Die Gartenlaube (1880)/Heft 19
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No. 19. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Das nennt man nun hier zu Lande Frühling! Das Schneetreiben wird mit jeder Minute ärger, und dazu bläst dieser liebenswürdige Nordost mit einer Energie, als wollte er uns mit der ganzen Extrapost fortwehen. Es ist zum Verzweifeln.“
Die Postchaise, deren einer Insasse in dieser Weise seinem Unmuthe Luft machte, arbeitete sich in der That mühsam durch den Schnee der Landstraße. Die Pferde kamen trotz aller Anstrengung nur im Schritt und so langsam vorwärts, daß die Geduld der beiden Reisenden, die sich im Innern des Wagens befanden, auf eine harte Probe gestellt wurde.
Der Jüngere der Beiden, der einen sehr eleganten, aber für diese Witterung viel zu leichten Reise-Anzug trug, konnte höchstens vierundzwanzig Jahr alt sein. Der volle Lebensmuth oder vielmehr Uebermuth der Jugend leuchtete aus den schönen offenen Zügen, aus den dunklen Augen, die so keck und klar in die Welt blickten, als wären sie noch nie von irgend einem Schatten getrübt worden. Die ganze Erscheinung hatte etwas ungemein Fesselndes und Liebenswürdiges, aber der junge Reisende schien die Verzögerung der Fahrt sehr ungeduldig zu ertragen und gab seinem Aerger darüber jeden nur möglichen Ausdruck.
Desto gleichgültiger zeigte sich sein Begleiter, der, in einen grauen Mantel gehüllt, in der anderen Ecke des Wagens lehnte. Er schien einige Jahre älter zu sein, aber sein Aeußeres hatte wenig Anziehendes. Seine Gestalt war mehr kräftig als elegant, seine Haltung beinahe nachlässig. Sein Gesicht war nicht gerade häßlich; mindestens konnte es für charaktervoll gelten, wenn seine Linien auch keinen Anspruch auf Schönheit oder Regelmäßigkeit erheben durften, aber es lag ein Ausdruck darin, der befremdend und erkältend wirkte. Die tiefe Herbheit und Bitterkeit der schwersten Lebenserfahrungen mußte diesem jugendlichen Alter noch fremd sein, und doch war unbedingt etwas davon in jenem Zuge, der, ohne sich im Einzelnen verfolgen oder feststellen zu lassen, doch dem ganzen Antlitz sein eigenthümliches Gepräge lieh und den jungen Mann weit älter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war. Das volle dunkle Haar harmonirte mit den dichten dunklen Augenbrauen, die Augen selbst aber waren von jener völlig unbestimmten Farbe, die gewöhnlich nicht für schön gilt. Es lag auch in der That wenig Sympathisches darin, kein froher Lebensmuth, keine einzige von jenen schwärmerischen oder leidenschaftlichen Regungen, an denen die Jugend sonst so reich ist. Der kalte, freudlose Blick hatte etwas ungemein Hartes, wie die ganze Persönlichkeit.
Der Letztgeschilderte hatte bisher ruhig in das Schneetreiben hinausgeblickt; jetzt wandte er sich um, und jenen ungeduldigen Ausruf seines Gefährten beantwortend, sagte er:
„Du vergißt, Edmund, daß wir uns nicht mehr in Italien befinden. In unserem Klima, und vollends hier in den Bergen, gehört der März noch ganz dem Winter an.“
„Mein schönes Italien! Dort verließen wir Alles im Sonnenschein und Blüthenduft, und hier in der Heimath empfängt uns ein Schneesturm, direct vom Nordpol importirt. Du scheinst Dich freilich bei dieser Temperatur ganz wohl zu befinden. Dir ist ja auch die ganze Reise nur eine lästige Aufgabe gewesen. Leugne es nicht, Oswald – Du wärst am liebsten zu Hause bei Deinen Büchern geblieben.“
Oswald zuckte die Achseln.
„Was ich wünschte oder nicht wünschte, kam wohl überhaupt nicht in Betracht. Du solltest nicht ohne Begleitung reisen – da hatte ich mich einfach zu fügen.“
„Ja, Du wurdest mir als Mentor beigegeben,“ lachte Edmund, „mit dem allerhöchsten Auftrage, mich zu beaufsichtigen und mir nöthigenfalls Zügel anzulegen.“
„Was mir durchaus nicht gelungen ist. Du hast Tollheiten genug ausgeübt.“
„Bah, wozu ist man denn jung und reich, wenn man das Leben nicht genießen soll! Ich habe das freilich stets allein thun müssen. Geh, Oswald, Du bist kein guter Camerad gewesen! Warum zogst Du Dich stets so eigensinnig und finster zurück?“
„Weil ich wußte, daß das, was dem Majoratsherrn und Grafen Ettersberg erlaubt ist oder ihm höchstens mit einem zärtlichen Vorwurfe verziehen wird, bei mir als Verbrechen gilt,“ lautete die schroffe Erwiderung.
„Warum nicht gar!“ rief Edmund. „Du weißt doch, daß ich in jedem Falle die Verantwortung für uns Beide auf mich genommen hätte. So freilich muß ich alle Schuld auf mich allein nehmen. Nun, der Richterspruch über mein Vergehen wird nicht allzu streng ausfallen, wenn aber Du bei der Rückkehr Deine Zukunftspläne zur Sprache bringst, so kannst Du Dich auf einen Sturm gefaßt machen.“
„Das weiß ich,“ versetzte Oswald lakonisch.
„Aber diesmal stehe ich Dir nicht zur Seite, wie damals, als Du so entschieden die Militärcarrière verweigertest,“ fuhr der junge Graf fort. „Ich half Dir das durchsetzen; denn ich glaubte natürlich, Du werdest in den Staatsdienst treten. Wir Alle glaubten das, und jetzt kommst Du auf einmal mit dieser unsinnigen Idee zum Vorschein.“
[302] „Die Idee ist weder so unsinnig noch so neu, wie Du glaubst. Bei mir stand sie bereits fest, als ich mit Dir die Universität bezog. Ich habe meine ganzen Studien darnach geregelt, wollte mir aber die jahrelangen, nutzlosen Kämpfe ersparen, deshalb schwieg ich bis jetzt, wo es zur Entscheidung kommen muß.“
„Und ich sage Dir, Du bringst die ganze Familie damit in Aufruhr; es ist auch unerhört. Ein Ettersberg als Advocat, den ersten besten Dieb oder Fälscher vertheidigend! Das giebt meine Mutter nun und nimmermehr zu, und sie hat vollkommen Recht. Wenn Du in den Staatsdienst trittst –“
„So dauert es noch Jahre, bis ich die ersten Stufen überwinde,“ unterbrach ihn Oswald, „und so lange bleibe ich gänzlich von Dir und Deiner Mutter abhängig.“
Der Ton der letzten Worte war so herb, daß Edmund sich rasch emporrichtete.
„Oswald! Habe ich Dich das je fühlen lassen?“
„Du – nein! Aber ich fühle es eben deshalb um so tiefer.“
„Da sind wir wieder auf dem alten Punkte. Du wärst im Stande, das Widersinnigste zu thun, nur um diese sogenannte Abhängigkeit – aber was ist denn das? Weshalb hält der Wagen? Ich glaube wahrhaftig, wir bleiben hier mitten auf der Landstraße im Schnee stecken.“
Oswald hatte bereits das Wagenfenster niedergelassen und sich hinausgelehnt.
„Was giebt es?“ fragte er.
„Wir sitzen fest,“ klang die phlegmatische Antwort des Postillons, der die Sache sehr natürlich zu finden schien.
„Wir sitzen fest!“ wiederholte Edmund mit einem ärgerlichen Auflachen. „Und das meldet uns der Mensch mit dieser philosophischen Ruhe. Wir sitzen also fest. Was nun?“
Oswald gab keine Antwort, sondern öffnete den Schlag und stieg aus. Die Situation ließ sich mit einem Blicke überschauen; angenehm war sie allerdings nicht. Der Weg senkte sich hier ziemlich steil abwärts, und der schmale Thaleinschnitt, den man passiren mußte, war durch Schneewehen vollständig versperrt. Der Schnee lag an dieser Stelle mehrere Fuß hoch und so dicht, daß ein Durchkommen unmöglich schien. Das mußten der Kutscher wie die Pferde wohl gleichzeitig eingesehen haben; denn die letzteren gaben jede fernere Anstrengung auf, und der Erstere hatte Peitsche und Zügel sinken lassen und sah seine beiden Passagiere an, als erwarte er von ihnen Rath oder Beistand.
„Diese verwünschte Extrapost!“ brach Edmund aus, der seinem Begleiter gefolgt und gleichfalls ausgestiegen war. „Weshalb ließen wir uns auch nicht die eigenen Pferde entgegenschicken! Jetzt kommen wir vor Einbruch der Dunkelheit nicht nach Ettersberg. Kutscher, wir müssen vorwärts.“
„Vorwärts geht es nicht,“ erklärte dieser in unzerstörbarer Gemüthsruhe. „Die Herren sehen es ja.“
Der junge Graf war im Begriff eine heftige Antwort zu geben, als Oswald die Hand auf seinen Arm legte.
„Der Mann hat Recht. Es geht wirklich nicht; mit den beiden Pferden allein kommen wir hier nicht vorwärts. Es wird uns nichts weiter übrig bleiben, als einstweilen hier im Wagen auszuhalten und den Postillon nach dem nächsten Stationshause zu schicken, um Vorspann zu holen.“
„Damit wir inzwischen hier vollständig einschneien? Da ziehe ich es denn doch vor, zu Fuß nach der Poststation zu gehen.“
Oswald's Blick überflog mit sarkastischem Ausdruck das Reisecostüm seines Gefährten, das augenscheinlich nur für das Eisenbahncoupé oder den Wagen berechnet war.
„In diesem Anzuge willst Du den Fußweg durch den Wald zurücklegen, wo man bei jedem Schritt bis an die Kniee einsinkt? Das möchte denn doch seine Schwierigkeiten haben. Ueberhaupt wirst Du Dich erkälten hier in dem scharfen Winde. Nimm meinen Mantel!“
Damit nahm er ohne Weiteres den Mantel ab und legte ihn um die Schultern des Grafen, der lebhaft, aber vergeblich dagegen protestirte.
„Ich bitte Dich, dann bist Du ja ohne jeden Schutz gegen die Witterung.“
„Mir schadet das nichts. Ich bin nicht weichlich.“
„Aber ich bin es Deiner Meinung nach?“ fragte Edmund empfindlich.
„Nein – nur verwöhnt! Jetzt aber müssen wir einen Entschluß fassen. Entweder wir bleiben im Wagen und schicken den Postillon fort, oder wir versuchen es, auf dem Fußwege vorwärts zu kommen. Entscheide Dich rasch. Was soll geschehen?“
„Wenn Du nur nicht immer so entsetzlich kategorisch wärst!“ sagte Edmund mit einem Seufzer. „Fortwährend stellst Du ein Entweder – oder auf. Weiß ich es, ob der Fußweg zu passiren ist?“
Das Gespräch wurde hier unterbrochen. In einiger Entfernung ließ sich das Stampfen und Schnauben von Pferden hören, und jetzt sah man auch durch Nebel und Schneeflocken einen zweiten Wagen herankommen. Die kräftigen Thiere überwanden ziemlich leicht die Schwierigkeiten des Weges, an dieser bedenklichen Stelle machten sie aber doch Halt. Der Kutscher zog die Zügel an sich, betrachtete kopfschüttelnd das Hinderniß und wandte sich dann nach dem Innern des Wagens. Seine Meldung schien nicht viel tröstlicher zu lauten, als die des Postillons, und ebenso ungeduldig aufgenommen zu werden; denn die helle, jugendliche Stimme, welche ihm antwortete, klang in erregtem Tone.
„Das hilft Alles nichts, Anton; wir müssen hindurch.“
„Aber Fräulein, wenn es doch nun einmal nicht geht!“ wandte der Kutscher ein.
„Thorheit! Es muß gehen. Ich werde selbst nachsehen.“
Den sehr bestimmt gesprochenen Worten folgte die Ausführung sofort. Der Wagenschlag wurde geöffnet, und eine offenbar noch sehr junge Dame sprang heraus. Sie schien mit der Märztemperatur hier in den Bergen hinreichend vertraut zu sein; denn ihre Kleidung war noch ganz winterlich. Ein pelzbesetztes Jäckchen umschloß die schlanke Gestalt in dem dunklen Reisekleide, und ein dichter Schleier, der über dem Hute befestigt war, hüllte fast den ganzen Kopf ein. Es schien sie sehr wenig zu kümmern, daß ihr Fuß beim Aussteigen bis an den Rand des Stiefelchens in den weichen Schnee versank; sie that tapfer einige Schritte vorwärts, blieb aber stehen, als sie den andern Wagen bemerkte, der dicht vor dem ihrigen hielt.
Auch die beiden Herren waren aufmerksam geworden. Oswald freilich hatte nur einen flüchtigen Blick auf die neuen Ankömmlinge geworfen und dann seine ganze Aufmerksamkeit wieder der kritischen Lage zugewendet, Edmund dagegen verlor auf einmal alles Interesse dafür. Er überließ seinem Begleiter alles Weitere und stand schon in der nächsten Minute an der Seite der Fremden, der er mitten im ärgsten Schneegestöber eine Verbeugung von so tadelloser Eleganz machte, als befände er sich im Salon.
„Sie entschuldigen, mein Fräulein, aber wie ich sehe, sind wir nicht die Einzigen, die dies unvergleichliche Frühlingswetter überrascht hat. Es ist immer ein Trost, im Unglück Leidensgefährten zu haben, und da wir in der gleichen Gefahr sind, hier rettungslos einzuschneien, so gestatten Sie wohl, daß wir Ihnen unseren Beistand anbieten.“
Graf Ettersberg vergaß bei diesem ritterlichen Anerbieten vollständig, daß er und Oswald selbst ganz rathlos vor dem Hinderniß standen. Unglücklicher Weise wurde er auf der Stelle beim Worte genommen; denn die junge Dame sagte, ohne durch die Anrede irgendwie in Verlegenheit zu gerathen, in dem früheren bestimmten Tone:
„Nun, dann haben Sie die Güte, uns einen Weg durch den Schnee zu bahnen!“
„Ich?“ fragte Edmund betroffen. „Ich soll –?“
„Sie sollen uns eine Bahn durch den Schnee schaffen – gewiß, mein Herr!“
„Mit dem größten Vergnügen, mein Fräulein, wenn Sie mir nur gefälligst sagen wollten, wie ich das anfangen soll.“
Die Spitze des kleinen Stiefels schlug ungeduldig gegen den Boden, und nicht minder ungeduldig klang die Erwiderung.
„Ich dachte, Sie hätten bereits ein Mittel gefunden, da Sie mir Ihre Hülfe anboten. Jedenfalls müssen wir hindurch, gleichviel auf welche Weise.“
Damit schlug die Sprechende den Schleier zurück und machte Anstalt, die Situation zu beaugenscheinigen. Das, was dies dichte dunkelblaue Gewebe aber jetzt entschleierte, war von so ungewöhnlichem Liebreiz, daß Edmund die Antwort darüber vergaß. Man konnte auch wirklich kaum etwas Anmuthigeres sehen als das von der scharfen Luft rosig angehauchte Gesicht dieses jungen Mädchens. Ihr dunkelblondes Haar drängte sich lockig und widerspänstig aus dem seidenen Netze hervor, das vergeblich versuchte, es zu fesseln. [303] Die Augen, von tiefstem Dunkelblau, hatten durchaus nichts von jener Ruhe und Sanftmuth, die man sonst in dem blauen Auge sucht; vielmehr sprühte auch hier der ganze kecke Uebermuth, den die Jugend und das Glück nur zu geben vermögen. Das Grübchen, das beim Lächeln die Wangen vertiefte, war allerliebst, aber um den kleinen Mund lag ein Zug, der entschieden auf Trotz deutete, und das Köpfchen dort unter den widerspänstigen Locken sah ganz so aus, als beherberge es allerlei Launen und Eigensinn. Aber vielleicht war es gerade dies, was dem Gesicht den eigenthümlich pikanten Zauber lieh, der unwiderstehlich fesselte und den Blick fast zwang, darauf zurückzukehren.
Der jungen Dame entging keineswegs der Eindruck, den ihre Erscheinung machte, und daher mochte auch wohl das Lächeln stammen, das den ungeduldigen Ausdruck in ihren Zügen verdrängte. Uebrigens dauerte das Verstummen Edmund's nicht lange. Verlegenheit und Schüchternheit gehörten durchaus nicht zu seinen Fehlern, und er war eben im Begriff, mit einem Compliment zu debütiren, als Oswald dazwischen trat.
„Die Schwierigkeit dürfte nunmehr gehoben sein,“ sagte er mit einer leichten Verbeugung. „Wenn Sie uns gestatten, mein Fräulein, Ihre Pferde vor die unsrigen zu legen, so wird es wohl möglich sein, zunächst die Postchaise durch den Schnee zu bringen, und dann in der gleichen Weise Ihren Wagen hinüber zu schaffen.“
„Ungemein praktisch!“ sagte Edmund, der sich unbeschreiblich ärgerte, daß er in seinem Complimente und in der sonstigen Entfaltung seiner Liebenswürdigkeit unterbrochen wurde, aber auch die junge Dame schien befremdet über den kurzen trockenen Ton, in welchem der Vorschlag gemacht wurde. Die höchst unpraktische Bewunderung des Grafen Ettersberg war ihr augenscheinlich weit angenehmer, als die praktische Gleichgültigkeit seines Begleiters.
Sie sagte nun auch ihrerseits sehr kurz:
„Ich bitte, verfügen Sie ganz nach Belieben!“ befahl dem Kutscher, den Anordnungen des fremden Herrn zu folgen, und machte dann Anstalt, in ihrem Wagen vor dem unaufhörlichen Schneetreiben Schutz zu suchen.
Edmund folgte ihr schleunigst. Er fand es nöthig, ihr beim Einsteigen zu helfen, und ebenso nöthig, auf den Wagentritt zu steigen, um über den weiteren Verlauf der Sache, die Oswald sofort mit voller Energie in Angriff nahm, Bericht zu erstatten.
„Jetzt setzt sich der Zug in Bewegung,“ rapportirte er durch das niedergelassene Wagenfenster. „Sie zwingen es kaum mit dem doppelten Gespann – da am Abhange wird die Sache bedenklich, die unglückliche Postkutsche kracht und wankt in allen Fugen – die beiden Rosselenker benehmen sich sehr ungeschickt; es ist nur ein Glück, daß mein Begleiter als Commandant das Ganze leitet. Das Commandiren versteht er ausgezeichnet. – Wahrhaftig, da legen sie Bresche in den Schneewall! Es geht wirklich. Oswald steht bereits drüben und giebt ihnen die Richtung an.“
„Und Sie stehen inzwischen hier auf dem Wagentritt,“ spottete die junge Dame.
„Aber mein Fräulein,“ vertheidigte sich Edmund. „Sie werden doch nicht verlangen, daß ich Sie allein auf der Landstraße lasse. Irgend Jemand muß doch zu Ihrem Schutze hierbleiben.“
„Ich glaube nicht, daß hier ein räuberischer Ueberfall zu fürchten ist; unsere Landstraßen sind sicher, so viel ich weiß. Sie scheinen aber diesen Standpunkt sehr zu lieben.“
„Da er mir eine so reizende Aussicht bietet – gewiß!“
Die kecke Galanterie mißfiel offenbar; denn augenblicklich flog der dunkelblaue Schleier wieder herab und verhüllte die eben noch so gerühmte Aussicht. Graf Edmund war etwas betreten. Er sah seine Uebereilung ein und wurde respectvoller.
Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis die Postkutsche über die bedenkliche Stelle geschafft war. Endlich stand sie drüben; Oswald kehrte zurück, und die Kutscher mit den Pferden folgten. Edmund stand noch immer auf dem Wagentritt und schien auch Absolution für seine Keckheit erhalten zu haben; denn es war ein äußerst lebhaftes Gespräch zwischen ihm und seiner Schutzbefohlenen im Gange. Nur fand diese ein boshaftes Vergnügen daran, ihm fortgesetzt ihren Anblick zu entziehen; der Schleier lag noch immer über ihrem Gesichte, als Oswald herantrat.
„Ich muß Sie ersuchen, auszusteigen, mein Fräulein,“ sagte er. „Der Abhang ist ziemlich steil und der Schnee sehr tief. Unsere Postchaise war mehrere Male in Gefahr, umgeworfen zu werden, und Ihr Wagen ist bedeutend schwerer. Die Fahrt würde bedenklich sein.“
„Aber Oswald, welche Idee!“ rief Edmund. „Die Dame kann doch nicht den Weg zu Fuß zurücklegen – das ist unmöglich.“
„Das nicht, nur etwas unbequem,“ lautete die gleichmüthige Antwort. „Die Wagen haben einigermaßen Bahn geschafft, und wenn wir ihnen unmittelbar folgen, so ist die Sache nicht so schwierig. Wenn die Dame es indessen nicht wagt –“
„Nicht wagt?“ unterbrach ihn diese in gereiztem Tone. „O, mein Herr, ich bitte mir doch nicht so viel Furchtsamkeit zuzutrauen. Ich werde es unter allen Umständen wagen.“
Damit verließ sie rasch den Wagen und stand in der nächsten Minute draußen auf der Chaussee. Hier aber erfaßte der Wind den bisher hartnäckig festgehaltenen Schleier, der hoch aufflatterte. Zwar griffen die kleinen Hände sofort danach, aber er hatte sich fest um den Hut geschlungen, und der Versuch, ihn wieder herabzuziehen, mißglückte, zum größten Vergnügen Edmund's, der nun ungestört die „Aussicht“ bewundern konnte.
Inzwischen waren die Pferde vor den zweiten Wagen gelegt worden. Da die Bahn bereits gebrochen war, so ging die Fahrt diesmal leichter von Statten; trotzdem hatte Oswald, der unmittelbar folgte, fortwährend zu lenken und einzugreifen. Das Schneetreiben wollte noch immer kein Ende nehmen, und der Wind trieb die Flocken wirbelnd durch einander. Die Dämme zu beiden Seiten des Weges waren nur undeutlich wie durch einen weißen Schleier sichtbar, während jeder weitere Ausblick im Nebel verschwand. Es gehörte sehr viel jugendlicher Uebermuth dazu, um dieses Wetter und diesen Weg erträglich oder gar amüsant zu finden. Zum Glücke besaßen die beiden jüngeren Passagiere diese Eigenschaft in hohem Maße. Sie betrachteten das Ganze offenbar als Vergnügungspartie. Das beschwerliche Vorwärtskommen, wo man bei jedem Schritt in den Schnee einsank, der fortwährende Kampf mit dem Winde, all die kleinen und großen Hindernisse, die überwunden werden mußten, waren ihnen eine unerschöpfliche Quelle der Heiterkeit. Die Unterhaltung stockte nicht einen Augenblick – das flog wie Raketenfeuer hinüber und herüber; jedes Wort wurde aufgefangen und zurückgegeben. Keiner blieb dem Andern einen Spott oder eine Neckerei schuldig, und das Alles ging so unbefangen, so selbstverständlich, als hätten sich die Beiden schon seit Jahren gekannt.
Endlich war man glücklich drüben angelangt. Der Weg, der sich hier nach zwei verschiedenen Richtungen hin theilte, ließ ein ferneres Hinderniß nicht mehr besorgen. Die Wagen standen bereits neben einander, und die Gespanne wurden soeben in Ordnung gebracht.
„Wir werden uns jetzt wohl trennen,“ sagte die junge Dame, auf den Weg deutend. „Sie fahren jedenfalls die Poststraße; mein Reiseziel liegt nach jener Richtung hin.“
„Aber doch wohl nicht allzu weit?“ fragte Edmund rasch. „Ich bitte um Verzeihung, aber dieses Reise-Abenteuer mit seinen elementaren Hindernissen hat alle Etikette aufgehoben. Wir haben uns Ihnen noch nicht einmal genannt. Sie erlauben, mein Fräulein, daß ich in dieser etwas ungewöhnlichen Situation“ – er stemmte sich mit aller Gewalt gegen einen Windstoß, der ihm den Mantelkragen in die Höhe schlug und einen nassen Flockenschauer in das Gesicht trieb – „mich Ihnen vorstelle. Graf Edmund von Ettersberg, der das Vergnügen hat, Ihnen zugleich seinen Vetter, Oswald von Ettersberg, zu präsentiren. Die nöthigen Salonverbeugungen müssen Sie uns erlassen, sonst wirft uns dieser liebenswürdige Nordost sofort zu Ihren Füßen in den Schnee.“
Die junge Dame stutzte bei der Nennung des Namens.
„Graf Edmund? Der Majoratsherr zu Ettersberg?“
„Zu Befehl!“
Um die Lippen der Fremden zuckte es wie ein mühsam unterdrückter Lachreiz.
„Und Sie sind mein Beschützer gewesen? Wir haben uns mit unseren Pferden gegenseitig aus der Noth geholfen? O, das ist unvergleichlich.“
„Mein Name scheint Ihnen bekannt zu sein,“ sagte Edmund. „Darf ich nun auch meinerseits erfahren –“
„Wer ich bin? Nein, Herr Graf, das erfahren Sie jetzt [304] auf keinen Fall. Aber ich rathe Ihnen, dieses Zusammentreffen in Ettersberg zu verschweigen. Ich werde das zu Hause gleichfalls thun; denn so unschuldig wir daran sind, wir würden doch beiderseitig in Acht und Bann gethan bei dem Geständniß“. Hier war es zu Ende mit der Selbstbeherrschung der jungen Dame; sie brach in ein so lautes und muthwilliges Lachen aus, daß Oswald sie befremdet anschaute; Edmund dagegen ging sofort auf den Ton ein.
„Es bestehen also irgend welche geheime Beziehungen zwischen uns, von denen ich vorläufig keine Ahnung habe,“ sagte er. „Jedenfalls scheinen sie sehr heiterer Natur zu sein, und da Sie Ihr Incognito durchaus nicht lüften wollen, mein Fräulein, so gestatten Sie einstweilen, daß ich mitlache,“ damit stimmte er ebenso herzlich und übermüthig in das Gelächter ein.
„Die Wagen sind bereit,“ unterbrach Oswald diese stürmische Heiterkeit. „Es ist wohl Zeit, einzusteigen.“
Die Beiden hörten plötzlich auf zu lachen, und ihre Mienen zeigten, daß sie diese Unterbrechung sehr rücksichtslos fanden. Sie warf das Köpfchen zurück, sah den Sprechenden von oben bis unten an, kehrte ihm dann ohne Weiteres den Rücken und ging zu ihrem Wagen. Edmund ging natürlich mit, er schob den Kutscher bei Seite, der an dem geöffneten Schlage stand, hob seine schöne Schutzbefohlene hinein und schloß die Wagenthür.
„Und ich soll wirklich nicht erfahren, wen der Zufall so gütig und leider so flüchtig in meinen Weg geführt hat?“ fragte er sich niederbeugend.
„Nein, Herr Graf! Vielleicht erhalten Sie in Ettersberg die Aufklärung, falls nämlich mein Signalement dort bekannt ist. Ich gebe sie Ihnen auf keinen Fall. Aber noch eine Frage – ist Ihr Herr Vetter immer so artig und so – mittheilsam wie heute?“
„Sie meinen, weil er während des ganzes Weges kein Wort gesprochen hat? Ja, das ist leider seine Art Fremden gegenüber, und was seine Galanterie betrifft –“ Edmund seufzte – „Sie glauben nicht, mein Fräulein, wie oft ich da eintreten muß, um seinen gänzlichen Mangel daran wieder gut zu machen.“
„Nun, Sie unterziehen sich dieser Aufgabe auch mit großer Aufopferung,“ spottete die junge Dame, „und im Uebrigen hegen Sie eine unglaubliche Vorliebe für den Wagentritt. Sie stehen schon wieder oben.“
Edmund stand allerdings dort und hätte wahrscheinlich noch lange gestanden, wenn der Kutscher, der jetzt die Zügel ergriff, nicht sehr deutliche Zeichen von Ungeduld gegeben hätte. Die schöne Unbekannte neigte graziös das Haupt.
„Meinen Dank für die freundliche Hülfe! Leben Sie wohl!“
„Ich darf doch hoffen – auf Wiedersehen?“ rief Edmund beinahe ungestüm.
„Um des Himmels willen nicht! Darauf müssen wir unter allen Umständen verzichten. Sie werden das auch noch einsehen. Adieu, Herr Graf von Ettersberg!“
Der Abschiedsgruß verhallte in dem alten, muthwilligen Lachen. Die Pferde zogen an, und Graf Ettersberg kam nur mit genauer Noth noch vom Tritte herunter.
„Willst Du denn nun endlich die Güte haben, einzusteigen?“ klang Oswald’s Stimme. „Du hattest ja so große Eile, nach Hause zu kommen, und wir haben uns schon bedeutend verspätet.“
Edmund warf noch einen Blick auf den Wagen, der ihm die reizende Bekanntschaft entführte und der soeben zwischen den Bäumen verschwand; dann folgte er der Aufforderung.
„Oswald, wer war die Dame?“ fragte er rasch, während auch die Postchaise sich in Bewegung setzte.
„Darnach fragst Du mich? Wie soll ich das wissen?“
„Nun, Du warst ja lange genug bei den Wagen. Du wirst doch den Kutscher gefragt haben.“
„Es ist nicht meine Art, die Kutscher auszufragen, und überdies interessirt mich die Sache sehr wenig.“
„Aber mich desto mehr!“ rief Edmund ärgerlich. „Freilich, das sieht Dir ähnlich. Nicht einmal eine Frage hältst Du der Mühe werth, wo es sich um eine so interessante Begegnung handelt. Ich weiß nicht, was ich aus diesem Mädchen machen soll. Das sprüht ja Funken bei jeder Berührung – das zieht an und stößt ab in einem Athem. In der einen Minute glaubt man sich berechtigt, ihr ganz zwanglos zu nahen, und in der nächsten wird man wieder in die respectvollste Entfernung zurückgescheucht. Ein reizender kleiner Kobold!“
„Aber sehr verwöhnt und übermüthig!“ schaltete Oswald ein.
„Du bist ein entsetzlicher Pedant!“ fuhr der junge Graf auf. „Ueberall findest Du etwas zu tadeln. Gerade dieser launische Uebermuth ist es, der das Mädchen so unwiderstehlich macht. Aber wer in aller Welt kann sie sein? Der Wagenschlag trägt kein Wappen, der Kutscher nur einfach herrschaftliche Livrée, ohne jedes Abzeichen. Also irgend eine bürgerliche Familie aus der Nachbarschaft, und doch scheint sie uns sehr genau zu kennen. Woher denn aber dieses Verweigern des Namens, diese Hindeutung auf schon bestehende Beziehungen? Ich zerbreche mir vergebens den Kopf darüber.“
Eine brennende Frage der Gegenwart.
Von K. J. Schröer.
Ist die deutsche Rechtschreibung eine „Frage“?
So groß – besonders in den letzten Jahrzehnten – die Verwirrung geworden ist, die in den Schulen herrscht, indem überall eine „neue Orthographie“ gelehrt wird, die wiederum an jeder Anstalt eine andere ist, so wurde dadurch doch der Schreibgebrauch der Schriftsteller und Journale bisher so wenig berührt, daß man geneigt sein konnte, darüber hinwegzusehen und die Unsicherheit der deutschen Schreibung bei alledem zu leugnen. Sie erschien so ziemlich zu Einheit und Festigkeit gelangt, namentlich für die historische Betrachtung, welche die Entwickelung unserer Orthographie von den ältesten Zeiten deutschen Schriftenthums an bis zur Gegenwart verfolgte.
Wir hatten große Zeiten des Aufblühens unserer schönen Literatur im zwölften, dreizehnten und sechzehnten Jahrhundert. Was wurde da geschrieben! Aber eine in so weiten Kreisen verbreitete, übereinstimmende Schreibung, wie sie heute herrscht, hatten wir noch nicht. Der Kundige weiß, wie selten die ideale Schreibung sauberer neuer Ausgaben unserer mittelhochdeutschen Dichtungen in den Handschriften angetroffen wird. Auch wie die Orthographie des sechzehnten Jahrhunderts im Argen liegt, ist ja wohl schon einem weiteren Kreise bekannt. Und welches Chaos herrschte noch in unserer Schreibung, als der wackere Leonhard Frisch 1741 in Berlin sein von Jacob Grimm so gerühmtes deutsch-lateinisches Wörterbuch herausgab! Man braucht nur einen Blick zu werfen in die Vorrede, und Schreibungen wie: offt, Wissenschafft, weitläufftig, Muthmassung, Werck[1], Saltz u. dergl. m. erinnern sogleich an den Abstand der Zeit. – Eine solche Schreibung, wie sie hier ein angesehener Sprachforscher in einem gelehrten Werke schrieb, war aber keineswegs die allgemein gültige. Man nimmt gewöhnlich an, die gegenwärtige Orthographie sei durch Gottsched festgestellt worden und zwar durch seine 1748 erschienene „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“. Das ist aber doch nicht so aufzufassen, als ob sie eine Erfindung Gottsched’s wäre, dessen Machtspruch die Nation gefolgt sei. Dergleichen vermag wohl ein Einzelner bei einem großen literarischen Volke nicht. – Die Läuterung unserer Schreibung von Consonantenhäufungen, wie in den angeführten Worten, begann schon vor Leonhard Frisch. Sie ging von Leipzig aus.
Wenn wir die in der Breitkopf’schen Druckerei erschienenen Schriften der „Deutschen Gesellschaft“, der freilich Gottsched nahe stand, von 1730 bis 1742 vergleichen, so finden wir schon durchweg in ihnen: oft, Wissenschaft, weitläuftig, Muthmaßung, Werk, Salz etc. ganz wie wir heute schreiben, kurz die später von Gottsched gelehrte Orthographie. Wir finden sie aber auch ebenso z. B. in Kopp’s Uebersetzung von „Tasso’s befreitem Jerusalem“, die 1744
[305]ebenfalls bei Breitkopf erschienen ist. Goethe erwähnt ihrer in „Wahrheit und Dichtung“ und in „Wilhelm Meister“.
Die neuhochdeutsche Schreibung befestigte sich in einflußreichen Schriftstellerkreisen, und Gottsched faßte sie in ein System zusammen in seiner „Sprachkunst“.
Und wie die Literatur Deutschlands im achtzehnten Jahrhundert nun immer bedeutender, der Kreis der Schreibenden und Lesenden immer größer wurde, so ward die Schreibung auch immer übereinstimmender. Nicht starr blieb sie stehen bei Gottsched’s Regel. Diese Regel sprach für einige Zeit das, was als richtig erschien, noch am besten aus; man hielt aber daran nur mit Auswahl fest und ließ manches Gottsched Eigenthümliche übereinstimmend fallen. – Ein Schlag in’s Wasser war es, als Klopstock 1779 eine neue phonetische (wortklangmäßige) Schreibung einführen wollte, wie so viele junge Leute in unseren Tagen immer wieder. Er schrieb z. B. Ferenderlichkeit und Tir für [306] Veränderlichkeit und Thier. Das hatte nicht den geringsten Einfluß auf den breiten Strom der Literatur, der in ruhiger, allmählicher Entwickelung und Läuterung majestätisch weiter wogte.
Wie sich diese Läuterung allmählich vollzog, davon will ich ein Beispiel anführen.
Barth. Heinr. Brockes (geboren 1680, gestorben 1747) gebrauchte noch für: die Augenbrauen die Form: Augenbrahnen, und reimte dieses Wort auf: Bahnen. Bei Herder kommen noch vor die Formen: Augbran und Augenbran. Auch bei Schiller kommt die Form: Augbranen noch zweimal vor, zuletzt 1787. Goethe schrieb: Augbraun, Augbraune, Augenbraune und Augenbraue. Schiller, außer den genannten Fällen: Augbraun und Augbraune. Heute scheint die Form: Augenbraue schon so ziemlich die Oberhand gewonnen zu haben.
Der Einfluß Einzelner ist da bei Weitem geringer, als man gewöhnlich annimmt. So wie man Gottsched’s Macht in Bezug auf die Festsetzung der Orthographie überschätzt, so überschätzt man den später zur Geltung gekommenen Einfluß Adelung’s. Um das Jahr 1616 erscheint, so viel bekannt, das erste Mal in deutscher Sprache das Wort: das Boot. Es ist ein Fremdwort, aus dem Holländischen. Die Seefahrenden und Handelsleute haben es von da in holländischer Schreibung (Boot) mit oo in’s Land gebracht. Adelung’s Wörterbuch schlug schon 1774 die Schreibung Both (siehe Grimm’s Wörterbuch, II, 237) vor. Wir schreiben aber heute noch ganz richtig: Boot.
So erscheint denn die deutsche Schreibung im Ganzen in gesunder Bewegung und allmählich sich vollziehender Läuterung. Bei ihrem riesigen Umfange kann ihre Umgestaltung wohl nur eine allmähliche sein. Sie schleppt sich noch mit Widersprüchen und überflüssigen Buchstaben. Wenn man aber ihr Ganzes übersieht, so muß man doch die größte Uebereinstimmung in der Hauptsache erkennen, sowie die nicht ruhende Tendenz nach Beseitigung einzelner Mißbräuche, eines nach dem andern. Das y in: sein (être), am längsten von der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ festgehalten, ist verschwunden. Wir schreiben schon lieber Schwert, als Schwerdt; lieber Wirt, als Wirth, und so werden auch diejenigen Fälle immer weniger, von denen man sagt: „Die Schreibung schwankt.“
Ob diese Fälle jemals ganz schwinden werden? Ich weiß nicht, ob man es wünschen soll. So lange die Sprache lebt, wird sie immer kleine Veränderungen erleiden, und die werden allmählich auch in der Schreibung sich geltend machen. Ich glaube, daß ein so naturgemäßer Vorgang bei Weitem dem Festfrieren der Wortbilder, wie im Englischen, vorzuziehen ist.
Wer von dem Leben einer Sprache und dem lebendigen Erfassen dieses Lebens die rechte Vorstellung hat, wird auch nicht wünschen, daß eine Akademie eingesetzt werde, ein solches Festmachen zu besorgen. Trefflich spricht sich hierüber R. Hildebrand in seinem Werke „Vom deutschen Sprachunterricht. Leipzig 1879“ aus, wo auf S. 58 die noch in vielen Köpfen spukende Forderung einer „Akademie“ gekennzeichnet ist. Im Ganzen ist wohl die große Mehrheit der schreibenden Welt sehr wenig interessirt für die Schreibung. Was kümmert den Journalisten, den Gelehrten, den Schriftsteller überhaupt die Orthographie! Es ist etwas so Nebensächliches, so Aeußerliches, ein von dem, was er zu sagen hat, so weit abliegendes Moment, daß man begreift, wie es der weitaus größten Mehrheit der Schreibenden, die doch am Ende ausschlaggebend ist, gleichgültig sein muß. Dennoch klären sich, wie gesagt, allmählich die Begriffe auch in der Schreibung, und kleine Fortschritte vollziehen sich unmerklich.
Alles stünde nach Wunsch, nur von unseren Schulen muß man gestehen, daß es da mit der Orthographie schlimm steht. Wir wissen, wie die Schriftsteller schreiben, wie die Journale schreiben, wie man zu schreiben hat als gebildeter Mensch, wie aber unsere Kinder schreiben, wie sie schreiben sollen, wie es die Schule verlangt, das wissen wir nicht.
Jede Schule schreibt anders, und man kann sich dabei nur mit der Hoffnung trösten, daß die Kinder die Verwirrung, in die sie durch die Schule gerathen, später überwinden und dann doch auf eigne Faust noch schreiben lernen werden – wie man schreibt.
Bisher konnte man sich wohl auch mit der Ansicht beruhigen, dieses Unwesen sei im Ganzen doch nur ein Sturm in einem Glase Wasser, der vorüber gehen wird.
Die Sache nimmt aber nun eine Wendung, über die sich nicht mehr hinwegsehen läßt. In der Hauptstadt des deutschen Reiches wird den Schulen eine neue Orthographie befohlen, und selbst die Ministerien sind darüber verschiedener Meinung! Das Berliner Unterrichtsministerium hat den Gegensatz, in welchem die Schule zur öffentlichen Meinung steht, verschärft und ist selbst Partei geworden, ohne die öffentliche einerseits, ohne die Schule andererseits zu befriedigen. Muß die Schule nicht, wenn ihr eine bestimmte neue Orthographie aufgedrungen wird, fragen: warum diese und nicht eine von den vielen anderen, die vorgeschlagen sind?
Werfen wir einen Blick auf diese verschiedenen vorgeschlagenen Orthographien!
Bekanntlich war es Karl Weinhold, der feinsinnige Germanist, der 1852 ein Ideal einer deutschen Schreibung aufgestellt hat nach dem Grundsatz: man schreibe, wie es die geschichtliche Entwickelung des Neuhochdeutschen verlangt!
Man nannte die von ihm aufgestellte Schreibung die historische. Der von dieser Schrift ausgehenden Strömung, die wesentlich auf Jac. Grimm’s historischer Grammatik fußt, trat 1855 Rudolf von Raumer entgegen, der das Recht der lebenden Sprache geltend machte und darauf drang, durch die Schreibung die Aussprache der Gebildeten möglichst phonetisch genau wiederzugeben. Also z. B. wenn auch in dem Worte Löffel historisch richtig e für ö zu schreiben wäre, so schreibe man doch neuhochdeutsch Löffel, weil so heutzutage der Gebildete spricht. Das phonetische Princip veranlaßte Raumer auf Einführung des Heyse’schen ſs zu dringen. Davon noch später!
Beide haben eine ideale Schreibung im Auge, die anzustreben wäre, aber noch nicht üblich ist. Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, wenn Männer der Wissenschaften solche Ideale hinstellen, und als solche haben beide Erörterungen ihren Werth und haben zur Klärung der Begriffe viel beigetragen. Etwas anderes aber ist es, solche Ideale theoretisch hinzustellen, etwas anderes, sie in der Schule einführen zu wollen.
Es tauchten nun in den letzten Jahrzehnten eine Menge von neuen Orthographien in Lehrerkreisen auf, immer angeblich in der Absicht, in die Schreibung Einheit zu hineinzubringen, eigentlich aber immer nur mit dem Zweck, gewissen Lieblingsmeinungen Einzelner Geltung zu verschaffen. Man begnügte sich nicht, Einigung in zweifelhaften Fällen zu erzielen, sondern man griff immer auch das Feststehende an. Man führte dann diese neuen Orthographien in die Schulen ein, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, ob man auch der allgemeinen Zustimmung der übrigen Welt gewiß sei. Die chaotischen Zustände, die auf diese Weise in den Schulen einrissen, indem man dort nach dem historischen, hier nach dem phonetischen Princip orthographische Regeln aufstellte und lehrte, die alle unter einander nicht übereinstimmten, mußten die Regierungen, zunächst die Unterrichtsbehörden, veranlassen, etwas zu thun, um dem ein Ende zu machen.
Es sei nur zweier derartiger behördlicher Schritte gedacht, des einen aus Wien, eines anderen aus Berlin.
Durch einen Auftrag des österreichischen Unterrichtsministeriums wurde ich 1868 veranlaßt einen Vorschlag auszuarbeiten, der geeignet wäre, in die Orthographie der Schulen Ordnung und Einheit zu bringen.
Es lagen schon damals Erfahrungen vor, aus denen ersichtlich war, woran solche Vorschläge gewöhnlich scheitern. Sie dienen meistens zur Grundlage von Berathungen einer Commission, deren Ergebniß ist, daß zu den neunundneunzig bereits geschaffenen Orthographien nun noch eine hundertste geschaffen ist. Das Uebel, dem man abhelfen wollte, wird vergrößert.
Commissionen zur Berathung über die deutsche Rechtschreibung sind gewöhnlich nach der Mehrzahl ihrer Mitglieder, wie die Dinge einmal stehen, nicht unbefangen genug. Sie werden gewählt aus Kreisen, die zur orthographischen Reform schon Stellung genommen haben, und da haben sich bei den meisten Mitgliedern gewöhnlich schon gewisse Lieblingsmeinungen angesetzt, die bei einer solchen Gelegenheit geltend gemacht werden. Da findet sich denn bald, daß die Mehrzahl nur in Einem Punkte einig ist, nämlich darin, daß ihnen die Reform der Schreibung, ganz abgesehen von der Praxis, in erster Reihe wichtig erscheint und darüber die Einigung, die anzustreben wäre, vergessen wird. Sie kommen dann auch zu Ergebnissen, über welche die Welt anfangs gewöhnlich erschrickt und dann – zur Tagesordnung übergeht. [307] Indem mir diese Gesichtspunkte klar vor Augen standen, hielt ich es für gerathen, von dem Ideal einer deutschen Rechtschreibung völlig abzusehen und nur die Aufgabe in’s Auge zu fassen, die mir zunächst gestellt war, Vorschläge zu machen, die geeignet wären, Ordnung und Einklang in die Schreibung zu bringen, welche an den Schulen gelehrt wird.
Es wurde von mir der Grundsatz an die Spitze gestellt: von der Schule vor allen Dingen Alles fernzuhalten, was problematisch ist, also auch die Schreibung der Zukunft. Die Schüler dürfen nicht mit in den Streit, der unter den Gelehrten ausgebrochen ist, hinein gezogen werden. Die Läuterung der Schreibung wird sich nach und nach vollziehen, dann wird die Schule, die anzuleiten ist, darauf zu achten, wie man schreibt, nachfolgen; sie kann nicht vorausgehen. Der Schüler kann Reformvorschläge nicht vertreten und sie dem herrschenden Gebrauch gegenüber nicht behaupten. Auch der Volksschullehrer nicht.
Ich führte aus, daß die allgemeine Uebereinstimmung der üblichen Schreibung in den Hauptsachen hoch zu halten ist und nicht durch Theorien gestört werden sollte. Die Theoretiker haben mit ihren Vorschlägen für die Schule bisher die Uebereinstimmung nicht gefördert, sondern nur gestört.
„Wer ist wohl zweifelhaft, wie er die Wörter: Haß, haßt, gewiß, Riß, Roß, Schloß zu schreiben hat? Die Zeitschriften, die Schriftsteller werden alle übereinstimmend so schreiben, wie ich hier geschrieben habe, unter den Lehrern wird aber der Eine, Heyse’s Regel folgend, schreiben: Haſs, haſst, haſſen, gewiſs, Riſs, Roſs, Schloſs, der Zweite ‚aus historischen Gründen‘: Haß, haßt, haßen, gewis oder gewiſs, jedoch Riß mit ß, aber Ros oder Roſs mit s oder ss, und wieder Schloß mit ß. Schreibt nun ein Dritter noch in herkömmlicher Weise und geschieht das, wie es wohl vorkommt, in einer Anstalt nebeneinander, so kann die Verwirrung wohl nicht größer sein, aber, wohlgemerkt! nicht in der Literatur, nur in der Schule. Wenn die verwirrten Schüler in’s Leben treten, so lernen sie dann wohl noch zuweilen ganz ordentlich schreiben.“[2]
Ich beschränkte mich in meinem Vorschlage daher darauf, die allgemein herrschende Schreibung zu erörtern und zu empfehlen und in einem Wörterverzeichnisse diejenigen Wörter besonders zu besprechen, in denen auch bei unbefangenen Schriftstellern die Schreibung schwankt, wie Brot oder Brod, Dienstag oder Dienſtag, echt oder ächt, gescheit oder gescheut, gibt oder giebt, gültig oder giltig, Hilfe oder Hülfe etc. Die Besprechung sollte nur dazu dienen, daß der Lehrer sich selbst ein Urtheil bilde.
Bei den Berathungen, die über meine Vorschläge gepflogen wurden, ging es dann aber freilich wieder, wie bei allen solchen Berathungen, aus Gründen, die ich schon angedeutet: man wollte nicht, daß die Schulen einfach die herrschende Schreibung lehren, sondern man wollte erst „sich einigen“, daß heißt: eine neue Schreibung schaffen und diese dann anbefehlen.
Unter solchen Umständen zog ich meinen Vorschlag zurück und gab ihn in den Buchhandel (vgl. unten: Anmerkung), und die Schulen lehren in Oesterreich munter ihre neuen Orthographien noch immer fort.
In Berlin faßte man die Sache groß an. Rudolf von Raumer wurde beauftragt, einen Entwurf auszuarbeiten, welcher der Berathung zur Einigung in der Rechtschreibung als Grundlage dienen sollte. Zur Berathung dieses Entwurfes wurden Delegirte der deutschen Bundesregierungen, ein Delegirter des deutschen Buchdruckervereins und einer des deutschen Buchhändlerverbandes einberufen. Ihre Verhandlungen, die 1876 erschienen, sind bekannt. Sie fanden keinen Beifall und sind Theorien geblieben.
Es scheint natürlich, daß man, um sich in einem solchen Falle zu einigen, vom Wirklichen ausgeht, das heißt, die Punkte, in denen die Welt schon einig ist, vorerst unberührt läßt und nur über die noch nicht geklärten sich zu verständigen versucht. Statt dessen stürzte sich die Conferenz auf die schiefe Ebene der Reform des Bestehenden, die allerdings schon Rudolf von Raumer’s Vorlage betreten hatte, und wenn man sich erst auf diesen Boden begiebt, dann ist freilich kein Halt mehr. Das Publicum erschrak über die Ergebnisse der Conferenz; die Schule hatte keinen Nutzen davon.
Ich verkenne nun keineswegs, daß in den Reformvorschlägen der Berliner Conferenz mit Vorsicht und Sachverständniß der Weg zu einer idealen Schreibung angedeutet worden ist. Wer durch Jahre und Jahrzehnte mit der deutschen Sprache in ihren verschiedenen Entwickelungsstufen und Mundarten zu thun hat, dem erscheint das jetzige Deutsch in anderem Lichte, als dem Laien, und die Schreibung dieses Deutsch, wie sie üblich ist, kann ihn allerdings wenig befriedigen. Ich selbst bekenne, daß ich nicht frei von der Neigung bin, Manches anders zu schreiben, als es üblich ist. Ich denke, das muß jedem Schriftsteller frei stehen. – Wenn ich aber Kinder im Schreiben unterrichten sollte, da wollte ich mich doch dreimal bedenken, bevor ich es wagte, sie eine neue Schreibung zu lehren.
Da sind nun jüngst wieder von Seiten der Behörden neue „Regeln und Wörterverzeichnisse für die deutsche Rechtschreibung“ erschienen, sowohl 1879 in Wien, wie auch 1880 in Berlin.
Die in diesen Publicationen enthaltenen Regeln weichen wieder von einander ab. Die Wiener stimmen nicht mit den Berlinern und beide nicht mit dem üblichen Schreibgebrauch überein. Die Wiener sind nicht bindend für die Schulen, die Berliner aber werden denselben strengstens zur Darnachachtung anbefohlen. Diese verdienen daher besondere Aufmerksamkeit.
Sie sind in der That so eigenthümlich, daß man die Aufregung, die sie hervorgerufen, begreiflich finden muß. Man traut seinen Augen nicht.
Das Kind soll nun schreiben: der Tau, der Teil, teuer, das Tier; daneben aber doch mit th: das Thal, die That, der Thon, das Thor, der Thor, die Thräne, thun, Thür! Wo die Dehnung des Vokals sonst nicht angedeutet wäre, soll nämlich th stehen bleiben. Nun ist aber doch auch Muth ohne h empfohlen. Wie ist denn da die Dehnung des Vocals angedeutet?! Auch Fremdwörter und Wörter aus älteren germanischen Sprachen sollen mit h geschrieben werden, z.B. Günther, Mathilde, Bertha. Nun sind das keineswegs Namensformen aus älteren germanischen Sprachen; die althochdeutschen Formen wären ja: Gundahari, Mahthilda, Perahta! In Günther, Mathilde erklärt sich das h aus der Zusammensetzung mit -her (wie auch in Walt-her) und -hilde; hingegen Bertha ist gar nichts als neuhochdeutscher Schreibmißbrauch. Daß mit dem h das althochdeutsche h in Perahta angedeutet werden soll, welches nicht gehört und nicht gesprochen wird, auch in Albert, Hubert längst schon abgefallen ist, das soll wohl damit gesagt sein, allein ist das richtig motivirt, indem Bertha unter die Fremdwörter aus älteren germanischen Sprachen gestellt wird?! – Welche Schwierigkeiten erwachsen aber nun daraus, wenn die Schule nicht dort th schreiben soll, wo man überall th schreibt, sondern nur in den Fällen, die hier angegeben sind! Wird damit größere Einheit erzielt oder größere Verwirrung? Mir scheint entschieden Letzteres.
Ein merkwürdiges Beispiel von den üblen Folgen aller Willkür in Dingen, über welche die Gelehrten noch nicht einig sind, ist aber die Vorschrift, die hier § 17 gegeben ist, alle Verba auf iren mit e zu schreiben.
Die Germanisten haben nach Jac. Grimm’s Vorgang die Schreibung -ieren in allen Zeitwörtern solcher Endung in mittelhochdeutscher Weise zu schreiben angefangen. Bis dahin war die Regel bekanntlich die, daß man, mit Ausnahme von regieren, spazieren und den von einem Substantiv auf -ier abgeleiteten Zeitwörtern (wie barbieren, quartieren) -iren schreibe. Phonetisch genügt -iren vollkommen, und es sieht befremdlich aus, wenn geschrieben wird: manieriert, studieren etc.
Das Berliner Büchlein befiehlt die Durchführung des -ieren in allen diesen Verben, obwohl es phonetisch nicht zu rechtfertigen ist. Warum? Wohl im Hinblick auf den Vorgang der Germanisten. Nun haben es die Germanisten aber in neuerer Zeit mit guten Gründen wieder aufgegeben und kehrten zum üblichen Schreibgebrauch zurück. In Wilmann’s Grammatik lesen wir S. 213: „die Verbalendung -iren wird mit e geschrieben in regieren, spazieren – sonst werden die Verba auf -iren ohne e geschrieben, z. B. probiren, hantiren, negiren etc.“ Auch W. Scherer schreibt -iren.
Die Anschauungen, auch der Gelehrten, sind eben Wandlungen unterworfen. Die älteren Germanisten aus der Schule J. Grimm’s und Lachmann’s schrieben so übereinstimmend -ieren (mit e), daß man noch vor zehn Jahren annehmen konnte, diese Schreibung werde durchdringen. Ich selbst empfahl noch vor [308] zehn Jahren die Schreibung -ieren.[3] Es scheint mir jetzt, daß sie nicht Aussicht hat, allgemein zu werden, und ich gebe sie auf.
Ein anderes Beispiel. Die Berliner Conferenz empfahl noch nach kurzem Vocal das Heyse’sche ſs, wofür Raumer mit solchem Eifer eingetreten war. Ich war immer dagegen. Das graue Büchlein des Berliner Unterrichtsministeriums von 1880 hat es nun auch aufgegeben (es schreibt: Haß, Riß, nicht mehr: Haſs, Riſs).
Da nun, wie aus diesen Beispielen ersichtlich ist, die Anschauungen solchen Schwankungen unterliegen, wer mag da orthographische Reformen den Schulen befehlen wollen, die mit dem herrschenden Gebrauche im Widerspruche stehen? Warum um’s Himmels willen läßt man denn die armen Lehrer, die armen Kinder nicht unbehelligt mit solchen Neuerungen, über deren Berechtigung die Gelehrten mindestens nicht einig sind?
Wäre es nicht heilsamer, der Schule zu empfehlen, ja zu befehlen – alle Gründe der Methode und Disciplin sprechen dafür – daß sie sich von allen Neuerungen der Schreibung fern halten? Wäre nicht von der Schule zu erwarten, daß sie die Kinder davor bewahren werde, so zu schreiben, daß gebildete Menschen glauben könnten: sie können nicht schreiben?
Die Ansicht, daß eine neue Schreibung durch die Schule eingeführt werden könnte, bei einem großen literarischen Volk, ist ein Irrthum.
Schriftsteller oder Gelehrter wird unter den Schulkindern nicht eines von tausend. Die große Mehrzahl der Ungelehrten, die eine neue Schreibung angenommen hat, soll sie demnach behaupten und vertreten im Widerspruch mit der ganzen Welt der Andersschreibenden, welche in der älteren Schule gebildet sind! Das wird diese Mehrzahl nicht durchführen. Sie wird zum Theil gar nicht in der Lage sein viel zu schreiben, oder sie wird im andern Fall sich dem allgemeinen Schreibgebrauch fügen müssen. Die Wenigen aber – von mehreren Tausenden etwa Einer – die Schriftsteller werden, besitzen eine Bildung, durch welche sie ganz gewiß sich entbunden fühlen werden von der Pflicht, die Orthographie, die man ihnen in der Schule aufgezwungen hat, zur Geltung zu bringen. Sie haben ihre Bildung gewonnen durch das Schriftenthum, das von der neuen Orthographie noch unbeeinflußt ist, und werden daher, wenn sie für Orthographie nicht ein besonderes Interesse haben, sich einfach dem vorgefundenen Gebrauch anschließen, wenn sie aber ihren Studien und ihrer Geistesrichtung nach für orthographische Reform sich interessiren sollten – was unter Hunderten wieder kaum bei Einem der Fall sein wird – so werden sie wahrscheinlich nicht für die in der Volksschule gelernte Orthographie eintreten, sondern ihre eigenen Wege gehen.
Aber warum sollten sie nicht für die in der Volksschule gelernte Orthographie eintreten wollen? Darum wahrscheinlich nicht, weil diese Orthographie eine Menge von Punkten enthält, die disputabel sind. Dies spiegelt sich deutlich schon in der Erscheinung, daß dort, wo die Gewalt des grauen Büchleins nicht hinreicht, auch die Zustimmung nicht erfolgt, wie man aus den vielseitig laut werdenden Protesten schon jetzt ermessen kann.
Der orthographische Friede in den Schulen ist nur durch die Verordnung herzustellen, daß sich die Schulen einer jeden auffälligen, ungewöhnlichen Schreibung im Unterricht zu enthalten haben. Ich glaube, daß viel, ja, daß alles gewonnen wäre, wenn in der Schule der Friede damit wieder hergestellt würde, daß sie verhalten wäre, im Unterricht nicht die Schreibung der Zukunft, also eine problematische Schreibung zu lehren. Die Lehrer würden bald die Wohlthat fühlen, um wie viel leichter es sich unterrichtet, wenn man sich in Uebereinstimmung befindet mit der Literatur, als wenn man sich abmüht den Sisyphusstein einer fraglichen Reform zu wälzen, in Widerspruch mit der Literatur und auch mit den Eltern der Schüler.
Das, was uns Alle, auch die etwa Gebietenden, zwingt, ist der Wogengang der Literatur im Großen. Der Lehrer lehre ihn achten und auf ihn achten.
Daß mit dem Zwecke des Jugendunterrichts die Bedingung einer Beschränkung auf das Herkömmliche gegeben ist, ergiebt sich, abgesehen von methodischen Gründen, auch schon daraus, daß die Frage des anzustrebenden Ideals noch ungeklärt ist, wie dies die zahllosen, sich widersprechenden Schriften, welche in neuerer Zeit über den Gegenstand entstanden sind, zur Genüge beweisen. Zur Abenteuerlichkeit wird jedes Abweichen von dem Herkömmlichen im Unterricht, wenn es gelehrt wird, als ob seine allgemeine Annahme gesichert wäre, bevor man eine Bürgschaft eines solchen Erfolgs nachweisen kann. Es wird damit der Streit, der in der Literatur noch unbeendet ist, in die Schule verlegt, und der Schüler sieht sich nicht nur im Widerspruche mit dem ganzen Schriftenthume, er sieht sich sogar zum Schiedsrichterthum bestellt, oft selbst zwischen seinen Lehrern.
Noch haben wir den methodischen Grund nicht berührt, der gegen eine vom Herkommen abweichende Schreibung im Unterricht spricht.
Die Sprachphysiologie hat gelehrt, daß unsere Buchstabenschrift lange nicht ausreicht, den Wortlaut vollkommen wiederzugeben. Wir lesen auch nicht buchstabirend oder lautirend. Wer so liest, liest schlecht. Die vorgeschrittenste Schreiblesemethode beginnt auch nicht mehr mit Lauten oder sinnlosen Wortbestandtheilen, sondern mit ganzen Wörtern, mit Wortbildern, und erreicht damit ausdrucksvolles Lesen und richtiges Schreiben sicherer, als mit allen Regeln. Wie sehr erschwert es nun den Unterricht, wenn eine nicht übliche Schreibung gelehrt werden soll, durch die eine Schranke gezogen wird zwischen dem Wortbild auf allen Straßen und Gassen, in Büchern und Zeitschriften, und dem des Schulbuchs![4]
Eine Schrift mit Regeln und Wortverzeichniß der deutschen Rechtschreibung, das sich an den herrschenden Schreibgebrauch hält, ist viel leichter und sicherer herzustellen, als Vereinbarungen über Zukunftsorthographien. So ein Büchlein, von obenher empfohlen, müßte wie Oel wirken, das man in aufgeregte Fluthen gießt. Es würde bald durch unanfechtbare Stichhaltigkeit, durch seine Uebereinstimmung mit der Literatur populärer und von Kindern, Eltern und Lehrern wie eine wahre Wohlthat empfunden werden. [309]
Es ist ein ernstes Fest, das wir begehen:
Verehrung ließ ein Monument erstehen
Auf eines großen, edlen Meisters Grab,
Der Mit- und Nachwelt ew’ge Schätze gab
Aus tiefem Geist, aus einer reichen Seele,
Aus der gewalt’gen Gluth der Leidenschaft,
Und aus dem Wunderborn der Gotteskraft
Des Genius! – Als funkelnde Juwele,
Als Diamanten in der lichten Krone
Der Kunst hat längst die Welt es anerkannt,
Was ihr geschenkt von Schumann’s Meisterhand. –
Vergebens such’ ich nach dem rechten Tone,
Um ihn zu schildern, dessen Denkmal heute
Hier ward enthüllt – es will mir nicht gelingen.
Was könnt’ ich auch an Lob und Ehren bringen
Für ihn, dem längst den besten Kranz man weihte,
Für ihn, so hoch von dem Geschick gestellt,
Daß er erobern durft’ sich eine Welt!
Freilich die Welt nicht, die für müß'ge Stunden
Den Zeitvertreib durch bunten Klang begehrt;
Sie hat dem Meister nicht den Strauß gewunden.
Auch die nicht, welche stumpfen Sinns verehrt
Die Kunst, die betteln geht bei dem Gemeinen
Um Gunst und Beifall. – Mit den Edelsteinen
Soll man nicht schachern auf dem Jahrmarktsplatz. –
Es ehrt die Welt den Meister, die den Schatz
Des Idealen trägt in ihrem Busen,
Die es noch hinzieht zu dem Sohn der Musen,
Der sinnend zu der Dinge Tiefen dringt,
Der aus dem Grund die echte Perle bringt,
Statt mit der Tageswoge Schaum zu spielen,
Der rastlos ringt nur nach den höchsten Zielen. –
Was aber ist das höchste Ziel der Kunst?
Ein mächtig Innenleben zu gestalten,
In öden Alltags Nebel, Staub und Dunst
Der Schönheit leuchtend Banner zu entfalten
Und, was gelebt und lebet, durch die Gunst
Der Götter fest in Wort und Ton zu halten,
In Bild und Form! Des Gottesgeistes Spur
Mit weisem Sinn zu finden, zu erfassen;
Was herrliches ringsum verstreut, zu sammeln;
Zu lauschen auf die Sprache der Natur
Und in der Kunst sie reden dann zu lassen
Harmonisch, frei von allem wirren Stammeln!
– – – – – – – – – –
Wir sind am Rhein. Romantik hier und dort.
Nah’ sind uns Zeugen längst vergangner Tage.
Im Strome ruht der Nibelungen Hort;
Um Burgruinen flüstert leis die Sage.
Sie steigt empor aus alter Zeiten Gruft
Und zaubert manches Traumbild in die Seele.
Berauscht von junger Blüthen Weihrauchduft,
Singt uns des Lenzes Credo Philomele.
Der Kahn durchzieht die Fluth mit leichtem Strich;
Am Ufer sich die Wellen murmelnd brechen,
Und, kommt der Abend, legt der Nebel sich
In weißen Schleiern nieder auf die Flächen. –
Romantik, sprich, wer ließ in Tönen dich
Am wunderbarsten zu der Menschheit sprechen?
Wer hob dich hoch empor auf seinem Schild?
Der Meister, dem des Tages Feier gilt.
Ob er in Indien an der Menschheit Wiege,
Ob er an Manfred’s Seelenabgrund tritt,
Allzeit gewaltig sind des Geistes Flüge,
Und siegend reißt er unsre Herzen mit.
Hier der Gefühle grimmer, wilder Streit,
Dort schelmisch Tändeln, sanfte Lieblichkeit!
Wer ruft des milden Zwielichts Stimmung wach,
Der Dämmerstunde sacht verstohlnes Plaudern,
Und spürt dem Dichter in’s Geheimste nach,
Daß er die Seele faßt mit süßem Schaudern,
Wenn er dem Lied die Tonverklärung leiht?
Wer hat dein Werden, wonn’ge Frühlingszeit,
Besungen wie mit Nachtigallenzungen?
Das „Waldgespräch“, die „Sonntagsmorgenzeit“
Wem ist’s zu schildern einzig schon gelungen?
Der Meister ist’s – der hat den Preis errungen –
Der Meister, dem wir dieses Fest bereiten!
– – – – – – – – – –
Ach, wen zu ihrem Dienst die Musen weihten,
Preist ihn nicht glücklich! Urgewaltig quölle
Der Strom nicht, bringend Wundergaben-Spende,
Trüg’ er nicht bei dem Himmelreich die Hölle
In seiner Brust bis zu des Lebens Ende!
Ihr fühlt es nach, die ihr zum Fest erschienen,
Ihr ahnt die Schaffenslust und Schaffenspein.
Wer nur der Stunde Götzen weiß zu dienen,
Ihm muß der Künstler unverständlich sein.
Was weiß, der klug sein Denken und Empfinden
Verbraucht für sich im engsten Kreise still,
Von Flammen, die an Sternen sich entzünden,
Vom Geist, der mit dem Sturme segeln will?
Aus seiner Seele kurzgespannten Saiten
Klingt nie der Ton, der eine Welt durchzieht.
Er hat mit den Dämonen nicht zu streiten,
Die jener stets auf seinen Wegen sieht.
Er kennt nicht, wie des Wesens Fibern beben,
Wie glühend es durch alle Adern rinnt,
Bevor ein wahres Kunstwerk Geist und Leben,
Gestalt in seines Schöpfers Brust gewinnt.
Daß spielend man den ew’gen Kranz erjage,
Der Thor nur glaubt’s, der tiefen Fühlens bar.
Noch wird vom Pelikan die alte Sage
Beim Künstler und bei seiner Schöpfung wahr.
Und dennoch – andres Leid hat andre Lust.
Wie man im Himmel lebt, hat nur gewußt,
Wer auch der Hölle Qual empfinden konnte. –
Klagt um den Todten nicht! Sein Leben sonnte
In einer Liebe sich, so himmlisch reich,
Daß ihm aus ihrem duft'gen Rosenzweig
Die schönsten Kunstgebilde erst entstiegen. –
Nichts mehr von seinem Kampf! Von seinen Siegen
Soll diese Feier klingend’ Zeugniß geben. –
– – – – – – – – – –
Wir sind am Rhein. Hier in dem Land der Reben,
Beethoven schaute hier das Licht der Welt;
Was Goethe war uns in der Dichtung Reich,
Ein Heros, dem zur Seite nichts sich stellt,
Ein Quell des Lichtes, einer Sonne gleich,
Er war’s im Reiche der Frau Musika;
In seines Geistes Riesenspiegel sah
Sich eine ganze Welt und Zeit gespiegelt;
Ihm war ein jedes Räthselbuch entsiegelt.
Hoch stehn die beiden Kunstgewalt’gen da. –
Nicht viel der Männer bringt uns ein Jahrtausend,
An deren Geist Jahrhunderte sich bilden,
Aus denen, bald wie Alpenströme brausend,
Bald wie die klaren Bächlein in Gefilden,
Die Lebensquellen segnend niederrinnen. – –
Beethoven, Goethe! Sagt, was mocht’ gewinnen
Von Jenen er, dem heut wir Kränze flechten?
Ist nicht ein Etwas von den dunklen Mächten
Beethoven’s in des edlen Meisters Sinnen?
Stieg er wie Faust nicht zu den tiefsten Schächten
Des Lebens, aufwärts zu den höchsten Zinnen
Nicht mit dem Grübler, der Erlösung fand?
War er nicht selbst ein Faust im Tongewand? –
Was fragen wir’s! Nicht, wo der Born entstammt,
Gilt’s heut zu suchen. Frommen Dankes Zoll,
Verehrung, die erlöschen nimmer soll –
Das bringen wir. – – Vollzieh dein hohes Amt,
Frau Musika! In seinen Tongedichten
Laß den Entschlafnen herrlich auferstehen!
Ruf ihn in seinem Werk zum Leben wieder!
Laß uns von seines Odems Hauch umwehen! –
Nur, was da sterblich, kann die Zeit vernichten;
Nur, was vergänglich, sinkt zum Staube nieder:
In seinem Schaffen bis zur fernsten Zeit
Lebt fort der Meister, groß und hochgeweiht.
Von Zeit zu Zeit pflegt im Leben der Völker das ruhige Vegetiren einem Zustande gesteigerten Kräfte-Anspannens zu weichen. Eine Knospe entfaltet sich zur Blüthe, und wenn Wind und Wetter günstig sind, so gedeiht aus der Blüthe eine Frucht – die Frucht idealer Begeisterung.
Es sind nunmehr fünfundzwanzig Jahre, daß in Bezug auf ein seitdem segensreich zur That gewordenes Vorhaben ein solches Kräfte-Anspannen durch Deutschland ging. In der Heimath Lessing ’s und Theodor Körner’s, in Sachsen hatte ein volksthümlicher Dichter – Julius Hammer aus Dresden – den glücklichen Gedanken gehabt, die fünfzigste Wiederkehr des Sterbetages unseres Schiller am 9. Mai 1855 zum Ausgangspunkte eines Vorschlages zu machen, der eine locale Reliquie, das Loschwitzer Schiller-Häuschen, der Vergessenheit zu entreißen bestimmt war. Wie man weiß, hat Schiller in dem gastlichen Hause seines Freundes Körner schöne, genußreiche Tage verlebt. Bei dem Vorschlage Hammer’s, das zu Körner’s Besitzthum gehörige Schiller-Häuschen mit einer Gedenktafel zu schmücken, konnte er sich auf Schiller’s Brief vom 13. September 1785 berufen, der ausdrücklich dem stillen Glück dieser Loschwitzer Erholungstage gilt. „Was meine heißesten Wünsche erzielten, habe ich endlich erlangt; ich bin hier wie im Himmel aufgehoben, und in der jetzigen Fassung meines Gemüths kenne ich keine andere Besorgniß mehr, als die Furcht vor dem allgemeinen Loos der zerstörenden Zeit.“
Diese Stätte war solcher Art in der That geweiht, wie wenige andere. Kein Wunder, daß sich in Folge jener Anregung alle Hände rührten, um das so lange Versäumte nachzuholen und zugleich durch eine würdige Feier des erinnerungsreichen Tages Zeugniß abzulegen von der Liebe, mit der wir Alle ja das Gedächtniß unseres Schiller in Treue pflegen.
Und hier zeigte sich, wie naturwüchsig der Trieb war, dessen Knospe zur Entfaltung drängte. Ein schlichter Dresdener Steinmetzmeister, C. Uhlmann mit Namen, erbot sich „eine Marmorplatte unentgeltlich anzufertigen und an Ort und Stelle zu schaffen“; er knüpfte daran nur die Bedingung, daß sein Name nicht in der Leute Mund komme, eine Forderung, der, gewiß zur Freude und Ehre des braven Mannes, auf die Dauer der Zeit nicht genügt werden konnte.
[310] Man hat, da von Hammer die Idee einer deutschen Schiller-Stiftung zuerst in Verbindung mit dem Dank für das Uhlmann'sche Anerbieten ausgesprochen worden ist, jene Gedenktafel als den Grund- oder Eckstein des ganzen Gebäudes bezeichnet, und sie symbolisirt als solcher in der That auf wohlthuende Weise den volksthümlichen Gedanken, der jene Stiftung entstehen ließ. Aus so kleinem Samenkorn ist der seitdem in die Höhe gewachsene Baum hervorgegangen. Da weite Kreise der Nation einst mit – leider nicht eben nachhaltiger – Begeisterung das Werk schaffen halfen und die Nation wohl auch einmal das Gedächtniß einer guten That, wie so oft das einer tapferen, feiern mag –
„Brave freuen sich der That“ –
so soll das seit der Loschwitzer Feier nahezu verstrichene Vierteljahrhundert nicht zu Ende gehen, ohne daß, wie es in nachstehender Skizze geschieht, die stufenweise Entwickelung des großartigen Werks weiteren Kreisen anschaulich gemacht wird.
Wie dachte sich Hammer die Ziele desselben? In seinem schon erwähnten Aufruf vom 24. April 1855 wünscht er, „daß sich eine Anzahl Freunde des großen Dichters und Menschen vereinigen möge, um durch eine ‚Schiller-Stiftung‘ einen Fonds zur Unterstützung für die Hinterbliebenen armer Schriftsteller zu begründen.“ Und einige Zeilen weiter sagt er, es werde hoffentlich an Schiller’s hundertstem Geburtstage (10. November 1859) das Capital bereits soweit angewachsen sein, „daß es hinreicht, mehr als einer hinterbliebenen Familie würdiger Schriftsteller, insbesondere Dichter, materielle Sicherung und Förderung, z. B. auch hinsichtlich der Erziehung, zu bieten.“
Eine damals in Dresden anwesende, seitdem verstorbene Hamburgerin, Frau Johanna Helmcke, war die Erste, welche im großen Sinn den Reigen der Spendenden eröffnete. Sie schenkte tausend Thaler. Später hat sie nochmals tausend Thaler gezeichnet.
Mit jener ersten Gabe war dem geplanten Vorhaben ein stattliches Pfand des Vertrauens entgegengebracht, und die allgemeine Theilnahme wandte sich ihm nun mit Entschiedenheit zu. Noch vor dem Loschwitzer Gedenkfest hatte das für letzteres zusammengetretene Comité – Geheimer Medicinalrath Dr. Carus, Hofrath Dr. Klemm, Hofrath Winkler (Theodor Hell) und Dr. Julius Hammer – durch Hinzutritt Gutzkow’s, des Staatsministers a. D. von Wietersheim und des Majors Serre eine Vervollständigung erfahren. In dem von diesem Comité am 10. Mai erlassenen Aufrufe wurde, angesichts der wachsenden Bedeutung der Stiftung, der Zweck derselben dahin erweitert: „sie solle solchen Schriftstellern, welche, dichterischer Formen sich bedienend, dem Genius unseres Volkes in edler, die Mehrung der Bildung anstrebender Treue sich gewidmet haben, für den Fall über sie verhängter eigener schwerer Lebenssorge oder den Fall der Hülfslosigkeit ihrer nächsten, auf ihr Talent angewiesenen Hinterlassenen einen thatkräftigen Beistand leisten.“
Die anfänglich in’s Auge gefaßte ausschließliche Unterstützung der Hinterbliebenen war solcher Art in die zweite Linie gerückt, und es konnte nicht wohl ausbleiben, daß die weitere Ansicht laut wurde: es möge auch jene von Julius Hammer gleich anfangs festgestellte Bezugnahme auf den Dichter Schiller insoweit umgedeutet werden, daß die Stiftung nicht insbesondere dem Loos der Dichter eine Erleichterung bieten solle, vielmehr allen Schriftstellern, und unter ihnen auch den Männern der Wissenschaft.
Diesem Wunsche stand aber schon der Umstand entgegen, daß ansehnliche Gaben unter Hinweis auf jene Bezugnahme gespendet worden waren und daß fortwährend Beträge einliefen, die jenem an Schiller’s dichterische Thätigkeit anknüpfenden Zweck gewidmet waren. Nicht minder wurde mit Recht auf die Undenkbarkeit hingewiesen, daß eine einzige Stiftung jemals eine so in’s Ungemessene gesteigerte Aufgabe werde bewältigen können. Aber auch auf die mannigfachen, den Männern der Wissenschaft schon zu Gute kommenden staatlichen Veranstaltungen richtete sich im Laufe der Debatten das Augenmerk, und schließlich überwog die Ansicht, daß eine den Namen Schiller tragende Stiftung sich in der That von dem Gedanken, der im Gedicht „Die Theilung der Erde“ Ausdruck gefunden hat, nicht allzu weit entfernen dürfe. In solchem Sinne durfte Hammer an Schiller’s Worte erinnern: „Poeten sollten immer nur durch Geschenke belohnt, nicht besoldet werden; es ist eine Verwandtschaft zwischen den glücklichen Gedanken und den Gaben des Glückes: beide fallen vom Himmel.“
Im Uebrigen sagte man sich schon damals, daß, wenn es auch „bei jeder derartigen Vereinigung von höchster praktischer Wichtigkeit sei, den Zweck möglichst zu individualisiren“, und wenn sich’s vor Allem empfehle, nicht durch Meinungszwiespalt das kaum Begonnene zu gefährden, die engere oder weitere Auslegung des Stiftungszwecks doch vertrauensvoll der Zukunft überlassen werden müsse. Berlin wo Dr. Julius Pabst die erste Anregung zur Gründung einer Zweigstiftung gegeben hatte, trat in diesem Sinne zur rechten Zeit mit Nachdruck für die Dresdener Beschlüsse ein.
Die endlich als definitiv festgestellte Formulirung des Durchschnittsergebnisses der verschiedenen Meinungen bildet den § 2 der Stiftungssatzungen. Derselbe lautet:
„Der Zweck der deutschen Schiller-Stiftung besteht darin: deutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, welche für die Nationalliteratur (mit Ausschluß der strengen Fachwissenschaften) verdienstlich gewirkt, vorzugsweise solche, die sich dichterischer Formen bedient haben, dadurch zu ehren, daß sie ihnen oder ihren nächst angehörigen Hinterlassenen in Fällen über sie verhängter schwerer Lebenssorge Hülfe und Beistand bietet. – Sollten es die Mittel der Stiftung erlauben und Schriftsteller und Schriftstellerinnen, auf welche obige Merkmale nicht sämmtlich passen, zu Hülfe und Beistand empfohlen werden, so bleibt deren Berücksichtigung dem Ermessen des Verwaltungsrathes überlassen.“
Kein Menschenwerk ist vollkommen, so auch nicht die Fassung dieses Nachsatzes. Aber wenigstens in Bezug auf die Voraussetzung der Hülfsbedürftigkeit ist er von wünschenswerther Deutlichkeit, und diese Deutlichkeit hat im Verlaufe der Zeit sich als keine überflüssige erwiesen.
Noch hatten die Mittel der Stiftung einen solchen Umfang nicht gewonnen, daß Julius Hammer und Major Serre jetzt schon, wie dies später geschah, in ihrer Freude über das mächtig emporwachsende Werk in dem schließlich doch als unausführbar erkannten Gedanken einer Akademie sich hätten begegnen können. Man muß nicht glauben, daß damals die Gründung einer Zweig-Stiftung Kinderspiel war und sich unter dem Einflusse der allgemeinen Schiller-Begeisterung halb von selbst machte. Wenn jetzt „die schlechten Zeiten und die schon so großen Mittel der Stiftung“ die landläufige Ausrede bilden, um deren willen die Gründung neuer Zweig-Stiftungen unterbleibt, so hatten damals die eifrigen Männer, welche für die gute Sache eintraten, außer jenen Einreden über den Stiftungszweck und die Worte „Dichter“ oder „Schriftsteller“ noch eine Menge Bedenken zu beseitigen, die heute nicht mehr aufgeworfen werden können. Hier wollte man zunächst abwarten, ob nicht doch Alles nur Strohfeuer sei; dort gab es politische Einwürfe – beispielsweise: ob denn die österreichischen Dichter zu Schiller ein gleich nationales Verhältniß hätten, wie die deutschen Dichter „draußen im Reich“?
In Wien, das mit seinen 65,800 Gulden gegenwärtig als zweitreichste Zweig-Stiftung dasteht, wurde zwar Einwendungen dieser Art, wo sie auftauchten, mit Nachdruck begegnet, aber ihr hemmender Einfluß führte immer neue Verzögerungen herbei, und so kam es, daß die steirische Hauptstadt sich die Ehre erwarb, die früheste Zweig-Stiftung Oesterreichs zu werden.
Wie gut der brave Holtei, der eigentliche Gründer der Grazer Zweig-Stiftung, den Ton zu treffen wußte, um für die Gründung einer Zweig-Stiftung zu interessiren, das mag hier durch einige Citate belegt werden; denn es kommt immer noch darauf an, die rechten Wege zum Erreichen solchen Zieles fest in’s Auge zu fassen, und dieser ganze Rückblick verfolgt ja den Zweck, zu ähnlichen Anstrengungen Jeden anzurufen, in dem die Liebe zur Literatur in Wahrheit eine Stätte hat.
Um den Sinn und Zweck der Stiftung und namentlich auch den Werth kleiner Gaben möglichst deutlich in's Licht zu setzen, erinnert Holtei an die früher einmal für den Luftschiffer Godart in Graz veranstaltete Sammlung, nachdem der Ballon desselben durch die Schuld eines „tabakrauchenden Müßiggängers“ in Flammen aufgegangen war. „Das war schön,“ sagt Holtei in Bezug auf jene Sammlung, „aber aufrichtig gesagt, sollte denn doch, was man aus rasch aufloderndem Mitgefühl für das Fortkommen eines ausländischen Aëronauten gern gethan, zehnmal lieber gethan werden, wo Geist, Seele und Gemüth, wo heilige Pflicht, wo das Bewußtsein so laut und vernehmlich reden: ‚Wir sind Deutsche, und deutsche Poesie und Literatur weben das Band, welches [311] ohne Unterschied von Farben und Grenzen alle Deutschen verbindet. Wer nur einigen Theil hat an den geistigen Genüssen, die ein gutes Buch gewährt, wem ernste, belehrende, erheiternde, rührende Schriften auch nur bisweilen eine trübe Stunde belebten, ihm höhere Freuden als die alltäglichen gewährend; ja, wer nur aus Anderer Munde, wenn er selbst nicht Zeit und Beruf hatte nach Büchern zu greifen, von den günstigen Einflüssen vernahm, die vielgelesene Werke auf Bildung und Sitte ausüben, der handelt sträflich, sobald er nicht ein Scherflein (seinen Mitteln entsprechend) zu diesem Monumente deutscher Eintracht, zu dieser Stiftung dankbarer Pietät liefert.“ – „Die Menge solch kleiner Gaben,“ heißt es weiter, „ist es, welche nach und nach große Massen bildet.“ Und endlich: „Wir Schlesier führen ein altes Sprüchwort: ‚Ist’s nicht mit Scheffeln so ist’s doch mit Löffeln.‘ Das findet hier vollkommene Anwendung.“
Von den hingebenden Mühen und Anstrengungen Derer, die allmählich in allen Theilen unseres Vaterlandes in edlem Wetteifer die Gründung von Zweig-Stiftungen erstrebten, kann hier nicht im Einzelnen die Rede sein. Die Geschichte der Schiller-Stiftung berichtet über schöne Erfolge, und die vierundzwanzig Zweig-Stiftungen,[5] aus welchen die Gesammt-Stiftung gegenwärtig besteht, sind ja die lebendigen Zeugen für das Gelingen eines wesentlichen Bruchtheils jener Mühen und Anstrengungen. Soweit diplomatische Vermittelung nöthig war, erwarb sich das sächsische Ministerium um die Stiftung große Verdienste. Hier und da mußte auch ein glückliches Ungefähr zu Hülfe kommen. So in Leipzig, wo Heinrich Brockhaus sich schon im Juli 1856 mit einer Tausend-Thaler-Spende als Freund der Stiftung bethätigte und auch der Buchhändler Veit in seinem Minoritäts-Votum vom Jahre 1857 sich mit schöner Wärme für eine vom Leipziger Börsenverein der deutschen Buchhändler zu bewilligende Tausend-Thaler-Spende verwendet hatte, und wo dennoch allerlei Bedenken die Gründung einer Leipziger Zweig-Stiftung verzögerten. Erst ein Schreibfehler in dem Zweitausend-Gulden-Vermächtniß des in München verstorbenen Literaturfreundes Freiherrn von Pflummern gab der Sache eine bessere Wendung. Die Summe war an die Dresdner Stiftung gekommen, aber die Adresse hatte „an die Schiller-Stiftung in Leipzig“ gelautet. Solcher Art standen unliebsame Verwickelungen in Aussicht, und daß sie vermieden wurden, dankt die Stiftung dem praktischen Rath des Major Serre, demgemäß das Geld wieder nach Leipzig ging, daselbst aber als erster Fonds für eine Leipziger Zweig-Stiftung angelegt werden mußte. Das Eis war nun gebrochen. Von allen Seiten flossen der Leipziger Stiftung Gaben zu, und gegenwärtig verfügt sie über mehr als 14,000 Mark, sodaß sie, dem Vermögensbestande nach, unter den Zweig-Stiftungen die siebente Stelle einnimmt – immer allerdings für die Bedeutung Leipzigs als Buchhändler-Metropole eine zu bescheidene Stelle.
Erwies sich hier der Zufall als ein freundlicher Bundesgenosse, so half an einigen anderen Orten die Energie eines Einzelnen die Schwierigkeiten überwinden, welche kleinstädtische Verhältnisse solchen Unternehmungen entgegen zu setzen pflegen. So ist das kleine Nienburg, Dank den rühmlichen Bemühungen einiger dortiger Männer, vor Allem Oppermann’s, des auch als Schriftsteller wohlbekannten, vor einigen Jahren verdorbenen Obergerichtsanwalts daselbst, zu der Ehre gelangt, allen anderen hannöverschen Städten voran eine Zweig-Stiftung zu gründen, ja die einzige Stadt in den hannöverischen Landen zu bleiben, die eine Zweig-Stiftung besitzt; denn selbst die Landeshauptstadt hat bis heute noch keine solche, gerade so wenig wie das benachbarte Bremen, dessen hochgebildete und allen deutschen Interessen so warm zugethane Bewohnerschaft doch gewiß, sobald aus ihrer Mitte der rechte Mahner erstände, mit Freuden zur Mitarbeit an dem guten Werke herantreten würde.
Unter den Fürsten, welche durch werthvolle Geschenke das Zustandekommen der National-Lotterie förderten, eröffnete König Johann von Sachsen den Reigen, und sein Sohn, König Albert, hat während der unlängst zu Ende gegangenen Dresdener Vororts-Periode die Stiftung nicht nur durch einen regelmäßigen Jahresbeitrag ausgezeichnet, er hat ihr auch in einem der königlichen Schlösser bereitwilligst Unterkunft gewährt und sein warmes Interesse für die Stiftung in jeder Weise bethätigt. Durch regelmäßige Spenden stehen ferner das deutsche Kaiserpaar, der Kaiser von Oesterreich, der Großherzog von Baden und der Großherzog von Sachsen-Weimar mit der Stiftung in fortdauerndem engem Zusammenhang; der letztere literatur- und kunstfreundliche Fürst hat sich die Stiftung überdies zu dauernder Erkenntlichkeit verpflichtet sowohl durch sein Protectorat über die National-Lotterie und durch die ansehnlichen Geschenke, welche er diesem Glücksspiel überwies, wie auch namentlich durch die schöne und zwanglose Gastlichkeit, welche – um mit den Worten des dritten Jahresberichts zu reden – „den Stiftungsgenossen bei jeder Gelegenheit an dem geweihten Musenhofe Weimars zu Theil wird.“
Im Zusammenhang mit der erwähnten, auf eine Akademie abzielenden Anregung war die Oeffentlichkeitsfrage schon bald nach dem Entstehen der Stiftung bei allen Betheiligten in ernste Erwägung gezogen worden. Der Umstand, daß sowohl die in England wie die in Frankreich bestehenden großartigen Stiftungen verwandter Art die Veröffentlichung der Namen ausschlossen, bewirkte auch für die Schiller-Stiftung eine ähnliche Fassung der betreffenden Bestimmung des Statuts. Dieselbe hat sich jedoch im Laufe der Zeit als unhaltbar erwiesen; die Jahresberichte haben seit dem 1. Januar 1871 von dem ihnen durch Beschluß der vorhergegangenen Generalversammlung eingeräumten Rechte, die Namen zu veröffentlichen, Gebrauch gemacht, und es hat sich nach dieser delicaten Seite hin dadurch nicht nur erschöpfendes Material zur Beurtheilung der Verwaltung und ihrer Unparteilichkeit ergeben, sondern auch die Hoffnung Derer bestätigt, welche voraussagten, der Bezug einer Pension aus unserer nationalen Stiftung werde in der allgemeinen Auffassung nicht als eine Verunehrung aufgefaßt werden, ganz ebenso wenig wie dies bei einer von irgend einem Fürst verliehenen Dotation oder Pension der Fall ist. Wie wäre es auch anders möglich gewesen, nachdem der nun gewährte Einblick in die Listen der Empfänger unter Denen, die für ihre Hinterbliebenen nicht in auskömmlicher Weise zu sorgen vermocht hatten, eine Menge Namen erkennen ließ, welche durch Leistungen bedeutender Art der Nation lieb und werth geworden waren! Gewiß, die Bestätigung, daß literarisches und dichterisches Schaffen in Deutschland nur ganz ausnahmsweise die Flamme des häuslichen Heerdes ergiebig nährt, ja nichts Erfreuliches, und das Bewußtsein, daß selbst Reiche bei uns ein gutes Buch lieber borgen als kaufen, ist nicht geeignet, unserm Nationalgefühl zu schmeicheln. In dieser Beziehung uns mit Engländern und Franzosen zu vergleichen, haben wir auch wohl nie für eine absonderlich erquickliche Beschäftigung erachtet. Um so tröstlicher aber ist das Wirken einer Genossenschaft, welche den Hinterlassenen von Männern wie Otto Ludwig, Julius Mosen, Hermann Kurz, Eduard Mörike, Karl Beck, Eduard Duller, Hoffmann von Fallersleben, Georg Herwegh, Georg Hesekiel, Venedey, de la Motte-Fouqué, Bürger, Herder, Musäus, Leopold Schefer, Eichendorff, Nikolaus Lenau und so vielen, vielen namhaften anderen Schriftstellern den schuldigen Ehrensold zahlt.
Mit diesem Wegfall jedweden demüthigenden Beigeschmacks für die Empfänger ist auch das aus zarter Rücksicht hervorgegangene Project einer Schiller-Akademie mit literarischen Graduirungen nach der Seite hin, durch welche allein es mit der Schiller-Stiftung als einer „milden Stiftung“ in Zusammenhang zu denken war, um seine eigentliche Basis gekommen. Eine Registrirung der endgültigen Ablehnung des Projects bildet ein Passus in dem Rescript des königlich sächsischen Cultus-Ministeriums vom 4. November 1862, welcher hier einen Platz finden möge. Er lautet: „Die Schiller-Stiftung, als eine milde Stiftung in Sachsen begründet, steht unter dem Schutze des § 60 der sächsischen Verfassung und ihr Vermögen darf solcher Art ‚zu anderen Zwecken als den durch die Stiftung vorgezeichneten niemals und unter keinerlei Umständen verwendet werden‘.“
Die Entwickelungsgeschichte der Schiller-Stiftung mag bei diesem ihrem Marksteine auch für gegenwärtige Skizze abschließen! Es geschieht mit dem herzlichen Wunsche, daß in weiten Kreisen das schöne, dem deutschen Namen zur Ehre gereichende Werk wieder [312] in verstärktem Maße als ein der allseitigen freudigen Pflege nicht nur würdiges – daran zweifelt Niemand – nein, auch bedürftiges erscheinen möge. Das ist es aber in jedem Sinne, nicht nur in dem engen Sinne des Geldbedürfnisses, obschon auch dieses nicht unterschätzt sein will.
Denn was sind 52,000 Mark, wie die Stiftung sie, nach Mittheilung ihres letzten Jahresberichts, an Unterstützungsbedürftige verausgabte? Mehr als 180 beträgt die Ziffer dieser Letzteren. Man rechne, was auf den Einzelnen kommt. Und sind es denn Einzelne? Die Mehrzahl hat doch eine ganze Reihe von Familiengliedern hinter sich. Wie viele ihres Versorgers beraubte Wittwen stehen auf der Liste! Wittwen mit noch unerzogenen Kindern! Wer nach dem allgemeinen Hörensagen immer von den „Reichthümern der Schiller-Stiftung“ spricht, würde bald andern Sinnes werden, wenn er der Verwaltung angehörte. Das Vermögen der Stiftung erwächst sehr langsam. Nur in ganz seltenen Fällen gedenkt man ihrer, wo Vermächtnisse gemacht werden – nicht aus Lauheit für die gute Sache überhaupt, aber wohl aus Unklarheit über die Verhältnisse der Stiftung, von deren Midasreichthümern man sich nun einmal die ungeheuerlichsten Vorstellungen gemacht hat.
Noch mehr als durch pecuniäre Zuwendungen jedoch würde sich das der Stiftung wieder in vermehrtem Maße zugewandte Interesse durch Gründung von neuen Zweig-Stiftungen bethätigen lassen. Wie wenige Städte haben sich bisher das Verdienst erworben, durch Gründung solcher Zweig-Stiftungen für die Invaliden und Veteranen der deutschen Literatur etwas zu thun! Vierundzwanzig erst giebt es, vierundzwanzig in fünfundzwanzig Jahren! Man schlage einmal nach, wie viele namhafte Städte Deutschland und Deutsch-Oesterreich zählt! Sollte es mehr als der Klarstellung all dieser Sachlagen bedürfen, um einflußreichen und national gesinnten Männern den Gedanken in's Herz zu geben, auch in ihrem Kreise, auch in ihrer Stadt muthig Hand an's Werk zu legen, wie es Oppermann und seine Freunde in dem kleinen Nienburg gethan haben?
Fast Alle, die vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren mit Begeisterung unsere „Stiftung“ gründen halfen, deckt heute der grüne Rasen: Hammer, Gutzkow, Serre, Grün, Halm, Mosenthal, Oppermann, Brockhaus, Veit, Heller, Merck, Zabel, Kugler, Professor Blum, Cotta, Carus, Wietersheim, Pfotenhauer, Hackländer, Holtei und wie viele Andere, die damals Mühsale und Demüthigungen nicht scheuten, um das muthig Begonnene auch zu Ehren der Nation zu gutem Ende zu führen.
Von den Männern, welche die Nationallotterie durchführen halfen, lebt nur noch Einer: Hofrath Alexander Ziegler. Den unermüdlichen juristischen Berather des Major Serre, Bürgermeister Hertel in Dresden, haben wir vor wenigen Wochen zur letzten Ruhe bestattet. Nun denn, wohin dieses Blatt dringen mag, da sage man sich: auch ich habe Theil an jenen Ehren und was ich aus Unbekanntschaft mit dem wirkliche Sachverhalt bis heute zu thun unterließ, das will ich jetzt nachholen!
Der Sommerverkehr in der Schweiz gruppirt sich hauptsächlich um die zwei schönsten Seen derselben, den Genfersee und den Vierwaldstädtersee. Es wird ewig ein unausgemachter Streit unter den Schweiz-Touristen bleiben, welcher dieser Seen der reizvollere sei, denn die Entscheidung ist reine Geschmackssache. Da ist nicht die Rede von einem Mehr oder Weniger der Schönheit: die Art der Schönheit bildet das Streitobject. Man würde ebenso erfolglos streiten, ob ein schöner Mann oder ein schönes Weib im Punkte der Schönheit höher stehe. Praktisch dürfte jene Frage für die nächste Zeit zu Gunsten des Vierwaldstädtersees entschieden werden, und zwar durch die Gotthardbahn und die projectirte Arlbergbahn. Für die Arlbergbahn würde allerdings nur in Betracht kommen, daß dieser See der nähere ist, aber für den Gotthardbahnverkehr wird er geradezu den Centralpunkt bilden.
Den Schlüssel zu diesem wunderbaren Gewässer, das wie ein seltsam gebrochenes Kreuz in die riesige Alpenwelt der Urschweiz hinabgedrückt ist, stellt Luzern dar, und in Luzern wird die Direction der Gotthardbahn ihren Sitz nehmen.
Die Lage Luzerns ist in ihrer Art unvergleichlich. Flach hingelagert, das niedrige Bergland der Vorschweiz hinter sich, wird die Stadt rechts und links von je einem Alpenriesen flankirt, hier dem Rigi, dort dem Pilatus; vor sich hat sie den grünen See, der ein Stück hin seine beiden Kreuzarme hinter den Pilatus und vor den Rigi schiebt, und über das Seepanorama erhebt sich zwischen letzteren beiden der massige Zug des Bürgenstocks, dem die Häupter einer immer gewaltiger sich aufreckenden Alpenwelt über die Schulter blicken. Der Rigi ist ein breiter, dicker, bequemer Patron, ein gutmüthiger Riese; freundlich leuchten die hellen Culmhäuser von dem sanft rundlichen und übergrünten Koloß hernieder, und ein blau aufschwebendes Wölkchen mahnt an die kecke Bahn, welche ihm den Leib überschnürt hat. Dort oben genießt der Glückliche, Wetterbegünstigte das berühmte, unbeschreibliche Panorama; dort lagert sich's so gemüthlich auf dem kurzen Almrasen; vielleicht hat selbst der Juli droben noch ein grau-überkrustetes Schneebett bewahrt, aus dem eine lustige Gesellschaft das Material zu einem Schneeballkrieg im Sommer nehmen kann. Anders der Pilatus, der locale Wetterzauberer mit der energisch geschnittenen Physiognomie und dem kahlen Scheitel: steil, geklüftet und doch compact, gewaltig und trotzig steht er da; zuweilen, wenn die Gewitterballen lebendig werden auf seinem Gipfel, hat er etwas unheimlich Persönliches, und man begreift die Sagenwelt, die sich um ihn gesponnen hat, und das vor Zeiten der Gespenstergefahr wegen erlassene Verbot, den Berg zu betreten.
Unten aber, in der anmuthig saubern Schweizerstadt ist nichts Unheimliches zu finden. Da ist alles luftig, farbenhell und baumgrün; da zieht sich, über der Reuß drüben, am linken See-Ufer eine Hôtel- und Villenpracht hin mit schattiger Seepromenade: der Schweizerhofquai; da ragen die Thürme grauer Stadtmauern und imposante Kirchenbauten, und auf der vielbrückigen grünen Reuß schwimmen zahme Schwäne und tummelt sich die Menge halbgezähmter Wasserhühner mit dem eigenthümlich kurzen Schrei und den wunderlich ausgebogten Schwimmhäuten an den Zehen.
Die Stadt birgt Manches, was für den Fremden der Besichtigung werth ist – in erster Linie das Löwenmonument. Es liegt seitab in der Weggisvorstadt; der Weg führt bei dem Meyer'schen Diorama, in welchem man die Rigi- und Pilatus-Aussicht, gut gemalt, bei effectvoll wechselnder Beleuchtung zum Voraus studiren kann, dann bei dem Staufer'schen Museum ausgestopfter Alpenthiere vorüber. Im kühlen Schatten üppigen Grüns stehen wir vor einem Bassin, hinter welchem eine steile glattgehauene Felswand aufsteigt. Da ruht, von dem Constanzer Meister Ahorn nach Thorwaldsen's Modell in den Sandstein des Felsens gehauen, der Löwe von Luzern, ein Denkmal für die treuen Schweizer des unglücklichen sechszehnten Ludwig's von Frankreich. „Helvetiorum fidei ac virtuti“ steht über der Nische; die Namen der gefallenen Tuilerienvertheidiger sind unter ihr mit Goldschrift verzeichnet.
Ein ergreifendes Bild, dieser sterbende Löwe mit der abgebrochenen Lanzenspitze zwischen den Rippen und dem leisen Ausdruck des Schmerzes im Gesicht, der die Majestät des Gewaltigen erst recht zur Geltung bringt! Rings ist es still; die wenigen Besucher des Denkmals flüstern blos; kühler Wasserdunst webt in dem Schatten, in den sich nur vereinzelte Lichter zu stehlen vermögen, und leise glucksend fallen die Tropfen, welche – nicht ohne Schaden für die am meisten exponirte Partie des Monumentes – vom feuchten Felsen sich lösen, in das Bassin nieder.
Im nahen Gletschergarten kann man die wunderbaren Riesentöpfe, sechszehn Strudellöcher aus der Gletscherzeit, nebst Felsblöcken voll uralter Gletscherspuren betrachten, und ebenda Pfahlbautenreste und das Pfyffer'sche Relief der Urcantone aus dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts. Reste der bildenden Kunst aus alter Zeit bewahren das Rathhaus, die originelle Capellbrücke über der Reuß nahe dem Bahnhof mit ihren possirlichen Bildern
[313][314] in den Dachgiebelfeldern und die alte Steuerbrücke mit einem Todtentanze. Auch die Kirchen enthalten manches Sehenswerthe, und die Hof- und Stiftskirche, welche in der Woche allabendlich (außer Sonnabends, wo die Vormittagszeit dazu bestimmt ist) ein gewähltes Publicum zu einem Orgelconcert sammelt, bietet außerdem noch etwas Hörenswerthes: denn ihre gewaltige Orgel von neunzig Registern steht mit einer Tonhalle auf dem Kirchengewölbe in Verbindung, durch welches zwei der Stimmen, die Menschen- und die Engelsstimme, ihren Weg nehmen, um, wie von unsichtbaren Chören gesungen, aus der Decke der Kirche herniederzuschweben.
In eine andere Welt versetzt wieder das Zeughaus mit schönen Glasgemälden und der historischen Waffensammlung aus der Glanzzeit des Schweizerruhms, darunter die Rüstung des gefallenen Leopold von Oesterreich und gar ein Geschenk Karl's des Großen, in Harsthörnern bestehend. Die reichen städtischen Bibliotheken enthalten mancherlei handschriftliches Material von wissenschaftlichem Interesse.
Aber all das Sehenswerthe will gar keine rechte Zugkraft üben angesichts des blühenden, lachenden, bewegten Lebens ringsum. Die Luzerner sind gut katholisch, und das eine Zeitlang florirende liberale Element unterliegt wieder stark ultramontanen Einflüssen; aber sie sind ein munteres, lebenslustiges Völkchen, sauber und freundlich, wie ihre Stadt. Nur ist in dem bunten Menschentreiben auf Gassen und Quai schwer zu sagen, wer da Luzerner ist. Wir befinden uns in einem Sammelpunkte von Touristen, Sommerfrischlern und Badegästen, und diese fremden Elemente sind im Grunde die anziehenderen für das Auge. Da begegnen sich die originellen Trachten des Landvolks aus den Nachbarcantonen in ihrer verwirrenden Mannigfaltigkeit mit der bequemen Reisetracht der englischen Lady und der großen Toilette ständiger weiblicher Hôtelgäste; da wandert der nach allen Regeln der Bergsteigekunst equipirte französische Alpenbummler neben dem einfachen deutschen Gymnasiallehrer, der sein Nöthigstes im schlichten Umhängetäschchen mit sich führt; da plaudert, lispelt, schnattert und schnarrt es in allen civilisirten Sprachen besonders von den Lippen sehr junger Ehepaare, welche in sonnigster Honigmondstimmung ganz unverkennbar ein großes Contingent der fremden Besucher stellen.
In später Nachtstunde sammelt sich das Alles noch einmal zur Ankunft des letzten Dampfers auf der Promenade des Schweizerhofquais, und das giebt dann ein Bild ab, wie die beigefügte Zeichnung Meister Heyn's es den Lesern vor Augen stellt. Welch ein zauberhafter Genuß ist das, in lauer Sommernacht, im Mondschein an der blitzenden Wasserfläche auf und nieder zu promeniren, wenn der abendliche Bergduft über die Fläche schwebt und die Bergriesen in schimmernde Schleier hüllt!
„Er kommt!“ heißt es endlich, und da biegt der Dampfer von Weggis her in das Kreuz des Sees ein; nur langsam verringert sich die Entfernung. Leider hat sich die Wolkenwucht, die schon seit dem Nachmittage auf dem Pilatus gebraut, in flockiger Auflösung inzwischen weiter und weiter über den Himmel geschoben.
„Es wird morgen Regen geben!“ sagt eine Stimme.
„Um's Himmelswillen, es wird doch nicht? Das wäre zu schrecklich. Ein paar Tage nur am Vierwaldstädtersee, und dabei Regen!“
Aber da hilft kein Klagen und Jammern: ein Luzerner hat es gesagt, und die kennen ihren Pilatus.
Für die Gefährlichkeit des Wetters hatte die Tochter Nikolai's ein prophetisches Gefühl gezeigt. Denn während der wenigen Stunden, deren Sergey bedurfte, um nach Hause zu gelangen, war ein völliger Schneesturm losgebrochen. Der Reisende hatte Ursache, die Vorsorge Matrjona's dankbar zu empfinden. Die folgenden Tage dienten dazu, der Furchtbarkeit und Strenge eines russischen Winters volle Entfaltung zu geben. Sergey verschloß sich in seine Bibliothek und fand Behagen an einem Zustande, der ungeheuere Schneemauern aufthürmte, um ihn von der Menschenwelt völlig abzutrennen. Selbst Briefe und Zeitungen konnten einstweilen nicht zu ihm gelangen, weil die Ueberwehungen der Straßen den Postenlauf verhinderten. Wie ausgestorben war die ganze Gegend, und Sergey kam es vor, als ob er sich in einem Fabelreiche aufhielte, das nicht den Namen eines der Länder dieser Erde trüge.
Nachdem die Schneestürme aufgehört hatten, fror es gewaltig. Vögel stürzten todt aus der Luft. Die Arbeiter, die aufgeboten wurden, um mitten durch den Schnee hindurch glatte Bahnen für den Verkehr herzustellen, konnten nur langsam und unter großen Vorsichtsmaßregeln gegen die Kälte ihr Werk vollbringen. Wie früher der Schnee, so machte jetzt die Temperatur das Reisen fast unmöglich.
Dennoch schien sich der Postschlitten durchgearbeitet zu haben; denn Sergey erhielt endlich Sendungen aus Petersburg, unter welchen sich ein Brief seiner Tante, der Gräfin Tschatscherin, befand. Sie erzählte zuerst die Neuigkeiten der Hauptstadt, beschrieb die Genüsse, welche die Oper und das französische Theater boten, und schilderte die Personen, die ihren Kreis bildeten. Dann ging sie mit ernsteren Worten auf ihren eigentlichen Zweck über.
„Du siehst, dieser Winter läßt sich glänzend an,“ schrieb sie, „er ist ja der erste, seitdem wir den neuen Czar und mit ihm den Frieden bekommen haben. Gott segne sie beide, den Kaiser und den Frieden! Wenn Dich nun weder Lust und Vergnügen bewegen können, Deine Einsamkeit aufzugeben, noch die neu erwachte Thätigkeit auf allen Gebieten Macht über Dich hat, Dich dem Müßiggange zu entreißen, so bin ich, falls Du hierin wirklich einen unwandelbaren Entschluß gefaßt haben solltest, weit entfernt, Dir deshalb zu zürnen, oder auch nur zu grollen. Mich dünkt zwar, daß, wenn es sich, wie jetzt hier, überall regt und bewegt und ein neues, vielversprechendes Regiment an der Spitze steht, kein Mann von fünfunddreißig Jahren und in bester Gesundheit sich weigern sollte, an die Gestaltung besserer Zustände mit Hand anzulegen. Indessen habe ich über die Sache mit Peter Michailowitsch Nikitine gesprochen, den Du kennst und der ein vortrefflicher Mann ist. Er ist um fünf Jahre jünger als Du, und scheint mir doch klarer zu sehen, als wir Alle. Er bestreitet mir gewissermaßen das Recht, hinsichtlich Deiner öffentlichen Laufbahn in die Dispositionen Deines Charakters widersprechend eingreifen zu wollen. Ich muß mich daher bescheiden, Dir meine Wünsche in dieser Beziehung, obgleich es bereits das zehnte Mal sein mag, noch einmal auszudrücken. Frauen sollen sich ja nicht in die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens machen, nicht einmal durch einen darauf bezüglichen Rath.
Einen Punkt giebt es jedoch, den ich nicht so gelassen behandeln kann. Du bist der Sohn meines Bruders, den ich von Jugend an mehr geliebt habe, als bis heute irgend einen Menschen, meine Kinder ausgenommen. Ich bin überzeugt, daß er sich im Grabe umdrehte, wenn er wüßte, daß Du als Junggeselle dahingehen und seinen Namen nicht fortpflanzen willst. Wenn Du keine angeborenen, sondern nur freiwillig übernommene Pflichten dem Vaterlande gegenüber anerkennst, wie Du oft gesagt hast, so wirst Du Dich doch den Pflichten nicht entziehen wollen, welche Abstammung und Familie Dir auferlegen.
Komme also diesen Winter nach Petersburg, um Dir eine Frau auszusuchen! Du hast die Wahl unter den schönsten, vornehmsten und reichsten Töchtern des Landes. Welche Freude hätte ich, Deine Pläne durch meinen kleinen Intriguengeist zu unterstützen, der auch in den unschuldigsten Dingen nicht überflüssige Dienste thut! Davon will ich gar nicht sprechen, daß ich mein Haus durch neue, weibliche Verwandtschaften gleichsam wärmer machen möchte, da es bei allem Zudrange der Weltleute doch sehr kalt und einsam ist. Schreibe mir bald günstig über dies Alles!“
Kaum hatte Sergey den Brief zu Ende gelesen, als ihm [315] Wania meldete, das ganze Dorf wäre in Aufruhr gebracht, und zwar durch denselben Boten, der soeben mit den Postsendungen angekommen war.
Dichter Schneefall war nämlich wieder eingetreten; die Straßen waren auf's Neue verweht worden, und der Postschlitten, obgleich mit mehr Pferden als gewöhnlich bespannt, hatte sich in eine Vertiefung gesenkt. Schreiend, wimmernd und fluchend hatten sich die zahlreichen Passagiere so weit aus dem Schnee herausgearbeitet, um nicht sogleich ersticken zu müssen, doch konnten sie sich nicht selbst befreien, man mußte ihnen mit den nöthigen Gerätschaften zu Hülfe kommen. Einem der Postillone war es gelungen, ein Pferd loszuspannen, das Briefpacket an sich zu nehmen und reitend das Dorf zu erreichen. Nun sollte Alles, was Hände und Schaufeln besaß, auf so vielen Fuhrwerken, wie nur immer aufzutreiben, zur Unglücksstätte hinauseilen.
Sergey Iwanowitsch ließ sogleich satteln, beschleunigte durch sein Erscheinen, sein Zureden und seine zweckmäßigen Befehle die Bereitmachung der Leute und setzte sich an die Spitze des hülfebringenden Zuges.
Der Anblick und das Anhören der Reisenden war schrecklich. Sie waren beflissen, bei gehemmter Bewegung in grimmiger Kälte sich vor einschlafender Betäubung und folglich vor Erfrieren hauptsächlich durch den Gebrauch ihrer Lungen zu schützen. Die Jammertöne verstummten jedoch sogleich, als die Ankunft des Zuges Gewißheit der Befreiung gab; es schien, sobald sie sich gerettet wußten, daß das Unbehagen einer Calamität, die nothwendig zur Natur ihres „heiligen“ Rußlands gehörte, sie nicht weiter anfechte.
Mitten im Arbeiten der Leute vernahm Sergey eine Stimme, die ihm bekannt schien, ohne daß er sich ihres Besitzers sogleich zu entsinnen gewußt hätte. Er legte mit Hand an in der Richtung, aus welcher die Stimme hervordrang, und hatte bald das Vergnügen, daß ihm Herr Doctor Hesekiel Nazarus in die Arme fiel.
Der arme Deutsche schien der Einzige zu sein, auf welchen die Schrecken der Lage auch in moralischer Beziehung einwirkten. Auf die Beine gebracht und auf sichern Boden gestellt, rührte er sich nicht mehr vom Platze. Sein Gesicht drückte neben physischem Schmerz auch trauriges Erstaunen aus, daß solche Ereignisse unter Gottes Himmel überhaupt möglich seien. Nachdem er lange mit Verwunderung im Kreise umhergesehen, blieben seine Augen auf Sergey haften, den er jetzt erst deutlich zu erkennen schien. Nazarus sprach aber kein Wort, und der Ausdruck der Ueberraschung wich nicht aus seinen Zügen.
„Was haben Sie? Was denken Sie?“ fragte der Edelmann unwillkürlich.
Lakonisch erwiderte Nazarus:
„Ich bin gewaschen.“
„Das glaube ich wohl,“ sagte Sergey, „aber nun lassen Sie sich auch abtrocknen!“
Und er sorgte dafür, daß einer der Schlitten für den armen Sprachmeister zurecht gemacht wurde, ritt nebenher und richtete keine Frage mehr an den Verunglückten, wie Vieles auch zu erfragen gewesen wäre. In seinem Hause übergab Sergey den Sprachmeister der Behandlung Wania's, der sehr gut wußte, wie man einen Halberfrorenen wieder zu Leben und Behagen bringt. Nach dem Genuß heißer Getränke und glücklichem Ueberstehen der mit ihm vorgenommenen Manipulationen schlief Nazarus bis zum späten Morgen des nächsten Tages und erschien dann mit seinem gewohnten Gleichmuth am Frühstückstisch des Gutsherrn.
Noch verhielt sich der Sprachmeister sehr schweigsam, seine Miene jedoch spiegelte Zufriedenheit, sodaß Sergey ihn nicht durch wichtige Erkundigungen im vergnügten Hinbrüten stören wollte. Als aber Nazarus den Inhalt des Samowars in die Tasse fließen sah, verdüsterte sich seine Miene plötzlich und auffallend. Er suchte in allen seinen zahlreichen Taschen mit Verzweiflung, und wenn kein Capital bei ihm zu vermuthen war, so konnte man doch glauben, er hätte ein ihm anvertrautes verloren.
„All mein elendes Gepäck trug ich um den Leib gebunden,“ stöhnte er endlich, „und kein Stückchen fehlt. Aber das Kostbarste von den schnöden Gütern dieser Erde, meine Pfeife, meine kurze Reisepfeife –“
Er rang die Hände.
„Die ist wohl im Schnee stecken geblieben,“ sagte Sergey, „aber –“
„Nein,“ unterbrach ihn Nazarus, „ich erinnere mich jetzt, ich habe sie im Postwagen zurückgelassen. Unter'm Schnee habe ich nicht geraucht und später war ich wie verdonnert und verwettert. Ich will gleich –“
„Aber,“ schrie er auf, sich selbst unterbrechend; „jetzt fällt mir bei, der Postschlitten ist ja gewiß schon ohne mich davongefahren. Mein Reiseschein gilt nur für den bestimmten Tag, und es ist auf dem Schein zu lesen, daß auf einen Passagier, der sich von einer Station entfernt, nicht gewartet wird.“
„Kamen Sie denn nicht zu mir? War das nicht Ihr Reiseziel?“
„Keineswegs. Ich wußte nicht einmal, daß das Gut auf dem Wege liegt. Wie sollte ich mich erdreisten, uneingeladen –! Aber was soll ich jetzt anfangen?“
Der Gutsherr bedeutete ihm, den Thee nicht erkalten zu lassen, und sagte dann mit Lächeln:
„Für beide schreckliche Fälle weiß ich Abhülfe. Ich besitze von meinem Großvater her eine Pfeifensammlung, um die ich mich gar nicht kümmere; ich genieße nur Tschibouk oder Cigarre. Ich hoffe, ein Stück der Sammlung wird würdig sein, das verlorene zu ersetzen. Und was das Versäumen der Post betrifft, so war es meine Schuld; ich habe Sie in mein Haus entführt. Es ist daher meine Pflicht, für einen neuen Reiseschein zu sorgen, wenn Sie mir nur sagen wollten, wohin?“
„Nach Moskau.“
Nazarus nahm nach und nach seine frühere vergnügte Miene wieder an, und Sergey ließ ihm schweigend Zeit, sein Mahl zu beenden. Dann führte er seinen Gast in das Rauchzimmer, und als Nazarus seinen Tabak in Brand gebracht hatte, bat Sergey um Nachricht vom Freunde Nikolai Alexandrowitsch und von dessen ganzem Hause.
„Alles sehr wohl,“ sagte Nazarus und wähnte sich sehr fein auszudrücken, wenn er hinzufügte: „Sehr wohl Alles, so weit es den Körper betrifft, aber was die Kleider anbelangt –“
Und er schwieg und schüttelte den Kopf mit bedenklichem Gesicht.
„Die Kleider? Wie meinen Sie dies?“
„Ich meine, in den Kleidern sind Taschen und in den Taschen ist – nichts,“ platzte Nazarus ohne weitere Versuche, fein zu sein, heraus.
Und nun erzählte er umständlich die Verlegenheiten und Bedrängnisse des Hauses Towaroff in Folge der Schulden, die auf dem Besitze Andrejewo lasteten, und wie die Nervenerregung, die der Arzt den Gesprächen mit dem Freunde zugeschrieben, eigentlich in der materiellen Pein und Sorge des Gutsherrn wurzelte, der, abgesehen von der momentanen Noth und der damit verbundenen unangenehmen Correspondenz eines jeden Tages, noch von dem Zwange gequält war, als heiterer Lebemann seine Tage in einsamer Zurückgezogenheit hinbringen zu müssen. Er hatte nun, weil die Antwort auf einen Vorschlag, den er seinem Moskauer Advocaten gemacht, durchaus nicht eintreffen wollte, Nazarus, in Ermangelung eines besseren Vermittlers, veranlaßt, einen Bescheid in Moskau zu ertrotzen und zurückzubringen.
Sergey hörte diese Eröffnungen mit Bestürzung an und versank in tiefes Nachdenken. Sein Gast war jedoch nicht der Mann, dem er seine Gedanken hätte mittheilen wollen. Er bestand jetzt darauf, daß Nazarus seine Mission ohne Zögerung wieder aufnehme, und stattete ihn mit Allem aus, was die Reise beschleunigen und zugleich möglichst behaglich machen konnte.
Wieder allein geblieben, ging Sergey mit großen Schritten in seinem Bibliothekzimmer auf und nieder.
„Von dieser ganzen Misère,“ dachte er, „habe ich keine rechte Vorstellung gehabt; ich glaubte immer nur, es handle sich um Kleinigkeiten und Späße. Nikolai ist ein idealer Mensch – ich habe das immer gewußt. 'Die Freundschaft darf nicht zum Mittel für gemeine Zwecke dienen; Geld leiht man sich nicht von seinen Freunden, sondern von seinen Feinden aus,' hat er oft lachend gesagt. Lieber den Gleichgültigsten, den Fremdesten, als den Freund unter der Erbärmlichkeit des eigenen Schicksals leiden zu lassen – das war immer sein Grundsatz. Aber trotz alledem – jetzt muß geholfen werden.“
Sergey setzte sich nachsinnend an einen Schreibtisch, wo unter einem Briefbeschwerer die Schrift der Gräfin Ttschatscherin hervorlugte. Mechanisch zog Sergey das Schreiben hervor und las es noch einmal durch.
[316] „Die Tante hat im Grunde Recht,“ sagte er sich, „ich bin es meinen Vorfahren schuldig, meinen Namen nicht erlöschen zu lassen und ich bin es mir selbst schuldig, wenn ich schon nicht dem Vaterlande dienen kann, ein Weib, ein Kind so glücklich werden zu lassen, wie es in meiner Macht liegt. Man kann nur dann mit gutem Gewissen für sich selbst leben, wenn man dabei auf irgend eine Weise für Andere lebt, und eine gute Ehe erlaubt dies, ohne daß man deshalb sein Selbst in ein verhaßtes Joch spannen müßte. Jetzt ist aber nicht Zeit, daran zu denken – oder doch?“
Er stand auf und ging wieder umher.
„Ja,“ sagte er sich mit Entschlossenheit, „das ist zugleich der einzig richtige Weg, um Nikolai zu helfen. Er hat zwei Töchter, ich will ihm eine abnehmen, ob Matrjona oder Milinka – Martha oder Maria, das frage ich mich jetzt nicht. Genug, die Versorgung einer Tochter ist schon an und für sich eine Erleichterung seiner Lage und, was noch mehr bedeutet, gestattet mir auch, in das Detail seiner Verhältnisse einzudringen und Rath zu schaffen. Nun, wahrhaftig! Die Werbung ist doch wohl ein genug wichtiges Ereigniß, um mir nach unserem Vertrag zu gestatten, noch vor Neujahr auf Andrejewo zu erscheinen.“ – –
Nichts merkte man an der Lebensführung, die im Herrenhause Andrejewo waltete, von den Qualen und Sorgen, die das Gemüth des Gutsherrn zerrissen. War die Befriedigung des Nothwendigsten auch bis zur Kümmerlichkeit einfach, so blieben doch die Geschäfte wie die Genüsse des Tages von einem ungestörten Frieden umhegt. Denn Nikolai war bei soldatisch rauhen Manieren und bei aller Rücksichtslosigkeit, wenn es sich für ihn um ein Vergnügen oder ein Behagen handelte, außerordentlich zartfühlend; er hätte sich lieber getödtet, als unnützer Weise seine Umgebung zu Leidensgefährten in seinen Sorgen gemacht. Dennoch gingen, ohne daß er es wußte, gleichsam die Athemzüge seines Unglücks durch das Haus. Man sprach sich nicht darüber aus, aber man schmachtete nach einer Freude – und sie kam, als in einer Abendstunde, unvermuthet wie ein Wunder Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky in den Hof einfuhr.
Der Jubelschrei, mit dem ihn der Knecht empfing, pflanzte sich fort bis in das Cabinet Nikolai’s, der hierauf mit den Sprüngen eines Knaben die Treppe hinabeilte. Im Salon harrten die Mädchen des Angekommenen, und man saß bald gemüthlich am warmen Ofen, bis Matrjona, die, wie immer, geschäftig ab und zu ging, mit dem Ausdruck des Befremdens meldete, daß Wania ein ganzes Magazin von Wein und Delicatessen aller Art in die Küche geliefert habe.
„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung,“ sagte Sergey, „aber ich weiß nur zu gut, daß wir auf unseren Herrenhäusern in dieser Jahreszeit von Allem abgeschlossen sind, was angenehm schmeckt. Und da ich schon reiste, so bin ich über den Ort gegangen, wo man sich assortiren kann. Werfen Sie getrost weg, Fräulein Matrjona, was Ihnen für das Haus nicht paßt, und für das Brauchbare werde ich Dir die Rechnung präsentiren, Nikolai Alexandrowitsch.“
Dieser, als er von einer Rechnung hörte, starrte betrübt vor sich hin.
„Apropos!“ fuhr Sergey fort, „ich habe eine Botschaft für Dich, Nikolai. Du sollst einen Brief lesen, den mir meine alte Tante, die Gräfin Tschatscherin geschrieben hat. Den muß ich Dir zeigen, wenn wir allein sind. Nicht, daß ich so unschicklich und grausam wäre, vor den Damen ein Geheimniß zu haben, aber es ist zunächst Dein Geheimniß, Nikolai, und es brennt mir auf der Seele; ich werde bessern Appetit haben, wenn Du erst davon Kenntniß hast.“
„Dann komm’ in mein Zimmer!“ rief Nikolai und ging der Thür zu. Sergey folgte ihm, nachdem er um Verzeihung gebeten hatte für die Störung des Familienkreises, die nicht von langer Dauer sein sollte.
Scene aus dem Sport des Wettrennens. (Abbildung Seite 305.) Wir leben jetzt in der „Saison“ desjenigen „Sports“, welcher bei den reitlustigen Deutschen die weiteste Ausdehnung gewonnen hat. Zwar fällt ein Theil unserer Wettrennen auch in die Herbstzeit, zu den Festen nach der Ernte; da aber der Frühling den Anfang mit ihnen macht, so nehmen wir die Gelegenheit wahr, sie hiermit sogleich zu begrüßen. Die Wettrennen in Aachen, Berlin, Doberan, Königsberg, Breslau, Leipzig, Baden-Baden, Stettin, Hamburg, Schwerin, Cannstatt, auf der Theresien-Wiese bei München, auf der Sömmeringer Weide[WS 1] bei Wien etc. sind nicht ausschließlich „Amusements“ höherer Herrschaften, sondern auch ein Theil unserer größten Volksfeste, und in letzterer Beziehung ein ehrwürdiges Erbe aus der Urväterzeit. Schon die Germanen waren eifrige Pferdeliebhaber; Wettrennen gehörten zu ihrem Götterdienst und konnten auch vom Christenthum nicht verdrängt werden, ja, Spuren davon werden in Deutschland und bei den Flamändern noch jetzt gefunden. Ein Zeugniß dafür ist auch der außerordentliche Reichthum Deutschlands an Pferden bis zum dreißigjährigen Kriege; es ist mit Zahlen nachzuweisen, daß in vielen Landstrichen jener Reichthum nicht wieder erlangt wurde.
Wenn wir daher unsere „Bauernreiten“ mit besonderer Theilnahme betrachten, so finden wir keinen anzulächelnden Contrast zwischen ihnen und dem ersten geschichtlichen Wettrennen bei den Festen des persischen Sonnengottes Mithra, sondern wir glauben sogar, daß der indogermanische Weg zwischen beiden eine Verbindung zuläßt. Die Wettrennen an sich sind also einheimisch, aber die moderne Form derselben als „Sport“ haben wir, nebst den dazu gehörigen technischen Ausdrücken, von den Engländern herübergenommen, und so haben wir, wie sie, jetzt Herrenreiten, Officiersreiten, das bei uns erfreulicher Weise bevorzugt wird, das gewöhnliche Jockeyreiten und das bereits erwähnte Bauernreiten. Im Allgemeinen tragen die Wettrennen zur Belebung der Pferdezucht bei, obgleich Sachverständige der Meinung sind, daß dieselben für gewöhnliche Landespferde nicht von Vortheil seien, weil diese sich nicht der kräftigen Respirationsorgane erfreuen, wie die aus dem reinen Blute von Generationen hindurch gezüchteten Rennpferdfamilien, deren Vorzüge durch die Wettrennen gesteigert werden. Letztere zerfallen in England bekanntlich in Flach-, Hürden-, Kirchthurm- und Trabrennen. Das Hürdenrennen (hurdle-race) stellt dem Pferde nur leichte Hindernisse von Flechtwerk in den Weg, während das Kirchthurmrennen (steeple-chase), das seinen Namen von dem Ziel hat, auf welches man schnurgerade losritt und das oft ein Thurm war, stärkere Hindernisse, Gräben, Dämme, Barrièren u. dergl. zu überwinden giebt. Vor ein solches Hinderniß führt uns unsere Illustration, und ein Jockeyreiter leidet dabei Schiffbruch.
gingen ferner ein: A. Sauber M. 5; C. Stolle in Galsbeufke 5 Rubel; Josef Graber in Galsbeufke 1 Rubel; G. Straß in Cunnersdorf M. 10; N. N. in Bergamo 5 Franken; S. Freund in Philippdis in Südafrika M. 5; T. in Teplitz 1 Gulden österr. Währ.; Moritz, Anna und Paul M. 3; Frau Sölchen auf Godderstorf M. 40. (Gesammtertrag unserer Sammlung M. 2457.72.)
gingen ferner ein: N. N. in Bergamo 5 Franken; A. Sauber M. 5; Pfarrer Joh. Imrich in Wolkendorf bei Kronstadt in Siebenb. 4 Gulden österr. Währ.: E. F. in Odessa M. 12; E. B. in Odessa M. 15; H. W. K. in San Francisco 3 Dollar; gesammelt unter den Deutschen Mitaus 30 Rubel; Sammlung durch die Expedit. d. „Statthalter von Schopfheim“ M. 50; Clara Hoevet aus Vaslui M. 5; Mitglieder des Calber Turnvereins M. 4.75; Alb. Horst in Bahnhof Blönsdorf M. 4; Lt. M. 5; v. Buch in Sondershausen M. 6; M. B. in Montreux M 20; M. in M. M. 9; G. W. Dg. in Hamburg M. 15; von der Williamsburgh B. S. M. 15; Sammlung in Albany durch Jacob Heinmiller M. 1000; Club „Concordia“ in Bangkok, unter den Deutschen gesammelt M. 1555.40; Geo. H. Cornelton in Orangeburgh M. 418.85; M. J. in Potsdam M. 3; Comité in Pittsburgh M. 725; Eug. Lassel in Kronstadt in Siebenb. 2 Fl. ö. W.; Ertrag einer Vorstellung des Theater-Vereins in Clausnitz M. 20; Deutsches Hülfscomité in Pittsburgh M. 2000; ein Packet Kleidungsstücke von Frau Alwine Lassen in Kappeln; Central-Turnverein in Pittsburgh durch Herrn W. Grabowsky M. 120; aus Abo von dort ansässigen Deutschen M. 174.47; Ertrag eines von den Deutschen in La Salle Ill. veranstalteten Vortrags des Herrn Fr. Bodenstedt M. 454; T. in Teplitz 1 Fl. ö. W.; Alex. Raebiger in Ferndale, Humboldt County, Calif. M. 10.56; einige Deutsche des fernen Ostens M. 25.55; Edmund Kron in Milwaukee 2 Dollar.
Gesammtertrag unserer Sammlung M. 10,994.69,welche wir dem Comité in Breslau baar eingesandt haben.
Für die Nothleidenden in Thüringen, sowie Spessart und Rhön sind uns unaufgefordert folgende Beträge zugegangen, welche den betreffenden Comités übermittelt wurden:
Für Thüringen: Frau P. Kertscher in Zöschau M. 15; von der Williamsburgh B. S. M. 15; Comité in Pittsburgh M. 725; Deutsches Hülfscomité in Pittsburgh M. 2500. (Summa: M. 3255.)
Für Spessart und Rhön: Deutsches Hülfscomité in Pittsburgh M. 1500.
- ↑ ck nach n schrieb übrigens Goethe bis an sein Lebensende
- ↑ Aus meiner Schrift: Die deutsche Rechtschreibung in der Schule. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1870. Seite 13.
- ↑ Auch Weigand’s vortreffliches Wörterbuch, das sonst so gewissenhaft die übliche Schreibung verzeichnet, weicht in dem Punkte davon ab, daß es durchaus -ieren schreibt. Es ist abgeschlossen 1871.
- ↑ Wir möchten den hier angedeuteten Punkt, namentlich dem phonetischen Princip gegenüber, ganz besonders betonen. Es ist schlechterdings unmöglich, die Orthographie nach der Aussprache zu uniformiren – weil es keine durchweg einheitliche Aussprache in irgendwelcher Sprache giebt, und weil, wenn es sie gäbe, wie oben bereits gesagt, ein unendlich compliciertes Alphabet geschaffen werden müßte. Thatsächlich ist die Schrift nichts Anderes, als ein Operiren mit Wortsymbolen, Wortbildern, welche mehr oder weniger mit versuchsweiser Rücksicht auf eine Lautunterscheidung gestaltet sind und welche Jeder nach den Lauten seines Dialekts ausspricht. Was der Mitteldeutsche „Geist“ liest, das liest der Schwabe „Gejscht“; der Zweck der Schrift ist erfüllt, wenn Jeder von beiden weiß, welchen Lautwerth das Wortbild für ihn hat, und damit, welcher Begriff und welche logische Stellung im Gedankenzusammenhang durch dasselbe repräsentiert wird. Keine Sprache mehr, als die englische, bezeugt, daß diese Auffassung vom Wesen der Schrift den thatsächlich vorliegenden und mit innerer Nothwendigkeit gewordenen Verhältnissen entspricht: hier hat sich die Aussprache in ihrer allmählichen Entwickelung bis zum Komischen von der in früher Zeit erstarrten Lautschrift abgewendet, und zwar ohne den geringsten Schaden für das Verständniß des geschriebenen und gedruckten Wortes.
Aber wir möchten noch einen andern Punkt zur Ergänzung der obigen Gründe gegen die Orthographiereform hier nicht unerwähnt lassen: er betrifft den sehr prosaischen Geldpunkt. Es ist in den Tagesblättern schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß dem Buchhandel, das heißt einer Anzahl von Privatpersonen, welche Schul- und Jugendliteratur verlegt haben, aus der Puttkamer’schen Maßregel eine durch nichts zu rechtfertigende Schädigung erwächst; aber nur wenige Leute dürften einen Begriff davon haben, wie groß dieser Schaden, der stellenweise dem Ruin gleichkommt, sein wird, obschon dem Buchhandel das Zugeständniß gemacht worden ist, daß nunmehr, nach erfolgter Einführung der Reform, zwar keine Schulbücher mehr in abweichender Orthographie zu drucken sind, die alten Bestände jedoch noch durch fünf Jahre verwendbar bleiben.
Wir können eine Einigung in Beziehung auf Orthographie für das Gesammtgebiet unserer Muttersprache nur auf’s Dringendste wünschen, aber dann mag sie im Sinne obigen Aufsatzes sorgfältig vorbereitet und darf sie nicht mit souveräner Willkür über’s Knie gebrochen werden.
D. Red.
- ↑ Badische (Heidelberg, Karlsruhe, Mannheim), Berliner, Breslauer, Brünner, Danziger, Darmstädter, Dresdner, Frankfurter, Grazer, Hamburger, Hannöversche, Kölner, Königsberger, Leipziger, Linzer, Lübecker, Mainzer, Münchener, Nürnberger, Offenbacher, Salzburger, Stuttgarter, Weimarer, Wiener. In Augsburg besteht eine Schiller-Stiftung, doch kann das alphabetische Verzeichnis leider nicht mit Augsburg anheben, da jene Stiftung zu der deutschen Schiller-Stiftung bis jetzt nicht in den statutenmäßigen Verband getreten ist.