Die Gartenlaube (1878)/Heft 5
Frau von der Wehr wohnte in dem freundlichen, weißgetünchten Häuschen oberhalb der Schmiede, das einer Wittwe gehörte, die im Sommer ihre Stuben für die Badegäste ausräumte und sich bescheiden nebenan in der Scheune eine Stube herrichtete. Ein wohlerhaltener, ebenfalls mit weißem Kalk angestrichener Staketenzaun umschloß den kleinen Obstgarten. Aus dem Zelt hatte man eine hübsche Aussicht über den Mühlenteich und die grünen Hügel drüben. Wer nicht große Ansprüche machte, konnte dort im Juli und August einen stillen und behaglichen Aufenthalt finden.
Die Dame, die bei ihrer Arbeit im Zelte saß, trug nicht mehr ein schwarzes Kleid, aber das bleiche Gesicht zeigte einen grämlichen Zug, und die Stirn hatte einen finsteren Ausdruck. Das Leidensjahr hatte seine Spur zurückgelassen: diese Augen mochten heimlich viel geweint, dieser Mund oft geseufzt haben. Und doch bedurfte es vielleicht nur eines Sonnenblickes des Glückes, um die eigene Schönheit und Lieblichkeit dieser anmuthigen Erscheinung wieder zur vollen Geltung zu bringen.
Wer ihre letzten Lebensschicksale kannte, hätte vielleicht darauf eine Erklärung für die Wahl gerade dieses Sommeraufenthaltes finden können. Im allerkleinsten Maßstabe wiederholte sich hier die Localität, von der ihre Gedanken nicht lassen konnten. Da war ein wenig Berg und Thal; da glänzte der helle Wasserspiegel, und des Müllers Boot versuchte sich manchmal darauf sogar in Segelfahrten; da hob sich das Ufer staffelartig, besetzt mit kleinen Häusern, und in einem der höchsten und einsamsten wohnte sie selbst bei einer alten Wittwe, die sie immer versucht war Frau Ursel zu nennen. In der Ferne hoben sich zwar nicht die mächtigen Schneehäupter der Alpen, aber ein anderes Natur-Mächtiges mahnte oft an seine Nähe: das Meer mit seinem eintönigen Brausen. Trat sie Abends vor das Zelt und blickte sie auf den Teich hinab, der sich nicht in seiner ganzen Ausdehnung übersehen ließ, so konnte sie denken, jetzt stehe vielleicht Max Werner auf der Terrasse vor seinem Hause und blicke, wie sie, träumend von entschwundenem Glücke, der scheidenden Sonne nach. Was sie bewegte, durfte Niemand wissen, auch Irmgard nicht. Nie mehr war zwischen Mutter und Tochter von den Erlebnissen in Thun gesprochen, nie wieder des Malers Name genannt worden.
Der Architekt fand Frau von der Wehr im Zelte. Er hatte sein Kommen brieflich gemeldet, ohne doch den Tag zu bestimmen, und so kam er erwartet und zugleich unerwartet. Was der Referendar in Betreff ihrer äußeren Erscheinung mitgeteilt hatte, bestätigte sich ihm vollkommen, aber ebenso gab sich auch schon in den ersten Minuten eine krankhafte Erregbarkeit zu erkennen, die ihn, da er ihren Grund nicht ahnte, peinlich berühren mußte. Kaum hatte er sich vorgestellt und seine Absicht ausgesprochen, die vorläufigen Entwürfe zum Bau des Siechenhauses vorlegen zu wollen, damit die Damen ihre Wahl treffen könnten, als Frau von der Wehr von einem nervösen Zittern befallen wurde, in Thränen ausbrach und mühsam eine Entschuldigung stammelte. Die Erinnerung an ein sehr trauriges Ereigniß, sagte sie, das den Entschluß zu diesem wohlthätigen Werke hervorgerufen habe, überwältige sie.
Harder wollte nach einigen Stunden wiederkommen, aber sie hielt ihn zurück und versicherte, sie werde sich bald wieder beruhigt haben. So war es auch. Der Architekt konnte seine Rolle öffnen und die Zeichnungen auf dem Tische ausbreiten.
Eben war er damit beschäftigt, den Grundriß zu erklären, als Irmgard aus der Thür des Hauses trat und auf das nahe Zelt zuging. Sie trug ihre Mappe wie ein Präsentirbrett, wozu sie auch dem kleinen Malkasten und dem Wasserglase darauf dienen sollte. Der Architekt, der sich über den Tisch gebeugt hatte, richtete sich auf, um zu grüßen, und hob plötzlich den Kopf höher, als er sah, wer sich näherte. Auch Irmgard stutzte; das Wasser im Glase kam in eine schaukelnde Bewegung und floß über den Rand. Ein Blick aus den Tisch überzeugte sie, mit wem sie’s zu thun habe.
„Sie sind …?“ sagte sie und stockte.
„Der Architekt Robert Harder,“ ergänzte er lächelnd, „der sich den Damen vorstellen möchte, die ihn mit einem Bau zu beauftragen die Güte hatten. Ich habe zufällig schon heute früh das Vergnügen gehabt –“
„Sie also waren der Fremde, von dem Irmgard erzählte, als sie ungewöhnlich schnell von ihrem Morgenspaziergange zurückkehrte,“ sagte Frau von der Wehr, dem Mädchen freundlich zunickend. „Nun, ich finde nicht, daß Herr Harder so gar schreckhaft aussieht.“
„Das habe ich auch nicht behauptet,“ entgegnete Irmgard tief erröthend. „Es erschreckte mich nur, daß ein Fremder mich anredete – es erschreckte mich nicht einmal; nur daß er gleich meine Zeichnungen revidirte –“
„Ich bemerkte zu meinem größten Bedauern,“ fiel Harder
[76] entschuldigend ein, „daß ich Ihnen die stille Morgenstunde verleidet hatte. Hätte ich ahnen können, daß ich Sie vertreiben würde. …Aber es ist einmal geschehen, und nun trifft sich’s ja sehr gut, da ich wegen der Störung schnell um Verzeihung zu bitten im Stande bin und gleichsam die Vorstellung im Voraus abgemacht habe.“ Er deutete auf den Malkasten und das Glas. „Täusche ich mich nicht, so wollten Sie eben die Probe machen, ob mein Vorschlag wegen der dämmerigen Abendstimmung, der roth angehauchten Wolke und der Mondsichel in Farben ausführbar sei. Sie werden es nur nicht zugeben wollen.“
Irmgard zog die Lippe zwischen die Zähne. „Die Aufgabe reizte nach allerdings,“ sagte sie ein wenig trotzig, „und da ich lediglich zu meinem Vergnügen zeichne und male, so ist auch der kühnste Vergleich nicht zu kühn zu nennen.“
„Das will sagen, daß ich mich nicht im mindesten darum zu kümmern habe,“ bemerkte Harder mit einer feierlichen Verbeugung. „Gut! Ich werde abwarten, bis Sie selbst mir das wohlgelungene Blatt vorlegen.“
„Das wird nie geschehen,“ schwebte ihr auf der Zunge, aber sie hatte doch nicht den Muth es auszusprechen. Es war in seiner Art etwas Bestimmtes und Zuversichtliches, das seinen Eindruck nicht verfehlte.
Die Bauzeichnungen wurdet nun durchgesehen. Harder konnte mehrere Entwürfe zur Auswahl vorlegen; er hatte auch ältere Pläne mitgebracht, die sich leicht für den jetzigen Zweck umarbeiten ließen, wenn der Stil den Damen zusagte. Da zeigte sich nun aber sehr bald, daß Mutter und Tochter einen sehr verschiedenen Geschmack bekundeten. Frau von der Wehr gab dem Zierlichen und Gefälligen, Irmgard dem Bedeutenden und Imposanten den Vorzug; während die Mutter ein Haus wünschte, das schon in seinem Aeußeren den armen Kranken recht wohnlich erscheinen möchte, dachte die Tochter weit mehr an das Monument, das dem Andenken ihres Vaters zu setzen sei. Der Architekt, der wieder nur die würdigste Bethätigung seiner Kunst im Sinn hatte, trat Irmgard bei und hatte seine Freude daran, daß das Fräulein schließlich gerade den Entwurf als ihre Wahl bezeichnete, der ihm selbst der liebste war. Er konnte sich nicht enthalten, dies in seiner geraden Weise offen auszusprechen, und Irmgard schien darin sehr befriedigt ein Anerkenntniß ihres guten Geschmacks zu sehen.
Es handelte sich aber denn doch nicht nur nur die Façade, sondern wesentlich auch um die innere Einrichtung, und hier wurde es beiden Damen sehr schwer, sich aus den Grundrissen eine sichere Vorstellung zu machen. Frau von der Wehr meinte endlich, eine Entscheidung sei im Augenblick nicht zu treffen, sie wolle ihren Vetter, Rath Pfaff, benachrichtigen und zu einem Besuch einladen, damit er ihnen Beistand leiste. Ob Harder sich nicht ein paar Tage von den Strapazen der Reise hier erholen wolle? Er versicherte, daß er gern auf ein paar Wochen bleibe.
Frau von der Wehr lud ihn zu Mittag ein. Er sagte unter einer Verbeugung dankend zu.
„Das Beste ist, daß man alle Mahlzeiten hier im Freien einnimmt,“ meinte Irmgard. „Man lebt eigentlich nur im Zelt.“
„Und deshalb werde ich bitten müssen, das Zelt zu räumen,“ setzte die Mutter hinzu, „damit uns der Tisch gedeckt werden kann. Vielleicht zeigt Irmgard Ihnen indessen ein Stück unserer prächtigen Haide.“
„Ich bin bereit,“ sagte das Mädchen, das nun alle Befangenheit verloren hatte, sie lief in’s Haus nach ihrem Strohhute und winkte ihm zu folgen.
„Aber Sie kennen unsere Haide wohl schon?“ fragte sie, als sie auf den sanft ansteigenden Sandweg hinauskamen. „Wenn ich Sie heute früh recht verstand, sind Sie vor längerer Zeit einmal in dieser Gegend gewesen?“
„Freilich – vor längerer Zeit,“ antwortete er zögernd, „und ich war damals auch auf der Rauschener Haide, aber sie wird mir heute ganz neu sein.“
Sie wandte ihm das Gesicht zu und sah ihn mit aufmerksamen Augen an. „Warum?“
Er hielt den Blick tapfer aus. „Weil Sie meine Führerin sind. Haben Sie nicht schon selbst die Erfahrung gemacht, mein Fräulein, daß die Gesellschaft, in der wir einen Ort besuchen, für den Eindruck bestimmend ist?“
Sollte das eine Schmeichelei sein? Es klang gar nicht wie eine solche, und eine Ablehnung wäre daher ungeschickt gewesen. Aber sie fühlte doch auch, daß er nicht nur eine allgemeine Bemerkung zum Besten geben wollte; sie senkte die Augen und gab dem Gespräch rasch eine andere Wendung. „Von unserem Zauberwald wissen Sie sicher nichts,“ sagte sie schalkhaft lächelnd.
„Nicht das Mindeste.“
„Wir nennen ihn so, weil er sich wundersam schwer finden läßt. Wir haben ihn manchmal schon vergebens gesucht, und doch ist er ganz in der Nähe. Diese Sandstreifen zwischen dem Haidekraut sehen aus wie Wege und sind es doch nicht; sie kreuzen einander hinter jedem dieser kleinen Hügel, die gerade hoch genug sind, die Aussicht zu versperren, und schlägt man die falsche Richtung ein, so findet man sich gar nicht wieder zurecht, bis man die See unter sich hat. Aber heute verirre ich mich gewiß nicht.“
„Ein Wald, sollte ich meinen, könnte sich hier doch nicht verstecken.“
„Es ist eben ein ganz kleiner Wald. Er besteht aus lauter reizenden jungen Fichtenstämmchen. Und ein so köstlicher Duft von Harz und Thymian –!“
Sie führte ihren Begleiter sehr zuversichtlich die Kreuz und Quer, bis sie nach einer Weile einen lang hingestreckten Sandhügel vor sich hatten. Nun wurde sie plötzlich stutzig.
„Ich bin doch wieder falsch gegangen,“ sagte sie mit einem Anflug von Verdrießlichkeit. „Es ist wahrhaftig ein Zauberwald – er läßt sich nicht finden, wenn man ihn sucht.“
Der Architekt proponirte, auf den Sandhügel zu steigen; von dort müsse man doch eine Ueberschau haben. Sie folgte zwar, schüttelte aber den Kopf.
Man befand sich hier mitten auf der Haide. Bei weiteren Suchen nach dem Zauberwalde geriethen sie bald auf den Badeweg ungefähr an der Stelle, wo man durch eine tiefe Einsenkung eine reizende Aussicht über den waldumsäumten Wiesengrund hinter dem Mühlenteiche hat.
„Auch das ist ein lohnendes Ziel,“ meinte Harder.
„Aber es bleibt doch ärgerlich, wenn man fehl geht,“ schmollte das hübsche Mädchen. – –
„Bei Tische kam die Rede auf die Kapurnen. Ich möchte für mein Leben gern einmal das Innere einer solchen Grabstätte sehen,“ sagte Irmgard.
„Man könnte ja einen dieser Hügel öffnen,“ schlug der Architekt vor.
„Ach, die dort auf der Haide sind längst ausgeraubt.“
„Sie liegen auch gar zu offenkundig am Wege. Sollte man nicht an einsameren Orten –“
„O, ich glaube zu wissen, wo sie zu finden sind. Wenn man das Buchenwäldchen links an der Gausup durchstreift, trifft man Hügel von derselben Form und sicher von Menschenhand aufgeschüttet. Die Haide mag sich früher da hinein erstreckt haben.“
„Laßt die Todten ruhen!“ sagte Frau von der Wehr feierlich und mit fast finsterem Ausdrucke.
„Die Todten ruhen nicht, Mutter,“ antwortete Irmgard. „Was von ihnen hier zurückbleibt, ist wirklich nur ein Häuflein Asche; wer sie geliebt hat, mag auch diesen irdischer Rest mit treuer Sorge hüten; ist ihr Andenken ausgelöscht, so mag auch Erde wieder zu Erde werden. Sie selbst haben ja doch das ewige Leben.“
Frau von der Wehr antwortete nicht, aber die kleine Falte auf der Stirn furchte sich tiefer, und das Auge blickte eine Secunde lang wie umflort in’s Weite. Harder merkte wohl, daß hier auf der einen wie auf der anderen Seite religiöse Vorstellungen und Erinnerungen wirksam waren, die geschont sein wollten, und hielt deshalb seine Meinung zurück.
Am Nachmittage meinte Frau von der Wehr, sie habe dem Gaste zu Ehren an eine Fahrt nach der Försterei gedacht; man könnte ja im Buchenwäldchen den Wagen halten lassen und eine Strecke zu Fuß gehen. Das gefiel Irmgard, und Harder erklärte, daß er sich den Damen heute und alle Tage völlig zur Verfügung stelle.
Die kleinen Pferde des Bauernfuhrwerks erwiesen sich auf den Sandwegen als tüchtig und ausdauernd, und die Kapurnen wurden glücklich gefunden; Harder merkte sich die Stelle genau, [77] da er etwas in Gedanken hatte. Dann trank man in Hirschau den Kaffee und besuchte die uralte Linde, auf deren hohlem, bemoostem und wundersam verknolltem Stamme ein neuer Wald von mächtigen Stämmen zu wachsen schien.
Der Abend versprach sehr schön zu werden. Man beschloß, auf einem Umwege über Warnicken nach Hause zu fahren. An dem Pförtchen vor dem neuen Hôtel stieg man aus und ging sogleich in den Park. Einige Stufen führen seitwärts in die Wolfsschlucht. Harder bot den Damen seinen Arm, und Frau von der Wehr nahm ihn gern an, aber auch Irmgard weigerte sich nicht, ihm die Hand zu reichen, wenn die feuchten Steinstufen zur Vorsicht mahnten. Die Galanterie schien ihr nicht mehr, wie noch vor einem Jahre, eine sehr überflüssige Tugend zu sein, oder ihr diesmaliger Begleiter, der freilich sonst von galantem Wesen wenig an sich hatte, erfreute sich besonderer Gunst.
Je mehr die Schlucht sich vertiefte, desto mehr erweiterte sie sich auch. Das Laub der Bäume über ihnen wurde lichter, der blaue Himmel wieder sichtbar, und nun ließ sich auch ein sanftes Rauschen vernehmen wie von anschlagenden Wellen. Noch eine Biegung, und vor ihnen in dem dreieckigen Einschnitt des hohen Ufers lag die weitoffene See. Sie traten an den Strand hinaus, der mit Steinblöcken übersäet war. Tief in’s Wasser hinein zog sich das Lager, und an dem Auf- und Abtauchen der dunkeln Massen merkte man das Athmen des Meeres, von dem erfrischende Kühle dem Lande zuwehte. Die Damen ruhten auf einem breiten Stein aus; Robert lagerte sich vor ihnen in den weißen Sand. Bald aber war Irmgard wieder auf. Sie suchte kleine flache Steine, warf sie schräge gegen den Wasserspiegel und merkte, wie oft sie aufschlagen würden. Harder half ihr suchen und ermittelte die schönsten Stücke. Nun meinte sie, man sollte einmal um die Wette werfen, und wurde immer eifriger in neuen Versuchen, seine Geschicklichkeit zu überbieten. Er ließ ihr den Sieg. „Nein, das gilt nicht,“ rief sie, ich habe wohl gesehen, „daß Sie nicht mit aller Kraft werfen.“ Er überholte sie nun so weit, daß sie den Kampf aufgab. „So, nun bin ich zufrieden,“ sagte sie. Das Gesicht glühte ihr.
Man stieg wieder hinauf und wandelte unter den schattigen Riesenbäumen hin, die scharf an der Uferkante gegen das Meer hin Wache stehen. Und dann ein Sonnenuntergang über dem Meere, von der hohen Fuchsspitze aus genossen, und eine Rückfahrt im Mondschein! Das war ein herrlicher Tag, gestand sich der Architekt. Aber wie konnte dieses reizende, jugendfrische Mädchen auf den Gedanken kommen, nicht zu heirathen und ein Siechenhaus zu gründen! philosophirte er. Jede Marotte muß doch wenigstens einen Scheingrund haben, aber hier … Man merkt nicht einmal, daß die Melancholie der Mama ansteckend gewesen. Nun – was kümmert’s mich? Ich baue. –
Am nächsten Vormittag war er schon zeitig im Zelt. Irmgard behandelte ihn jetzt mit aller Vertraulichkeit wie einen alten Bekannten. Sie zeigte ihm unaufgefordert ihre Malerei, bei der sie die Morgenstunden verbracht hatte, und klagte, daß sie den düstern Ton gar nicht treffe. „Ich würde Ihnen schwerlich den Vorschlag gemacht haben,“ sagte er, „wenn ich Sie damals gekannt hätte. Sie müssen immer blauen Himmel und heiteren Sonnenschein malen.“
„O, Sie kennen mich auch jetzt noch gar nicht,“ versicherte sie ganz ernst, „ich kann auch furchtbar schwermüthig sein.“
Er mußte lachen, und sie lachte mit.
„Sie mögen’s glauben oder nicht,“ schmollte sie dann. „Und jedenfalls habe ich das Bild nun einmal angefangen und will’s auch fertig in meiner Mappe sehen.“
„Zum Andenken an den unartigen Menschen,“ setzte er hinzu, „der die Zeichnung tadelte.“
„Gut – auch das!“ sagte sie nach kurzem Besinnen. „Ganz aufrichtig, ich habe mich so sehr über Sie geärgert … aber Sie hatten ganz Recht.“
Er nahm ihr den Pinsel aus der kleinen Hand und legte nach seinem Sinn die Grundfarbe auf. Sie beugte sich vor und sah ihm zu. „Was Sie aber für Courage haben!“ rief sie mit aufrichtiger Bewunderung.
„Ich gebe nur im Ganzen die Stimmung an,“ meinte er, „die Ausführung in allem Einzelnen bleibt Ihnen.“
Abends wurde ein gemeinsamer Spaziergang nach der Sassauer Gräberei unternommen. Der Weg führte den Bach entlang und bald auch an den weißen Sandbergen hin. Man mußte die Sandzungen überschreiten, die sich über das Wiesengrün vorstreckten und an einigen Stellen den Bach halb verschüttet hatten. Das Gespräch kam ganz von selbst auf diesen sehr traurigen Anblick. Da zeige sich recht auffällig die zerstörende Gewalt der Natur, äußerte Harder, in der nur das Uebermächtige Recht habe. Dieser Thalgrund sei recht dazu geschaffen, eine grüne Wiese zu tragen, und jeder Grashalm scheine auch zu sprechen: Ich kann und ich will leben. Und nun lege sich der Sand recht wie eine Leichendecke darüber, nicht den Tod verhüllend, sondern das Leben erstickend. Frau von der Wehr hörte ihm aufmerksam zu.
„Ist es nicht mitunter auch Menschenschicksal,“ sagte sie mit einem leisen Seufzer, „lebendig begraben zu werden? Es giebt solch grünes Leben, über das der Sand hinweht; es wehrt sich gegen seinen Druck; es möchte ihn abschütteln – vergebens. Körnchen sammelt sich zu Körnchen, bis nach Jahren Niemand mehr weiß, was die Wüste deckt.“
Irmgard war nachdenklich geworden; sie blieb einige Schritte zurück. Als Harder nach ihr umschaute, bemerkte er, daß sie die Augen gesenkt hatte. Es war ihr nicht nur eine allgemeine Sentenz, was ihre Mutter so wehmüthig geäußert hatte.
Sie überschritten den Kamm und stiegen auf der anderen Seite in den gewaltigen Kessel hinunter, den die Bernsteingräber gegen die See hin ausgehöhlt hatten. – Der Tag schloß mit einer Fahrt auf dem Mühlenteiche, bei der sich jedoch Frau von der Wehr nicht betheiligte. Sie fahre ungern auf dem Wasser, sagte sie. Dem jungen Manne war es nicht unlieb, mit Irmgard im Boot allein zu sein. Sie wollte in die Bucht, in der die weißen Mummeln schwammen, bückte sich über den Rand des Bootes und zog sie an ihren langen Stengeln aus dem Wasser. Er glaubte sie halten zu müssen, damit sie nicht in den Teich falle. Sie ließ es lachend geschehen. Dann ruderte er langsam am Gebüsche entlang, immer den Blick auf ihre Hand gerichtet, die bemüht war, aus den weißen Blumen einen Kranz herzustellen. „Die Wassernixen tragen solche Kränze,“ sagte sie, „wenn sie im Nebel tanzen.“
„Und für wen ist dieser?“ fragte er.
Sie schien zu überlegen. „Für den Wassermann!“ rief sie dann und schleuderte den Kranz weit hinaus.
Er lenkte das Boot dorthin. „Der will ich sein,“ sagte er und fischte ihn auf. –
Am andern Tage kam Rath Pfaff. Er brachte den Referendar Hell und drei andere junge Herren mit, die zusammen ein Sängerquartett bildeten und Abends auf dem Teiche „eine Vorstellung geben“ wollten. Darauf sollte im Saale des Gasthauses getanzt werden.
Während sie die nöthigen Vorbereitungen trafen, wurden im Zelt die Pläne vorgelegt. „Beste Cousine,“ äußerte sich der Rath, „Sie wissen, daß ich kein Freund von dem ganzen Project bin. Wollen Sie einmal in Ihrem Testamente Ihr Vermögen oder einen Theil davon einem wohlthätigen Zwecke bestimmen, so wird man das sehr löblich finden, und ob Irmgard in ähnlicher Weise über das ihrige verfügen will, wenn sie keine anderen Verpflichtungen hat, kann ihr überlassen bleiben. Jetzt aber gleichsam mit der Welt abschließen, sich ihrer Güter entäußern und alle Gedanken auf den Himmel richten – ich begreife weder das Bedürfniß, noch die Nothwendigkeit. Ich beschwöre Sie, theuerste Cousine, geben Sie ein Vornehmen auf, das zugleich für Ihres Kindes ganzes Leben bestimmend werden muß, für ein Leben, das kaum angefangen hat, sich zu entfalten.“
Frau von der Wehr sah finster vor sich hin. „Es handelt sich um etwas Unabänderliches,“ sagte sie. „Eine nähere Erklärung muß ich Ihnen schuldig bleiben, aber glauben Sie meiner Versicherung, daß hier vollendete Thatsachen den Ausschlag geben. So viel nur darf ich zu meiner Rechtfertigung sagen, daß die Idee von Irmgard selbst ausgegangen ist, daß ihr Wille geschieht.“
Der Rath schüttelte bedenklich den Kopf. „Dann ist sie um so ungesünder. Ein so junges Geschöpf, so unerfahren, ist unkundig der eigenen Wünsche und Neigungen … Beste Cousine, Sie dürfen da nicht als schwache Mutter nachgeben. Wenn ich sehe, welche Veränderungen ein einziges Jahr hervorgebracht hat! Irmgard ist in ihrem ganzen Wesen kaum wiederzuerkennen, [78] und noch ist ihre Entwickelung nicht abgeschlossen. Ich bin überzeugt, sie versteht schon heute nicht mehr, was ihr noch vor wenigen Monaten das allein Richtige schien und –“
Frau von der Wehr unterbrach ihn mit allen Zeichen der Unruhe. „Es giebt Entschlüsse,“ sagte sie, „die man nicht bereuen darf, weil man die Thatsachen nicht mehr ändern kann, auf denen sie beruhten. Irmgard wird bestätigen, daß es nicht von meinem Willen abhängt, den Dingen einen andern Lauf zu geben.“
Irmgard war das Blut in’s Gesicht geschossen. Obgleich sie den Baumeister, der hinter seinen Plänen abwartend stand, nicht ansah, glaubte sie doch zu errathen, daß sie von ihm scharf beobachtet würde. Nun ihre Mutter sich auf sie berief, wich plötzlich wieder alle Farbe aus ihrem Gesicht. Sie lehnte den Kopf an deren Schulter und sagte: „Es war mein Wille.“
Die Worte hatten einen zaghaften Klang, schienen aber doch weitere Einwendungen des alten Herrn nicht zu gestatten. Er fügte sich denn auch und ging auf das Project selbst ein. Irmgard betheiligte sich nun bei dem Gespräche, das zwischen ihm und dem Architekten sehr lebhaft geführt wurde, gar nicht. Es machte auch auf sie keinen bemerklichen Eindruck, daß der Rath sich schließlich für den Entwurf entschied, dem sie selbst den Vorzug gegeben hatte.
Der wackere alte Herr hatte aber seine Bedenken keineswegs als beseitigt angesehen. Sobald sich die Gelegenheit fand mit Harder allein zu sprechen, sagte er diesem: „Es mag ein wunderliches Ansinnen an einen Baumeister sein, seinen Bau selbst vereiteln zu sollen, aber wenn Sie sich einen Gotteslohn erwerben wollen, thun Sie das Ihrige, ihn nicht zu Stande kommen zu lassen! Will meine Cousine eine barmherzige Schwester werden – das mag sich begreifen lassen. Aber Irmgard! Das alte Herz thut mir weh, wenn ich mir vorstelle, daß sie damit wirklich Ernst machen könnte. Lassen Sie’s an Weiterungen nicht fehlen, zögern Sie die Sache hin, erfinden Sie Schwierigkeiten, vertrösten Sie von einem Monat zum anderen! Aus zwölf wird ein Jahr, und in einem Jahre kann sich die Gestalt der Dinge sehr verändern.“
Harder glaubte diesem vertraulichen Ansinnen gegenüber sich die Frage erlauben zu dürfen, welcher Grund denn eigentlich die Damen zu einem so entscheidenden Schritte veranlasse.
„Ja, darüber kann ich nur sehr unvollkommene Auskunft geben,“ antwortete der Rath achselzuckend, „denn daß der Tod des Mannes und Vaters diese Gemüther so tief erschüttert habe, daß sie alle Hoffnung des Gesundens aufgeben müßten, halte ich selbst für unwahrscheinlich. Ich denke mir und reime mir’s aus allerhand Andeutungen zusammen, daß im vorigen Jahre, als die Damen in der Schweiz waren, etwas vorgegangen ist, woraus sie ein Geheimniß machen. Ich sah sie dort in Begleitung eines Herrn, der ganz absonderliche Beziehungen zu haben schien.“
„Zu Irmgard?“ fragte der junge Mann lebhaft.
Der Rath schüttelte den Kopf. „Zu ihrer Mutter. Elise war so froh und glücklich … sie schien vergessen zu haben, was sie Schmerzliches durchlebt hatte. Als ich sie dann wiedersah, hatte sich der traurige Umschlag vollzogen, der seine Nachwirkung noch jetzt äußert. Irmgard aber, die ich damals sehr unliebenswürdig fand, war nun ganz Zärtlichkeit für sie. Reimen Sie sich’s zusammen, wenn Sie’s können! Meinem alten Kopfe will nur so viel einleuchten, daß zwischen Mutter und Tochter eine Differenz gewesen ist, die in diesem wunderlichen Project ihren Abschluß gefunden hat.“
Irmgard war den ganzen Tag über still und nachdenklich. Abends, als das Boot des Müllers, mit hellen Ampeln behängt, unter den Linden vorglitt und das Quartett sich in getragenen Liedern vernehmen ließ, stand sie am Staketenzaun und sah träumend auf den Deich hinab. Robert Harder trat zu ihr und lauschte ebenfalls dem Gesange. Es schien wenigstens so. Aber seine Gedanken waren nur bei seiner schönen räthselhaften Nachbarin.
„Ich habe mit den Herren etwas verabredet,“ sagte er nach einer Weile, „das Sie interessiren wird.“
„Und das wäre?“
„Wir wollen morgen früh im Buchenwäldchen eine der Kapurnen öffnen, die Sie entdeckt haben.“
„Ohne mich?“
„Nein, gerade für Sie.“
„Um welche Zeit soll ich mich bereit halten?“
„Wir werden einige Stunden mit Spaten und Hacke zu arbeiten haben, bis wir auf das Steinlager stoßen, und wir können nicht verlangen, daß Sie uns dabei Gesellschaft leisten, mein Fräulein. Aber ich verspreche Ihnen, daß kein Stein gehoben werden soll, bevor Sie im Walde eintreffen. Richten Sie sich also ganz nach Ihrer Bequemlichkeit ein!“
„Ich danke Ihnen. Sie sollen nicht zu lange auf mich warten dürfen.“
Das bekannte „integer vitae –“ schallte hinauf. „Was heißt das?“ fragte sie.
Er übersetzte ihr die erste Strophe. „Das ist gewißlich wahr,“ sagte sie. „Und im Gegentheile: wer ein unruhiges Herz hat … Spricht der Dichter auch von dem?“
„Nein! Er schildert als höchsten Lohn eines schuldlosen Lebens die Freuden einer das Herz beglückenden Liebe. Hören Sie nur: eines reizenden Mädchens gedenkt er da am Schlusse – seiner Lalage, der hold kosenden und wonnig lächelnden. Die Sänger da auf dem Wasser wissen wohl, was sie singen, plötzlich heben sich die Stimmen und hallen jubelnd aus.“
Sie schwieg darauf. Nach einer langen Pause fragte sie: „Glauben Sie, daß ein Mensch, den wir lieben, uns sterben kann?“
Er wartete verwundert, ob sie sich deutlicher erklären würde. „Sie meinen, ob in unserm Gefühle für ihn …?“
„Nein, nein! Ob er mit dem Tode aufhören kann zu sein, was er uns war, ob wir in Ewigkeit mit ihm verbunden bleiben, ob er immer Anspruch auf unsere Treue hat und uns einmal für sich fordern wird? Wenn die Seele unsterblich ist –“
„Wenn!“
„Zweifeln Sie daran?“
„Man kann da leider nur eine Gewißheit haben.“
„Und welche?“
„Daß es uns Menschen unmöglich ist, zur Gewißheit darüber zu gelangen.“
„Außer durch den Glauben.“
„Ueber den man nicht disputiren soll. Es ist auch ein Glaube an die Sterblichkeit der Seele denkbar, ein sehr frommer Glaube, der jede Selbstsucht abstreift und sich nicht beunruhigt fühlt durch die Zuversicht, daß es nach dem Tode kein Ich und Du geben werde, sondern nur eine Rückkehr der Seele in die große Weltseele, aus der sie der Leib abgeschieden hatte.“
„Und es bliebe uns keine Rückerinnerung?“
„Würden wir ihrer dann bedürfen? Wir wären ja Eins mit Allem.“
Sie stützte den Kopf in die Hand und sah ihn eine Weile fragend an, ohne zu sprechen. Dann sagte sie: „Kann man einen Todten beleidigen?“
„Ihn in uns und uns in ihm,“ antwortete er.
„Und er selbst hätte kein Gefühl der Kränkung, die unsere Untreue ihm zufügt?“
„Wie sollte er? Ist er nicht auch nach Ihrem Glauben ein Wesen, das ganz geistiges Ich ist, nur beschäftigt mit seiner eigenen Vervollkommnung, nur zugewandt dem Lichte, in dem es sich zu verklären trachtet? – Aber sagen Sie mir, warum beschweren Sie sich mit solchen Gedanken?“
„Sie sind nun einmal in mir,“ sagte sie leise, „und Sie wissen nicht …“
„Was weiß ich nicht?“
„Ach! es ist unsagbar.“ – –
Nicht in die geräuschvolle Ringbahn, wie die Ueberschrift anzudeuten scheint, soll uns unsere heutige Plauderei geleiten, sondern in die stillen Laboratorien der Chemiker, in denen während der letzten Tage des Jahres drei große Triumphe über die träge Materie errungen worden sind: man hat daselbst die letzten drei Gase, welche den stolzen Namen der „Incoërciblen“, das heißt der Unbezwinglichen führten, Sauerstoff, Stickstoff und Wasserftoff, sowohl für sich, wie in dem Gemenge, in welchem die ersteren beiden unsere atmosphärische Luft darstellen, dergestalt in die Enge getrieben, daß sie sich in tropfbare Flüssigkeiten verwandelt haben. Das große Interesse, welches sich an diese neueste Errungenschaft der physikalischen Chemie knüpft, ist ein vorwiegend theoretisches, aber doch auch von allgemeiner philosophischer Bedeutung, sofern es die Allgemeingültigkeit gewisser Grundgesetze bestätigt, wie die Auseinandersetzungen alsbald zeigen werden, die wir der Beschreibung jener Experimente vorausschicken müssen.
Die Erfahrungswissenschaft hatte längst gelehrt, daß im Allgemeinen alle Stoffe in drei Zuständen erhalten werden können, die man ihre Aggregatzustände nennt, nämlich: fest, flüssig und gasförmig. Bei dem festen Zustande der Körper nimmt man an, daß ihre kleinsten Theile eine beziehungsweise gleichbleibende Lagerung gegen einander behaupten, wenn man aber fortdauernd Wärme zuführt, so werden jene Theilchen gegen einander verschiebbar, der Körper schmilzt, und wenn die Wärmezufuhr fortdauert, so gelangen die Theilchen dahin, sich gegenseitig abzustoßen, die geschmolzene Masse siedet und verwandelt sich in classischen Dampf, und zwar wird dieses Abstoßungsbestreben der Theilchen, welches wir als Dampfkraft benützen, am schnellsten zur Geltung kommen, wenn der auf der Flüssigkeit ruhende Luftdruck hinweggenommen wird. Es bringt somit im Allgemeinen Abkühlung und Druck Verdichtung der Massen, Wärmezufuhr und Druckabnahme Verdünnung hervor.
Natürlich läßt sich der skizzirte Wandlungsproceß nur bei einfachen und solchen zusammengesetzten Stoffen durch alle drei Stufen hindurchführen, welche die zu ihrer Verflüssigung oder Verflüchtigung erforderliche Hitze ohne chemische Zersetzung vertragen; organische Producte, wie Holz oder Fleisch, lassen sich nicht ohne Zersetzung schmelzen, geschweige denn in Dampf verwandeln. Auch chemische Verbindungen, wie z. B. der kohlensaure Kalk unserer Kalkgebirge, zersetzen sich oft schon vor ihrem Schmelzen in ihre näheren Bestandteile, hier also in Kohlensäure und gebrannten Kalk, aber in einem luftdicht verschlossenen Flintenlaufe kann man jene beiden Bestandtheile zwingen, bei einander zu bleiben, und den kohlensauren Kalk wirklich schmelzen, um eine Art künstlichen Marmors zu erhalten, denn auch der natürliche Marmor ist anscheinend nichts anderes, als unter dem starken Druck darüber liegender Erdschichten durch vulcanisches Feuer halbgeschmolzener kohlensaurer Kalk.
Bei manchen Körpern, wie z. B. der Kohle und den edlen Metallen, gehört eine sehr gewaltige Hitze dazu, um sie zu schmelzen, allein man hat nicht nur die erstere mit Hülfe starker elektrischer Ströme geschmolzen und dabei künstliche schwarze Diamanten erhalten, sondern die edlen Metalle durch die in großen Brennspiegeln verdichtete Sonnenwärme oder durch den elektrischen Strom sogar in Dampf verwandelt. Der amerikanische Physiker A. W. Wright hat erst kürzlich eine Methode entdeckt, um selbst die am schwersten schmelzbaren Metalle, wie z. B. Platin, durch den elektrischen Funken im luftverdünnten Raume zu verflüchtigen, um diesen Metalldampf auf andere Flächen niederzuschlagen und so z. B. Platinspiegel für Fernröhre zu erzeugen, die an Politurfähigkeit und damit auch an unveränderlicher Leistungsfähigkeit alle früheren Teleskopspiegel weit hinter sich lassen dürften. Von manchen Stoffen, wie z. B. dem metallischen Arsenik, schien es eine Zeitlang, als ob sie sich nicht schmelzen ließen, weil sie sich bei starker Erhitzung ohne Schmelzung verflüchtigen. Das liegt aber, wie man bald fand, nur daran, daß ihr Schmelz- und Siedepunkt allzunahe bei einander liegen, in einer luftdicht verschlossenen Glasröhre, in welcher sich der Siedepunkt unter dem eigenen Dampfdrucke erhöht, läßt sich Arsenik sehr leicht schmelzen.
Ebensowohl nun, wie sich alle festen, feuerbeständigen Körper endlich schmelzen und verflüchtigen lassen, wenn man nur den erforderlichen Hitzegrad zu seiner Verfügung hat, so müssen natürlich auch alle flüssigen Körper zur Erstarrung gebracht werden können, was zuweilen schwerer ist, als das Verdampfen derselben. Quecksilber, ein bereits bei circa vierzig Grad unter Null schmelzendes Metall, verdampft schon bei gewöhnlicher Temperatur und mittlerem Atmosphärendruck merklich; die „Fixirung“ dieses beweglichsten aller Körper, bei dem daher der rührigste Gott des griechischen Olympes, Mercur, Pathe stehen mußte, war ehemals ein Bravourstück der alten Physiker; mit den Mitteln der Neuzeit gelingt es – wie wir weiterhin sehen werden – sogar, dasselbe in einem rotglühenden Platintiegel in ein hämmerbares Metall zu verwandeln. Auch die Schwierigkeiten, die man früher fand, ätherische und alkoholartige Flüssigkeiten zum Erstarren zu bringen, sind mit jenen Mitteln gehoben worden, und die Herstellung eines gefrorenen Cognacs oder sonstiger Liqueure bietet keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr. Vor einigen Jahren haben die Physiker Melsens und Horvath Branntwein von fünfzig Procent Alkoholgehalt bei vierzig bis fünfzig Grad Kälte in Eis verwandelt, welches ganz angenehm schmeckte, während Wassereis von ähnlich niedriger Temperatur[WS 1] Blasen auf der Zunge ziehen dürfte. Erst auf siebenzig Grad abgekühltes Branntweineis schmeckte etwas empfindlich, etwa wie ein Eßlöffel heißer Suppe. Dreißig Grad kalter Branntwein, der wie dicker Syrup fließt, zeigte sich sogar als ein sehr wohlschmeckendes Getränk, man mußte es aber aus hölzernen Bechern probiren, weil an einen Metallbecher die Lippen alsbald anfrieren würden.
Wenn nun alle festen und flüssigen Körper mit unwesentlichen Ausnahmen in die drei Zustände gebracht werden können, wie steht es nun in diesem Punkte mit denjenigen Stoffen, die unter mittleren Druck- und Temperaturverhältnissen nur im luftförmigen Zustande bekannt sind? Ist der Sauerstoff, ohne den wir keine zwei Minuten bestehen können, auch nur der Dampf eines festen Körpers? Ist selbst der dünnste und leichteste aller Stoffe, das Wasserstoffgas, mit welchem man die ersten Luftballons füllte, der Dampf eines erst bei unerhörter Kälte erstarrenden Metalles, wie das Quecksilber ein gewöhnlich flüssiges Metall? Diese Fragen sind theoretisch sehr interessant, und Diejenigen, welche überzeugt sind, daß die Gesammt-Natur von festen und unwandelbaren Gesetzen beherrscht wird, zweifelten schon lange nicht mehr daran, daß auch sämmtlichen Gasen, wie eben allen Stoffen, ihre drei Zustände zukommen. Der große Chemiker, welcher in der französischen Revolution sein Leben auf der Guillotine endigen mußte, Lavoisier, schrieb bereits vor einem Jahrhundert:
„Betrachten wir einen Augenblick, was mit den verschiedenen Stoffen unseres Erdballes geschehen würde, wenn seine Temperatur eine gewaltsame Aendernung erführe! Nehmen wir zum Beispiel an, daß die Erde sich plötzlich in eine viel heißere Region des Sonnensystems versetzt fände, in eine Gegend, wo die gewöhnliche Wärme bedeutend diejenige des siedenden Wassers überstiege, so würden bald das Wasser und alle bei ähnlicher Temperatur siedenden Flüssigkeiten, ja sogar mehrere Metalle verdampfen und Theile der Atmosphäre bilden. Wenn durch eine entgegengesetzte Wirkung die Erde sich plötzlich in sehr kalte Regionen, zum Beispiel in diejenigen des Jupiter oder Saturn versetzt fände, so würde das Wasser, welches heute unsere Flüsse und Meere bildet, sowie wahrscheinlich der größte Theil der Flüssigkeiten, welche wir kennen, sich in feste Berge verwandeln. Die Luft, oder wenigstens ein Theil der luftförmigen Substanzen, welche unsere Atmosphäre zusammensetzen, würde wegen des Mangels eines hinreichenden Wärmegrades aufhören, im Zustande einer unsichtbaren Flüssigkeit zu verharren und tropfbar flüssig werden, und dieser Wechsel würde neue Flüssigkeiten erzeugen, von denen wir heute keine Idee haben.“
Der Seherblick Lavoisier’s hat seit lange, und auf eine weniger das Menschenleben in Frage stellende Weise, seine Bestätigung erhalten. Sechs Jahre nach seinem Tode, um die Wende des Jahrhunderts, gelang es bereits den Naturforschern Monge unnd Clouët, eines jener Gase, welche sich häufig der Atmosphäre beimischen, den stechend riechenden Dampf des brennenden Schwefels, zu einer Flüssigkeit zu verdichten. Im [81] Jahre 1805 verdichtete Northmore das Chlorgas zu einer grüngelben Flüssigkeit, und dies war der erste einfache Stoff, der, bis dahin nur in luftförmiger Gestalt bekannt, in die flüssige Form gebracht wurde. In den nächsten Jahrzehnten folgten Ammoniakgas, Kohlensäure und andere Gase.
In den vierziger Jahren erregte die Verflüssigung des moussirenden Gases unserer Mineralwässer, Biere und Champagner, der Kohlensäure, großes und allgemeines Aufsehen, namentlich seitdem der französische Naturforscher Thilorier (1834) einen Apparat construirt hatte, in welchem die Verflüssigung größerer Massen leicht und schnell bewerkstelligt werden konnte. Es ist eine dem Apparate der Selterwasserfabriken ganz ähnliche Vorrichtung, die, wie dieser, aus zwei starkwandigen, durch eine Röhrenleitung verbundenen Behältern besteht, dem Generator und dem Recipienten. In dem ersteren werden durch eine brausepulverartige Mischung große Massen Kohlensäure erzeugt, die sich in dem zweiten bei mittlerer Temperatur (fünfzehn Grad) zu einer wasserhellen Flüssigkeit verdichten, sobald der Gasdruck auf fünfzig Atmosphären gestiegen ist. Natürlich erfordert dieses Verfahren, wenn es gefahrlos sein soll, einen weit über jenen Druck erprobten sicheren Apparat, wie man sie jetzt in voller Zuverlässigkeit construirt, nachdem eine schlimme Explosion, die einem Assistenten des Herrn Thilorier das Leben kostete, auf die Gefährlichkeit unzureichender Vorrichtungen aufmerksam gemacht hatte.
Man hat die flüssige Kohlensäure seitdem sehr oft dargestellt, weil sie äußerst merkwürdige und schätzbare Eigenschaften besitzt. Sie verdampft, der freien Luft ausgesetzt, so schnell, daß sie in Folge der dabei stattfindenden Wärmebindung Kältegrade erzeugt, wie man sie bis dahin noch gar nicht kannte. Läßt man einen Strahl derselben aus dem Herstellungsapparate in ein vorgehaltenes offenes Gefäß strömen, so entsteht eine Temperaturerniedrigung von achtzig bis neunzig Grad, und der nachfolgenden Flüssigkeit wird soviel Wärme entzogen, daß diese in dem offenen Gefäße zu fester Kohlensäure – einem weißen Schnee – gefriert. Was man nur schwierig mit andern Mitteln erreicht hätte, besorgt die einmal flüssig gewordene Kohlensäure selbst, als wollte sie das alte Sprüchwort bestätigen: „Nur der erste Schritt in einer Sache ist mühsam.“ Die „fixe Luft“, wie die alten Chemiker die Kohlensäure nannten, weil sie in so vielen harten Körpern – Kreide, Magnesia, Potasche, Soda etc. – festgebannt liegt, ist damit wirklich fix geworden und verdampft nunmehr in diesem neuen Zustande verhältnißmäßig langsam, nämlich wegen ihres schlechten Wärmeleitungsvermögens. Man kann sich ein Flöckchen der lockern Masse in die offene Hand legen lassen, ohne daß es schmilzt und ohne daß man eine besondere Kälte empfindet. Würde man aber mit der Fingerspitze das Flöckchen zusammendrücken, so würde man einen brennenden Schmerz empfinden, und eine augenblicklich entstehende Frostblase würde das unvergleichliche Wärmeentziehungsvermögen dieser Substanz an Ort und Stelle besiegeln.
Gießt man auf diese schneeförmige Masse eine Flüssigkeit, die sich mit derselben nicht verbindet, und an sich eine starke Kälte ertragen kann, ohne zu gefrieren, z. B. Aether, so kann man durch die beschleunigte Verdunstung dieses Breies Kältegrade erzeugen, die noch unter hundert Grad hinausgehen, namentlich, wenn man das Gemisch unter eine Luftpumpe bringt und durch schnelles Auspumpen die Verdunstung noch beschleunigt. Dieses einfache Mittel ist in den Laboratorien sehr häufig angewendet worden, um schwer gefrierbare Flüssigkeiten (wie z. B. die oben erwähnnten Spirituosen) zum Erstarren zu bringen oder ihren Gefrierpunkt für wissenschaftliche Zwecke zu bestimmen. Wenn man in einen rothglühenden Platintiegel eine Quantität jenes Breies und schnell darauf ein bis zwei Loth Quecksilber hineinschüttet, so gefriert das Letztere, wie Faraday zeigte, inmitten einer fußhoch aus dem Tiegel emporschlagenden Aetherflamme und kann bei einiger Geschicklichkeit jedesmal als fester Klumpen, wie eine Silbermünze, auf eine bereitstehende Schale geworfen werden, woselbst es allerdings in einigen Secunden wieder schmilzt. In Parenthese mag erwähnt werden, daß die flüssige Kohlensäure in den letzten Jahren von den amerikanischen Technikern Barber und Hill als das zuverlässigste Mittel zur Löschung von Schiffsbränden empfohlen worden ist. Sie verlangen, daß jedes Schiff einige Stahlflaschen voll dieser im Großen zu mäßigen Preisen herstellbaren Flüssigkeit immer mit sich führen solle, um den Inhalt durch eine verzweigte Röhrenleitung sofort in den gefährdeten Raum spritzen zu lassen. Die dort verdampfende Kohlensäure würde nicht nur fabelhaft abkühlend wirken, sondern auch die Flammen sofort ersticken, weil sie aus dem geschlossenen Raume – um den es sich bei Schiffsbränden zunächst immer handelt – die der Flamme Nahrung spendende Luft verdrängt.
Da man mit Hülfe dieser Gemische nunmehr stärkere Kältegrade erzeugen lernte, als jemals vorher, so hat man damit Gase verflüssigen und Flüssigkeiten gefrieren lassen können, welche bis dahin allen Versuchen dieser Richtung Trotz geboten hatten. Allein mit einzelnen hartnäckigen Gasarten war dies bisher trotz alledem nicht gelungen, und bis vor etlichen Wochen mußte man immer noch die Gase eintheilen in solche, die sich bezwingen lassen, und unbezwungene (coërcible und incoërcible Gase). Erst in jüngster Zeit war es dem französischen Chemiker Cailletet gelungen, einige der ausdehnungslustigsten Gase, wie das giftige Kohlenoxyd unserer Oefen, ferner den Hauptbestandtheil der schlagenden Wetter und des Leuchtgases (Methylenwasserstoff), Stickstoffoxyd und ähnliche Gase in Fesseln zu schlagen. Das letztgenannte Gas blieb noch unter dem Drucke von zweihundertundsiebenzig Atmosphären bei acht Grad Wärme, was es war, aber auf elf Grad unter Null abgekühlt, genügte ein Druck von hundertsechsundvierzig Atmosphären, um es zu verflüssigen. Im Anfange des December 1877 bestand das Häuflein der Unbezwungenen nur noch aus den drei Gasen, welche die Hauptrolle im lebenden Körper spielen: Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff. Der Sauerstoff sollte sein Kränzlein zuerst verlieren; am 3. December übergab Herr Cailletet der Pariser Akademie ein versiegeltes Schriftpaket, in welchem, wie sich nun herausgestellt hat, die Bewältigung auch dieser letzten Spröden als, wenn nicht bereits gelungen, so doch nahe bevorstehend verkündigt wurde.
Dennoch sollte ihm ein völlig unabhängig mit demselben Problem beschäftigter Chemiker, Herr Raoul Pictet in Genf, in der wirklichen Verflüssigung des Sauerstoffes zuvorkommen. Der Letztere hatte sozusagen alle Schrauben und Hebel in Bewegung gesetzt, um dieses Ziel zu erreichen. Ein mit flüssigem Schwefeldampfe (schwefliger Säure) gefüllter Cylinder wurde beständig durch eine Luftpumpe von dem verdampfenden Gase befreit (welches, von Neuem verdichtet, dem Cylinder immer wieder zugeführt wurde), um damit eine Kälte von fünfundsechszig bis siebenzig Grad Celsius in diesem Cylinder zu erzeugen. Derselbe diente nur zur Kühlung eines zweiten inneren Cylinders, in welchem feste Kohlensäure durch eine Verdampfung unter der Luftpumpe eine Kälte von hundertundvierzig Grad Celsius erzeugte. Durch diesen Raum endlich war das starke Glasrohr gezogen, in welchem Sauerstoffgas unter einem Drucke von fünfhundertundsechszig Atmosphären hindurchströmen konnte. Am 22. December, als man dieses Experiment in den Laboratorien der Gesellschaft für die Fabrikation physikalischer Instrumente zu Genf anstellte, sah man aus dem innersten mit gefrorener Kohlensäure umgebenen Rohre einen dünnen Strahl flüssigen Sauerstoffs hervortreten, als man das unter einem Drucke von dreihundert Atmosphären befindliche, stark abgekühlte Sauerstoffgas frei ausströmen ließ. Wie die Kohlensäure in dem früher beschriebenen Versuche nur durch ihre eigene Wärmebindung den zurückbleibenden Theil zum Erstarren bringt, so verflüssigte sich auch der Sauerstoff nur erst in Folge der eigenen Ausdehnung; auch er kann sich mithin rühmen, nur durch sich selber besiegt worden zu sein.
Acht Tage später, am Sylvester des scheidenden Jahres, versammelten sich in dem Laboratorium der Pariser Normalschule die berühmtesten Chemiker Frankreichs, Berthelot, Boussingault, St. Claire-Deville, Maskart und viele Andere, um der Verflüssigung der beiden letzten Gase (Stickstoff und Wasserstoff) durch Cailletet beizuwohnen. Seine Methode beruht auf denselben Principien, aber sie geht einfacher auf ihr Ziel los. Die Gase werden mittelst einer hydraulischen Presse einem Drucke bis zu dreihundert Atmosphären ausgesetzt, dabei durch verdampfende, flüssige, schweflige Säure auf neunundzwanzig Grad unter Null abgekühlt und dann plötzlich in Freiheit gesetzt. Der Apparat wurde zuerst mit Stickstoffgas gefüllt, ein Druck von zweihundert Atmosphären ausgeübt und dann, nach vollendeter Kühlung [82] des durch den Druck erhitzten Gases der Cylinder geöffnet. Man sah eine Anzahl von Tröpfchen flüssigen Stickstoffs sich bilden. Nach diesem gelungenen Versuche kam auch das Wasserstoffgas an die Reihe, und ihm als dem dünnsten und leichtesten aller Körper wurde ein noch stärkerer Druck (zweihundertundachtzig Atmosphären) zu Theil. Es bildete beim Ausströmen einen Nebel, dessen Kälte die anwesenden Gelehrten auf dreihundert Grad schätzten.
Obwohl nun Sauerstoff und Stickstoff, jeder für sich in eine Flüssigkeit verwandelt worden waren, blieb es doch nicht ohne Interesse, in einem dritten Experimente auch ihre Mischung, die atmosphärische Luft, zu einer Flüssigkeit zu verdichten. Vorher sorgsam getrocknet und von Kohlensäure befreit, entströmte sie dem Apparate als ein dünner Flüssigkeitsstrahl, vergleichbar demjenigen der mit Parfüms gefüllten Refraicheure. Der Traum der alten griechischen Philosophen von der Verwandlung des einen ihrer Elemente in das andere, die Verdichtung der Luft zu einer wasserähnlichen Flüssigkeit war hiermit erfüllt, freilich in anderer Weise, als sie es gemeint haben.
Es ließ sich erwarten, daß man bei den denkwürdigen Erfolgen des December 1877 sich nicht beruhigen würde. Schon am 11. Januar 1878 konnte Pictet an den berühmten Chemiker Dumas in Paris telegraphisch melden, daß er jenen dünnsten aller Stoffe, welchen Dumas trotz dessen seiner chemischen Eigenschaften halber vor vierzig Jahren ein gasförmiges Metall genannt hatte, daß er das einem Drucke von sechshundertundfünfzig Atmosphären ausgesetzte Wasserstoffgas als stahlblaue Flüssigkeit seinem Apparate entströmen gesehen habe. Ja dem Flüssigkeitsstrahle folgte ein Hagel fester Stücke, und die Gegenwart ähnlicher fester Körperchen ermittelte Pictet auch in einem mit elektrischem Lichte beleuchteten Strahle flüssigen Sauerstoffs, indem er ihn durch eine besondere optische Vorrichtung genau betrachtete. So ist also bald nach dem ersten Anlauf, mit der unsere Zeit charakterisirenden Schnelligkeit, das letzte Ziel auf diesem Wege erreicht worden, die Verdichtung der Luftarten zu festen Massen, mit denen Immermann’s Münchhausen einst „Luftschlösser“ bauen wollte.
Die Geschichte des Jahres 1848! Noch ist wohl der Mann mit dem weltüberschauenden Blicke nicht geboren worden, der alle Ereignisse, alle inneren Zusammenhänge dieser so wandelbaren und gewaltigen Epoche ohne jedes Vorurtheil und jede parteiische Befangenheit der Nachwelt vorzuführen vermöchte, und geleite er uns auch nur auf die hervorragendsten Schauplätze, wo ihre Schlachten geschlagen und ihre Entscheidungen bewirkt worden sind. Mehr und mehr aber tritt jetzt an die noch lebenden Augenzeugen jener Tage die Verpflichtung heran, dem zukünftigen Meister sein Werk zu erleichtern durch Aufzeichnung und Schilderung dessen, was sie damals im Strudel großer Bewegungen erlebt und mit ihren eigenen Augen gesehen haben. Die Uebertreibungen geräuschvollen und uneingeschränkten Lobes für alle revolutionären Vorgänge jener kurzen Sturmzeit sind allmählich verstummt. Statt dessen aber macht ein anderes Uebel, ein offenbares Unrecht sich breit.
Fort und fort und erst ganz neuerdings wieder bemächtigen sogenannte „conservative“ Federn sich dieses historischen Gebiets mit einer Manier vornehmen Absprechens, um die Ideen des Volksrechts und der Freiheit dafür verantwortlich zu machen, daß sie auch ihre Kinderjahre gehabt und nicht gleich im Zustande voller Reife zur Welt gekommen sind. Und doch liegt nun fast ein Menschenalter zwischen dem Heute und jener Periode. Ohne Haß und Parteileidenschaft kann jeder denkende Patriot vom gesicherten Boden aus auf jene März- und Sommertage zurückblicken, die einen so schweren und tiefen Ernst hinter vielfach unreif erscheinendem Spiele bargen, in denen neben noch unabgeklärt gährenden Bewegungen unzweifelhaft große Gedanken des Volksgeistes zu endlichem Durchbruch kamen, aus denen nicht mehr und nicht weniger als Alles entsprossen und zur Entfaltung gekommen ist, was unsere Nation seitdem auf mächtigem Leidens- und Siegeswege errungen hat.
Stehen sie denn nicht heute verwirklicht vor uns, die Hauptideale jener Märztage: ein einiges, im Innern freies, nach außen starkes Deutschland unter der schirmenden Führung eines preußischen Heldenkönigs? Flattert das deutsche Banner nicht auf dem Münster von Straßburg, schützt nicht die deutsche Flotte, ein eiserner Gürtel, die Gestade der Nord- und der Ostsee? Wahrlich, eine Zeit, welche die Saat gestreut und den Keim gepflanzt hat für so gewaltige Errungenschaften, die im harten Zusammenstoße mit früheren Mächten zuerst muthig den Kampf zur Verwirklichung des heute erreichten Zieles geführt, eine solche Zeit sollte wohl eines lebhaften Interesses bei dem jetzigen Geschlechte gewiß sein, dem die Früchte der heißen Arbeit von 1848 endlich in den Schooß gefallen sind. Und so mögen denn die nachfolgenden kleinen Skizzen sich an das Licht des Tages wagen, Niemandem zu Liebe und Niemandem zu Leide, nur ein Spiegelbild dessen, was der Schreiber gesehen. –
Durch die Märzunruhen war in Berlin der Würfel gefallen. Das Ungeheure ist gewagt worden. Zu den Waffen hat der von Natur und Beruf so friedliche deutsche Bürger gegriffen, zu den Waffen der Empörung, aber erst nach langen, langen Jahren des Harrens, der langathmigsten Geduld des „beschränkten Unterthanenverstandes“. Fast erschreckt blickt er nun auf die eigene That, deren weltgeschichtliche Bedeutung er ja in diesem Augenblicke fiebernder Erregung noch nicht zu überschauen vermag. Zu den Waffen hat er gegriffen gegen das verhaßte System politischer und religiöser Bevormundung, wie es in den sogenannten vormärzlichen Tagen, im Widerspruche mit den Forderungen der Zeit und der Bildung des Volkes, gewaltsam sich aufrecht erhalten hatte. Und lagen auch diese Motive nicht überall klar entwickelt vor dem Bewußtsein, sie wirkten instinctartig, mit der Nothwendigkeit und Folgerichtigkeit des „Unbewußten“. In Bezug auf das, was zunächst erreicht werden sollte, bewegte nur ein Gefühl und ein Gedanke die ungeheueren, sonst durch Bildungstufe und Lebensstellung weit getrennten Massen: Kampf auf Tod und Leben mit der bewaffneten Militärmacht, die zum Schutze des Staates gegen äußere Feinde von dem steuerzahlenden Bürger erhalten wurde und die nun, ihrem Berufe zuwider, als Träger und Stütze eines veralteten und erstarrten, allgemein verhaßten absolutistischen Regierungssystems sich zwischen Thron und Bürgerthum zu drängen schien.
Das war unzweifelhaft die Stimmung des neu anbrechenden Tages, wie sie seit den Märztagen für die nicht nach entlegenen Gründen forschende, sondern nur aus den unmittelbar vorliegenden Thatsachen schließende Logik des Volkes mit voller Bestimmtheit sich herausgebildet hatte. Standen nicht in der verhängnißvollen Mittagsstunde des 18. März die Truppen vor dem königlichen Schlosse, wie eine unnahbare und eisige Schranke, zwischen den Bürgern und ihrem König, eng als eiserner Gürtel um die Hohenzollernburg geschmiedet? Und als über diese Eisbarre hinweg vom Balcon des Schlosses herab den auf dem Schloßplatze versammelten Bürgermassen königliche Zusagen gemacht wurden für eine Neugestaltung der Dinge, vom Balcon herab aus hohem Munde vielverheißende Worte des Friedens und der Versöhnung erklangen, als nun die unendliche Freude in tausend und aber tausend Bürgerherzen zu stürmischem Jubelruf sich hingerissen sah, dieser Jubelruf in gewaltigen Wellen jenen weiten Raum von der Stechbahn bis zu dem ehernen Kurfürsten, von der ehrwürdigen Burg bis nach dem Petri-Platze hin durchwogte – war es Zufall, war es Verhängniß, war es „unseliges Mißverständniß“, daß gerade in diesem feierlich erhabenen Augenblick jene eiserne Mauer sich vorwärts schob mitten in die waffenlose, von Begeisterung, Liebe und Freude erglühende Volksmenge? Daß wiehernde Rosse vorwärts stampften, daß geschwungene Säbel zu wuchtigem Schlage ausholten, daß endlich jene ominösen „zwei Schüsse“ erdröhnten, der dunkle Punkt, das ungelöste Räthsel in dem Vorspiel der Märztragödie? – Unseliges Mißverständniß, verderbenschwangerer Zufall! Den [83] Boden Berlins hat er mit Blut getränkt, vielhundertfachen Tod gesäet, viel tausend Wunden geschlagen.
Höher und höher, von milden Frühlingswinden umfächelt, steigt die Sonne des 19. März am unbewölkten Himmel empor und beleuchtet grell den Schauplatz der Empörung und Zerstörung. Durch Waffenstillstand für den Augenblick im Zaum gehalten, jedoch zu neuem, wilderem Kampfe bereit, stehen die Söhne Eines Vaterlandes, Grimm und Haß im Busen, wie zwei feindliche Brüder sich gegenüber. Und die Zunge in der Wage von Preußens Geschick steht still: hier die blutgefüllte Schale, dort die Schale des Friedens. Mit banger Erwartung und fiebernder Ungeduld wenden sich Aller Blicke nach dem stolzen Königshause zu Köln an der Spree, wo die Entscheidung in den Händen eines Mannes liegt, dessen Rachen aus „der Schönheit und des Wissens stillem Schattenlande“, aus dem mondbeglänzten träumerischen See in das sturmgepeitschte wilde Meer des Lebens gerissen, halt- und steuerlos zu schwanken begann. Aller Augen sind nach dem Schlosse gerichtet - da schnellt die blutgefüllte Schale hoch empor, und blitzesschnell von Mund zu Mund bis in die entfernteste Hütte getragen, ertönt das Wort: Ich will Frieden haben mit meinem Volke.
Es war gegen neun Uhr Morgens, als die Truppen die Ordre zum Abzuge empfingen. Nicht als Sieger, doch unbesiegt, dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorsam, scheiden sie von dem Schauplatze eines Kampfes, in dem für sie kein Lorbeer zu pflücken war. Und hätten die Krieger, wie es ja vielleicht in ihrer Macht lag, mit gewaltiger Faust den Aufstand niedergeschlagen, hätten sie über Blut und Leichen, über dem eingeäscherten Berlin ihr Banner aufgepflanzt - war hier Lorbeer zu ernten, war hier Ehre zu mehren?
In ernstem und düsterem Schweigen sehen wir die Colonnen sich ordnen und zum Brandenburger Thor hinausrücken hier links nach dem Potsdamer Thor abschwenkend. Manches Knie, mancher Arm zittert, doch nicht vor körperlicher Schwäche, krampfhaft umklammert die festgeschlossene Hand das Gewehr, fest drückt sich Lippe auf Lippe, und sogar Thränen, große Thränen rollen aus manchem gesenkten Soldatenauge. Dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorsam, haben sie die schwere Schlacht geschlagen gegen die Brüder in der Hauptstadt, dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorsam, kämpfen sie jetzt den schwereren Kampf, den Kampf der Selbstverleugnung. Gedemüthigter Stolz, gekränktes Ehrgefühl bäumen sich ohnmächtig auf gegen die höhere, die höchste Pflicht: die deutsche Mannestreue. Und die Weltgeschichte ist gerecht. Wie sie jede Ueberhebung, jeden Frevel endlich doch noch rächt, so sühnt sie endlich auch jede unverdiente Schmach. Die damals mit umwölktem Blicke dem gegen sie empörten Berlin den Rücken gewendet: die Garden, die Brandenburger, die Lausitzer und Pommern - noch ahnten sie nicht, daß aus jener Saat des Blutes und der Schmerzen ihnen dereinst eine Ernte des herrlichsten Ruhmes ersprießen würde. Noch leuchtete vor ihrem umflorten Auge nicht das Zukunftsbild, die Victoria, aus dem hohen Siegesdenkmal über den Eichen des Thiergartens schwebend. Dieselbe Straße, die sie damals so traurig gewandelt, sie schmückte sich später für sie wie eine Braut in frischer Blumenpracht mit unverwelklichen Kränzen, vom begeisterten Danke der Hauptstadt den Ueberwindern von Alsen, den Siegern von Sadowa, den Helden von Sedan gewunden - die damalige Marterstraße verwandelt zur stolzesten Triumphbahn die je eines preußischen, eines deutschen Kriegers Fuß durchschritten hat.
Ewig denkwürdig wird jedem Augenzeugen der Anblick Berlins nach jenem Abzuge der Truppen bleiben. Wie nach geöffnetem Wehre der gehemmte Gießbach donnernd und schäumend in das in die Felsen gegrabene Bett hinabstürzt, so wälzte sich nun in unbeschreiblichem Wogen und Tosen die Volksmenge über die Barricaden und brauste in neuen, immer neuen Massen aus allen Vierteln Berlins dem Schlosse zu. Von der Königsstraße her, vom Hake’schen Markte, vom Petri-Platze, aus der Friedrichs-, aus der Dorotheen-Stadt ziehen langgestreckte, ganz unübersehbare Reihen heran, Verwundete und Sterbende tragend, um sie im Souterrain und in den Prunksälen des Schlosses zu betten, wohin ein Frauenherz voll Sehnsucht nach Versöhnung sie ruft, wo liebevolle Pflege ihrer wartet. Doch voran, noch erhitzt von dem Kampfe, nicht gewöhnt an Selbstbeherrschung, an Zähmung der einmal zur Wildheit entfesselten Leidenschaften, trunken, zu jeder Gewaltthat, zu jeder Rohheit ohnehin stets allzu bereit - voran stürmt unter wildem Gejauchze, in chaotischem Getümmel der Pöbel, die Hefe jeder Hauptstadt, jene Hefe der Menschheit, die ja leider noch im Schooße aller dicht bevölkerten Orte unter äußerem Glanze und Firnisse pestaushauchend den unheimlich dunklen Untergrund der Gesellschaft bildet und bei jedem die Tiefen aufwühlenden Sturme auf die Oberfläche gespült wird. Mit Blut bespritzt, Mordwerkzeuge jeder Art, neben Feuerwaffen verschiedener Construction Aexte und andere Eisenwerkzeuge, riesige Stangen mit Bajonnet und Sense, mit Zinken und Haken, Rappiere und Säbel, kurz, das mannigfaltigste Gewaffe aus der Urväter Hausrath in schwieligen Händen schwingend, bekleidet mit verschlissener Joppe, mit zerrissener Blouse, mit erbeuteten Uniformstücken, gräßlich verstümmelte Leichen mit sich schleppend, so rückt näher und näher dieser entsetzliche Vortrab. Und schon hat der wirre und wüste Haufen das Schloß erreicht und umzingelt, schon ergießt er sich vom Lustgarten, vom Schloßplatze aus in die hochgewölbten Portale.
Warum aber stockt plötzlich die reißend schnelle Bewegung der Menge, warum staut sich der entfesselte Strom? Verstummt auf eine Secunde ist das ohrzerreißende grausige Getöse; Niemand will glauben, was er sieht, wie auf ein Trugbild starren die zweifelnden Blicke. Doch nur einen Augenblick - und vorwärts drängen die Massen, ein wildes Gekreisch aus tausend und aber tausend Kehlen, Wuth- und Hohngeschrei durchschrillt, von dem Gewölbe zurückgeworfen und in den inneren Höfen des Schlosses verhallend, unheilkündend die Lüfte.
In der Passage des Schlosses, nach dem Schloßplatze zu, vor der großen Treppe, die nach den Gemächern führt, in denen die königliche Familie weilte, stand, Gewehr bei Fuß, in zwei Reihen geordnet, die Schloßwache vom Kaiser Franz Grenadierregiment, von einem Premierlieutenant befehligt, einem „Jüngling, näher dem Manne“, der später und noch bis vor kurzer Zeit als General eine einflußreiche Stellung bekleidete. War bei der Ueberstürzung, der überwältigenden, schnellen Aufeinanderfolge der Ereignisse während des Abzuges der Truppen die Ablösung der Wache übersehen und vergessen worden? Oder verstieg sich die Verblendung, der Wahnwitz irgend eines subalternen Geistes bis zu dem Grabe, die verkehrteste aller Maßregeln anzuordnen, die in diesem Augenblicke denkbar war?
Mag dem sein, wie ihm wolle: die Thatsache bleibt dieselbe. Nicht abgelöst, ohne jegliche Ordre standen die letzten dreißig Mann der Berliner Garnison vor der Treppe, die zu den Gemächern des Königs führt, und in hochfluthender Brandung stieß nun auf diese kleine Schaar die leidenschaftentflammte, von blutigem Kampfe noch glühende, dem allerrohesten Haufen angehörende Masse. Ein Tropfen Blutes an dieser Stelle, in diesem Augenblicke vergossen - kaum auszudenken ist die Kette der ungeheueren Folgen, welche dann ganz nothwendig hätten eintreten müssen. Und das Bewußtsein der schweren Verantwortlichkeit, die ein fürchterliches Verhängniß auf seine Schultern gewälzt, prägte sich aus in der entschlossenen energischen Haltung, der gewaltsam erzwungenen Ruhe jenes commandirenden jungen Officiers. Regungslos wie eine Bildsäule stand er da, regungslos seine kleine Mannschaft. Auszuharren auf dem ihm anvertrauten Posten heischt das Gesetz, befiehlt ihm die Pflicht, gebietet ihm die Ehre, und auszuharren war er gewillt bis zum letzten und äußersten Moment. Die düster zusammengezogenen Brauen, das entschlossen blitzende Auge sprachen eine nicht mißzudeutende Sprache: nicht als Lebender wird er ohne Ordre seiner Vorgesetzten vom Platze weichen; nur über seine Leiche geht der Weg.
Einem gewaltig tragischen Loose scheint das Geschick den Pflichtgetreuen weihen zu wollen. Stürzte die drohend und durch den Nachschub immer drohender anschwellende und andrängende, von den edleren Elementen der Bürgerschaft wenig oder kaum durchsetzte, geschweige denn geleitete Rotte auf ihn und seine kleine Schaar, so durfte er diesem feindlichen Angriffe nicht tapfere Gegenwehr entgegen stemmen, nicht in männlichem Kampfe sein Leben theuer verkaufen - morden, ruhmlos hinschlachten mußte er sich lassen, ohne nur die Hand zum Widerstande regen zu dürfen, wenn er nicht die von Neuem entfesselte Furie zu sinnloser Wuth, zu den entsetzlichsten Thaten [84] reizen wollte. Stand er doch an den Stufen des Thrones – eine landläufige Phrase, die hier zur prägnantesten, inhaltsschwersten Wahrheit und Wirklichkeit ward in des Wortes verwegenster Bedeutung. An den Stufen des Thrones stand er im Vollbewußtsein der auf ihm lastenden Aufgabe, mit klarem Blicke die verhängnißvolle Situation überschauend. Doch wird das dem Vaterlande in einem schrecklichen Momente dargebrachte Opfer nicht vergebens gebracht sein? Wird die kleine ihm untergebene Schaar sein Beispiel zum Muster nehmen, sie, die ohne umfassenden Ueberblick über die furchtbar nahe Katastrophe nur dem natürlichen Instincte, dem von den Umständen ausgehenden Anstoße zu folgen bereit, nur allzu bereit erscheint? – Und näher, immer näher rückt der entscheidende Augenblick.
Mit Schimpf- und Schmähreden der rohesten Art, mit pantomimischen und handgreiflichen Insulten wird der Soldat überschüttet, gehöhnt und gereizt. Ein Kerl mit einer Drehorgel, confiscirten Gesichts, zerlumpter Kleidung und zerlappter Befilzung, pflanzt sich dicht vor den Lieutenant und intonirt mit kläglichem Gezeter: „Ach, du lieber Augustin – Alles ist weg – Alles ist weg.“ Dem stürmischen Ausbruch höllischen Gejodels und Gejubels folgen minder harmlose Herausforderungen: „Haut ihnen die Helme herunter! Hinaus mit den Tagedieben! Nieder mit den Mordgesellen!“ Und den Drohungen folgt endlich die That. Ein Mensch von athletischem Körperbau, mit rußigem Antlitz und blutender Armwunde, seines Zeichens ein Schlosser oder Schmied, springt aus dem immer enger, immer unentwirrbarer sich schürzenden Knäuel hervor und führt mit hochgeschwungener Eisenstange einen gewaltigen Schlag auf den Helm eines Grenadiers. Der Getroffene wankt, hält sich aber mannhaft aufrecht. Die Gewehrkolben rasseln auf den steinernen Quadern; ein unheilschweres Gemurmel pflanzt sich fort durch die Reihen der Soldaten – doch ein Blick auf den Officier, und vor eiserner Disciplin sich beugend, steht Gewehr bei Fuß, straff und stramm und lautlos die Schaar. Von diesem passiven, jedenfalls als Furcht gedeuteten Widerstande mehr und mehr zu Uebermuth, zu frecher Gewaltthat aufgestachelt, schreitet die hier ganz sich selber überlassene, jeder verständigen und humanen Führung entbehrende Pöbelrotte zu gemeinsamem Angriff. Doch nicht von den Waffen macht sie Gebrauch, die vielgestaltig in Aller Händen blitzen; es waltet doch ein dumpfes Gefühl in diesen Menschen von der ehrlosen That, nach Schluß des Friedens mit ungeheurer Uebermacht den ruhig dastehenden Gegner vergewaltigen zu wollen. Aber zu derjenigen Waffe greifen sie, die der Straßenbube zur Hand nimmt, um sich in Verlegenheiten Luft zu machen: Ein Hagel von Steinen, nicht gerade großen Calibers, prasselt auf die Soldaten. Er richtet nicht viel Unheil an. Doch ein gewaltiger Prellstein rollt über den Estrich und trifft und zerquetscht den Fuß des Officiers. Von grimmem Schmerze übermannt, taumelt er zurück; einer Ohnmacht nahe – die Natur ist stärker, als der heroische Wille – lehnt er sich, der Stütze bedürftig, an eine Sandsteinsäule, um nicht haltungslos zusammenzubrechen. Und die Grenadiere? Helllodernder Zorn zerbricht den Hemmschuh militärischen Ordreabwartens; ohne Commando, doch wie auf Commando avanciren, ihren Führer deckend, die Reihen. Es erheben sich die Flinten, es knacken die Hähnen an die Schulter fliegen die Kolben – noch ein Augenblick, und im Innern des Schlosses, an den Stufen des Thrones entzündet sich die wilde Gluth des gräßlichen Kampfes, dessen Ausgang kaum zweifelhaft war, dessen Folgen für Preußens Geschicke unübersehbar sein mußten.
Da – in dem Moment der höchsten, der äußersten Noth löste ein glücklicher Zufall friedlich den auf die Spitze getriebenen Conflict. Mit raschem, dröhnendem Schritte naht von der Kurfürstenbrücke her eine zahlreiche Colonne neu bewaffneter Bürger, schwenkt in das Portal und schiebt sich wie ein Keil zwischen die kampfbereiten Parteien. Es war dies die erste That der Berliner Bürgerwehr; der bürgerliche Liberalismus trat auf den Schauplatz und bewährte seinen unbeugsamen Ordnungs- und Edelsinn. Fast gleichzeitig mit diesen Rettern traf die Ordre ein zum Abzuge „der Letzten vom Regiment“. Die Geschichte jener Tage blieb mithin davor bewahrt, mit blutigem Griffel auch den Morgen des 19. März in ihren Annalen zu verzeichnen.
Mit dem Scheiden dieser „Letzten vom Regiment“ schloß sich das Grab über der alten Zeit; die Aera thatkräftigen Ringens, freier staatlicher Entwickelung begann. Mit neu erstarktem Selbstgefühl, mit stolzfreudigem Blicke in eine sonnenhelle Zukunft schaart sich, wachhaltend, um die Stufen des Thrones – die erste Bürgerwehr.
Es war gegen Ende vorigen Jahres, als mein Töchterchen ganz erregt aus der Schule zurückkehrte und ausrief: „Papa, der Tafelständer in unserer Schule läuft im Zimmer umher und sogar sammt der darauf gestellten Tafel, wenn man ihn nur mit den Fingern berührt.“
Ich lächelte zuerst ungläubig über diese Mittheilung, ließ mich aber doch bestimmen, die Sache selbst anzusehen, und siehe da, es verhielt sich in der That so, wie mir erzählt worden war. Der betreffende Wandschultafelständer bestand in einem gewöhnlichen staffeleiartigen Gestell aus weichem Holze, circa zwei Meter lang und ein Meter breit und hatte nach rückwärts keinen dritten Fuß, weil das Gestell nur dazu diente, mittelst desselben die große Schultafel an die Wand anzulehnen. Wie mir mitgetheilt wurde, hatte eine Schülerin den leeren Ständer von der Wand weggerückt, als sich derselbe unter der Berührung plötzlich in Bewegung setzte und gegen das vor Schreck zurückweichende Kind vorwärts rückte, bis dieses das Gestell voll Angst fallen ließ und davon lief. Ich machte nun den Versuch ebenfalls, indem ich den Tafelständer ungefähr in der Mitte seiner Länge und unter einer Neigung nach rückwärts von zehn bis fünfzehn Grad mit der Verticalfläche mit den Fingerspitzen an beiden Seiten nur so weit unterstützte, daß er nicht umfallen konnte und die obige Neigung beibehielt. Sofort gerieth das Gestell, nachdem ich ihm vorher auf der einen Seite einen ganz leichten Anstoß gegeben, in rasche pendelartige Schwingungen und bewegte sich, indem sich die Füße abwechselnd hoben und senkten, unter einem klopfenden Geräusche vorwärts. Der leiseste Druck der aufgelegten Fingerspitzen rechts oder links genügte, um den wandelnden Ständer willkürlich eine Schwenkung nach der einen oder andern Richtung machen zu lassen oder ihn nach Belieben im Kreise umherzuführen. Die Bewegung dauerte unausgesetzt so lange fort, wie der Rahmen in der angegebenen Neigung unterstützt blieb und kein besonderes Hinderniß. z. B. ein Nagel, Holzstückchen etc. oder die zu große Unebenheit in den Fugen des Fußbodens sich hemmend entgegenstellte.
Da mich diese jedenfalls auffallende Erscheinung, welche bei der Sensation, die sie in unserer Stadt erregte, noch von vielen Anderen ebenso hervorgerufen und beobachtet wurde, sehr interessirte, so ließ ich ein zweites solches Gestell mit einigen Abänderungen anfertigen, und ich hatte die Genugthuung, daß dasselbe noch besseren Dienst leistete und in der Minute gegen dreihundert Schwingungen machte, wobei es in dieser Zeit mit einem Geräusche, wie es ein auf dem Zimmerboden einherrollender Kinderwagen verursacht, um über anderthalb Meter vorrückte.
Bei einem weiteren Experimente verband ich die beiden Seitentheile des Ständers durch eine Schnur, in deren Mitte ich eine andere, über die ganze Länge des Locals reichende Schnur anknüpfte und letztere horizontal in der geeigneten Höhe, um die richtige Neigung des Gestelles zu unterhalten, mit ihrem Ende über eine Rolle führte, an dem ein entsprechend schweres Gewicht angehängt war. Wurde nun denn in dieser Weise unterstützten Rahmen ebenfalls ein leichter Anstoß gegeben, so kam er ohne alles weitere Dazuthun in dieselbe Bewegung, welche so lange andauerte, bis das Gewicht durch das Nachrücken des Ständers abgelaufen war und auf dem Boden aufsaß.
So viel ich weiß, ist die oben beschriebene physikalische Erscheinung
[85] anderwärts noch nicht beobachtet worden, und ich wollte mir deshalb nicht versagen, in weiteren Kreisen darauf aufmerksam zu machen. Wie ich die Sache als Laie erkläre, so ist nach technischem Ausdrucke die „federnde“ Construction des Gestelles, in Verbindung mit der ihm gegebenen Neigung besonders geeignet, Vibrationen zu erzeugen, welche durch die kleinen Unebenheiten des Fußbodens fortgesetzt und abwechselnd von dem einen auf den anderen Schenkel des Rahmens übertragen werden, während das Fortrücken selbst nach dem Gesetze des Parallelogramms der Kräfte geschieht. Wie weit die Verhältnisse des Rahmens verändert werden können, um denselben Effect oder noch mehr zu erreichen, müßten weitere Versuche darthun. Diese aber, sowie die wissenschaftliche Begründung, will ich Competenteren, als ich bin, überlassen.
Ohne Zweifel läßt sich annehmen, daß durch diesen einfachen Apparat, den ein glücklicher Zufall geschaffen hat, für die rein mechanische Wirkung des Tischrückens, das ja seiner Zeit die absurdesten Auslegungen hervorgerufen hat, und ebenso für anderen Hokuspokus, wie er beinahe unglaublicher Weise noch jetzt von einem Slade und den Spiritisten getrieben wird, die natürlichste und anschaulichste Erklärung gegeben ist.
Es würde mich freuen, wenn sich die auch den Unterrichteten überraschende Kraftäußerung, wie sie der oben bezeichnete Apparat hervorbringt, vielleicht in irgend einer Weise für Theorie oder Praxis verwerthen ließe, und ich bin deshalb mit Vergnügen bereit, allen Denen, welche sich für die Sache interessiren, den gleichen Apparat, wie ich ihn besitze, herstellen zu lassen.
Nachschrift der Redaction. Wir haben vorbeschriebenes Experiment mittheilen wollen, weil es besonders klar zeigt, wie leicht den Herren Geistern durch einfache physikalische Gesetze die Möbelinspirationen oftmals gemacht werden. Die Erklärung ist natürlich sehr einfach. Wenn ich ein Brett schräg gegen die Wand lehne, so rutscht es unten nach vorwärts, während es hinten an der stützenden Wand herabgleitet. Wenn ich aber jenes Fallen immer wieder durch Höherheben der rückwärts liegenden Theile ausgleiche, so kann ich das Brett wer weiß wie weit rutschen lassen, namentlich wenn ich die Rutschfläche geglättet oder mit zwei Rollen versehen habe. Ueber einen so „einfachen Zauber“ würde sich nun freilich Niemand wundern, und doch geschieht dabei im Wesentlichen dasselbe, wie bei dem wandelnden Tafelgestell, bei welchem die Mitwirkung der Rollen dadurch erspart wird, daß man eine abwechselnde, pendelnde Bewegung der beiden Füße begünstigt, wodurch die Schultafel in die Lage versetzt wird, ihren kleinen zweifelhaften Verehrern förmlich nachzulaufen, wie jene „wandelnde Glocke“ in dem bekannten Goethe’schen Gedichte. Es kann sich durch diese pendelnde Bewegung der linke und der rechte Fuß abwechselnd etwas vorschieben, und so kommt, während sich der Schwerpunkt der Erde zu nähern sucht, ein förmliches Gehen zu Stande, wie beim Menschen, dessen Laufen ja auch ein beständiges Fallenlassen und Wiederaufraffen ist, nur daß es in letzterem Falle nach vorwärts geschieht.
Was das Tischrücken betrifft, so hat bekanntlich der große englische Physiker Faraday seiner Zeit durch besonders construirte Kraftmesser gezeigt, daß dasselbe durch völlig unbewußt ausgeübten und doch sehr wenig ätherischen Muskeldruck hervorgerufen wird, der sich mit der Länge der Sitzung bei einer kleinen Gesellschaft bis zu Centnern steigert, während schon ein richtig verwendeter Druck von zehn Pfund unter Umständen genügt, den Tisch durch ein großes Zimmer zu schieben. Es ist mißlich, solche Versuche immer von Neuem erwähnen zu müssen, aber der geneigte Leser darf sich versichert halten, daß nach den Ergebnissen der vor dreißig Jahren veröffentlichten Versuche Faraday’s die Thatsache, daß ein richtig behandelter Tisch nicht rückt, viel erstaunlicher ist, als wenn er Sturm läuft. Die fliegenden Tische sind natürlich immer Betrug und werden jetzt sehr häufig von unseren herumreisenden Taschenspielern gezeigt. In der Regel handelt es sich dabei nur darum, daß das Medium, während es die Hände ganz leicht aufzulegen scheint, aus den unteren Theilen der Rockärmel ebenso zurückschnellende Tragbügel unter die Tischkante springen läßt, um so den Tisch zum blassen Schrecken aller Gläubigen höchst graziös an seinen Fingerspitzen kleben zu lassen.
In dem Zimmer waren drei Gesichter erbleicht: das des Schloßherrn, das seines Bruders Kurt und das der Schloßherrin. Dunkle Röthe deckte dagegen die Wangen Ottokar’s. Er hatte einen Entschluß gefaßt, der sofort zur That werden sollte.
„Bannhart,“ befahl Ottokar dem alten Wachtmeister, „laß’ auf der Stelle die Fenster mit den Laden verschließen! Dann haltet Euch hier Alle ruhig und verlaßt nicht das Zimmer, was auch draußen sich ereignen möge! In wenigen Minuten müssen meine Husaren hier sein, und bis zu ihrer Ankunft dringt keiner jener Rebellen in das Innere des Schlosses; denn so lange leisten Mauern, Thore und Fenster ihren Angriffen Widerstand.“
Der alte Bannhart hatte das Zimmer schon verlassen, den ihm gewordenen Befehl zu vollziehen, und der Rittmeister war im Begriff ihm zu folgen. Der Schloßherr und Baron Kurt waren leichenblaß geworden, die Gefahr, die wie eine Bombe in der nächsten Secunde losplatzen und Alles in ihrer Nähe zerschmettern konnte, hatte Beiden die Gedanken völlig geraubt. Noch einen Blick, ehe er sich entfernte, richtete Ottokar von Waltershausen auf seine Schwägerin. Ihr Antlitz war blutleer, und als er sich rasch wieder abwenden wollte, war sie schon an seiner Seite.
„Ottokar, was hast Du vor?“
„Ich muß meine Anordnungen zum Schutze des Schlosses treffen.“
„Unglücklicher –!“ Sie stockte. „Bleibe, Ottokar!“ bat sie.
„Ich muß auf meinen Posten.“
„Nein, nein – wohin Du willst, da ist nicht Dein Posten.“
Sie hatte seine beiden Hände gefaßt, als ob sie ihn mit Gewalt halten wollte, die schwache Frau den starken Mann.
„Ich beschwöre Dich – bleibe bei uns, bei mir!“ bat sie dringender und unter Thränen.
„Emma!“ rief er.
„Ich beschwöre Dich,“ flehte sie noch einmal.
„Ich darf nicht, Emma. Ich muß auf meinen Platz. Ich darf nicht feige sein. Es gilt meine Ehre.“
„Ja, ja!“ sagte sie. „Es gilt Deine Ehre, und die – ach, ich Unglückliche!“ brach sie schluchzend ab und ließ seine Hände los.
„Lebe wohl!“ rief er, indem er das Zimmer verließ.
Die Schloßherrin fiel erschöpft, einer Ohnmacht nahe, auf einem Fauteuil nieder.
„Mein Gott, Adalbert,“ rief der Baron Kurt dem Bruder zu, „was ist mit Emma geschehen? Sie liegt da wie eine Ohnmächtige.“
„In der That!“ sagte überrascht der Baron. „Rufe ihre Kammerfrau herbei! Ich werde bei ihr bleiben.“
Der Baron Kurt eilte fort.
Ottokar von Waltershausen war inzwischen in’s Treppenhaus gelangt, eine hohe, weite Halle. Er schritt zu dem großen Portal, welches, obwohl von festem, starkem, überall mit Eisen beschlagenen Eichenholz, dennoch von innen mit einer Barricade versehen war. Zur Seite des Portals befand sich ein schmales, niedriges Pförtchen, eine Art Nothpforte für den Portier bei besonderen Gelegenheiten. Es war stark und fest, wie das Hauptthor, aber noch nicht verbarricadirt, bei einem etwaigen Angriff konnte es indessen in wenigen Minuten stärker befestigt werden.
Dieses Pförtchen ließ der Rittmeister sich öffnen. Der Portier
[86] sah ihn erst verwundert, dann erschrocken an, als der Befehl wiederholt wurde.
„Sie allein, gnädiger Herr?“
„Oeffne nur, alter Thomas!“
„Aber die Bauern sind in Zorn und Wuth.“
„Ich werde schon mit ihnen fertig werden.“
Der Portier gehorchte dem entschiedenen Befehle.
Es waren noch mehrere Diener in der Halle, alte, treue Untergebene des Hauses. Alle liebten und verehrten sie den braven Ottokar, der ebenso vornehm wie leutselig, ebenso tapfer wie human war.
„Bleiben Sie, gnädiger Herr! Begeben Sie sich nicht in die Gefahr!“ baten sie.
„Seid unbesorgt um mich! Ich thue meine Pflicht. Dafür bin ich Soldat.“
Der Portier hatte aufgeschlossen.
„Daß Keiner mir folgt!“ mahnte der Rittmeister. „Das Pförtchen verschließest Du hinter mir!“ befahl er dem Portier.
Er war draußen im Schloßhofe, und Keiner war ihm gefolgt, denn der Portier hatte hinter ihm die schmale, niedrige Pforte verschlossen, wie er befohlen. Die Zurückgebliebenen hatten keinen Blick nach außen, aber um so gespannter horchten sie.
„Er ist verloren,“ flüsterten sie, „sie sind mit Flinten und Büchsen bewaffnet, und ihre Kugeln bestreichen den ganzen Platz. Jeden Augenblick kann das Gitter eingerannt werden. Was er nur vorhat, er allein, der brave Herr? Muth hatte er immer, aber warum er sich wohl in diese Gefahr begiebt?“
Etwa hundert, vielleicht über hundert Bauern hielten das große Hofthor mit dem Gitter zu seinen beiden Seiten belagert. Sie waren mit ihren Hebebäumen beschäftigt, das Thor einzurennen, und versuchten an anderen Stellen, das Gitter zu sprengen. Bisher waren ihre Bemühungen fruchtlos geblieben; Thor und Gitter waren noch überall unversehrt, und noch Niemand hatte in den Schloßhof zu dringen vermocht.
„Die Leitern her!“ riefen einzelne Stimmen.
„Noch nicht!“ entgegneten andere. „Die durch den Park kommen, müssen erst da sein.“
„Der Hof ist ja leer,“ riefen jene wieder. „Wir können es wagen.“
„Nein, es ist gegen die Abmachung,“ war die Antwort.
Der Rittmeister hörte Rede und Gegenrede, während er durch das Schloßportal schritt.
„Sie haben einzeln keinen Muth,“ sagte er sich. „Nur die Massen wollen sich voranwagen. Die Elenden!“
Er trat in den Hof hinein – er, der Einzelne, hatte den Muth. Und es war seltsam, wie sein plötzliches Erscheinen auf die Menge wirkte. Er war plötzlich da, er war ruhig, langsam vorgetreten, nur zehn Schritte weit, und dann machte er Halt und schaute sich nach der Menge um. Der Säbel an seiner Seite war seine einzige Waffe, aber die kühn blitzenden Augen, die sorglose Haltung des schönen stolzen Mannes zeigten, daß er an die Waffe nicht dachte. So stand er da, so sah ihn die Menge, und wie sie ihn so sah, standen sie Alle stumm und regungslos.
„Die Elenden!“ sagte er sich noch einmal, und ein Blick der Verachtung begleitete seine Worte. Er schritt dem Thore näher – die Bauern blieben stumm und unthätig, und es war, als ob sie ihn erwarteten. Sie erwarteten ihn in der That, und er war darauf vorbereitet.
„Was hat Euch hierher geführt, Ihr Männer?“ fragte er. „Was sucht Ihr hier und was wünscht Ihr?“
Seine Stimme klang ruhig und furchtlos.
Sie sahen sich unter einander an. Einer nahm dann das Wort: „Wir wollen unsere Rechte haben. Wir wollen frei sein.“
„Frei ist,“ erwiderte Ottokar von Waltershausen, „wer die Gesetze ehrt und die Rechte seiner Mitbürger achtet.“
„Wir wollen andere Gesetze. Gesetze, nach denen auch wir Rechte haben.“
„Andere Gesetze? Sind die hier in diesem Schlosse für Euch zu finden?“
„Wir wollen keine Leibeigene des Gutsherrn mehr sein.“
Ein schmerzliches Lächeln durchflog das schöne, muthige Gesicht des Freiherrn.
„Ah, dafür seid Ihr die Leibeigenen eines gemeinen Betrügers und Fälschers geworden, der im Zuchthause saß.“
Der Bauer, der bisher geredet hatte – es war ein alter Mann – schwieg beschämt. Aber hinten aus dem Haufen drang eine wüste, schreiende Stimme hervor:
„Schießt ihn nieder, den Schurken, den Bauern- und Rekrutenschinder!“
Es war die Stimme des Bauernadvocaten. Der Elende hatte sich in dem sicheren Hinterhalte versteckt und wagte sich noch nicht heraus. Die Bauern sahen sich wieder unter einander an, und Einige erhoben unschlüssig ihre Flinten. Ottokar aber trat ihnen unerschrocken entgegen und bot ihnen voll seine Brust dar.
„Ja, schießt nur!“ rief er. „Laßt Euch von dem feigen Menschen, der sich selbst nicht an’s Tageslicht wagt, auch noch zu Mördern machen!“
„Schießt, wenn Ihr Muth habt!“ rief der Bauernadvocat.
Zwei Burschen legten ihre Gewehre auf den Freiherrn an.
Er stand ruhig, ohne zu zucken, fest die Augen auf die Mündungen der Gewehre gerichtet.
„Keinen Mord!“ rief der alte Bauer, und die Burschen zogen beschämt die Gewehre zurück.
Trompeten schmetterten: „Husaren heraus!“ Sie schmetterten im Parke, bei den Nebengebäuden hinter dem Schlosse und in der breiten Allee, die zu dem Thore des Schloßhofes führte.
„Ah!“ sagte mit der Befriedigung des Soldaten der Rittmeister, „meine Husaren, mein braver Steinmann! Zu gleicher Zeit und zur rechten Zeit!“
Mit dem Schalle der Trompeten vermischte sich der dröhnende Hufschlag von Pferden, und im Galopp flogen die Husaren in der Allee herbei und aus dem Parke die Anhöhe zum Schlosse heraus. Zwischen den Speichern, Scheunen und Wirthschaftsgebäuden widerhallte der Lärm der Heranziehenden.
„Schießt den frechen Burschen nieder!“ rief noch einmal die Stimme des Bauernadvocaten. „Er ist der Führer; ist er nicht mehr da, so haben sie ihr Haupt verloren. Sie wissen nicht, wohin, noch was sie sollen. Schießt ihn nieder, wenn Euer eigenes Leben Euch lieb ist! Es ist kein Mord; es ist Selbstvertheidigung und Nothwehr. Und sie ist das Recht, die Pflicht jedes Menschen. Schießt, wehrt Euch, habt Muth!“
„Begeht keinen Mord!“ warnte abermals der alte Bauer.
„Seid Ihr feige Memmen?“ fragte Georg Hausmann.
Ein Dutzend heißblütiger junger Burschen hatte die Gewehre schon angelegt und die Mündungen auf die Brust des Rittmeisters gerichtet. Die Husaren waren da, am Gitter des Parkes und am Hofthore; von ihren Pferden herab sahen sie ihren Rittmeister, allein, ohne Schutz, gegenüber den wüthenden Bauern und den auf ihn gerichteten Gewehrläufen.
„Feuer auf die Schurken!“ wurde von zwei Stellen zugleich commandirt.
Die Husaren gaben Feuer, die Bauern schossen. Der Bauernadvocat floh in die Allee zurück und verbarg sich hinter den Bäumen. Die Bauern, als sie ihn flüchten sahen, eilten davon, ihm nach. Und der Rittmeister Ottokar von Waltershausen?
Ein freundlicher, klarer Nachmittag nahte sich seinem Ende. Noch lag er ausgebreitet über Landschaft, Berg und Thal, über Wald und Flur, über dem schönen, stolzen Schlosse, das mit seiner langen Façade, seinen hohen Balconen und seinen weißen Markisen von der Anhöhe weit in die Ebene hinausschaute, über dem stattlichen Dorfe, dessen zerstreute Häuser und Höfe das geräumige Thal füllten, über der alten, grauen Kirche am Ende des Dorfes, über dem Kirchhofe, der mit seinen grünen Grabhügeln und den schwarzen Kreuzen darauf die Kirche umgab, über dem Pfarrhause mit seinen angstvoll harrenden Menschen darin. Das Alles lag in tiefer Stille. Ruhe und Stille geben einem hellen Frühlingsnachmittage, der sich zum Abende neigt, wohl die echte und rechte Weihe, aber für das Gefühl des Menschen vermögen sie es nur, wenn in unsern Herzen der Friede wohnt, wenn die Hände, die den Tag über geschafft haben, ausruhen, wenn die Augen sich weiden an dem Segen der Arbeit, der schon emporschaut aus dem Schooße der Erde, auf Aeckern und Wiesen, in Gärten und Wäldern.
Dieses Gefühl hatten die Bewohner von Waltershausen nicht.
[87] [88] Unruhe und Hader herrschten dort überall, nur an einer Stelle nicht, und doch wieder auch dort.
Die Kirche des Dorfes und der Kirchhof, der sie umgab, sie lagen beide so still und ruhig da, jene, als ob der Friede, den sonntäglich der würdige Pfarrer von ihrer Kanzel verkündete, seine unangreifbare Stätte dort aufgeschlagen habe; der Kirchhof – auf ihm ruhten ja Tausende in dem ewigen Gottesfrieden. Und Friede war auch in dem Pfarrhause, das durch den Kirchhof von der Kirche getrennt wurde. Aber in einem Herzen wohnte er hier nicht.
Vor der Thür des Hauses hielt ein mit einem Pferde bespannter Ackerwagen der mit Hausrath, Koffern und Kleidungsstücken stark beladen war. Bei dem Pferde, einem tüchtigen Braunen, stand ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, ein prächtiger Bube, kräftig, frisch, mit intelligentem Gesicht. Es war Johannes, der älteste Sohn des Pfarrers; mit Gottes Hülfe – so hatte man gemeint und oft gesagt – sollte er der Nachfolger des Vaters in der Pfarre werden. Jetzt stand er wartend an dem Ackerwagen, auf den die Habseligkeiten der Familie geladen waren, und in der nächsten Minute mußte die Pfarre geräumt sein. „Für immer!“ war ihnen angedroht worden. Ein leiser Trotz wollte sich wohl in das frische Gesicht des Knaben drängen, aber sein frommes Gemüth wies ihn zurück – er wartete mit Ruhe und Ergebung auf den Vater und die Geschwister. In das Unvermeidliche müsse man sich sagen, sagte ihm sein Verstand; gegen die Fügungen Gottes dürfe der Mensch nicht murren, sich nicht auflehnen, sagte ihm sein gottesfürchtiges und auf Gott vertrauendes Herz.
Zu dem Wartenden trat aus dem Hause die ältere Schwester. Ihr Gesicht war bleich, ihre Gestalt gebeugt, aber sie war auch jetzt schön, wie immer, und daß ihr Muth ungebeugt war, zeigte die Sicherheit, die über ihrer ganzen Erscheinung ausgebreitet lag.
„Liegt Alles ordentlich und fest?“ fragte sie den Bruder, die Ladung des Wagens musternd. Sie fragte es, wie eine sorgsame Hausfrau, und ihre Stimme war klar und ruhig.
„Der Vater packte es ja zusammen,“ antwortete der Bruder.
„Wir können also abfahren?“ fragte sie weiter.
„Wenn wir müssen!“ antwortete Johannes, und der Schmerz ließ in diesem Augenblicke doch einen gewissen Trotz durchscheinen, dessen er sich nicht erwehren konnte.
„Wir müssen, Johannes.“
„Auf dem Schlosse erwarten sie Hülfe, den Rittmeister mit seinen Husaren,“ redete er darein.
„Zu einem blutigen Kampfe, Johannes! Von ihnen mag ihre Stellung, ihre Ehre ihn fordern. Unser Vater, ein Diener Gottes, der den Menschen den Frieden verkündet, darf um seinetwillen kein Blut vergießen lassen.“
„Wenn nun dieser freche Aufstand am Schlosse niedergeworfen würde,“ wendete der Knabe ein, „wenn die Bauern zurückgetrieben, ihre Rädelsführer gefangen genommen und nach Recht und Ordnung sofort standrechtlich erschossen würden? Der ganze Aufstand wäre damit unterdrückt, kein Bauer würde sich mehr aus dem Hause wagen und um uns würde Niemand sich fortan kümmern.“
Regine Reif wankte einen Augenblick in ihrem Entschlusse.
„Mag der Vater entscheiden!“ sagte sie dann.
Da tönten die Schüsse herüber, die am Schlosse fielen.
„Horch!“ rief Johannes, und die helle Röthe, die durch sein Gesicht flog, bezeugte den Muth und die Hoffnung seines Innern.
„Die Unglücklichen!“ preßte Regine aus der geängstigten Brust hervor, und indem sie aufhorchte, wurde sie noch bleicher als zuvor. In diesem Augenblicke trat der Pfarrer tief bekümmert aus dem Hause.
„Ich hörte schießen,“ sagte er, wie fragend, ob er richtig gehört habe.
„Am Schlosse,“ antwortete Johannes.
Alle schwiegen dann, sie standen horchend, was sich weiter begeben werde. Noch einmal fielen Schüsse, wieder am Schlosse und wie es schien an derselben Stelle, an der die früheren gefallen waren. Neue folgten, es wurde gekämpft.
„Vater!“ rief Johannes mit leuchtenden Augen.
„Was willst Du mir sagen?“ fragte der Pfarrer.
„Vater, wenn die aufrührerischen Bauern niedergeworfen würden!“
„Dann, mein Sohn?“
„Blieben wir in der Pfarre.“
„Wir wollten also das Ende eines blutigen Kampfes abwarten, auf das Morden von Menschen unsere Hoffnungen setzen und durch unser Bleiben gar neuen Mord hervorrufen?“
Der Sohn schwieg.
„Treten wir unsern Weg an!“ sagte der Pfarrer entschieden, und seine Stimme verrieth, wie schwer der Entschluß ihm geworden.
„Gehet jetzt in das Haus!“ fuhr er dann fort. „Nehmt Abschied von der Stätte, wo wir so lange geweilt, und holt Eure jüngeren Geschwister!“
Bruder und Schwester gingen in das Haus, und der Pfarrer blieb allein am Wagen. Er hatte schon Abschieb genommen von dem Innern des Hauses, von dem Garten, von allen den Stellen und Plätzen, an denen er ein Vierteljahrhundert lang gearbeitet und gewirkt hatte, an denen Freude und Leid ihm zu Theil geworden. Es war ihm schwer geworden, und der Schmerz hatte wohl manchmal den kräftigen, von dem edelsten Gottvertrauen getragenen Mann überwältigen wollen. Er hatte zu widerstehen vermocht, sein Auge war trocken, sein Muth war kräftig geblieben. Jetzt überschaute er noch einmal das Haus, den Garten, die Umgebung, die ganze Landschaft, die Fluren der weiten Gemarkung, die Wälder, das Schloß da oben, die Häuser des Dorfes, die Kirche und den Kirchhof. Alles, Alles mußte er verlassen. Für immer? Wilde Bewegungen zogen durch das Land, aber wilde Wogen verlaufen ja, und der Strom fließt wieder langsam und ruhig. Können seine Wellen zurückkehren? Kann er selbst es? Es wäre gegen die Gesetze der Natur. Hin ist hin; verloren ist verloren. Und doch ist auch das Hoffen ein Naturgesetz für das Leben eines Menschen. – Wie viele Gedanken zogen durch die Brust des schwer geprüften Mannes! Wie manche Hoffnung zog vorüber! Wie mancher Seufzer folgte ihr auf dem Fuße. Es ist ja nur Täuschung, leere Selbsttäuschung. Aber der Pfarrer verzagte nicht.
„Herr, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden!“
Die Kinder kehrten aus dem Hause zurück. Regine ging voraus, das dreijährige Schwesterchen an der Hand, und die beiden Knaben folgten. Jedes von ihnen trug sein Handgepäck; auch das Schwesterchen hatte einen kleinen Korb an den Arm gehängt. Sie traten still an den Wagen, zum Vater. Reginens blasses Gesicht hatte den bewährten Muth nicht verloren. Johannes aber sah die ruhige Milde in den Zügen des Vaters, und aus seinem Gesichte entwich der Trotz, der von Neuem hatte auftauchen wollen. Der zweite Knabe hatte noch Thränen in den Augen: er schämte sich ihrer und trocknete sie heimlich, als der Blick des Vaters ihn suchte.
Diese Wehmuth kam über den Pfarrer, als er alle die lieben, schönen Gesichter seiner Kinder sah. In Gesundheit hatte der Himmel sie ihm erhalten, sie aufblühen und sich entwickeln lassen. Welcher Zukunft kannte er sie entgegenführen? Wußte er nur, wo er, wo sie in der nächsten Nacht ihre Häupter niederlegen sollten?
„Zu der Mutter jetzt!“ sagte er.
Sie gingen auf den Kirchhof, an manchem Grabe vorbei. An einem der Grabhügel in der Nähe der Kirche aber machten sie Halt. Epheu faßte ihn ein; Blumen des Frühlings schmückten ihn, und ein grauer Sandstein erhob sich auf ihm. Die früh verstorbene Gattin des Pfarrers, die Mutter seiner Kinder, schlief hier den ewigen Schlaf. Neben dem Hügel war eine leere Grabstelle. Der Pfarrer hatte sie für sich bestimmt. Wer sollte sie nun künftig einehmen?
„Bringen wir der Mutter unsere Abschiedsgrüße!“ sagte der Vater zu seinen Kindern. Nur Grüße hatten sie ja zu bringen, keine Blumen, keinen grünen Zweig. Nichts hatten sie mitzunehmen, was zur Pfarre gehört. Der Bauernadvocat hatte es ja anbefohlen. Sie umgaben schweigend das Grab, schauten zu der Erde nieder, in der die Mutter ruhte, sandten ihr stille Grüße und weihten die Grüße durch ihre Thränen. Sie standen lange, lange so – es war ja der letzte Abschied von der Heimath.
„Gehen wir!“ sagte endlich der Vater.
Sie verließen den Kirchhof, still, wie sie ihn betreten hatten, und kehrten dann zur Pfarre zurück. Schwere Augenblicke warteten hier noch ihrer. Sie hatten den Wagen ohne Aufsicht vor dem [89] Hause zurücklassen müssen. Der alten, treuen Magd, die viele Jahre in der Pfarre gedient, hatte der Bauernadvocat schon am Vormittage befohlen, sofort das Haus zu verlassen; es dürfe von jetzt an nur noch freie Menschen im Dorfe geben. Keiner dürfe von nun ab dem Andern noch dienen, jeder dem Andern nur Hülfe leisten. So wolle sie der Pfarrerfamilie helfen, hatte die Magd gesagt. Dem Pfarrer, war ihr erwidert worden, dürfe auch Niemand mehr helfen – das sei der Beschluß der Gemeinde, und sie habe sich dem zu unterwerfen, wenn sie nicht als Rebellin gegen die souveraine Gemeinde behandelt werden wolle. Sie hatte dem Menschen folgen müssen, nachdem sie unter den bittersten Thränen von dem Pfarrer ihren Lohn empfangen, den sie erst nach schweren Kämpfen mit sich selbst angenommen.
Bei der Rückkehr der Familie vom Kirchhofe befand sich der Wagen vor dem Pfarrhause unter der Aufsicht des Bauernadvocaten. Der Pfarrer übersah den häßlichen Mann mit dem grauen Gesicht und den boshaften, falschen Augen absichtlich. Johannes ging an ihm vorüber, die Führung des Pferdes zu übernehmen. Regine wandte sich mit Verachtung von ihm ab, und die beiden jüngsten Kinder hatten nur scheue Blicke für ihn. Er sah ihnen Allen höhnisch nach.
Die Helden von Plewna. (Mit Abbildungen: „General Skobeleff der Jüngere“, Seite 79, und „Osman Paschas Begrüßung durch den Großfürsten Nikolaus“, Seite 87.) Von den wenigen Männern, welche „die steigende, fallende Welle des Glücks“ in dem russisch-türkischen Kriege gehoben hat, führen wir unseren Lesern zwei in Bild und Wort vor. Der Drehpunkt des Krieges war Plewna: es war das Unglück der Russen und schien ihr Verderben zu werden, und ist nun das Unglück der Türken und ihr Verderben geworden. Bei den Kämpfen um diesen Punkt sind zwei Namen am häufigsten genannt worden, der des Russen Skobeleff und der des größten Helden des Krieges: Osman Pascha.
Michael Dmitrijewitsch Skobeleff ist der jüngste General und der kühnste Haudegen der russischen Armee, eine Art jugendlicher „Blücher“, der Sohn des Generals Skobeleff (daher „des Aelteren“) und (nach S. Hahn in „Unsere Zeit“) 1845 geboren. Aus der Petersburger Cadettenschule trat er 1863 als Officier in’s Heer und lernte das Kriegführen in Centralasien. Dort zuerst zeichnete er sich durch seine Tollkühnheit, aber auch durch sein Kriegsglück aus. Ihm verdankte man die Besiegung von Kholand; er avancirte schon 1875 zum Generalmajor und Militärgouverneur der neuen Provinz Ferganah. Administrative Talente soll er dort eben nicht gezeigt haben. Beim Ausbruch des Krieges wurde er im März 1877 zur Armee des Großfürsten Nikolaus berufen.
In den militärischen Hofkreisen von St. Petersburg soll gegen die sogenannten „Turkestanischen Officiere“ von Seiten der „Salongeneräle“ ein fast mit Verachtung gemischtes Vorurteil herrschen, zu welchem bezüglich des jungen Skobeleff sich noch der Neid über das rasche Avancement desselben gesellt. Wirklich betrat er als unattachirter Officier den Kriegsschauplatz, von seinen Soldaten in Asien als der siegreichste Held gefeiert, verdankte er jetzt nur dem Umstande, daß sein Vater eine Cavalleriedivision commandirte, seine Verwendung im Dienste. So theilte er das Schicksal des alten Totleben, dem auch erst die Noth den Degen wieder in die Faust gab. Viele seiner „tollen, eines Generals unwürdigen Streiche“, als welche sie dem Höchstcommandirenden von seinen Gegnern zugetragen wurden, hat man ihm später, nachdem er die kaiserliche Gunst sich erkämpft hatte, als Heldenstückchen angerechnet. Diese Gunst wandte sich ihm schon nach dem Uebergang über die Donau bei Simnitza zu, erstieg aber den höchsten Grad nach seinem Siege bei Lowatsch (am 3. September) und seiner Theilnahme an den großen Schlachten vor Plewna. An der blutigen Namenstagsfeier des Czaren, am 11. September, wurde er zum Lohn für die Eroberung der südlichen Redoute von Plewna zum Generallieutenant und Generaladjutant des Kaisers ernannt.
Als Totleben der Schmied des eisernen Ringes um Plewna wurde, blieb Skobeleff der Stürmer und hat namentlich durch die Eroberung des „Grünen Bergs“ bei Krischin am 11. November wesentlich dazu beigetragen, seinen großen Gegner endlich zur Uebergabe seiner selbstgeschaffenen Feste zu zwingen.
Englische Kriegscorrespondenten, die nun einmal die Modegünstlinge in jedem Hauptquartier sind, schildern ihn als einen stattlichen Officier, der in Zügen und Blick den Stempel trage, zum Führer der Männer geboren zu sein. „Mit seinem blonden Haar und englisch zugeschnittenen Schnurr- und Backenbart, mit seinen kühnen, scharfgeschnittenen Gesichtszügen und den blauen Augen des nordischen Seekönigs, konnte er überall als ein glänzender englischer Officier passiren“ – schmeichelt sich und ihm der „Standard“. Diesem Bilde entspricht unser Holzschnitt.
Weniger genau sind die Nachrichten über die Vergangenheit Osman Paschas. Er soll nach Einigen 1832 zu Amasia in Kleinasien, nach Andern 1839 zu Rikopolis in Rumelien geboren worden sein. Sein Name war unbekannt bis 1876, wo er plötzlich als Commandant des Widdiner Corps im Kriege gegen Serbien vor uns steht. So war es möglich, daß, als plötzlich derselbe Name ruhmstrahlend von Plewna aus genannt wurde, das Gerücht wochenlang sich behaupten konnte, daß dieser Osman kein Geringerer, als der damals ziemlich verschollene Marschall Bazaine sei; Andere wollten gar einen südamerikanischen General in ihm entdeckt haben. Sicher ist, daß er Truppen-Commandant in Yemen war, als der bosnische Aufstand ihn nach Europa zurückrief, wo er zuerst nach dem Siege bei Saitschar als kühner und scharfblickender Führer genannt wurde.
Beim Beginn des jetzigen Krieges commandirte er ein Corps von 35,000 Mann mit dem Hauptquartier in Widdin. Vergeblich warb er um den Befehl, von hier durch das Kalafat den Krieg in Feindesland zu tragen, in welchem sein Name bereits zum Schrecken geworden war. Statt dessen mußte er die Hälfte seiner Truppen der sogenannten Centrumsarmee abgeben, und als nun der Uebergang der Russen über die Donau dennoch erfolgte, erhielt er, aber zu spät, den Befehl Rikopolis zu entsetzen. Er besetzte dafür Plewna, um den Russen den Weg nach dem Südwesten des Reiches zu versperren; dadurch zwang er sie zur Echelonnirung ihrer Truppen von Simnitza bis Tirnowa und sogar, nach Gurko’s Balkanzug bis Philippopel. Wie den Feldherrnblick, so zeigte er nun auch sein Organisationstalent in der Schaffung eines neuen Heeres und einer neuen Festung, deren Uneinnehmbarkeit sich erprobt hat, denn sie konnte wohl ausgehungert, aber nicht erstürmt werden.
Die Geschichte der Belagerung von Plewna brauchen wir unseren Lesern nicht erst zu erzählen; wir wenden unsere Aufmerksamkeit lieber den Helden selbst und dem tragischen Ende derselben zu. Nur um des Contrastes willen dürfen wir nicht verschweigen, daß er nach den großen Siegen in den Juli- und ersten Septemberschlachten von seinem Kriegsherrn nicht nur den Titel Ghazi, der Siegreiche, den Osmaniéorden, einen Ehrensäbel und ein Dankschreiben, sondern auch von der Stadt Constantinopel eine goldene Ehrentafel erhalten hat. Und jetzt?
Ueber Osman Pascha’s Persönlichkeit verdanken wir einem Berichte aus Plewna von Victor Lorie („Frankf. Ztg.“) das Beste. Er sagt unter Anderm: „Osman ist Türke von Geburt und zwar ein Erztürke. Er ist von Mittelgröße, von athletischen Formen, ein Hercules mit allen charakteristischen Contouren dieses Repräsentanten höchster körperlicher Kraft, dem kurzen Stiernacken, den mächtigen Schultern, den strammen, dicken Beinen, im Ganzen eine untersetzte handfeste Gestalt, der Typus jener Künstler, die auf Kraftausstellung reisen. Sein Kopf ist süperb. Die Züge sind nichts weniger als fein, aber regelmäßig und angenehm in ihrer Derbheit. Ein noch wenig in’s Graue spielender lockerer Vollbart umrahmt dieses Gesicht, aus dem nie sich verleugnende Ruhe, Ernst und Entschlossenheit, aber auch Milde und etwas Ironie sprechen. Seine Augen sind groß und weit geöffnet, die Pupille von heller grüngelber leuchtender Farbe, mit großer Iris, dadurch der lauernde niederschmetternde Blick des Löwen, sowie ein Blick, der im Zorne nur versteinern und bei Güte nur bezaubern kann.
Des Marschalls Uniform ist kaum eine solche zu nennen; er trägt eine Jaquette mit breitem Revers von dunklem Tuche, darunter eine lange Weste im Style Louis des Fünfzehnten, von demselben Stoffe, sowie von demselben Tuche stramm an den muskulösen Beinen anliegende Culotten, die in bespornten Stiefeln einmünden, welche nur bis unterhalb der Kniescheibe reichen. Der türkische Fez sitzt ihm martialisch auf dem Hinterkopfe, sodaß über der mittelhohen Stirn die Haarbüschel hervorstehen; ein Bleistift steckt fortwährend zu seiner Disposition, anstatt hinter dem Ohre, vor demselben unter dem Fez, aus welchem er hervorguckt. Er schnallt nie im Lager den Säbel um, dagegen hängt ihm immer das Etui, sein Marine-Lorgnon enthaltend, über den Schultern. Er ist einsilbig, unterhält sich fast nie mit Jemandem, seine Officiere lauern auf seinen Ruf, erhalten einen Befehl, geben eine Auskunft und ziehen sich in den Hintergrund; er ist ein großer Schweiger wie – Moltke; er ist ein colossaler Arbeiter, hat immer zu thun und schläft – fast nie. Energisch, eisenfest, selbständig, entschlossen, nach keinem Rathe fragend, ist er dennoch äußerst bescheiden. Schlachtenbülletins kennt er nicht; mit drei Worten berichtet er nach Constantinopel; er beschreibt nicht seine Thaten; er meldet nur lakonisch das Resultat; die vergangene Minute wird ad acta gelegt, und nur die vorstehende beschäftigt ihn.“
So schilderte ihn Lorie, mit Recht begeistert für ein solches Mannesbild, in den Tagen voller Sieghaftigkeit, am 6. September. Damals konnte Osman Pascha noch hoffen, daß er als Sieger dort abziehen oder, wenn von den Russen umschlossen, doch entsetzt werde. Man gebot ihm: „Du bleibst“ – und verließ ihn und die erprobteste Armee des Landes.
Die „Katastrophe vom 10. December“ ist bekannt genug; wir beschränken uns auf die kurze Darstellung des Augenblickes, welchen unser Bild darstellt, uns einem Berichte der „Daily-News“ anschließend. Konnte im russischen Lager, nachdem Totleben’s Ring fertig und die Schwäche etwaiger Ersatzarmeen erkannt war, die Uebergabe Plewnas nur noch für eine Frage der Zeit gelten, so machte man sich doch noch auf schwere Stürme gefaßt, denn man überschätzte die Furchtbarkeit der Macht Osman Paschas nicht wenig. Um so freudiger war die Ueberraschung, um so größer der Jubel vom Kaiser bis zum letzten Tambour, als mitten im Durchbruchskampfe die weiße Fahne der Ergebung winkte.
Von dem entsetzlichen Durcheinander von verwundeten und todten Menschen und Thieren, von Wagen und Waffen aller Art, das den Boden des Schlachtfeldes bedeckte, wenden wir uns nur jenem einen Wagen zu, auf welchem der türkische Feldherr, verwundet und gefangen, sich in das verlorene Plewna zurückfahren läßt. Wer ihn erkennt, der erbittertste Feind, bezeugt ihm seine Hochachtung. Da hält plötzlich der Wagen; denn Osman Pascha hat erfahren, daß der Großfürst des Weges komme, und will ihn erwarten. Der Großfürst ritt an den Wagen heran und
[90] einige Secunden lang sahen sich die Beiden in’s Gesicht, ohne ein Wort zu sprechen. Dann streckte der Großfürst seine Hand aus und schüttelte diejenige Osman’s herzlich, indem er sagte:
„Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Verteidigung von Plewna; es ist eine der glänzendsten Thaten der Geschichte.“
Osman Pascha lächelte traurig, erhob sich schmerzvoll, trotz seiner Wunde am Fuße, sprach etwas und setzte sich wieder. Die russischen Officiere riefen wiederholt „Bravo!“ und salutirten. Auch Fürst Karl, welcher angekommen war, ritt an den Wagen und schüttelte dem Türken die Hand; Osman Pascha erhob sich abermals und verneigte sich, diesmal jedoch in grimmigem Schweigen. Er trug einen weiten blauen Mantel ohne Abzeichen und einen rothen Fez. Sein Gesicht zeigte Ermüdung und Blässe, und die Augen waren traurig und gedankenvoll.
Der Löwe von Plewna selbst wird als Gefangener erster Classe dem siegfrohen Russenvolke zur Schau gestellt, und ihm bleibt nun Zeit genug, hinzubrüten „über das Schicksal seiner Tapferen, die Dummheit in Stambul und das Unglück seines Vaterlandes“.
Die Schriftsprache der durch Schlaganfall Gelähmten. In Nr. 52 des letzten Jahrganges der „Gartenlaube“ wurde über die bekannte Thatsache erklärend berichtet, daß vom Hirnschlage getroffene Personen sowohl die Beweglichkeit der Extremitäten, wie auch die Sprache verlieren; es findet sich dieses Unglück vornehmlich bei rechtsseitig Gelähmten. Die ärztliche Beobachtung hat nun ergeben, daß die halbseitigen Lähmungserscheinungen in den meisten Fällen auf Hemmungen der Willensthätigkeit beruhen und demnach sich nur auf willkürliche Bewegungen sowohl der betreffenden Theile des Kopfes wie der Extremitäten beziehen. Kranke mit Zerstörung gewisser Theile der linken Hälfte des Gehirns wollen wohl den rechten Arm und das rechte Bein bewegen, aber die Glieder gehorchen nicht ihrem Willen; sie müssen die linke Hand zu Hülfe nehmen, um die rechte Hand zu bewegen, wenn sie dazu aufgefordert werden. Es handelt sich also um eine Unterbrechung der Leitung von den normal erregbaren Centralorganen unseres Denkvermögens, welche beim Erfassen von Entschlüssen functioniren, zu denjenigen Nervenfasern, welche die Bewegungen der Extremitäten und der Zunge, gleich elektrischen Zügeln, regieren. Da nun die Sprachorgane, das heißt die kleinen Muskeln, welche die Bewegungen der Zunge, des Kehlkopfs und des Gaumensegels, sowie der Wangen regieren, dem Willen des gelähmten Menschen nicht gehorchen, so befindet er sich in der peinlichen Lage, immer seine Wünsche aussprechen, etwas sagen zu
wollen und nichts sagen zu können. Seine Umgebung merkt in den meisten Fällen nicht, welch innerer Seelenkampf in dem Unglücklichen tobt. Die Angehörigen stehen um ihn herum und halten es für eine Gunst des Schicksals, daß seine geistigen Functionen vermeintlich getrübt seien, er also wohl seinen Zustand glücklicher Weise nicht so schlimm beurtheile.
Es zieht nämlich, wie das die tägliche Erfahrung lehrt, die nichtärztliche Umgebung des Leidenden aus seinem stummen Hinsiechen den Trugschluß, daß er selbst über sein Leiden kein Urtheil habe und auch, ebenso wie seine Sprachorgane, sein Denkvermögen gewissermaßen gelähmt sei. Dem ist aber in sehr vielen Fällen durchaus nicht so. Wenn, wie dieses oft vorkommt, das plötzlich eingetretene Gehirnleiden sich bessert und der Patient wieder zu seinen normalen Sprachfunctionen zurückkehrt, so hört man gewöhnlich von ihm die Schilderung der moralischen Qualen, welche er während der Hemmung seiner Willensthätigkeit erdulden mußte.
Nun lag es ja sehr nahe und geschah dies auch in manchem einzelnen Falle, daß man dem seiner Sprache Beraubten Tafel und Stift in die ungelähmte Hand gab, um ihn zum Niederschreiben seiner Gedanken zu veranlassen, aber obgleich die linke Seite nicht leidend war und der Patient den Griffel fest zur Hand hatte, um auf die Tafel in derben Zügen seine Wünsche niederzuschreiben, konnten die Schriftzüge von der Umgebung nicht entziffert werden. Dieselben machten stets den Eindruck, als ob eine Fliege, deren Füße mit Tinte befeuchtet waren, über die Tafel oder das Papier gekrochen wäre. Je weniger die Umgebung das von dem Kranken Geschriebene deuten konnte, desto erregter wurde der Patient, bis er verzweifelt und ermattet in die Kissen zurücksank Es lag hier ein psychologisches Räthsel vor, welches erst in jüngster Zeit durch genaue klinische Beobachtungen gelöst worden ist.
Auf der Krankenstation des Herrn Professor Biermer zu Breslau hat nämlich der Assistenzarzt Herr Dr. Buchwald die Beobachtung gemacht und solches kürzlich in der Berliner klinischen Wochenschrift veröffentlich, daß rechtsseitig Gelähmte, wenn sie mit der linken Hand sich schriftlich verständlich machen wollen, stets Spiegelschrift schreiben, das heißt eine Schrift, welche von rechts nach links, erst im Spiegel gesehen, sich als unsere gewöhnliche Schrift darstellt. Diese merkwürdige Thatsache ist physiologisch so zu erklären, daß im Gehirne ein Theil der Organe, welche die Schreibbewegungen von links nach rechts gleichsam erlernt haben, in der linken Seite des Gehirns liegen und gelähmt sind, mithin die Schreibbewegungsthätigkeiten von links nach rechts, wie wir sie in den Schulen lernen und unser ganzes Leben hindurch üben, nicht ausgeführt werden können. Dagegen wird unwillkürlich die Schreibbewegung der rechten Hand von dem rechtsseitig Gelähmten auf seine linke Hand in analoger Weise durch die gesunde rechte Hirnseite übertragen, und die Bewegungen, die wir unser Leben lang beim Schreiben mit der rechten Hand von links nach rechts ausgeführt haben, führen wir nun mit der linken Hand gleichsam instinctmäßig von rechts nach links aus, worauf eine Spiegelschrift entsteht, welche man bisher, wenn von Gelähmten geschrieben, als unlesbare Zeichen betrachtete. Man kam eben nicht auf den Gedanken, einen Spiegel zu Hülfe zu nehmen. Der Fall, bei welchem diese merkwürdige Thatsache zum ersten Male erforscht wurde, war folgender: Gottlieb Gärtner, ein fünfundvierzigjähriger Arbeiter, der unter gewöhnlichen Erscheinungen einer rechtsseitigen Lähmung nach einem Hirnschlaganfall in die Breslauer Klinik kam, zeigte Sprachlosigkeit; die rechte Hand konnte zum Schreiben nicht verwendet werden, jedoch schrieb der Gelähmte auffallend geschickt mit der linken Hand von rechts nach links in Spiegelschrift, wie wir dieses indem beifolgenden Facsimile abbilden; es erscheinen hier auf verhältnißmäßig geschickte Weise geschriebene Zahlen in Spiegelschrift.
Ebenso konnte der Patient seinen Namen und viele andere Worte in Spiegelschrift wiedergeben. Auf die Eigenthümlichkeit und Regelwidrigkeit seines Schreibens aufmerksam gemacht, konnte er anfangs nicht bewogen werden, in der üblichen Weise von links nach rechts, zu schreiben. Auch die Vorschrift seines Namens, sowie von links nach rechts gehender Zahlen hatte nur zur Folge, daß er in die ursprüngliche Spiegelschrift zurückfiel. Später wurden noch andere, ganz analoge Fälle in der Breslauer Klinik beobachtet.
Schreiber dieser Zeilen hat in seiner ärztlichen Praxis ofters Fälle vor Augen gehabt, in welchen solche Schreibversuche bei Gelähmten vorgenommen wurden. Nebenstehendes Facsimile, welches von einer Dame stammt, die er vor mehreren Jahren behandelte, hatte er in seinen Notizen aufbewahrt, ohne solches deuten zu können, bis er vor einigen Wochen die erwähnte Beobachtung aus der Breslauer Klinik gelesen. Bei Zuhandnahme eines Spiegels zeigte es sich nun, daß jene, mittlerweile an einem wiederholten Schlaganfalle verstorbene Dame das Wort „Sophie“, den Namen ihrer Pflegerin, geschrieben hatte.
Ganz abgesehen von dem hohen wissenschaftlichen Interesse, welches solche Beobachtungen bieten, haben dieselben einen bedeutenden praktischen Werth. Es ist durch sie Gelegenheit geboten, die Schriftsprache jener unglücklichen von nun an zu verstehen. Dieselben werden durch die gegebene Möglichkeit, sich mitzuteilen, der peinlichen Seelenqualen enthoben, über welche wir eingangs dieser Zeilen berichtet.
Bleifreie Kochgeschirre. Denjenigen Lesern, welche verschiedene Anfragen betreffs bleifreier Kochgeschirre und anderer Küchenutensilien an uns ergehen ließen, teilen wir mit, daß in Folge des Artikeln: „Das Blei in der Küche“ (Nr. 48 in „Blätter und Blüthen“) eine Anzahl Industrieller sich an uns mit der Bitte um Untersuchung ihrer Fabrikate gewandt haben. Es geht uns diesbezüglich von unserem ärztlichen Correspondenten die Mittheilung zu, daß derselbe in Gemeinschaft mit einem hervorragenden Professor der Chemie die eingesandten Fabrikate der nachstehend genannten Industriellen geprüft und als vollkommen unschädlich für die Gesundheit befunden hat. Das Email der chemisch auf das Genaueste untersuchten Stücke besteht lediglich aus bleifreien Substanzen, welche weder durch sauer, noch alkalisch reagirende Speisen oder Flüssigkeiten, noch durch Kochsalz, Fette und dergleichen im Mindesten angegriffen oder ausgelöst werden. Alle den eingesandten Stücken gleiche Fabrikate sind demnach als vollkommen gesundheitsunschädlich zu bezeichnen. Die betreffenden Fabriken sind: Gebrüder Baumann, Firma Joh. Baumann’s Wittwe in Amberg; Gebrüder Gebler, sächsische Emaillirwerke in Pirna; Marienhütte bei Kotzenau (Eisenhüttenwerk); Nestler und Breitfeld (Eisenhüttenwerke), Erla bei Schwarzenberg in Sachsen; Thale, Actiengesellschaft (Eisenhüttenwerk), Thale am Harz; Wehrenbold und Compagnie (Eisenhütte), Westphalia bei Lünen; B. G. Weismüller und Compagnie in Düsseldorf; The Lalance und Grosjean Manufacturing Co. in New-York.
Zur Ergänzung. Herr Wiese, aus dessen spiritistischen Erfahrungen wir einige Proben mittheilten, unterzeichnete seine Epistel an unsern Mitarbeiter: G. W. F. Wiese, Lehrer A K G. Jene Initialien verleiteten Herrn Elcho zu der Annahme, daß der Briefschreiber Lehrer am königl. Gymnasium sei. Herr Wiese theilt uns aber mit, daß er sich nie für einen Gymnasiallehrer ausgegeben und daß er überhaupt nichts mehr mit der Jugend zu thun habe. Herr Wiese verwahrt sich ferner gegen die Annahme, als habe er den Naturwissenschaften den Krieg erklärt (von einer Kriegserklärung war auch nicht die Rede); er glaubt vielmehr in den spiritistischen Manifestationen ein neues Forschungsgebiet gefunden zu haben. – Freilich, es ist dasselbe Forschungsgebiet, auf welches die Blutungserscheinungen der Louise Lateau und das Wunderwasser zu Lourdes gehören.
W. v. M. in L. Ihre Freude über die ungekünstelte Begeisterung, mit welcher man im ganzen Deutschland, besonders in Breslau, den achtzigsten Geburtstag des würdigen Dichtergreises Karl von Holtei feierte, theilen wir vollkommen. Bei dieser Gelegenheit noch einmal auf das Leben des Jubilars in unserem Blatte zurückzukommen, können wir indessen nicht für unsere Aufgabe halten, da wir in früheren Jahrgängen der „Gartenlaube“ (1860 und 1873) unseren Lesern bereits in Wort und Bild die Gestalt des Dichters gezeichnet haben, abgesehen von den interessanten Mittheilungen aus seinem Leben, die wir so glücklich waren, direct aus der Feder Holtei’s zu empfangen. Trotz alledem hoffen wir in einer der nächsten Nummern durch Abdruck von bisher noch nicht bekannt gewordenen Erinnerungen aus den letzten Jahren des Dichters Ihren Wünschen gerecht werden zu können.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Temepratur