einen Schatten über die Stimmung der Seinen geworfen hatte, so belebte jetzt eine in ihren Ursachen gleichfalls unergründete Heiterkeit Nikolai's den ganzen Kreis. Der gute Mann wurde mit jedem Augenblick, in welchem er sich immer deutlicher das Glück ausmalte, welches die Werbung für sein Haus zur Folge haben könnte, lebhafter und gleichsam jünger; er sprach viel, trank mit ausgesprochenem Behagen, pries Sergey wegen der klugen Voraussicht, guten Proviant mitgebracht zu haben, trällerte zuweilen den Anfang eines alten Liedchens, und lange nicht empfundene Fröhlichkeit stieg in den Herzen Matrjona's und Milinka's auf.

Auch sie begannen die unschuldigen Regungen ihres Gemüthes unbefangen hervortreten zu lassen. Matrjona erzählte von dem einzigen Balle, den sie in ihrem Leben mitgemacht, auf einem Gute in der Nachbarschaft, und gab, um den Tisch herumtanzend, eine komische Probe von den Manieren ihrer damaligen Tänzer. Milinka, auch in glücklichen Momenten von einem Zuge schwärmerischen Ernstes nicht verlassen, recitirte deutsche und französische Gedichte und wurde durch zarte und liebevolle Anspielungen ihrer Schwester sogar zum Geständnisse gebracht, daß sie selbst schon Verse zu machen versucht und daß der verwegene Ehrgeiz, einst Schriftstellerin zu werden, sie zuweilen nicht schlafen lasse.

Sergey frischte in sich die Laune auf, um heitere Erinnerungen an seine Reisen und an seine Beziehungen zur großen Gesellschaft mitzutheilen. Man lachte viel und wurde des Fluges der Stunden nicht gewahr, bis Nikolai endlich aufstand und rief: „Kinder! Ihr seht jetzt etwas, was Ihr noch nicht mit Augen gesehen habt, seit Ihr auf der Welt lebt.“

„Was wäre das?“ fragten die Mädchen wie aus einem Munde.

„Die zweite Stunde nach Mitternacht. Da man aber mit den Seltenheiten des Lebens sparsam umgehen soll, so bewahrt Euch den Anblick der noch folgenden Nachtstunden bis zum Morgen für spätere festliche Gelegenheiten auf und geht jetzt schlafen!“

„O, ich habe schon manche späte Nachtstunde gesehen,“ sagte Milinka, „aber freilich im Finstern in wachen Träumen.“

„Dafür hast Du wahr und gewiß auch niemals eine frühe Morgenstunde gesehen,“ entgegnete Matrjona lachend und neckend.

Man trennte sich. Nikolai hatte anfangs die Absicht gehabt, die Mädchen noch an diesem Abend, bevor sie sich zur Ruhe begaben, von der Werbung Sergey's in Kenntniß zu setzen, aber er fürchtete jetzt, ihnen dadurch eine Aufregung zu verursachen, die ihnen noch den Rest der Nacht geraubt hätte. Er schied von Sergey mit den lachenden Worten: „Ich habe sehr wichtig zu schlafen; denn ich muß es ja überschlafen.“

Sehr vergnügt zog sich auch Sergey zurück. Er hatte im Hause der Noth und Sorge glückliche Menschen gesehen. „Das sind auch die besten Menschen,“ sagte er sich, „die so leicht in glückliche Stimmung zu versetzen sind, und sie verdienten ein Glück, das solidere Ursachen hätte, als eine flüchtige Stimmung. Welch instinctives Verständniß, wie es nur die innigste Liebe giebt, müssen diese Mädchen für ihren Vater haben, wenn seine heitere Miene, seine unumwölkte Stirn schon genügt, alle versteckte Jugendlust in ihnen aufjauchzen zu machen! Liebe, liebe Kinder sind es.“

Er war reisemüde; er trachtete in's Bett zu kommen, aber statt zu schlafen, setzte er seine Gedanken fort.

„Beide sind gleich hübsch, ja sie sind schön. Milinka mahnt an die heilige Cäcilie, Matrjona an eine Madonna Murillo's. Milinka würde helfen, ein Leben in tiefster Abgeschiedeheit zu vergeistigen, Matrjona ein Leben im Trouble der Welt unendlich behaglich zu machen. Die Dinge dieses Erdenlebens sind pure Nichtigkeit; ich erweise ihm nicht die Ehre, sein Gutes zu wollen, darum zu kämpfen, ich bin zufrieden, wenn ich zur Abwehr, zum geistigen Widerstande gegen sein Böses genugsam gerüstet bin. Ich habe mein Schicksal in die Hände dieser Mädchen gelegt, vorausgesetzt, daß sie überhaupt Lust haben, darüber zu entscheiden.“

Auch Nikolai schlief nicht. Er überdachte, was er seinen Töchtern sagen wollte. So gewiß es war, daß er zur Ordnung seiner zerrütteten Verhältnisse Sergey's künftige Hülfe in Anspruch nehmen durfte, sobald dieser sein Schwiegersohn war, so unerläßlich war es, daß den Mädchen keine Ahnung aufsteigen dürfe, wie sehr es sich in dieser Angelegenheit um das Glück des

[331] Vaters handelte. Sie würden sonst blindlings, ohne Rücksicht auf Neigung oder Widerwillen, ihre Zustimmung gegeben und geloost haben, welche von Beiden sich als die Braut Sergey’s erklären sollte. Nikolai aber wollte, daß unter allen Umständen die Entscheidung aus einem von jeder Nebenrücksicht freien Gefühle entspringe.

Am nächsten Tage blieb Alles so still im Hause, daß der Gast weder den Vater noch die Töchter in den Vormittagsstunden zu Gesicht bekam. Nikolai war, als man ihm gesagt, daß Matrjona wieder bei ihren häuslichen Beschäftigungen und Milinka bei ihren Büchern sei, in das Zimmer seiner Kinder gekommen und hatte eine lange Unterredung mit ihnen geführt. Jetzt, vor Tische, kam er zu Sergey und zeigte eine betrübte Miene.

„Wir haben es nicht gut gemacht, Bruderherz,“ sagte er; „die Kinder, die neugierig vor mir standen, waren von der Proposition, daß eine von ihnen Dich nehmen sollte, so überrascht, ich will nicht sagen, bestürzt, daß sie auf ihre Sessel niedersanken. Sie ließen die Köpfe hängen. Ob sie Dich denn nicht leiden könnten, ob sie Dich haßten? fragte ich. Da betheuerte Jede einzeln mit feurigen Worten – und ich habe sie selten in einer Sache in solcher Uebereinstimmung gefunden – daß sie Dich liebe, wie einen theuren Freund; aber um keinen Preis – kurz, wir haben es nicht gut angefangen. Denn ich will Dir etwas sagen, Sergey Iwanowitsch!“

Er räusperte sich und rang nach dem Ausdruck:

„Weißt Du, daß, wenn Du an Eine herangetreten wärest, an welche immer, aber mit entschlossener Wahl, sie hätte Dich sogleich genommen. Denn sie sind Dir Beide gut, und die Gewählte hätte sich geliebt geglaubt und wäre von der Andern beinahe beneidet worden. Jetzt, da Du sozusagen um Beide zugleich wirbst, vermissen sie die Liebe in Dir, und für Keine hat die Sache irgend einen Reiz.“

Sergey senkte betroffen das Haupt.

„Was sagte ich den Kindern darauf?“ fuhr Nikolai fort: „Ihr seid unerfahrene Mäuse. Ihr kennt die Fallen nicht, die Euch das Leben stellt. Wißt Ihr, was geschieht, wenn ich meinem Freunde vermelde, daß Jede von Euch sich weigert, ihn zu erhören? Ein abgewiesener Freier kommt niemals wieder in das Haus, in welchem er einen Korb bekommen hat – das fordern Selbstgefühl und Schicklichkeit.“

Nikolai betrachtete nach diesen Worten fragend seinen Freund, und da dieser mit keinem Zuge des Gesichtes seine Meinung verrieth, fuhr Nikolai fort:

„Kaum hatte ich dies den Mädchen gesagt, als sie in ein Jammergeschrei ausbrachen. Sie beschworen mich, Dir von meiner Unterredung mit ihnen noch gar nichts zu sagen. Ich sollte Dir melden, ich hätte die Werbung noch hinausgeschoben; ich müßte Deinen Antrag selbst noch bedenken. Ich versprach es ihnen nicht, aber, wenn Du willst, so kannst Du thun, als wüßtest Du von ihrer Weigerung noch nichts, und kommst also ganz unbefangen zu Tische. Ja, wenn Du ignorirst, daß ich für Dich geworben und vergeblich geworben habe, so bekommst Du ihnen gegenüber freie Hand, noch gut zu machen, was verdorben ist, nämlich Dich für die Eine oder die Andere bestimmt zu entscheiden.“

„Ich tauge nicht gut zum Komödienspiel,“ erwiderte Sergey; „ich soll mich jetzt stellen, als wüßte ich nicht, daß sie meine Absichten von Dir erfahren haben? Wenn ich auch unbefangen bliebe, würden sie es bleiben? Wäre es nicht immer ein gestörtes Beisammensein? Nein! Ich lege Deinen Töchtern die Karten offen auf den Tisch. Bringe mich noch in dieser Stunde mit ihnen zusammen, ich habe ihnen einen Vorschlag zu machen, und Du mußt dabei sein und Deine väterliche Einwilligung geben.“

Die vier Betheiligten kamen im Salon zusammen, dessen Thüren gesperrt wurden.

„Meine Fräulein,“ sagte Sergey, „die unbestimmte Werbung, die Ihnen der Vater überbrachte, sollte mir nur das Recht verschaffen, Ihnen sagen zu dürfen, was ich mit Ihnen vorhabe. Die Gräfin Varinka Tschatscherin, meine Tante, wünscht lebhaft meine Verheirathung. Trotz großer Kreise, die sie umgeben, lebt sie sehr einsam. Ihre Tochter ist in Paris verheirathet; die Tante sehnt sich nach einer Nichte, an der sie wieder etwas Verwandtes, eine weibliche Stütze um sich hätte. Wenn ich nun die Töchter meines theuersten Freundes gefragt habe, ob sich eine als Lebensgefährtin mir anschließen wolle, so war ich nicht so vermessen zu glauben, die Entscheidung werde augenblicklich erfolgen. Nicht nur bin ich dazu nicht jung, schön und anspruchsvoll genug, gegenüber so vieler Jugend, Schönheit und Berechtigung, das Beste anzusprechen – auch Sie, meine lieben Freundinnen, sind dazu nicht welterfahren genug. Sie haben bisher in trauter Stille, fern vom Treiben der Welt gelebt; ich bin fast der einzige Mann, der sich Ihnen näherte – es hieße Ihre Jugend, Ihre Unerfahrenheit ausbeuten, wenn man Sie wählen ließe, ohne daß Sie mit Anderen vergleichen können, ohne daß Sie jemals Gelegenheit gehabt, die Menschen, die Verhältnisse der großen Welt kennen zu lernen.“

Er hielt inne; die Mädchen schlugen die Augen nieder. Die Miene Matrjona’s schien Zustimmung zu dem Gesagten auszudrücken, die Milinka’s eher Verletzung, daß man ihr, der Vielbelesenen, die Kenntniß der Dinge dieser Welt nicht zutraute.

„Ich habe nun gedacht,“ fuhr Sergey fort, „daß es gut wäre, Ihnen Gelegenheit zu geben, die Welt kennen zu lernen. Wenn ich der Tante schreibe, daß ich diejenige von Ihnen zur Gattin wählen will, die sich nach einigem Verkehr im Leben der Welt dafür entscheidet, so wird die gute Frau Sie mit offenen Armen in ihrem Hause empfangen, zunächst erfreut darüber, Jugend und Frohsinn um sich zu haben. Sie verbringen die Wintermonate in Petersburg. Sie beobachten, wie es in der großen Gesellschaft aussieht, Sie begegnen Männern, ausgezeichnet durch Geist, Liebenswürdigkeit und hervorragende Stellung, auch der Werth oder Unwerth weltlicher Freuden macht sich Ihnen fühlbar – und wenn sich Ihnen zuletzt ein Loos nach Ihren Wünschen darbieten sollte, besser als Sie es an meiner Seite finden, so trete ich zurück, zwar mit dem Schmerz, entsagen zu müssen, aber mit befriedigter Freundschaft. Darum bitte ich Sie, mir zu gestatten, wenigstens an die Möglichkeit zu glauben, daß Sie sich einst für mich entscheiden; denn diese Möglichkeit allein giebt mir das Recht, Sie bei meiner Tante einzuführen, und sichert Ihnen von Ihrer Seite den freudigsten Empfang. Wollen Sie nach Petersburg reisen?“

Matrjona sprang lachend von ihrem Sitz auf und klatschte in die Hände.

„Es wäre himmlisch, Petersburg zu sehen, all die berühmten Plätze und Promenaden, die Boutiquen, die Theater, die Gesellschaften! Und was man da lernen kann für Haus und Leben, tausend Dinge, die wir auf dem Lande nie erfahren!“

Milinka blieb ruhig auf ihrem Sitz; ein Zug verächtlicher Gleichgültigkeit spielte um ihre Lippen.

„Die Welt bietet nichts, was das Herz ausfüllen könnte – ich weiß es! All der Glanz und die Vergnügungen haben keinen Reiz für mich, aber ich wäre es im Grunde zufrieden, meine richtige Werthschätzung der Dinge dieser Welt auch einmal thatsächlich zu erproben.“

„Halt!“ sagte jetzt Nikolai, „darüber habe ich vorher noch ein Wort mit diesem Schwärmer zu sprechen.“

Er zog Sergey in die Fensternische und eine leise Debatte, eifrig aber kurz, wurde über die finanziellen Mittel zur Ausführung des Planes zwischen den Freunden geführt. Sergey nannte es Verrath am Vaterlande und an der Freundschaft, wenn bei diesem Anlaß der ganze Umfang russischer Gastfreundschaft nicht unbedenklich in Anspruch genommen würde. Außerdem bekannte er rund heraus, daß er Kenntniß von der gefährlichen Lage Nikolai’s gewonnen habe und diesen für verpflichtet halte, Vorschläge anzuhören, deren Erwägung nur an Ort und Stelle, nur in Petersburg möglich wäre. Nikolai mußte zugeben, daß, nachdem der Freund sich in die Sachlage gleichsam eingedrängt hatte, es am besten wäre, ihm für einige Zeit die Führung zu überlassen.

So kehrte denn Nikolai zu seinen Töchtern zurück, um ihnen seine Zustimmung zu der Reise nach Petersburg mitzutheilen. Die Mädchen umarmten sich im ersten Augenblick des Entzückens. Denn eine Abwechslung im „ermüdenden Gleichmaß der Tage“ war auch für Milinka erfreulich, obgleich ihre Wehmuth, gewohnte Verhältnisse verlassen zu müssen, gleich wieder zum Vorschein kam und sie von Neuem die Ueberzeugung aussprach, daß die Welt ihr kein Glück zu bieten haben werde. Matrjona hingegen machte kein Hehl aus ihrem Jubel, aus der vollen, kindlichen Hingebung an die unerwartete Freude.

Es wurde nun beschlossen, daß Sergey nach seinem Gute zurückkehre, um von dort aus der Gräfin Tschatscherin den [332] bevorstehenden Besuch anzuzeigen und seine häuslichen Angelegenheiten für eine längere Abwesenheit zu ordnen. Dann sollte er wieder in Andrejewo erscheinen, um gemeinsam mit Nikolai und seinen Töchtern die Reise nach Petersburg anzutreten.

Auf seiner Heimfahrt machte sich Sergey klar, daß die Bedenkzeit, die er mit dem Aufenthalt in der Hauptstadt den Mädchen einräumte, eigentlich eine war, die er sich selbst gönnte. Matrjona's ungemessene Freude, die lärmenden Vergnügungen der großen Welt in Aussicht zu haben, entsprach nicht seinem Geschmack, und dennoch lag darin etwas Räthselhaftes, das ihn anzog; Milinka's Abneigung gegen die rauschenden Genüsse stimmte zu seiner eigenen Denkungsweise, und dennoch fand er darin etwas ihm Widerstrebendes, das er sich augenblicklich nicht zu erklären vermochte. Von den Begebenheiten in der großen Stadt war ein Klarwerden über jenes Räthselhafte und dieses Widerstrebende zu hoffen.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Lose Vögel. Zwei Frühlingsbilder („Kukuk“, S. 329 und „Der erste Schreck“, S. 321) führen uns in das frische, junge Leben der kräftig in Blätter und Blüthen treibenden, Mensch und Thiere erquickenden Natur. Wir können beide Bilder wohl unter der gegebenen Ueberschrift zusammenfassen; denn wenn auch die Jungen in dem Neste, das mit ebenso viel Klugheit wie Geschmack einer steinernen Gartenzierde in Gestalt eines Genius mit dem unerklärlichen Stab in den Händen auf die Schultern gebaut ist, soeben ihren „ersten Schreck“ erleben, so sind sie, wenn der Feind vorübergeschnurrt, doch sofort wieder die losen freßbegierigen Jungen, die losen Vögel ihrer zärtlichen Mutter.

Unser andrer loser Vogel aber, der hinter seiner harrenden Mutter im Walde herbeischleicht und sie mit dem Rufe „Kukuk“ erschrecken will, sagt es uns mit seinem lachenden Gesicht, was er ist, und wie ihm das Erschrecken der Mutter gelungen, ist so auch in ihrem Antlitz deutlich zu lesen. Es sind zwei harmlose Bildchen, die wir unseren Lesern in dieser Zeit bieten, wo die Natur sich als liebende Mutter zeigt, die alle von des Winters Last und Noth gedrückten Menschenkinder wieder froh machen möchte, und wenn ihr das bei Vielen nicht gelingt, so sind leider die Menschen selber daran schuld und die bösen „Umstände“, mit denen sie sich das Leben erschweren und verbittern.




Kriegskämpfer und -Invaliden in Bedrängnis. Welch großes, unbeschreibliches und unermeßliches Unglück der Krieg ist, wie verheerend er in das Leben der Einzelnen und der Familien eingreift, das stellt sich uns lebhaft vor Augen, wenn wir sehen, daß heute, im zehnten Jahre nach unserm „letzten Kampf um den Rhein“, Einzelne und ganze Familien, die jener Krieg aus ihren Bahnen, aus gesicherten Stellungen gerissen, noch nicht wieder empor gekommen sind, zum Theil sogar, trotz aller Bitten und Mühen um Erwerbstätigkeit, in harter Bedrängniß leben.

Man braucht in dieser Klage nicht gleich eine Anklage gegen die bestehenden staatlichen und privaten Invaliden-Unterstützungsanstalten zu erblicken; denn die Unmöglichkeit, in der sich selbst die mit Mitteln reichlichst ausgerüsteten Anstalten dieser Art befinden, Allen, die es verdient haben, auch würdig zu helfen, liegt auf der Hand; dagegen soll man uns an den maßgebenden Stellen keinen Vorwurf daraus machen, daß wir beklagenswerthe Thatsachen nicht verschweigen und für Diejenigen, welche unter diesen Thatsachen leiden, ein Wort der Bitte aussprechen.

Ebenso wenig darf die Mahnung an eine noch unerloschene Pflicht gegen unsere Tapferen unterbleiben, die Mahnung an jene Pflicht der Dankbarkeit, die während der Gefahren und Triumphe des Krieges so oft und laut in allen Volkskreisen anerkannt, so bei mancher öffentlichen Feier jener Tage begeisterungsvoll beschworen worden ist. – Wir bieten in den nachstehenden Anliegen einer Anzahl unserer invalidgewordenen Kämpfer die Gelegenheit, jener Pflicht immer noch zu genügen. Namen nennen wir nicht, geben aber auf jede mit Bezeichnung der betreffenden Ziffern eingehende Anfrage die gewünschte Auskunft und theilen gleichzeitig die nöthige Adresse mit.

1) Arm und krank durch den Krieg. Ein Buchdrucker, jetzt einunddreißig Jahre alt, eilte vor zehn Jahren freiwillig zu den Fahnen, die nach Frankreich zogen, und kehrte aus dem Kriege mit schweren rheumatischen Leiden behaftet zurück. In jugendlicher Zuversicht, daß das Uebel sich legen werde, versäumte er die für Ansprüche an den Invalidenfonds festgesetzte Frist. Da er in seinem Berufe nicht mehr arbeiten konnte, suchte er in Bureaudiensten und als Corrector sich zu ernähren und verwandte seine letzten Ersparnisse auf eine Cur in Teplitz, die sein Leiden nicht hob; es kam noch ein Herzleiden hinzu, das ihn ganz erwerbsunfähig machte. Seitdem lag er, der früher seine alten, armen Eltern unterstützt hatte, diesen selbst zur Last, bis er im Armenhause seiner Vaterstadt, mit welchem das Stadtlazareth verbunden ist, Aufnahme fand. Arm und krank, so jung und den Tod vor Augen! Wer diesem Unglücklichen noch eine Freude gönnt, spende sie bald!

2) Invalid in Möhra. Früher Weber und Musikant, wurde dieser Mann bei Sedan schwer verwundet (die Kugel steckt noch in der Wunde); da er verheirathet und Vater von drei Kindern ist, so reichen die Invalidengelder nicht zur Ernährung seiner Familie hin, und er sucht, da seine Verwundung ihn an der Betreibung der Weberei hindert, eine Stelle als Aufseher, Portier oder dergl.

3) Barbier und Buchbinder. Theilnehmer an den Feldzügen von 1866 und 1870, wurde er nach dem letzten Ausfall vor Paris krank und in die Heimath beurlaubt. Da er als Barbier seine Kundschaft verloren, so suchte er seine Familie durch Buchbinderei zu ernähren; Concurrenz und Arbeitslosigkeit brachten jedoch ihn um Alles, sodaß er nun dringend um eine Stellung in einem Hause oder einem seiner Berufsgeschäfte bittet.

4) Durch den Krieg an den Bettelstab gekommen. Ein Ziegler, welcher 1859 in die Artilleriereserve trat, ernährte sich und seine rasch anwachsende Familie gut, bis er 1870 die Belagerung von Paris mitzumachen hatte. Dort hat er sich den Rheumatismus zugezogen, der ihn nach der Heimkehr sehr bald zu schwerer Arbeit unfähig machte, und da durch schwindelhafte Ueberproduction die Ziegelfabrikation zum Stillstand kam, so wurde der Unglückliche, mit sechs Kindern Gesegnete brodlos. Eine Stellung des Mannes als Fabrikaufseher, Hausdiener oder dergl. könnte die Armen retten.

5) Eisernes Kreuz und bittere Noth. Ein sächsischer Artillerist, welcher vom 1. Januar 1866 an fünfundeinhalb Jahr im activen Dienst gestanden, die Feldzüge in Oesterreich und Frankreich mitgemacht, in letzterem in den drei Schlachten von St. Privat, Sedan und Beaumont, in den Gefechten von Verdun und Nouart und in der Belagerung von Paris mitgekämpft und für seine Tapferkeit das Eiserne Kreuz zweiter Classe erhalten, wurde nach dem Feldzuge von einem so schweren Brustleiden ergriffen, daß er sein Schuhmacherhandwerk nicht weiter betreiben konnte und ihm eine gesetzliche Invalidenpension bewilligt wurde. Er erhält monatlich 15 Mark Pension, 6 Mark Kriegszulage und 6 Mark Anstellungsentschädigung, zusammen 27 Mark. Wie dankbar der Mann dafür auch ist, so ist es doch nicht seine Schuld, daß er, seine Frau und drei Kinder von dieser Einnahme nur kümmerlich leben können und eine Sorgfalt für seine Gesundheit dabei nicht möglich ist. Da aber selbst diese Einnahme mit Ende October 1881 aufhört, so bittet er dringend um eine leichte Beschäftigung im Wald oder sonst in freier gesunder Luft, um sich seiner Familie wenigstens noch einige Jahre erhalten zu können.

6) Landwirth und ledig. Ein dreiunddreißigjähriger, unverheiratheter Mann, dem am 6. August bei bei Wörth der rechte Unterschenkel zerschmettert worden war und der nach der Heilung mehrmals versuchte, als Verwalter zu dienen, aber wegen der Schwäche, welche die schwere Verwundung ihm zurückgelassen, diese Thätigkeit wieder einstellen mußte, wünscht jetzt, wo sein Zustand ein ziemlich kräftiger geworden, sich in seinem Berufe nützlich zu machen. Er bezieht zwar eine Invalidenpension von monatlich zwölf Thalern, würde aber einer Stellung als Landwirth, Verwalter, Aufseher oder Haushofmeister den Vorzug geben.

7) Ein Veteran der Feldzüge von 1866 und 1870 auf 1871; aus letzterem brachte er hartnäckigen Rheumatismus in beiden Armen heim, der ihm allerdings „saure Arbeit“ unmöglich macht, dagegen ihm gestattet, noch als Feldaufseher, Portier etc. zu dienen.

8) Einer von den Kämpfern vor Belfort im tiefsten Elend. Seines Zeichens ein Bergmann, zog er 1870 nach Frankreich mit und nahm an den Kämpfen bei Metz und 1871 an der dreitägigen Schlacht bei Belfort gegen Bourbaki Theil. Die furchtbaren Strapazen dieses Heldenkampfes an der Lisaine, der damals Deutschlands Rettung vor französischer Verwüstung war, sollte, wie vielen Anderen, auch diesem Manne verderblich werden, der kerngesund ausmarschirt war. Scheinbar kam er auch gesund heim, er stieg wieder in den Schacht, um sich freizuarbeiten von den Schulden, die seine Familie während des Krieges hatte machen müssen. Aber bald brach der bei Belfort gelegte Krankheitskeim in schweren Gichtleiden aus. Da auch er die rechte Meldungsfrist zur Invalidenpension versäumt hatte, so suchte er durch Schuhflicken die Seinen zu ernähren. Endlich ging auch das nicht mehr. Mit gichtgekrümmten Händen und Füßen ist der in der treuesten Ausübung seiner Pflicht für das Vaterland in solches Elend Gesunkene auf das Öffentliche Mitleid angewiesen. Ein Gensd'arm, welcher in hohem Auftrag ihn aufsuchte, ward beim Anblick des Mannes und seiner Familie so ergriffen, daß er aus der eigenen Tasche zwei Mark auf den Tisch legte. Und das ist Einer von Belfort!

9) Ein Jäger von St. Privat. Am 18. August 1870 wurde beim Sturm auf St. Privat ein Trompeter der sächsischen Jäger durch den rechten Oberschenkel geschossen. Nach achtmonatlichem Lazarethlager als Invalid entlassen, erhielt er eine Pension von monatlich einundzwanzig Mark gewährt. Da er damit auch Weib und Kind ernähren muß, so reicht es nicht zu, und so bittet er, da in Folge seiner Wunde und der Feldzugsstrapazen er das Musiciren lassen muß, ebenfalls um eine Stelle als Aufseher in einer Fabrik, als Hausmeister oder Aehnliches.

Wir wiederholen, daß wir die Namen dieser neun Invaliden auf Anfrage und nur brieflich mittheilen.




Berichtigung. In dem Artikel „Von Babylon nach Jerusalem“ in unserer Nr. 6 heißt es in Bezug auf das Verhältniß der Gräfin Ida Hahn-Hahn zu Heinrich Simon: „Simon hielt um die Hand der Gräfin an, doch diese konnte sich nicht entschließen, ihren Rang einem Bürgerlichen von jüdischer Herkunft zu opfern“. Diese Angabe wird von der Familie Simon auf Grund vorhandener Papiere in Abrede gestellt, was wir hiermit berichtigend zur Kenntniß bringen.
D. Red.



Kleiner Briefkasten.

S. M. D. Eigener Name des Autors! Adresse: Danzig, Heiligegeistgasse Nr. 53.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir haben diese interessanten Artikel über „das englische Clubwesen sonst und jetzt“ den Aushängebogen eines Werkes entnommen, das unser geschätzter Mitarbeiter Leopold Katscher soeben unter dem Titel: „Bilder aus dem englischen Leben“, Verlag von Wilhelm Friedrich in Leipzig, herausgiebt.
    D. Red.
  2. müsste wohl heißen: „so weiß ich,“