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Die Gartenlaube (1878)/Heft 32

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[521]
Aufg’setzt.
Eine baierische Bauerngeschichte.
Von Herman von Schmid.
(Fortsetzung)
Nachdruck und Dramatisirung verboten.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.

Der Alte sprach mit Nachdruck und Ernst; dennoch sah ihn Gertl mißtrauisch an, ob nicht um seinen Mund ein Lächeln spiele, denn er war dafür bekannt, daß er gern mit Jedem Schalkerei trieb, wo es nur anging. – Aber in den Zügen des Alten war keine Veränderung wahrzunehmen, und trotz ihrer gläubigen Ueberzeugung von der Unmöglichkeit solcher Dinge und von dem Unrecht, daran zu glauben, war sie doch durch die Zuversicht des klugen Alten und durch das aus seinem Leben erzählte Ereigniß etwas unsicher geworden.

„Meinetwegen!“ sagte sie dann, wie um sich selbst aus der Klemme zu befreien, in die sie gerathen war. „Was geht’s mich an? Ich kann’s und will’s für alle Fäll’ erwarten, was mir unser Herrgott schickt.“

„So ist’s recht, Gertl,“ sagte Anderl aufstehend. „Bei der Gesinnung bleib’! – Es ist aber deswegen nichts Unrechtes, wenn man auch von solchen Sachen discourirt. Jetzt muß ich machen, daß ich weiter komm’. Ich bin ein sauberer Bot’; ich sollt schon längst über alle Berg’ sein und komm’ bei Dir so in’s Schwatzen.“

„Wo willst denn noch hin?“ fragte Gertl, indem sie ihre Nähterei zusammen schlug und auf’s Fenster legte.

„Nimmer weit,“ entgegnete Anderl. „Der Wirth in Flintsbach hat gehört, daß ich zu Dir heraus will, da hat er mir einen Brief mitgegeben, den ein reitender Bote extra gebracht hat. Er gehört einem von den Malern drüben in Brannenburg, der auf den Falkenstein hinaus ist, um das verfallene G’schloß aufzunehmen.“

„Den Gang kannst Deinen alten Spazierhölzern ersparen,“ rief Gertl. „Ich geh’ am Schloß vorbei, ich muß hinaus auf den Petersberg, denn der hochwürdige Herr Propst hat Eier bestellt; die muß ich ihm bringen.“

„Das trifft sich ja prächtig!“ rief Anderl. „Da hast Du den Brief. Dann kehr’ ich gleich wieder um und sag’ dem Wirth, daß die Post bestellt ist. Es giebt ohnehin in dem Komödiestadel noch eine Menge zu thun; denn daß Du’s nur weißt, am nächsten Sonntag muß das G’spiel wieder sein. Kannst Dich herrichten auf die Genoveva.“

„B’hüt Dich Gott!“ sagte Gertl, indem sie den Henkelducaten in der Hand hielt und anlegte. „Da hinauf sieht mich Niemand; da ist’s kein’ Hoffahrt, wenn ich Dein Andenken gleich umbind’.“

„Thu’s nur!“ sagte er, „es kann Dir nichts Anders bedeuten, als was Gutes, weil’s gut gemeint ist. Also nochmal, behüt’ Dich Gott bis zum Sonntag!“

Er stieg den etwas mühseligen Steg abwärts, während das Mädchen in das Haus hineinrief, sie wolle den aufgetragenen Gang zu Seiner Hochwürden dem Herrn Propst antreten. Aus Scheune oder Kuhstall erscholl, durch die Ferne gedämpft, der beistimmende Zuruf der Mutter; als Gertl sich der Anhöhe zuwendete, rief ihr noch von unten herauf der Maler stillstehend nach:

„Noch Eins, Gertl! Weil Du doch so nah’ an’s Peterskirchl hinkommst, schau zu, ob es Dich nicht hineinreißt! Am Sonntag frag’ ich dann, wie’s Dir gegangen ist.“

„Brauchst keine Sorg’ zu haben,“ rief sie lachend zurück, „ich weiß noch ein Gesetzl von Deinem Schnadahüpfel:

‚Die Aepfel, die zeiti san,
Hab’n braune Kern;
Und was mir ’mal aufg’setzt is,
Werd’ i schon hör’n.‘“

Den Brief an den Maler in’s Mieder steckend, stieg sie bergan und hatte mit raschen Schritten bald die Stelle erreicht, wo von der längst verlassenen Straße ein kleiner Seitenpfad an den halbverfallenen Thorbogen mündet, hinter welchem wohl einmal die Zugbrücke den tiefen, jetzt baumbewachsenen Graben überwölbte, durch den von der steilen Höhe der Maiwand herab der Gießbach sich den Thalweg gewählt hat. Sie trat in den kleinen Burghof, den zerbröckelte Mauern umfaßten, überragt von einem steil aufragenden Giebel, dem einzigen Ueberrest der früheren Capelle, und den ein üppiger Grasteppich ausfüllte, dessen Farben fast verschwanden unter der Menge der darüber gebreiteten Vergißmeinnichte. – Gegenüber, unter einem krumm gewachsenen Nußbaum, führte ein von Dornbüschen, Haselstauden und Nesseln überwachsener Schuttkegel in den obern Burghof, aus welchem der graue viereckige Römerthurm so stolz und gewaltig emporstieg, als wüßte er, welch’ gewaltiger Zeit und welch’ mächtigem Volk er die Erinnerung zu wahren habe.

Gertl spähte nach allen Richtungen, den Maler zu entdecken; sie sah auch in den verwilderten Garten hinab, wo nur noch einige Reihen altersmürber, bemooster Obstbäume von längst vergessener Pflege zeugten; nirgends war eine Spur des Künstlers zu entdecken. Es blieb ihr zuletzt nichts übrig, als nach dem hinter der Ruine unweit des Wasserfalls stehenden Bauernhause zu sehen und Nachfrage zu halten.

[522] Indessen war der Ruine bereits andere Gesellschaft geworden.

Dem Oberforstrath hatte am Morgen die Gegend den günstigen Eindruck des Abends vollauf bestätigt. Lina stimmte bei, und auf das Wort des Gymnasiasten, der vor Begierde brannte, die Ruine einer wirkliche Ritterburg zu durchwandern, wurde beschlossen, den Tag zu einem Ausflug nach dem Falkenstein zu verwenden. Mit Entzücken wurde die herrliche dreifache Aussicht bewundert, welche nach der einen Seite das weite, kaum übersehbare Flachland mit seinen bethürmten Dörfern, Schlössern und Märkten öffnete, nach der andern das Innthal mit den Schroffen des majestätischen Wildkaisers, gegenüber aber, hinweg über lachende Fluren und den mächtige Strom, die wunderlich geformten Hörner und Zacken des Heuberges zeigte. Der Vater wurde bald von dem herrlichen Waldstand an den Bergen zu einem Waldgange angelockt.

Lina, welche heute erst vollauf die Nachwehen des gestrigen schmerzlichen Schreckes empfand und, wenn möglich, über Nacht noch blässer geworden war, hatte sich im Schloßhofe eine Stelle gesucht, um den Thurm mit dem alten Nußbaum zu skizziren; Karl aber schwelgte in einem längst ersehnten Genuß. Er hatte ein Miniaturbändchen mit Matthisson’s Gedichte eingesteckt, um dessen Elegie „In den Ruinen eines Bergschlosses geschrieben“ auch „in den Ruinen eines Bergschlosses“ zu lesen.

Leider wollte die erwartete Wirkung sich nicht einstellen – wie er auch laut und mit begeisterter Stimme sprach: das Gedicht blieb Gedicht und wollte sich nicht verkörpern. Schon als er begann:

„Schweigend, in der Abenddämm’rung Schleier
Ruht die Flur – das Lied der Haine stirbt –“

wirkten gleich die ersten Worte wie abkühlende Tropfen. Es war ja nicht Abend; die Flur ruhte nicht, überall regte sich vielmehr das vollste Leben, und anstatt zu sterben, schmetterte das Lied der Haine erst recht lustig aus den Baumwipfeln des einsamen Ortes. Dafür gelangte die in den letzten Absätzen ausgedrückte hohe Wehmuth über die Vergänglichkeit aller Erdengröße zu desto schönerem Ausdruck. Der einzige menschliche Zuhörer, seine Schwester, war heimlich ergriffen, und als er zu den Worten kam:

„Süße Liebe! Deine Rosenauen
Grenzen an bedornte Wüstenei’n“,

schlug sie ihr Skizzenbuch zu und schritt auf der von Büschen umsäumten breitem Schloßmauer gegen den Thurm entlang, um mit sich und ihren Gefühlen allein zu sein.

Ein breiter, von Rosen überwachsener Thorweg führte zu diesem, einst dem Haupteingange der Burg hinan; in der weiten, modrigen Halle stieg eine leicht gezimmerte Treppe in die oberen Stockwerke; unter derselben gähnte dem Eintretenden eine schwarze Höhlung entgegen; der nun verschüttete Eingang in die Kellergewölbe, von deren geheimen Schätzen manche Sage im Volke umging, war damals nur mit Mühe und nicht ohne Gefahr zu betreten. Sinnend ließ sie sich auf losgelösten und herabgefallenen Steintrümmern nieder; Bilder der Vergangenheit zogen an ihr vorüber; Bilder der Zukunft dämmerte auf: Zeichen und Sinnbilder, für beide brauchte sie nicht weit zu suchen. An einem Strauche wilder Hagerosen, der neben ihr am Gemäuer emporrankte, waren schon die meisten Blumen verblüht, und die Blätter lagen abgefallen und zerstreut auf dem Schutthaufen umher. Sie erkannte sich selbst darin. Sie blickte empor in die mächtige Halle, die über ihr aufstieg, und sie mußte des stattlichen Baues gedenken, den dieselbe einst getragen und der sie nun in seinen Trümmern umgab. So waren die Rosenauen ihrer Liebe verblüht; so war auch das Gebäude ihrer Träume und Hoffnungen eingestürzt, und was davon geblieben, war Schutt, auf welchem Dorngestrüpp wucherte und nur die Erinnerung hier und da ein verbleichendes Rosenblatt fallen ließ.

Sie gedachte der Zeit, als Linkow in voller Jugendschönheit zum ersten Male vor sie getreten war, frei und offen, ein echter Künstler, dessen Namen trotz seiner Jugend der Ruhm bereits auf seine Fittige genommen hatte. Der erste Funke eines Gefühls, das sie nie gekannt, war damit in ihr junges Herz gefallen und entglomm stärker mit jeder Begegnung, bis die Flamme, aus beider Herzen emporlodernd, über ihren Häuptern zusammenschlug. Auch dem Oberforstrath hatte der ansehnliche junge Mann einen guten Eindruck gemacht. Seine Verhältnisse waren offenbar die eines reichen Adeligen, der die Kunst mehr zum Vergnügen betrieb, sie aber doch in einer Weise übte, welche zur Ehre auch Gewinn verhieß – er glaubte seine einzige Tochter nicht in bessere Hände geben zu können. So war denn bald die Verlobung angesetzt, und das Fest schien ganz dazu angethan, den Anfangsring für eine Kette von glückseligen Tagen und Jahren zu bilden. Eben wollte sich der Vater erheben und den versammelten Verwandten und Freunden festlich das frohe Ereigniß verkünden, als ein Fremder gemeldet wurde, der ihn ohne Aufschub sofort zu sprechen wünschte. Es war der Oheim Linkow’s, eigens aus Berlin gekommen, um gegen die Verbindung desselben die ernsteste Einsprache einzulegen.

Der junge Mann war bereits gebunden, in einer durch Familien- und Erbverträge gesicherte Weise gebunden, welche das Wohl und Wehe ganzer Geschlechter von dieser Verbindung abhängig machte. Dazu kam der entschiedene Wille des Vaters, der mit Enterbung, Verstoßung und Fluch drohte. Linkow, im Feuer seiner Liebe, hatte das verschwiegen, weil er trotz der bestimmtesten Versicherungen des Gegentheils immer auf Einwilligung gehofft und dieselbe schließlich durch eine vollzogene Thatsache zu erzwingen gemeint hatte.

Jetzt war der Schleier zerrissen, das Geheimniß enthüllt und der Abgrund, der es verborgen, lag offen da. Ein plötzliches Unwohlsein des Vaters mußte den Vorwand geben, das Fest zu unterbrechen und die Verlobung zu verschieben. Des andern Tages war Oskar von Linkow mit dem Oheim abgereist; den Vater und Lina entführte eine Reise zu Verwandten. Von Linkow kamen wohl einige Male Briefe, welche indeß die Wachsamkeit des Oberforstrathes zu unterdrücken wußte.

Fast drei Jahre waren verflossen, seitdem auch die Briefe aufgehört hatten.

In der Einsamkeit und Stille des Ortes, welche ihr den eigenen Pulsschlag hörbar machte, stürzte nun die ganze Wucht der Vergangenheit auf Lina’s noch immer blutendes Herz, das mit der Zukunft abgeschlossen hatte; sie war wie eine jener weißen Wasserrosen, welche nur einmal blühen, um dann für immer auf den Grund zu versinken.

Schritte, welche sich über die Thurmtreppe herab näherten, schreckten sie empor. Sie sprang auf und wollte entfliehen – es war zu spät. Linkow stand ihr auf der letzten Treppenstufe gegenüber; sie konnte nicht ausweichen; sie mußte ihn entweder an sich vorübergehen lassen oder sich entfernen – das letztere verschmähte sie, weil es einer Flucht geglichen hätte, die ihrer nicht würdig war. Sie fiel auch nicht in Ohnmacht wie gestern; sie blieb ihrer Sinne vollkommen mächtig und sah fest dem entgegen, was kommen sollte.

Eine nicht minder heftige Bewegung hatte sich des Malers bemächtigt. Langsam trat er die letzte Stufe herab und näherte sich Lina mit ehrfurchtsvoller Verbeugung.

„Entschuldigen Sie, mein Fräulein,“ sagte er mit gepreßter Stimme, „wenn ich Ihnen noch einmal meinen verhaßten Anblick aufdrängen muß.“

„Sie irren, Herr von Linkow,“ erwiderte Lina. „Ich habe allerdings weder gehofft noch gewünscht, Ihnen in diesem Leben noch einmal zu begegnen, aber ich hasse Sie nicht.“

„Ich habe es von Ihnen nicht anders erwartet,“ sagte Linkow warm. „Sie sind zu edel. In Ihrem Gemüthe lebt keine Faser von Haß – – –“

„Erlauben Sie mir, mich zu entfernen,“ unterbrach ihn Lina mit bebender Stimme, „um einem Gespräche ein Ende zu machen, das keinen Zweck hat!“

„O nein!“ rief Linkow, ihr hastig und leicht in den Weg tretend. „Entfliehen Sie nicht! Diese Begegnung hat allerdings einen Zweck – einen hohen, einen erhabenen Zweck.“

„Der könnte sein?“

„Meine Rechtfertigung.“

„Die ist unmöglich.“

„Sie haben Recht – ich habe einen falschen Ausdruck gewählt. Ich kann mich nicht rechtfertigen und will es auch nicht, aber ich kann wenigstens versuchen, Ihnen zu erklären, was bisher unerklärlich war. Karoline,“ fuhr er feurig fort, „ich habe Sie von unsrer ersten Begegnung an geliebt – ich war von da ab fest entschlossen, Sie zu erwerben, und wenn ich Ihnen den Widerstand meines Vaters verschwieg, so geschah es nur, weil ich auf endliche Zustimmung ganz bestimmt hoffen [523] zu dürfen glaubte, wenn er die Ausdauer meiner Liebe kennen, wenn er vollends Sie gesehen haben würde. Wie furchtbar enttäuscht ich von Ihnen gerissen, ja gestoßen wurde, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Mir blieb keine Zeit, keine Gelegenheit, Ihnen Aufklärung zu geben; meine Briefe wurden mir zurückgesandt. Jetzt führt Sie ein günstiger Zufall mir ohne Zeugen entgegen. Nein, ich spreche mit Schiller: ‚Es giebt keinen Zufall, und was wir Zufall nennen, das steigt gerade aus den tiefsten Quellen.‘ Es ist mein Schicksal, das mich noch einmal im Leben vor Sie führt.“

„Mein Herr!“ erwiderte Lina unsicher. „Welche Sprache!? Denken Sie Ihrer Pflichten!“

„Pflichten? Ich habe keine, ehe ich nicht Ihrer Verzeihung sicher bin. Ich kann den Gedanken, ohne diese Verzeihung von Ihnen zu gehen, nicht mitnehmen in mein Leben.“

Lina blickte schweigend zu Boden; sie vermochte weder zu erwidern, noch sich zu entfernen.

„Sie geben mir keine Antwort?“ fragte Linkow nach kurzer Pause der Erwartung. „O, Sie verdammen mich doch, und ich soll das tragen zu dem elenden Dasein, dem ich entgegen gehe; wissen Sie nicht, daß es die furchtbarste Einsamkeit ist, in der man zu Zweien lebt?“

„Seien Sie ein Mann, Linkow!“ entgegnete Lina, „ertragen Sie männlich, was Sie müssen! Wenn Sie nicht die Kraft dazu haben … was soll ich thun, ein schwaches Mädchen!“

Linkow, der im höchsten Grade erschüttert vor ihr gestanden, raffte sich auf und trat einen Schritt zurück.

„Ich will es, Fräulein!“ sagte er unsicher. „Nur reichen Sie mir noch einmal die Hand! Diese theure Hand, die mir gehören, die mich durch’s ganze Dasein führen sollte, wie die meines guten Genius!“

Auch Lina war tief ergriffen; sie schwankte einen Augenblick; dann sagte sie mit von Thränen erstickter Stimme: „Ich glaube kein Unrecht zu begehen, wenn ich Ihren Wunsch erfülle – ich bin schwach genug, ihn zu theilen.“

Sie reichte ihm die Hand, die er leidenschaftlich ergriff.

„O Karoline!“ rief er und machte eine Bewegung, als ob er sie an seine Brust ziehen wolle; Lina stand unmittelbar vor ihm, und es war ungewiß, ob sie die Kraft besaß, sich der Umarmung zu erwehren.

Die Stimme des Forstrathes scheuchte die Beiden aus einander.

„Ist das die Art, wie Sie Ihr Ehrenwort halten, mein Herr?“ rief der alte Mann mit zorngeröthetem Antlitz.

„Vater –“ „Herr Oberforstrath erlauben –“ riefen die Beiden durch einander.

Der Vater wies Lina mit zürnender Geberde bei Seite und trat fest und hochaufgerichtet vor Linkow. „Ich erlaube nichts,“ rief er in gesteigertem Zorne. „Mit einem Manne wie Sie habe ich nichts weiter zu reden. Sie sind ein Elender.“

„Herr – Herr Oberforstrath!“ stammelte Linkow mit erbleichenden Lippen. „Sie – der Vater dieses Mädchens, haben dieses Wort gesagt – Sie haben es in der Verblendung des Zornes gethan; darum hab’ ich es nicht gehört, aber ehe Sie richten, müssen Sie mich anhören, wie Ihr Fräulein Tochter mich angehört hat.“

„Meine Tochter hat daran sehr unrecht gethan,“ sagte Wallner ruhiger. „Was gäbe es, was zwischen Ihnen und meiner Tochter zu verhandeln wäre? Sie sind vermählt –“

„Das bin ich nicht, Herr Oberforstrath,“ sagte Linkow. „Die Dame, welche durch die Verhältnisse mir zur Gattin bestimmt ist, war zur Zeit der Verlobung erst in den Kinderjahren. Die Verbindung wird erst in einiger Zeit stattfinden.“

„Und was haben Sie hier zu schaffen?“ rief der Forstrath wieder. „Indem Sie sich entschuldigen, verwickeln Sie sich immer verächtlicher.“

Die Scene konnte nicht peinlicher sein. Lina brach in helles Weinen aus, Linkow blickte im heftigsten inneren Kampfe vor sich nieder, während die Augen des Forstraths halb bekümmert halb grollend auf ihm ruhten. Wie eine Erlösung vom Himmel kam es über Alle, als plötzlich Schritte vom Thorweg her schollen und Gertl mit dem Schreiben in der Hand erschien. Einen Augenblick stutzte sie; dann trat sie auf den Maler zu. Der Wirth von Flintsbach habe ihm einen Brief nachgeschickt, sagte sie, der sehr wichtig sein müsse, denn ein eigener reitender Bote habe ihn von Rosenheim gebracht.

„Meines Vaters Hand!“ rief Linkow, aus dessen Hand Hut und Malergeräth, die er ergriffen, niederfielen. „Was ist hier geschehen? – ‚Mein lieber Oscar!‘“ las er mit bebender Stimme, doch laut genug, um von Allen verstanden zu werden, während das Blatt in seinen Händen immer mehr zu fliegen begann. „In Eile die Nachricht: Deine Braut hat sich von einem Gardelieutenant entführen lassen und ist bereits mit ihm getraut. – Dieses Ereigniß und die Zustimmung Deiner Familie machen Dich von allen Verpflichtungen los – Du bist frei.“

Eine Pause vollster Ueberraschung folgte. Gertl, die wohl den Zusammenhang errieth, war so bewegt, daß sie wie fest gewurzelt stand, obwohl das Geschäft, das sie hierher geführt, beendet war.

„Frei!“ rief Linkow entzückt. „Frei? Nein, ich bin es nicht. Ich bin gebunden. Hier war, hier bin ich gebunden; hier will ich gebunden sein und bleiben für das Leben und darüber hinaus in alle Ewigkeit.“

Er stürzte zu Lina’s Füßen, die noch immer an der Brust ihres Vaters lag, faßte ihre Hand und drückte sie innig an den Mund; wie einem entsetzlichen Traume sich entwindend, sah und richtete sich das Mädchen empor – wie gestern vor Schmerz vergingen ihr jetzt die Sinne vor Entzücken, und mit schwindendem Bewußtsein sank sie Linkow in die Arme, um, selbst durch den Schleier halber Ohnmacht erröthend, den ersten Kuß auf ihre Lippen zu empfangen.

Gertl eilte hinzu, ihr wie gestern beizustehen, ihr wie am Tage zuvor mit Wasser aus dem nahen Quelle die Schläfe zu befeuchten und sie, wie gestern zum Leid, zum vollen Sonnenschein des Glückes zu wecken.

„Nun, hab’ ich nicht Recht behalten, liebes Fräul’n?“ flüsterte sie ihr zu. „Hab’ ich nicht gesagt, es ist nichts mit dem Unglück und mit dem Aufg’setzt sein? Siehst jetzt – unser Herrgott hat doch Alles recht gemacht.“

Lina konnte ihr nur mit einem Händedruck antworten. Linkow hatte indessen beim Vater die Bitte um die Hand seiner Tochter erneuert.

„Was will ich machen?“ sagte der Oberforstrath ernst. „Nehmen Sie denn mein Kind,“ fuhr er fort, indem er Linkow’s Hand in die Karolinens legte, „versuchen Sie, ihr Leben und Gesundheit durch Ihre Liebe wiederzugeben! Gehört denn einander und rechtfertigt die Fügung des Himmels dadurch, daß Ihr Euch Euren Himmel schon auf Erden schafft!“

Mit den Empfindungen des reinsten Glückes betrat die Familie wieder den oberen Schloßhof und blickte verklärten Auges in die Abendlandschaft hinaus. Auch der Gymnasist hatte sich eingefunden. Er war außer sich vor Freude und holte seinen Matthison wieder hervor. Jetzt war das Gedicht lebendig geworden. Vom nahen Abendthau gelockt, hatte sich sogar das früher vermißte Heimchen eingefunden und begann sein leises Gezirp; auch das Brautpaar, das sich nach langer Trennung wieder gefunden, fehlte nicht, und es hieß in Wahrheit:

„Ihm die treue Rechte sprachlos reichend
Stand sie da, erröthend und erbleichend;
Aber was ihr sanftes Auge spricht,
Sängen selbst Petrark und Sappho nicht!“

– Schweigend, um die Glücklichen nicht zu stören, hatte Gertl indessen sich fortgemacht und den Weg zum Wallfahrtskirchlein auf dem Petersberg angetreten. Allerlei Bilder ähnlichen Glücks, wie sie es eben mit angesehen, tauchten vor ihr auf, und ein nie gekanntes Sehnen hob ihre Brust.

Sie war noch nicht weit gekommen, als sie Männerschritte gegen sich von oben herab kommen hörte und den alten Förster in voller Jagdrüstung über den steilen, steinigen Berg etwas mühsam herniederklimmen sah. Sie rief dem wohlbekannten Mann einen freundlichen Gruß zu, den er aber nur mit einem unwilligen Murren erwiderte; er zaus’te dabei an dem grauen Schnurrbart herum, als ob er dessen Festigkeit prüfen wolle.

„Der muß heut mit dem linken Fuß aufgestanden sein,“ sagte Gertl, ihm unter Lachen nachblickend.

Bald hatte sie den sogenannten Petersstein erreicht, eine kleine Steinplatte, von welcher eine steile Felswand in schauerliche Tiefe abstürzt, welche indeß zugleich einen überraschenden offenen Ausblick in die Gegend gewährt. Auf dem Stein ist der Eindruck [524] eines menschlichen Fußes sichtbar, und die Sage erzählt, der heilige Petrus sei auf seinen Wanderungen auch hierher gekommen, sei still gestanden und habe aus Freude über die Schönheit der Aussicht mit dem Fuße gestampft, so, daß der Eindruck für alle Zeiten geblieben. Wenn es wahr ist, so hat Sanct Peter jedenfalls guten Geschmack bewiesen, denn über die ganze Gegend ist wirklich ein übervolles Maß von Schönheit ausgeschüttet.

Ohne recht zu wissen was sie that, ließ sich Gertl auf den Stein nieder, aber sie sah nicht in die lockende Landschaft hinaus; sie hatte zu viel mit den Gedanken zu thun, die immer lebendiger und deutlicher in ihrem Innern aufstiegen, als wäre ein Schleier davon hinweggezogen worden. Sie verfiel wieder in dasselbe Sinnen, in dem sie schon vor dem elterlichen Hause gesessen. Der Gedanke, wie ihr eigenes Schicksal sich gestalten werde, drängte sich ihr, wie noch nie, klar und unabweislich auf, und Anderl’s Erzählung vom Petersberg fiel ihr ein. Sie war ja nun auf dem Wege nach dem geheimnißvollen Kirchlein. Wie, wenn sie diesen Zufall benutzte und das Orakel, von dem er gesprochen, befragte? Aber schon im Entstehen unterdrückte sie diesen Gedanken wieder als ein schweres Unrecht – „wenn der Herrgott wollt’, daß wir unsere Zukunft wissen“ dachte sie, „würde er es schon darnach eingerichtet haben in der Welt.“

„Nein ich thu’s nicht,“ sagte sie nach einer Weile sich erhebend. „Er wird’s schon machen, wie’s recht ist,“ und beruhigt schritt sie, nachdem sie sich Stirn, Mund und Brust bekreuzt, wie um eine Versuchung abzuwehren, rüstig den Berg hinan. Bald war das Kirchlein mit seinem uralten Säulenportal und dem steinernen Sanct Petrus darüber, mit der Kanzel im Freien und dem schönen grünen Platz um dasselbe erreicht und die Bäume, die denselben wie ein Kranz umgaben, schienen der späten Besucherin ihre Grüße entgegen zu rauschen.

Ihr Geschäft war bald verrichtet. Der Propst, der zugleich Pfarrer, Meßner und Lehrer für die wenigen Kinder der Berghöhe ist, der aber auch gern dem durstigen Wanderer von seinen für sich eingelegten Vorräthen spendet, begleitete sie bis unter die Thür und sah, um von der untergehenden Sonne nicht geblendet zu werden, mit der Hand über den Augen dem dahinschreitenden Mädchen nach.

Gertl kam an der Kirche vorüber. In derselben war es schon tief dämmerig; das Licht der ewigen Ampel war bereits sichtbar, sie aber wandte die Augen ab, denn es kam ihr vor, als ob der heilige Petrus über der Thür sich bewege und ihr zunicke. Rascher wollte sie auf dem Bergweg herunter, aber sie sollte doch nicht vorbeikommen; denn die Stimme des Propstes flog ihr nach und hielt sie fest.

„Wie, Gertl, wirst doch als eine gute Christin nicht an der Kirch’ vorbei gehen?“ rief er. „Sollst wohl dem heiligen Petrus eine Gute Nacht sagen – er ist ein gar guter Schutzpatron.“

Gertl erschrak, daß ihr beinah die Kniee brachen. Nun waren alle guten Vorsätze vergeblich. Sie fand keinen Grund, die fromme Aufforderung des Geistlichen abzulehnen, und sie wandte sich daher gegen die Kirche, während der Propst befriedigt in seine Behausung zurückkehrte.

Ehrfurchtgebietender Schauer wallte ihr aus der röthlichen Dämmerung des Kirchleins entgegen.

Dasselbe war vollständig leer; dunkler Schatten lag schon in den Winkeln und Ecken, um so dunklerer, als das von Jahrhunderten geschwärzte Deckengetäfel das ohnehin sparsame Licht noch minderte. An der Schwelle des Hochaltars kniete sie nieder und betheuerte sich selbst, daß durchaus kein frevelhafter Gedanke sie hierher geführt habe.

Das ewige Lämpchen knisterte; sie erschrak und horchte auf. Sie glaubte darin ein Geräusch zu vernehmen, als ob Jemand zugegen wäre. Bald jedoch beruhigte sie sich, aber nur, um wieder in neue Besorgniß zu verfallen. Wider Willen konnte sie sich eigenthümlicher Gedanken, die in ihr aufstiegen, nicht erwehren. Der alte Anderl hatte so zuversichtlich gesprochen – wenn nun doch etwas an der Sache wäre? Wenn das Orakel, nachdem sie einmal in die Kirche eingetreten, dennoch auch für sie Geltung hätte? Wenn nun, weil Niemand anwesend war, der Spruch für sie dahin lautete, daß sie gar keinen Mann bekommen und ledig bleiben solle? Es ward ihr ganz eigenthümlich um’s Herz. Der Gedanke des Alleinseins und Alleinbleibens, den sie noch nie so recht gefaßt hatte, dehnte sich wie eine unabsehbare Ebene trostlos und ziellos vor ihr aus. Sollte also ihre Mutter die Freude, sie als Braut zu sehen, nicht erleben? Und wenn ihr vollends auch diese Mutter entrissen würde, war es ihr wirklich bestimmt, liebelos und allein bis zum Grabe zu wandeln?

Thränen stiegen ihr in die Augen, aber ihr Gemüth war im Grunde zu gut, als daß sich ein Gefühl von Bitterkeit dareingemischt hätte. Nur eine tiefe, aber wohl erlaubte Wehmuth, bemächtigte sich ihrer, und mit dem Gedanken gläubiger Ergebung schlug sie abermals das Kreuz, um ihre Andacht zu beschließen.

Sie erhob sich, um im nächsten Augenblicke beinahe umzusinken – mit Mühe tappte sie nach der nächsten Betbank, um sich aufrecht zu erhalten. Im Schatten des Seitenaltars regte es sich, als ob dort eine menschliche Gestalt verborgen gewesen wäre und sich aufrichte.

Sie war also nicht allein gewesen – das Orakel konnte doch wahr gesprochen haben. Mit fast verschwimmenden Augen sah sie schärfer nach der Stelle und glaubte zu träumen. Allmählich wurden die Umrisse immer deutlicher; es war kein Zweifel mehr: der Tiroler Stummerl stand vor ihr und hielt ihr mit seinem wohlbekannten Lallen den Hut entgegen.

Mit einem Schrei entfloh sie aus der Capelle, rannte oder stürzte den Bergweg hinunter, als wäre es ein ebener glatter Wiesenpfad, und fiel fast zusammenbrechend und athemlos der erschrockenen Mutter um den Hals, die, wegen ihres längeren Ausbleibens besorgt, ihr schon vor dem Hause entgegenkam. Sie hatte Mühe, sie nur soweit zu beruhigen, daß sie im Stande war, ihr das Vorgefallene zu erzählen.

„Du bist wohl nicht recht gescheidt,“ sagte dann die Mutter lachend. „Wer wird sich denn so etwas einbilden? Du kannst Dir doch denken, daß Dir der heilige Petrus nicht den alten Tiroler Stummerl zum Mann bestimmt.“

„Nein, nein, Mutter!“ rief sie unter fortwährenden Thränen. „Das hat gewiß was zu bedeuten. Die Mutter hat Recht gehabt; ich hätt’ nit so in den Tag hinein leben sollen. Jetzt hat mich unser Herrgott gestraft für meinen Uebermuth und für meinen Fürwitz.“ – –

(Fortsetzung folgt.)



Eine Perle des Harzwaldes.

     Von drüben herüber, von droben herab,
     Dort jenseits des Baches vom Hügel
     Blickt stattlich ein Schloß auf das Dörfchen im Thal.
     Die Mauern wie Silber, die Dächer wie Stahl,
     Die Fenster wie brennende Spiegel!
               Bürger.

Auch über der Gebirgswelt des Harzes, wie über so mancher Gegend unsers deutschen Vaterlandes, liegt der Zauber einer Vorzeit, die den farbenfrischen Bildern der Natur überall unauslöschliche Fußstapfen aufgedrückt hat. Aus dem eintönigen Sausen uralter Tannen und Eichen, in deren Dunkel die Paläste der Kaiser begraben liegen, spricht hier der Geist der Geschichte von großen Tagen der Vergangenheit; und wer Ohr und Herz dafür hat, der wird, wenn er auf den Waldwegen dahinwandelt, mit dem Dichter vernehmen, wie „dem Wurzelknorren entrieselt uralt heiliger Sagenquell“. Am Harz war es, vor allem, wo die deutschen Kronenträger, die Heinriche und Ottonen, in blutigen Schlachten und hartnäckigen Belagerungen um die Befestigung ihrer Macht rangen, wo sie, von den Mühsalen des Thrones ausruhend, die Sorgen der Regierung von sich warfen und in den freien Bergen mit der klaffenden Meute und hellem Hörnerklang Lust suchten im frischen fröhlichen Waidwerke.

In jene Zeit reicht auch die Wurzel der Geschichte einer Stadt zurück, welche man wohl als die „Perle des Harzwaldes“ bezeichnen mag; wir meinen Blankenburg mit seiner herrlichen Umgebung. Es läßt sich kaum ein anmuthigeres Landschaftsbild denken, als das der Blankenburg, wie sie, halb umgürtet von

[525]

Schloß und Stadt Blankenburg im Harz. Nach der Natur aufgenommen von Albert Probst.

[526] grünen Waldbergen, in der blendenden Weiße, welche ihr den Namen verliehen, weit in das Thal hinausleuchtet, eine Lilie im grünen Blätterkranze. Das freundliche Städtchen breitet sich am Fuße des Schloßberges, und zum Theil terrassenartig an diesem emporsteigend, aus, dicht umkränzt von seinen berühmten Kirschbaumplantagen und eingeschlossen von reichbewaldeten Bergzügen, aus denen der durch seine reizende Fernsicht bekannte „Ziegenkopf“ und der romantische „Regenstein“ oder Reinstein mit seiner Burgruine emporragen.

Schloß Blankenburg, jetzt periodisch, und namentlich zur Jagdzeit, Residenz des Herzogs von Braunschweig, war fast fünf Jahrhunderte lang Sitz der Grafen von Reinstein und Blankenburg, eines alten Geschlechtes, das namentlich im Mittelalter in Macht und Ansehen stand, aber auch zeitweilig der Schrecken der umliegenden Städte war, deren zunehmender Reichthum den gewappneten Herren ein Dorn im Auge wurde und sie zu Raub und Plünderung in’s Thal hinunter lockte. Zu den berüchtigtsten Raubrittern unter den Herren von Reinstein gehört Graf Albrecht; nachdem er lange Zeit die Gegend unsicher gemacht hatte, fingen ihn die Bürger von Quedlinburg am St. Kilianstage 1336 und führten ihn im Triumph nach der Stadt. Dort saß der wilde Herr volle achtzehn Monate gefangen, und zwar nicht in ritterlicher Haft, sondern in einem großen Kasten von Eichenholz, so niedrig, daß er nicht aufrecht darin stehen konnte, bis er endlich, am 20. März 1338, Tags zuvor da er geköpft werden sollte, sich den harten Bedingungen betreffs seiner Freilassung fügte. Noch jetzt zeigt man jenen Kasten zu Quedlinburg, in welchem der Stolz des Reinsteiner Herrn gebrochen wurde. Der letzte Sproß dieses alten Dynastengeschlechtes war Graf Johann Ernst; mit ihm, einem vierthalbjährigen Knaben, erlosch der Stamm am 4. Juli 1599, und jetzt, nach abermals dritthalbhundert Jahren, erinnert an diese einst berühmten Harzgrafen außer den Namen nichts mehr, als ihre mit Moder gefüllte, halbverfallene Gruft in der Pfarrkirche zu Blankenburg.

Nach dem Tode des letzten Reinsteiners nahm Herzog Heinrich Julius von Braunschweig die Grafschaft als erledigtes Lehn in Besitz, aber schon dem Sohne desselben, Friedrich Ulrich, ging sie wieder verloren, indem Kaiser Ferdinand der Zweite seinen Generalissimus Wallenstein gegen Zahlung von 50,000 Gulden damit belehnte. Dieser trat sie gegen Wiedererstattung jener Summe an den Grafen Merode ab, aus dessen Besitze sie dann an den kaiserlichen Obristen Grafen Tettenbach überging, bis sie endlich, ausgeplündert durch diese drei fremden Herren und verwüstet durch die Stürme des Dreißigjährigen Krieges, im Jahre 1671 dem Hause Braunschweig zurückgegeben wurde.

Nach einer geraumen Zeit trauriger Verödung kam dann für das Schloß eine glänzende Periode, als Herzog Anton Ulrich im Jahre 1690 die Grafschaft seinem jüngsten Sohne Ludwig Rudolph als Apanage überwiesen hatte. Der Herzog war, namentlich in seinen jüngeren Jahren, ein lebenslustiger Herr, und Blankenburg sah nun vierzig Jahre lang ein nach dem Muster von Versailles geregeltes Hofleben; aus jener Zeit stammen die meisten Reminiscenzen, welche den das Schloß besuchenden Fremden gezeigt werden. Feste und Lustbarkeiten aller Art drängten einander, bald waren es Maskeraden, sogenannte „Wirthschaften“, bei denen der Herzog und seine Gemahlin im Bauerncostüm als Wirth und Wirthin, der Hof aber als Gäste erschienen, bald theatralische Vorstellungen im Schlosse, oder zur Sommerzeit Götterbankete, Ballspiele, Scheibenschießen etc. auf den grünen Parquets des großen Wildparkes, oder Jagden auf den berühmten Wildbahnen der nahen Wälder, welche den Adel des Landes und auswärtige Fürsten auf dem Harzschlosse versammelten.

Unter diesen Gästen treffen wir auch die schöne Favorite August’s des Starken, Marie Aurora Königsmark, die, obgleich damals schon Pröpstin des nahegelegenen alten Reichsstiftes Quedlinburg, doch, von den Weltfreuden verlockt, ihr stilles Kloster verließ, um in den Götterfesten als keusche Diana mitzuwirken. Einen besondern Reiz erhielt der Blankenburger Hof durch die drei ebensowohl durch Schönheit wie durch hohe Geistesbildung ausgezeichneten Töchter des Herzogs, von denen zwei durch ihre Vermählung Kaiserkronen zu tragen bestimmt waren. Damals hallte in den Sälen des Blankenburger Schlosses der gemessene Schritt der spanischen Granden und der schleichende Gang der Jesuiten, dann wieder der schwere Tritt des mächtigen Beherrschers aller Reußen, Peter’s des Großen; sie alle kamen als Brautwerber.

Die älteste Tochter des Herzogs, Elisabeth Christine, ward die Gemahlin Kaiser Karl’s des Sechsten, des letzten Habsburgers – eine Verbindung, die um so weniger die freie Wahl der siebenzehnjährigen schönen Elisabeth war, als derselben ihr Uebertritt zur römisch-katholischen Kirche vorangehen mußte. Sie that diesen Schritt, der in Braunschweig viel Aufsehen und Unruhe verursachte, mit bitterem Herzleid und Gewissensangst, welche auch dadurch nicht gemildert wurde, daß ihr hochbetagter Großvater, Herzog Anton Ulrich, sich zu demselben Schritte entschloß. Der Eintritt Elisabeth’s, der Mutter der großen Maria Theresia, in das deutsche Kaiserhaus brachte schon 1707 für ihren Vater die Ehre, daß Joseph der Erste die Grafschaft Blankenburg zum Reichsfürstenthum erhob.

Die zweite Tochter, Charlotte, ward 1711 die Gemahlin des Großfürsten Alexei Petrowitsch, Sohnes Peter’s des Großen; auch sie hat den Glauben wechseln und zur griechischen Kirche übertreten müssen. Der Czar hatte gehofft, die sanfte Schönheit Charlottens werde den wilden Sinn Alexei’s bändigen; dieser Versuch aber wurde erfolglos mit einem Menschenleben bezahlt: die Großfürstin ward ein Opfer der Rohheit ihres Gemahls. Die Aussicht, einst den Thron aller Reußen zu besteigen, konnte der unglücklichen Tochter Ludwig Rudolph’s, die mit unendlicher Sehnsucht der auf dem väterlichen Schlosse verlebten Jugendtage und der Stille des Harzwaldes gedachte, keinen Trost im Unglück gewähren. „Laßt mich in Frieden sterben,“ waren ihre letzten Worte, „denn das Leben liegt schwer auf mir.“ Charlottens trauriges Geschick und früher Tod haben bekanntlich jene abenteuerlichen Erzählungen veranlaßt, wie sie namentlich durch Heinrich Zschokke’s Novelle „Die Prinzessin von Wolfenbüttel“ bekannt geworden sind; historisch sind sie ganz haltlos und bedürfen keiner Widerlegung. Die öffentlich von der Welt als „Providence Gottes“ gepriesenen, von den Hofpoeten besungenen, von den der Politik und der Ehre des Hauses geopferten Töchtern Ludwig Rudolph’s aber mit tausend Thränen besiegelten Vermählungen gaben nur neue Veranlassungen zu noch glänzenderen Festen; der eitle Prunk war derselbe, mochte sich der Hof zur Feier der Geburt eines kaiserlichen Enkels oder um den mit Kerzen erleuchteten Trauerkatafalk versammeln, welchen man nach dem Tode der Großfürstin in der Schloßkirche aufgerichtet hatte. Es war eben die Zeit, wo sich der innere Jammer unter Schminke und Schönheitspflästerchen barg und der Schmerz durch italienische Opernmusik und Feuerwerksgeprassel getilgt wurde.

Den besseren Theil hatte die jüngste Tochter des Herzogs, Antoinette Amalia, erwählt, indem sie, zufrieden mit einem bescheideneren Loose, ihrem Vetter, dem Herzog Ferdinand Albrecht von Braunschweig, die Hand reichte; sie wurde als Mutter von dreizehn Kindern die Stammmutter des noch jetzt regierenden Hauses.

Erst als Herzog Ludwig Rudolph alt zu werden anfing, verstummte der Lärm der Hoffeste um etwas. Lady Montague, die bekannte Reisende, Gemahlin des englischen Gesandten in Constantinopel, schildert in einem ihrer Briefe den Hof Ludwig Rudolph’s schon als ziemlich eintönig. Sie kam an einem Winterabende bei sehr schlechtem Wetter in Blankenburg an und mußte, da es schon zu spät war, um sich melden zu lassen, in einem dürftigen Gasthause unten in der Stadt übernachten; am andern Tage wurde sie in einem mit sechs Rappen bespannten Wagen den steilen Schloßberg hinaufgefahren. Obgleich von dem fürstlichen Paare außerordentlich freundlich empfangen, da sie Grüße von der Kaiserin aus Wien überbrachte, fand sich die Lady doch unendlich dadurch gelangweilt, daß man die langen Abende mit Kartenspiel verbrachte. Die Herzogin, eine geistreiche Dame, spielte ausnahmsweise nicht, um sich mit der Lady zu unterhalten; der Herzog aber saß unbeweglich am Spieltische bis spät in die Nacht hinein. – In diesem Zuge blieb das Residenzleben auf dem Harzschlosse, bis im Jahre 1731 der bereits sechszig Jahre alte Herzog Ludwig Rudolph in Braunschweig zur Regierung gelangte und mit dem Hofe nun dorthin übersiedelte. Später wohnte und starb seine Gemahlin als Wittwe auf der Blankenburg; die Tage der Jugend und des Glanzes waren dahin, und es wurde öde und still an den Stätten, wo ehemals üppige Lust das Scepter geschwungen hatte.

[527] Ein Hofleben ganz eigener Art sah Blankenburg dann noch am Ende des vorigen Jahrhunderts, als der Graf von der Provence (nachmals König Ludwig der Achtzehnte von Frankreich), der freundlichen Einladung Herzog Karl Wilhelm Ferdinand’s, des Manifesterlassers von 1792, folgend, dort gastliche Aufnahme fand. Der Prinz kam 1796; ihm, dem Vertreter der Legitimität, drängten sich Hunderte von Emigranten nach und zahlreiche Herzoge und Marquis zogen in Blankenburg ein; besonders erregte der bekannte Abbé Edgeworth, Beichtvater Ludwig’s des Sechszehnten, der den König einst auf’s Schaffot begleitet hatte, großes Aufsehen. Ludwig führte hier, fern von den Donnern der Revolution, ein eingezogenes, beschauliches Leben, wohnte aber nicht auf dem Schlosse, sondern gegen einen Miethzins von monatlich sechsundneunzig Thalern in einem größeren Privathause, zeigte sich auch nur selten auf den Straßen und Spaziergängen, wie man meinte aus Furcht, in Meuchelmörders Hände zu fallen. Am 10. Februar 1798 verließ er Blankenburg wieder, um sich nach Rußland zu begeben.

In den letzten dreißig Jahren hat das Harzschloß sich der besonderen Vorliebe des jetzt regierenden Herzogs zu erfreuen gehabt, der namentlich im Herbste dort regelmäßig wohnt und zu den dann veranstalteten großen Jagden viele fremde Fürstlichkeiten um sich versammelt.

Das Schloß selbst, obgleich eine sehr alte Veste, trägt doch jetzt keineswegs mehr den Stempel des Alters, und wenn der Besucher den Schloßberg hinaufsteigt, muß er nicht erwarten einen mittelalterlichen Bau mit Wartthürmen, Zinnen, gewölbten Hallen und Rüstkammern zu finden, wie ihn die Wartburg in so vollendeter Weise zeigt. Dennoch ist ein Gang zum Schlosse hinauf sowohl für den Alterthümler, der dort manches interessante Stück aus dem siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert findet, wie auch für den Freund schöner landschaftlicher Panoramen ein gewiß lohnender; überraschend schön ist die Aussicht, wenn die angrenzenden Berge in frischem Grün prangen und auf den großen Kirschengärten drunten im Thal der Blüthenschnee liegt, oder wenn der Wald in jenem wunderbar vielfarbigen Blätterschmuck dasteht, durch welchen der Herbst sich ankündigt. Unter den zweihundertfünfundsiebenzig Zimmern, welche die vier den inneren Hof umschließenden Schloßflügel enthalten, zeichnet sich vor allen der große „Kaisersaal“ im Rococostyl aus. Er hat seinen Namen von den Kaiserportraits, welche, als Glorificirung der oben erwähnten glänzenden Vermählungen der beiden schönen Töchter Ludwig Rudolph’s, seine Wände schmücken. Ueber dem Kamine hängt das lebensgroße Bild der Kaiserin Elisabeth, die ihr Töchterchen Maria Theresia im Arme hält; dem Kamin gegenüber das ihres Gemahls Kaiser Karl’s des Sechsten, ein echtes Habsburger Gesicht von der ungepuderten Allongeperrücke umwallt.

Ueber dem Haupteingange sieht man Peter den Großen, anscheinend eine Copie nach dem bekannten Gemälde von Le Roy, daneben das Bild seines Sohnes Alexei Petrowitsch, des Gemahls der unglücklichen „Prinzessin von Wolfenbüttel“, eine unheimlich drein schauende Physiognomie, die den Stempel roher Leidenschaften trägt. Charlottens Portrait fehlt hier merkwürdiger Weise, dagegen hängen die gleichfalls lebensgroßen Bildnisse ihrer Eltern, Herzog Ludwig Rudolph’s und seiner Gemahlin Ludovike, bescheiden zurücktretend über den Seitenthüren des Saales.

Auch der sogenannte Rittersaal trägt noch das Costüm des vorigen Jahrhunderts und paßt demnach auch nur zu den „Rittern“, wie wir sie auf gleichzeitigen Bildern in römischen Rüstungen, dazu aber mit dem zierlichen Galanteriedegen an der Seite und der mächtigen Perrücke auf dem Haupte, dargestellt sehen; doch enthält der Saal ein schön geschnitztes altes Büffet und eine Sammlung alter Trinkgeschirre und Tafelaufsätze. In den anstoßenden Zimmern zeigt man mancherlei Erinnerungen, als ausgeschnittene Bilderchen, Spielzeuge, Möbeln etc., welche sich aus der Jugend der Kaiserin und deren Tochter Maria Theresia erhalten haben. Die einst am Epiphaniasfeste 1717 eingeweihete, also auch der Zopfzeit angehörende Schloßkirche ist weiß getüncht und schmucklos; den kostbarsten Schmuck, welchen sie einst besaß, ein prachtvolles großes Crucifix von Elfenbein, mit getriebener Silberarbeit von Michel Angelo, ein Geschenk Peter’s des Großen an den Vater seiner Schwiegertochter, bewahrt jetzt das herzogliche Museum in Braunschweig. Besser bedacht als diese Gott geweihete Stätte ist das Schloßtheater, in dessen freundlichen Räumen sich fast alljährlich eine gewählte Gesellschaft allerhöchster Personen der heiteren Muse erfreut, nachdem sie den Tag über in den Wäldern um Blankenburg des edlen Waidwerkes gepflegt haben; als Curiosität zeigt man hier die dicht vor dem Proscenium aus dem Fußboden hervorragende Spitze des Blankensteins, auf welchem das Schloß erbaut ist; sie dient als Platz für den Orchesterdirigenten.

Unterhalb des Theaters befindet sich als der einzige Raum, der von der ursprünglichen Grafenburg übrig geblieben, ein schauerliches Gefängniß, in welchem der Sage nach Kaiser Lothar 1130 den widerspenstigen Grafen Hermann von der Winzenburg gefangen gehalten hat. Gegenüber, in der Mauer des Schlosses, erinnert ein eingemauertes steinernes Ritterhaupt gleichfalls an die Zeiten des Mittelalters, an die Enthauptung eines Grafen von Wernigerode, der ohne Absagebrief das Schloß Blankenburg erstiegen und ausgeraubt hatte, dafür aber vor einem freien Feldgerichte bei Heimburg den Kopf lassen mußte.

Unter den in neuerer Zeit restaurirten Räumlichkeiten zeichnet sich die nach Südost belegene Zimmerreihe durch ihre einfache Eleganz vortheilhaft aus und bietet aus ihren Fenstern dem Auge ein überraschend schönes Panorama; Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen, wie auch Kaiser Wilhelm haben hier wiederholt logirt. Der ehemals nach französischem Muster mit künstlich gezogenen Hecken, Terrassen und Grotten ausgestattete Schloßgarten ist unscheinbar; um so imposanter dagegen ist der hundertsechsundzwanzig Waldmorgen große Wildpark, der sich besonders nach Westen zu neben dem Schlosse ausbreitet und in welchem Hochwild gehegt wird. Einen prächtigen Hintergrund gewährt dem hochgelegenen Schlosse der dasselbe überragende, elfhundert Fuß hohe „Calvinsberg“, auf welchem die Herzogin Christine Ludovike, eine passionirte Jägerin, ein achteckiges Jagdschlößchen erbauen ließ, das jetzt, sehr vernachlässigt, dem Wilde als Herberge und Tummelplatz dient.

Von der eisernen Verkehrsstraße, welche seit einigen Jahren die Reisenden von Berlin binnen wenigen Stunden bis an den Fuß der „Roßtrappe“ führt, ist auch Blankenburg nicht unberührt geblieben. Seit kurzer Zeit ist an die Stelle des von Halberstadt abfahrenden gelben Postwagens das schwarze Dampfroß getreten, und die grotesken Felswände der „Teufelsmauer“ widerhallen, statt von den gemüthlichen Klängen des Posthornes, vom schrillen Tone der Dampfpfeife.

C. St–n.




Ernst Haeckel’s Gasträa-Theorie.


Eine Theorie, welche die jüngere Zoologenschule nicht weniger lebhaft in Spannung erhält, als die türkische Frage unsere Politiker, verdient auch wohl den Lesern der „Gartenlaube“ ihren allgemeinen Umrissen nach vorgeführt zu werden. Dieselbe beabsichtigt uns nämlich über einige Dinge aufzuklären, über die wir, trotz unseres großen Interesses daran, kaum jemals einen Aufschluß erwartet hätten, nämlich darüber, wie die ersten Thiere ausgesehen haben, die auf der Erde erschienen sind und von denen die andern abstammen müssen, wenn die Darwin’sche Theorie eine Wahrheit ist. Es liegt den Zwecken der „Gartenlaube“ fern, neuen Theorien, die sich noch im heftigsten Läuterungsfeuer der Meinungen befinden, Anhänger zu werben, und der folgende Artikel will nur weiteren Kreisen eine offene, jedenfalls sehr wichtige Frage darlegen, die sich Jeder nach seinem Standpunkte und Wissen selber zurechtlegen und beantworten mag.

Es sei uns zuvörderst gestattet, die einfachen nackten Thatsachen, welche diese viel angefeindete Theorie in’s Dasein riefen, mit Hülfe einiger Abbildungen zu erläutern, welche die Entwicklungsgeschichte einer kleinen, vor einigen Jahren von Professor Haeckel im Rothen Meere entdeckten und zu Ehren Darwin’s [528] Monoxenia Darwinii benannten Koralle darstellen.[1] Das junge Thier erscheint, wie alle seine irdischen Brüder ohne Ausnahme, zunächst als ein kleines, mit Flüssigkeit erfülltes Bläschen (Fig. A), in welchem sich bald darauf ein sogenannter Zellkern bildet (Fig. B). Durch wiederholte, am Zellkern beginnende Theilung oder sogenannte Furchung entstehen daraus nacheinander zwei, vier, acht, sechszehn, zweiunddreißig u. s. w. Zellen, die zuletzt einen dichten, kugelförmigen Haufen von der Gestalt einer Brombeere oder Maulbeere (Morula) bilden (Fig. C. D. E). Dann rücken die einzelnen Zellen in der Mitte auseinander und umschließen in Blasenform einen mit Flüssigkeit gefüllten Hohlraum (Fig. G). Diese inzwischen mit Flimmerhaaren umwachsene Hohlblase (Fig. F) läßt, lustig umherschwimmend, bald darauf eine Einstülpung wahrnehmen (Fig. H), die immer tiefer wird, bis der ursprüngliche Hohlraum völlig verschwunden ist und beide Zellenlagen, sich dicht aneinander schmiegend, einen neuen Hohlraum gebildet haben, der sich bis auf eine kleine Oeffnung schließt (Fig. I. K). Es ist dies ein Abbild der Gasträa, die der Theorie, von der wir sogleich sprechen, ihren Namen gab.

Das Nachdenkliche an der Sache, was eigentlich jeden nicht auf den Kopf gefallenen Zoologen zum Theoretisiren herausfordern müßte, besteht nun darin, daß der eben beschriebene, höchst einfache Entwicklungsgang bei Thieren der verschiedensten Berufsarten, bei Schwämmen und Korallen, Medusen und Würmern, bei Krebsen und Sternthieren, bei Muscheln und Schnecken, ja sogar bei dem niedrigsten Wirbelthier, in ganz derselben Weise verläuft, sodaß unser Gruppenbild nicht allein die ersten Entwicklungsstufen der genannten Koralle, sondern mit nur dem Kenner merklichen Abweichungen auch diejenigen von hundert andern Thieren aus den verschiedensten Abtheilungen des Reiches, die im ausgewachsenen Zustande auch nicht die leisesten Aehnlichkeiten unter einander darbieten, vorstellen könnte. Aber noch mehr, Haeckel hat in einer wichtigen, vor drei Jahren erschienenen Abhandlung über „Die Eifurchung der Thiere“ zu zeigen gesucht, daß obige Entwicklungsstufen bis zur Gasträa-Form, wenn nicht den genauen Umrissen nach, so doch in erkennbar davon abgeleiteten Formen schlechterdings bei allen Thieren, vom niedersten bis zum höchsten, wiederkehren, so daß hier ein allgemein gültiger Grundtypus der ersten Schritte der Thierwelt vorliegt.

Man kann von dieser nicht zu leugnenden Uebereinstimmung der ersten Anläufe aller thierischen Entwicklung zweierlei Erklärungen versuchen, indem man nämlich entweder annimmt, aus rein formellen Ursachen müsse sich überall erst eine Blase mit einfacher Zellenwandung und dann ein doppelwandiger Hohlbauch bilden, oder indem man schließt, jene Reihenfolge sei die Wiederholung des natürlichen Entwicklungsganges der Dinge, und alle eigentlichen Thiere leiteten sich demgemäß von einer der Entwicklungsstufe K im Wesentlichen gleichen Grundform ab. Dies ist die vielberufene Gasträa-Theorie, die zuerst von Haeckel in seinem großen Werke über die Kalkschwämme (1872) aufgestellt wurde und seitdem der Gegenstand ebenso heftiger Angriffe, wie herzlicher Zustimmung gewesen ist.

Die Entwickelung von Monoxenia Darwinii,
einer Koralle des rothen Meeres, nach Haeckel.

Für die erstere Meinung sind keine anderen Gründe in’s Feld geführt worden, als eben der, daß die zweite unzulässig sei, und es wird nunmehr unsere Aufgabe sein, zu zeigen, welche Gründe Haeckel veranlassen konnten, eine so kühne Behauptung aufzustellen. Jeder unserer Leser weiß, meistens aus eigener Beobachtung, daß der Frosch in seiner Jugend, als sogenannte Kaulquappe, einem Fische in Gestalt und Lebensweise gleicht, und die Forschung hat gezeigt, daß auch alle höheren Wirbelthiere in ihren frühesten Entwicklungszuständen gewisse Aehnlichkeiten mit den Fischen darbieten. Da nun die Fische nachweisbar die ältesten Wirbelthiere sind, welche schon vor der Bildung unserer Steinkohlenlager im Urmeere lebten, und da die Fische unserer Zeit in ihrer Jugend den damals lebenden Urfischen gleichen, so hat man daraus in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts den Schluß gezogen, diese Aehnlichkeiten kämen daher, weil die niederen Thiere auf dem Wege, höhere Thiere zu werden, stehen gebliebene Anfänger seien. Den geistvolleren Forschern entging keineswegs, daß diese noch heute von einigen Querköpfen festgehaltene Meinung eine Umkehrung von Ursache und Wirkung sei, und dem Vater der neueren Entwicklungsgeschichte, Karl Ernst von Baer, ging bereits 1828 die Ahnung der Gasträa-Theorie auf, als er schrieb: „Je weiter wir in der Entwicklung zurückgehen, um desto mehr finden wir auch in sehr verschiedenen Thieren eine Uebereinstimmung. Wir werden hierdurch zu der Frage geführt: Ob nicht im Beginne der Entwicklung alle Thiere im Wesentlichen sich gleich sind, und ob nicht für alle eine gemeinschaftliche Urform besteht. Da der Keim das unausgebildete Thier selbst ist, so kann man nicht ohne Grund behaupten, daß die einfache Blasenform die gemeinschaftliche Grundform ist, aus der sich alle Thiere nicht nur der Idee nach, sondern historisch entwickeln.“

Diese dämmernden Ahnungen begannen erst eine bestimmte Form anzunehmen, als Haeckel im Jahre 1868 die Darwin’sche Theorie in die Praxis einführte, indem er ein genealogisches System entwarf, d. h. den Stammbaum der Thiere zu zeichnen suchte, wobei er freilich nach Art der Wappenmaler seine Phantasie zu Hülfe nehmen mußte. Hatte doch Darwin, von der Krone des Baumes ganz abgesehen, nicht einmal die Hauptäste angedeutet, ja demselben natürliche Wurzeln abgesprochen. Damals und bei diesen Bemühungen wurde es Haeckel klar, daß die Darwin’sche Theorie ewig ein Gewebe von Meinungen bleiben [529] müsse, wenn man nicht die Spuren der vermutheten Abstammung am lebenden Wesen und in dessen Entwicklung selbst nachweisen könne, und damals bereits stellte er sein entwicklungsgeschichtliches Grundgesetz auf, welches lautet: Die Keimesgeschichte ist der Auszug der Stammesgeschichte, d. h. mit anderen Worten: die Zustände, die ein Thier in seiner Entwicklung durchläuft, sind mehr oder weniger veränderte Nachbilder seiner Ahnen, eine leibhaftige Ahnengallerie. Durch dieses Gesetz hat die Abstammungslehre erst Fleisch und Blut, Hand und Fuß gewonnen; sie ist nun kein haltloser Schatten mehr, sondern wir können mit Secirmesser und Mikroskop ihre Aufstellungen begründen oder zurückweisen. Das ist es, was ich mit den Worten sagen wollte: Haeckel habe die Darwin’sche Theorie in die Praxis eingeführt. Nun wieder zu unserem speciellen Thema!

Außer den schon mitgetheilten Gründen giebt es noch zwei andere, welche der Gasträa-Theorie sehr günstig zu sein scheinen und ihr eine gewisse Wahrscheinlichkeit sichern. Erstens nämlich begegnen die oben beschriebenen, bei niedern Thieren vollkommen mündig im Wasser umherflanirenden Herren F, K u. s. w. auf Schritt und Tritt Doppelgängern, die schon auf der Höhe ihrer Laufbahn stehen und doch diesen kleinen Anfängern auf’s Flimmerhaar gleichen, ihnen ähnlich sehen wie ein Ei dem andern, und dazu kommt zweitens die Erwägung, daß es aus physiologischen und mechanischen Gründen gar nicht gut ohne die Gasträa abgegangen sein kann, wenn die Darwin’sche Theorie auch nur einen Schatten von Wahrheit einschließt. Die Sache wird beinahe so wahrscheinlich, wie die, daß wir Alle einmal Wickelkinder gewesen sind.

Was den ersten Punkt betrifft, so bestehen die niedersten lebenden Wesen, welche wir durch Haeckel’s Forschungen (seit 1864) kennen, die Moneren, gerade wie die niederste Stufe (Fig. A) aller jetzt lebenden Thiere aus einem Tröpfchen lebendigen Schleims, dem also in beiden Fällen alle Lebensfähigkeiten einwohnen. Da wir uns noch einfachere Wesen nicht einmal zu denken im Stande sind, so müssen die dieser Einfachheit wegen sogenannten Moneren jedenfalls die erste Sprosse der thierischen Stufenleiter gebildet haben, und diesen Urbildern zu Liebe nennt Haeckel die betreffende, ihnen gleichende Entwicklungsstufe Monerula. Aus der Monerula wird durch Abscheidung des Kernes eine sogenannte Zelle und von gleichwerthigen einzelligen Wesen, die durch Umbildung ihrer Haut mancherlei Gestalten annehmen, wimmeln alle stehenden Gewässer. Die durch wiederholte Furchung der Zelle entstehenden Zellenklümpchen begegnen ebenfalls im Meere wie im süßen Wasser mannigfachen Ebenbildern, die nach Alter und vollkommener Aehnlichkeit ihre Urahnen sein könnten. So könnte man denn auch die als Larvenform Blastula oder Planula genannte Blase (Fig. F) mit mancherlei voll ausgebildeten Thierchen verwechseln, die genau ebenso aussehen. Unter Andern entdeckte Haeckel 1869 an der norwegischen Küste ein Kugelthier (Magosphaera planula), welches auf das Vollkommenste dem Begriffe einer „Planäade“ entspricht, gerade so aussieht und entsteht wie unsere Entwicklungsform, nur daß sie zufrieden ist, es „so herrlich weit gebracht zu haben“ und niemals, so weit beobachtet, den Versuch macht, durch Einstülpung weiter zu kommen, vielmehr das oben abgebildete Einmaleins immer wieder von vorne anfängt.

Wenn wir nun zu der nächsten Hauptstufe übergehen, um die es sich hier hauptsächlich handelt, so müssen wir zunächst gestehen, daß man freischwimmende Gasträaden unter den „vollendeten“ Schwimmern noch nicht kennen gelernt hat, wiewohl es dieser erst nach längerer Beobachtung zu „entlarvenden“ Bäuchlinge genug geben mag. Beobachten wir aber die wirkliche Larve, hinter der sich ein Schwammthier, eine Koralle oder ein sonstiger Ableger vom Polypenstamm verbergen mag, einen Augenblick weiter, so sehen wir sie demnächst vor Anker gehen, indem sie mit dem der runden Oeffnung entgegengesetzten Ende ihres Körpers auf Felsen oder Tanglaub festwächst und in diesem festgewachsenen Zustande ihre weitere Entwicklung vollendet, Notabene, wenn sie eine solche haben. Denn unter den Kalkschwämmen sowohl, wie unter den naheverwandten Fläschchenthieren (Physemarien) hat Haeckel eine Anzahl verschiedener Thiere nachgewiesen, die nur in ganz unwesentlichen Dingen über die Bildungsstufe der Gasträaden hinaus kommen, als solche leben und sterben. Unsere Figuren L und M stellen eine solche festgewurzelte „Gasträade“ vor, die ihre Hauptschicht mit Sandkörnchen und Nadeln von Kalkschwämmen inkrustirt hat. Es ist das Meerfläschchen (Haliphysema primordiale) aus dem Mittelmeer, welches man meist auf Meerpflanzen festgewachsen findet. Andere durch die Auswahl ihrer Panzernadeln unter dem Mikroskope noch viel zierlicher erscheinende Fläschchenthiere hat Professor Haeckel in einer im vorigen Jahre erschienenen Abhandlung über die „Gasträaden der Gegenwart“ abgebildet.

Wir sehen daran, daß der Name Gasträade oder Bäuchling nicht blos formell, sondern auch physiologisch richtig ist, denn wie der Apostel Paulus einst, mit dem griechischen Worte Gaster spielend, von den Kretern behauptete, so könnte man vielleicht mit noch mehr Recht von diesen Meerfläschchen sagen, es seien „faule Bäuche“. Das ganze Thier ist ein „Bauch sans phrase“, der nichts thut als verdauen, was sich in ihn verirrt. In früheren Zeiten, als man noch gar nicht ahnte, daß manche Pflanzen mit ausgezeichneten Bäuchen versehen sind – der geneigte Leser wolle sich nur der im Jahrgange 1875 der „Gartenlaube“ abgebildeten Kannenpflanzen[WS 1] erinnern –, haben einige Naturforscher geglaubt, der Besitz eines Magens sei der durchgreifendste Charakter, der das Thier von der Pflanze unterscheidet, und so viel ist wahr daran, daß die Gasträaden die ersten Thiere sind, bei denen sich der Hauptunterschied des Thieres von der Pflanze, Centralisirung aller Thätigkeiten, zeigte. Bei den höheren Thieren sind Kopf oder Herz diese Centra, die den Pflanzen fehlen; auf der ersten Stufe konnte nur der Magen diesen vornehmen Platz einnehmen. Mit gutem Fug stellt Haeckel anderseits alle thierartigen Wesen, die sich noch nicht bis zur Bildung eines solchen Urmagens erhoben haben, mit den niedersten pflanzenartigen Gebilden in das neutrale Reich der Protisten oder Urwesen.

Das Meerfläschchen L von außen, M im Durchschnitte.
Der Bauch- oder Urdarm d öffnet sich oben in den Urmund m, durch welchen die jungen Keimzellen e austreten, um sich in der oben geschilderten Weise zu neuen Gasträaden zu entwickeln. Während die Zellen des Hauptblattes h unter einander und mit den fremden Körpern verschmolzen sind, bleiben die mit Flimmerhärchen bedeckten des Magenblattes g deutlicher unterschieden.

Wir kommen damit zur philosophischen Bedeutung der Gasträa-Theorie, in welcher möglicher Weise ihre Stärke ruht. Fragen wir uns, wodurch ein Wesen sich über das andere erhebt, so lautet die Antwort: durch die in seinem Bau weiter getriebene Arbeitstheilung. Bei den niedrigsten Lebewesen, die noch nicht einmal den Werth einer Zelle erreicht haben, bei den Moneren, ist der zähe Schleim, aus dem sie bestehen, zugleich Hand und Fuß, Haut und Magen, Kopf und Herz. In der Zelle ist ein kleiner Fortschritt insofern vorhanden, als da doch bereits ein Ministerium für äußere und eins für innere Angelegenheiten erscheint; es giebt eine Oberhaut mit provisorischen Bewegungsorganen [530] und ein Oberhaupt in Gestalt des Zellkerns. Aber eine ersprießliche Arbeitstheilung kann offenbar erst erzielt werden, wenn sich mehrere Zellen oder Elementarwesen in die laufenden Geschäfte derartig theilen, daß jede derselben etwas Anderes und zwar immer dasselbe verrichtet und es durch Uebung in seinem Fache zur Meisterschaft bringt. Das ist die Bedeutung der rapiden Zellentheilung, die wir bei jedem jungen Wesen, das es zu etwas bringen will, alsbald eintreten sehen. Und dabei war nun allerdings die Bildung einer Gesellschaft für gute Verdauung in demselben Maße die wichtigste und erste Aufgabe, wie der Hunger noch heute von allen thierischen Trieben der am gebieterischsten seine Stellung fordernde ist. Sehen wir die Keimblase (Fig. F) an, die Ernst von Baer für die Urform der Thiere hielt! Da ist noch jede Zelle soviel werth wie die andere, jede hat ihren Geißelfaden, jede verdaut, athmet, jede kann nach Auflösung des Gemeinwesens eine neue Republik begründen. Haeckel denkt sich den Fortschritt nun so, daß von diesem Zellenstaat eine Bürgergruppe angefangen haben mag, sich vorzugsweise der Nahrungsaufnahme zu widmen. Da es für diesen Zweck günstiger sein mußte, wenn diese Gruppe etwas geschützt lag, so bildete sich allmählich in ganz mechanischer Weise durch natürliche Züchtung ein Grübchen, welches sich im Verfolg dieses Vorganges immer mehr vertiefte und, indem sich die Ernährungsthätigkeiten ganz hierher zurückzogen, zu einem vollkommenen Magen wurde.

Ein guter Magen war die nothwendige Vorbedingung weiterer Entwicklung, das ist auf jeden Fall die Erklärung des Umstandes, daß alle höheren Thiere von dem Urmagenthier abstammen. Wir sehen aber ferner in unserem Bilde die Verdauungszellen von einer schützenden Hautzellenschicht umgeben, denen zunächst die Bewegung des Ganzen und Führung der äußeren Geschäfte oblag. Wir dürfen uns also verständigerweise nicht wundern, aus diesen den Verkehr mit der Außenwelt vermittelnden Zellen auch in der Entwicklung höherer Thiere die edelsten Organe, die Sinne, hervorgehen zu sehen, weshalb man diese äußere Schicht auch das Hautsinnesblatt in der Kunstsprache der Entwicklungslehre nennt. Die übrigen Gewebe gehen später aus Verdoppelungen dieser beiden ersten Keimblätter hervor, und ich will nur noch, da ich mich hier nothwendig kurz fassen muß, hinzusetzen, daß das Nervensystem in einem sehr innigen Anschlusse an die Ausbildung der Ernährungswerkzeuge fortschreitet und daß es kein Zufall zu sein scheint, wenn das Gehirn der Thiere sich überall in der Nähe des Schlundes ausgebildet hat.

Sehr bedeutsam ist ferner für den Forscher die Vergleichung des weiteren Verhaltens der Darmlarve in der Entwicklungsgeschichte zweier sie selbst nur wenig überragenden Thierclassen, nämlich der niederen Schwämme und der niederen Würmer. Es sind dies die einfachsten Formen der beiden Hauptgruppen des Thierreiches, der Pflanzenthiere einerseits und der übrigen Thiere anderseits. Bei den ersteren, zu denen Schwämme, Korallen, Polypen und Quallen gehören, setzt sich die Darmlarve alsbald, wie wir bei dem Meerfläschchen sahen, fest. Es war dies, wenn wir die Theorie einen Augenblick für bewiesen annehmen, ein Act von den bedeutsamsten Folgen für die fernere Ausgestaltung der Gruppe. Alle Pflanzenthiere, die sich von diesen vor Entwicklung äußerer Organe vor Anker gegangenen Magenthierchen ableiten, erwarben dadurch für ihre später ausgebildeten Gliedmaßen eine regelmäßige blumenblattartige Anordnung derselben um die Schlundöffnung, die dabei als Mittelpunkt in Betracht kam. Sie sind ihr Lebelang nicht über den Zustand oftmals herrlich aufgeputzter Bäuche hinausgekommen.

Auf der anderen Seite ging aus denselben Anfängen die Partei der Fortschrittler hervor, denen zu allen Zeiten die Welt gehörte. Die Darmlarve entwickelt sich schwimmend und frei weiter, als ahnte sie den weiten Weg, der vor ihr lag, und der Entschluß, sein Fortkommen und seine Nahrung sich selbst zu suchen, statt den Mund aufzusperren und mit dem, was freiwillig hineinfliegt, zufrieden zu sein, wurde die Ursache zur Ausbildung vollkommener Bewegungs-, Ergreifungs- und Sinnes-Organe. Das Magenthier streckte sich bei seinem „Vorwärtsstreben“ etwas länger und wurde ein Wurm, der sich stets in einer bestimmten Richtung bewegte und daher ein Vorn und Hinten, Oben und Unten, Rechts und Links erhielt, wie es alle höheren Thiere mit Ausnahme eben der Pflanzenthiere und einiger nachträglicher Nachahmer derselben aufweisen. Von den niedrigen Würmern aber führen Beziehungen zu sämmtlichen höheren Thieren, so daß sie sich alle von dem Urmagenthier herleiten lassen. Da die niedern Thiere in ihren Jugendzuständen frei umherschwärmen und also als sogenannte Larven bereits in den Kampf um’s Dasein eintreten, so können wir uns nicht wundern, daß sie auch die Einwirkungen davon in mancherlei gestaltlichen Wandlungen des ursprünglichen Entwicklungsganges, wie wir ihn oben vorführten, erlitten, und dies könnte als eine der Ursachen betrachtet werden, warum das Urmagenthier nicht in der Jugendgeschichte aller Thiere gleich deutlich hervortritt. Wie wir schon erwähnt, läßt es sich aber stets, wenn auch bisweilen in etwas „derangirter Toilette“, wiedererkennen.

Enthusiasten der mechanischen Welterklärung werden in künftigen Jahrhunderten möglicher Weise behaupten, jenes eingedrückte kleine Ei, welches wir kennen gelernt haben, sei das Ei des Columbus in der Entwickelungslehre, und äußerlich wenigstens läßt sich die Sache so an, denn während ein Theil der Zoologen sich an Stelle des Eies selber auf den Kopf stellt, um damit zu beweisen, das Problem sei doch noch nicht gelöst, denken die Andern bei sich: „das hätten wir auch gekonnt“ und schelten auf den kühnen Segler, der ihnen zuvorgekommen. Es ist nun einmal das Schicksal der neuen Theorieen, um so heftiger angefochten zu werden, je bedeutender sie sind. Wir wollen nicht von Galilei sprechen, denn als er die Copernicus’sche Theorie für mehr als eine bequeme Lehrmethode erkannte, sah sich die Autorität der Kirche bedroht. Aber ging es Huygens mit seiner Lichttheorie vor zweihundert Jahren, oder, um das nächstliegende Beispiel nicht zu vergessen, Caspar Friedrich Wolff mit seiner Theorie, daß alle Wesen Neubildungen seien, etwa anders? Ersterer hatte den scharfsichtigsten Physiker und Mathematiker der Zeit, Newton, gegen sich, der Berliner Anatom sogar alle gleichzeitigen Naturforscher von Ruf und Ansehen. Heute werden die Astronomen und Physiker schamroth, wenn sie die Lehren des Copernicus und Huygens noch immer Theorie nennen sollen. Aber es sind Theorieen, wie so vieles, was wir als Gewißheit ausgeben, und die Schöpfung der Welt aus Nichts, oder die Bildung des Menschen aus einem Erdenkloß sind auch Theorieen. Nur der Grad der inneren Wahrscheinlichkeit gewährt der einen den Vorrang vor der andern. Gewißheit haben wir nur für die wenigsten unserer Meinungen, und deshalb können wir, falls der Eine von uns felsenfest an die Gasträatheorie glauben sollte und der Andere ganz und gar nicht, doch ohne Groll von einander Abschied nehmen und ohne Unruhe schlafen.

Carus Sterne.




Am Grabe meines Alfred.


So bist Du früh dahingegangen,
Den ewig Schlummernden gesellt,
Mit diesem glühenden Verlangen
Nach jedem höchsten Preis der Welt,

5
Mit diesem Streben unermessen,

Mit diesem Geist so scharf und klar …
Im Windhauch schauern die Cypressen …
Dahin, dahin auf immerdar!

Wie oft mit meinem Vatersegen

10
Erfleht’ ich Dir ein hohes Glück

Und sah von späten Lebenswegen
Auf Deiner Jugend Lenz zurück.
Wohl durft’ ich seinen Zauber hüten
Und mehren seiner Freuden Glanz;

15
Es wurden alle seine Blüthen

Für mich ein jugendfrischer Kranz:

[531]

Da klang mir aus dem Neckarthale
Des frohen Sanges Wiederhall,
Das Hoch bei schäumendem Pokale

20
Und der gekreuzten Schläger Schall ...

Und jetzt ... nur Trauerlieder schwingen
Mit schwarzem Flug sich durch die Luft.
Noch einmal blitzen blanke Klingen:
Der Freunde Gruß an off’ner Gruft.

25
Jetzt bringt mir Wehmuth jede Wonne,

Die schmerzlich das Geschick verklagt;
Mich mahnt der heit’re Blick der Sonne
An Alles nur, was Dir versagt.
Mein Gram umflort, was einst Dir theuer,

30
Seitdem Dein liebes Auge brach,

Aus dem der Jugend Muth und Feuer,
Der edeln Seele Zauber sprach.

Für alles Große, Gute, Schöne
War Dein begeistert Herz erglüht:

35
Es zog die Harmonie der Töne

Hell durch Dein innerstes Gemüth.
Doch ach, die selbstgeschaff’nen Lieder,
Sie regten ihre Fitt’ge kaum,
Da rollt die Scholle dumpf hernieder

40
Auf eines künft’gen Lorbers Traum.


O, Alles, wächst dem Licht entgegen
Selbst Deines Grabes Zier gedeiht!
Die junge Esche muß sich regen,
Bis sie dem Marmor Schatten leiht;

45
Die Cedern selbst zu dunkler Fülle

Entfalten sich von Jahr zu Jahr ...
Starr ruhst Du in der Leichenhülle;
Dahin, dahin auf immerdar!

So ist von mir ein Freund geschieden,

50
Der fest an meinen Stern geglaubt!

Du fandest allzufrüh den Frieden,
Den scheidend Du mir selbst geraubt.
Um Deine Jugend ward ich ärmer,
Die mir ein doppelt Leben gab! ..

55
Der Abend sinkt .. ein Dämm’rungsschwärmer

Umschwebt mit müdem Flug Dein Grab.

 Rudolf Gottschall.


Deutsche Künstler in Rom.
Von Ernst Eckstein.

Seit Jahrhunderten ist Rom das Mekka unserer begeisterten Kunstjünger. Politische und sociale Wandlungen haben hieran so wenig geändert, wie ästhetische und philosophische. Die Kluft zwischen der Gegenwart und dem Zeitalter Goethe’s ist eine ebenso riesige, wie die zwischen dem alten kirchenstaatlichen Regiment und dem nationalen Königthum Humbert’s und Victor Emanuel’s; die rein ästhetische Welt- und Lebensbetrachtung ist seit jenen Tagen immer entschiedener zurückgewichen, genau so, wie die Grenzen des ehemaligen Patrimonium Petri: aber der Zauber, den die ewige Stadt auf Alles ausübt, was da künstlerisch denkt und empfindet, ist derselbe geblieben, und noch heute darf man kühnlich behaupten, daß es keinen Punkt der bewohnten Erde giebt, wo sich das wahrhaft schöpferische Talent so wohl, so glücklich, so im Vollgenusse seiner geistigen und gemüthlichen Kräfte fühlt, wie in Rom. Tausend begeisterte Künstlerherzen haben diese Wahrheit in allen Gauen verkündet, sodaß schon der bloße Name Rom genügt, um die Herzen der Schönheitsfreunde höher schlagen zu lassen – sei es im schwärmerischen Glück der Erinnerung, sei es in jener unwiderstehlichen Sehnsucht, die den Grafen Platen zu dem Ausspruch vermochte: „Ich muß nach Italien, und wenn ich mich dahin betteln sollte.“

Zwei Momente sind es vorzugsweise, die den Aufenthalt in Rom für den productiven Künstler so begehrenswerth machen. Einmal, wie selbstverständlich, die ungeheure Fülle von Meisterwerken aus allen Perioden der Plastik, der Malerei und der Architektur; dann aber – und es will mir fast scheinen, als ob dieser zweite Punkt in seiner Art fast ebenso wichtig wäre, wie der erste – die eigenthümliche Physiognomie des Lebens, die harmonische Gestaltung aller Existenzverhältnisse, die ruhevolle, zwischen olympischer Heiterkeit und leiser Elegie vibrirende Stimmung, die hier wie ein undefinirbares Etwas die ganze Atmosphäre durchgeistigt. Nur die wunderbare Vereinigung dieser beiden Momente erklärt die souveraine Stellung Roms vor allen anderen Städten Europas. Die Gemäldesammlungen von Madrid und Florenz sind den römischen Gallerien weit überlegen; das Leben und Treiben des Alterthums tritt uns am Golfe Neapels, in Pompeji und dem reichgefüllten Nationalmuseum ungleich anschaulicher vor die Seele, als in Rom; auch an landschaftlichem Reiz steht die Siebenhügelstadt hinter Florenz und Neapel zurück: und doch vermag keine dieser Städte als Künstleraufenthalt mit der unvergleichlichen Königin am Tiberstrande zu wetteifern.

Das Leben in Rom ist ein im schönsten und tiefsten Sinne des Wortes behagliches, anregend ohne aufregend, reich ohne erdrückend zu sein. Der Blick wendet sich hier von dem fiebernden Ringen um irdische Glücksgüter, von dem rastlosen Kampf des Jahrhunderts hinweg; er weilt einerseits auf jener großartigen Trümmerwelt, die ihm die Richtigkeit alles Irdischen und hiermit die praktische Weisheit eines vernunftgemäßen Lebensgenusses predigt; andererseits aber mustert er mit unsäglichem Wohlgefühl die unermeßlichen Schätze, die das Gemüth aus den Regionen der Vergänglichkeit wieder emporheben in das Reich der unvergänglichen Schönheit. Das Bewußtsein dieser künstlerischen Fülle, die uns von allen Seiten zum stillen Genusse ladet, verbunden mit der Herauslösung unseres Ichs aus den prosaischen Interessen des Zeitalters, übt zu Anfang einen wahrhaft berauschenden Einfluß aus. In gewissem Sinne glaubt man erst jetzt zu leben; das befremdliche Distichon August’s von Platen:

„Zeit nur und Jugend verlor ich in Deutschland; Lebenserquickung
Reichte zu spät Welschland meinem ermüdeten Geist ...“

wird uns mit einem Male als Ausdruck dieser Stimmung verständlich. In der That haben fast alle künstlerisch veranlagten Menschen in ähnlicher Weise die Uebersiedelung nach Rom als ein Glück, als eine Gnade des Himmels gefeiert. So ruft Goethe in seiner siebenten Elegie:

„O, wie fühl’ ich in Rom mich so froh, gedenk ich der Zeiten,
     Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing,
Trübe der Himmel und schwer auf meinen Scheitel sich senkte,
     Farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag,
Und ich über mein Ich, des unbefriedigten Geistes
     Düstere Wege zu spähn, still in Betrachtung versank!
Nun umleuchtet der Glanz des helleren Aethers die Stirne:
     Phöbus rufet, der Gott, Formen und Farben hervor.
Sternhell glänzet die Nacht; sie klingt von weichen Gesängen,
     Und mir leuchtet der Mond heller als nordischer Tag.
Welche Seligkeit ward mir Sterblichem! Träum’ ich? Empfänget
     Dein ambrosisches Haus, Jupiter Vater, den Gast?“

[532] Was eben noch stürmisch wogte, wird hier nach und nach zur ruhigen, krystallklaren Fluth; das künstlerische Gemüth kommt völlig in’s Gleichgewicht und erreicht so den höchstmöglichen Grad von Fähigkeit, das Ewige wiederzuspiegeln, das heißt schöpferisch thätig zu sein.

Die deutschen Künstler in Rom bilden eine stattliche Colonie, eine Gemeinde für sich, die, ohne sich gegen die römische Gesellschaft grundsätzlich abzuschließen, doch vorzugsweise unter einander verkehrt, ihre besonderen Kaffeehäuser, Kneipen etc. besucht, gemeinschaftliche Feste veranstaltet und das künstlerische Streben und Schaffen der einzelnen Mitglieder in rege Wechselwirkung zu sehen weiß. Gesellschaftlicher Mittelpunkt dieser Kunstjünger ist der deutsche Künstlerverein, der, von hervorragenden Persönlichkeiten und insbesondere von den jeweiligen diplomatischen Vertretern Deutschlands und der Einzelregierungen gefördert, seit lange eines verdienten Rufes genießt.

Die deutschen Künstler in Rom – das darf man ohne Weiteres behaupten – sind vielleicht das glücklichste Völkchen unter der Sonne. Inmitten dieser unvergleichlichen Umgebung, voll von Plänen, Hoffnungen und Entwürfen, zwischen heiterem Genuß und freudiger Arbeit verständig abwechselnd, führen sie hier ein ideales, köstliches Dasein, dessen Harmonie die höchste Blüthe menschlichen Empfindens, den Humor, zu Tage fördert. Nirgends in der Welt geht es so geistreich-fröhlich, so übermüthig und doch so harmlos-gemüthlich zu, wie bei einem römischen Künstlerfeste – und wäre es auch nur eine improvisirte Wagenfahrt nach einer der Osterien vor der Porta del Popolo. Ein paar jugendliche Schwestern in Apollo – es giebt deren in den römischen Künstlerkreisen sehr hübsche, und nicht alle tragen rundglasige Brillen wie die kluge Else in Wilbrandt’s „Malern“ – oder eine nationalrömische Freundin, die Tochter der Padrona, bei der man in Miethe wohnt, oder – chi lo sa? – ein holdes, weicharmiges Liebchen werden von „Maratta“, dem jüngsten Bruder des kunstfrohen Ordens, zu der lustigen Excursion eingeladen; „Tizian“ und „Domenichino“ schmücken den zweiräderigen Ochsenkarren des wackeren Beppo, der links vom Thore wohnt, mit Lorbeerreisern – dafür sind sie ja Künstler; der „Rothbart“ sorgt für Blumen und ein paar farbige Lampen – und das Fest kann in Scene gehen …

An dem stolzen Obelisken mit den vier wasserspeienden Löwen vorüber rollt das groteske Gespann durch die alterthümliche Pforte. Die großhörnigen Stiere mit den elegisch bimmelnden Glocken haben’s nicht eilig; die Künstler und ihre schönen Gefährtinnen ebenso wenig. Es geht ein wenig gedrängt zu auf dem lorbeergeschmückten Karren. Die meisten Theilnehmer haben Stehplätze; man glaubt beinahe ein neapolitanisches Corricolo zu erblicken, dessen lebendige Ladung überall Posto faßt, wo sich dem Fuße ein Haltepunkt bietet: auf der Deichsel, auf den Achsen, ja auf den schweren, nägelbeschlagenen Schuhen des guten Pfarrers, der seine Füße gravitätisch aus dem Wagen heraus streckt. Ganz so schlimm steht es hier nicht, aber auch hier muß die Freude ein wenig über die Unbequemlichkeit weghelfen – die Freude an Rom, an der abendlichen Octobersonne, die Alles rings mit flüssigem Gold überkleidet, die Freude an dem tiefblauen Himmel, an der herrlichen, thauklaren Luft, an dem Kraftgefühl der Jugend und dem silbernen Lachen der jungen Mädchen.

So wird die lange holpernde Fahrt wie durch Zauber verkürzt. Ehe man sich’s versieht, ruft der Führer sein „Ecco Signori!“, springt von dem Lenkersitze herab und müht sich, bei den „belle signore“ den Galanten zu spielen· Corpo di Dio! So ein römischer Karrenführer weiß, was die gute Sitte erfordert. Rom ist die einzige Großstadt, die keinen Pöbel besitzt; eine gewisse Ritterlichkeit in Geberden und Haltung kennzeichnet den ärmsten Trasteveriner. Die guten Dienste des ehrlichen Beppo sind hier indeß überflüssig. Im Nu hat sich der Karren geleert. Die Gesellschaft begiebt sich lachend und singend in den Garten der Osteria, um zunächst ein ländliches Mahl einzunehmen. Gebratene Hühner – polli arrosti – (das römische Lieblingsgericht), duftige Macaroni und Früchte aller Art bilden die Grundlage eines solchen Künstlersoupers. Dabei wird den großbäuchigen Flaschen, deren schlanke Hälse so zerbrechlich aus dem Binsengeflechte hervorlugen, kräftig zugesprochen; auch von Seiten der Damen, denn die Kunst macht frei, und prüde Zaghaftigkeit ist unter dem Himmel Roms ein unbekannter Artikel. Ist die Mahlzeit beendet, so wird gesungen, gespielt und getanzt. Man hat vielleicht eine Gesellschaft junger Bursche und Landmädchen getroffen, mit denen man ohne Weiteres gemeinsame Sache macht. In einer Pause trägt Domenichino auf seiner Flöte ein nordisches Volkslied vor und entlockt so den Lippen der Römerin ein sympathisches Lächeln. Da mit einem Male tritt ein Paar aus dem Kreise heraus und beginnt zur Augenweide für jedes echte Künstlergemüth den Saltarello, während die schöne Rosina, nachlässig auf ihren Strohstuhl gelehnt, das Tambourin schlägt. Der berauschende, fanatisirende Klang dieses dumpf-eintönigen Instrumentes scheint Feuer in die Adern der beiden Tänzer zu gießen. Wie dämonische Kreisel, aber immer anmuthig, immer künstlerisch vollendet in ihren Bewegungen, schweben die Zwei um einander herum, sich suchend, sich fliehend und endlich in einem stürmischen Schlußtempo vereinigt. Lauter Beifall belohnt das reizende Intermezzo.

Endlich ist die Gesellschaft müde. Man spricht von der Heimfahrt, da aber schlägt der liebenswürdige Tizian mit komischer Grandezza wider das Glas und verkündet der überraschten Versammlung in humoristischer Rede, daß noch ein ganz besonderer Genuß ihrer warte, ein Genuß, der gewissermaßen zu den Nationaleigenthümlichkeiten der Römer gehöre und jedem gerechten und vollkommenen Feste der Siebenhügelstadt die Krone aufsetze. Nachdem er durch verschiedene launige Anspielungen der Gesellschaft verrathen hat, daß dieses geheimnißvolle Etwas ein Feuerwerk sei, streckt er wie ein Jupiter tonans die rechte Hand aus – und in demselben Augenblicke erschallt ein ungeheures Gelächter, denn die Rakete, die der Verabredung mit Beppo gemäß majestätisch zum Azur aufsteigen sollte, hat den Gehorsam verweigert und, plebejisch am Grunde der Erde haftend, fährt sie brutal zischend unter die leergetrunkenen Flaschen in die Ecke der Gartenwand.

Silenzio!“ ruft Tizian, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen. „Kein Mensch kann für Unglück, und Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden. Achtung, Beppo! Zeigt diesen Zweiflern, daß Ihr etwas von dem Blute Nero’s in Euren Adern tragt, der ganz Rom in Brand steckte!“

Die kleine Rosina meint spitziger Weise, Beppo habe schon durch dieses Debut ein unverkennbares Talent zur Brandstiftung an den Tag gelegt, aber der Wagenführer straft diese Injurie mit stiller Verachtung.

Pronto? Fertig?“ fragt Tizian.

Pronto!“ ertönt es hinter dem Strauchwerke.

„Wohlan denn,“ ruft der Maler mit Donnerstimme, „fiat lux – es werde Licht!“

Und leise rauschend steigt eine Feuergarbe gen Himmel, diesmal lothrecht wie die Kuppel der Peterskirche. Hoch im Blauen zertheilen sich die feurigen Spitzen, und zwanzig, dreißig farbige Kugeln gießen ihr taghelles elektrisches Licht aus. Ein lautes „Ah!“ geht durch die entzückte Versammlung. Dann folgt ein stürmisches Bravo.

Evviva, Tiziano, evviva, Beppo, evviva Beppino!“ schallt es im Chore.

Noch drei- oder viermal entlockt der Wagenführer seinem dankbaren Publicum die rauschenden Beifallsrufe. Auch Tizian erntet reichliche Lobsprüche. Dann aber heißt es: „Partenza!“ Die Stiere sind wieder vorgespannt. Maratta hat die Kerzen in den farbigen Papierkugeln angezündet, und Beppo klatscht unternehmungslustig mit der mächtigen Peitsche. Die Damen drapiren sich in die mitgenommenen Plaids, denn es ist nicht weit mehr von Mitternacht, und in der Nähe des Ponte Molle wird’s kühl werden. Einige Mitglieder der Gesellschaft benutzen sogar diese Kühle zum Vorwande, um zu Fuß zu gehen; man hat jedoch dringliche Gründe zur Vermuthung, daß Amor, der gottlose Schalk, bei dieser philiströsen Vorsicht ein wenig betheiligt ist. Wer kann dafür?

 „Ohne die Liebe
Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom.“

Und so geht es heimwärts in einer Stimmung, deren romantisches Wohlgefühl der Unerfahrene nicht ahnen kann. Scherzend, lachend, singend wie bei der Herfahrt, aber doch um so viel höher und poesievoller gestimmt, als der weiche Zauber der Nacht über der Klarheit des Tages steht –: so nähert sich die glückliche Gesellschaft dem Gemäuer der Porta del Popolo,

[533]

Eine Lustfahrt deutscher Künstler in Rom.
Facsimile-Holzschnitt nach einer Original-Zeichnung von H. K. in Rom.

[534] das Herz und die Sinne erfüllt von jenem unsäglichen Zauber, der in den Worten „Jugend“ und „Rom“ gipfelt.

Jahre um Jahre ziehen in’s Land; der Künstler ist in die Heimath zurückgekehrt; er hat Schönes und Edles geschaffen; er ist zu Ansehen und Ruhm gelangt: aber inmitten seiner Triumphe wird er mit stiller Wehmuth an die unberühmten Tage zurückdenken, an die unaussprechlich glücklichen Tage in Rom, an die unaussprechlich glücklichen Tage der Jugend.




Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten.

Der Hofrath glaubte jetzt den unverwüstlichen Freier los zu werden, aber er irrte sich, der letztere zog, statt zu gehen, einen Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber.

„Sie willigen also in die Verbindung Ihrer Tochter mit mir?“ begann Max wieder.

Moser wollte von Neuem auffahren, besann sich aber, daß er ja sehr zu Schlaganfällen neige und jede Aufregung vermeiden müsse; er erwiderte daher mit möglichster Ruhe:

„Nein und abermals nein! Ich glaube es nicht, daß Agnes sich so weit vergessen kann, Sie zu lieben. Sie hat den Klosterberuf aus freiem Antriebe erwählt; sie ist eine gehorsame Tochter, eine fromme Katholikin.“

„Und wird eine ganz vorzügliche Gattin werden,“ vollendete Max. „Uebrigens bin ich auch Katholik.“

Moser faltete die Hände. „Ja, aber was für einer!“

„Ich meine nur, die Confession würde kein Hinderniß sein. Meine Verhältnisse sind für den Augenblick allerdings noch etwas bescheiden, aber sie würden einer Frau mit nicht allzu hohen Ansprüchen genügen. Was endlich meine Persönlichkeit betrifft, so würde mein Schwiegervater – –“

„Hören Sie auf mit Ihrem ewigen Schwiegervater!“ stöhnte der Hofrath. „Ich will das nicht hören. Sie sind ein entsetzlicher Mensch.“

„Sie werden sich an mich gewöhnen,“ versicherte der junge Arzt. „Ich darf doch morgen wiederkommen um Sie und meine Braut zu sehen?“

Der alte Herr antwortete nicht, um die Unterredung nicht zu verlängern; er wollte den Plagegeist vor allen Dingen aus dem Hause haben. Morgen wollte er sich einschließen, verriegeln; Max schien auch einzusehen, daß er seinem armen Schwiegervater für heute genug zugesetzt habe, denn er ging wirklich, wandte sich aber an der Thür noch einmal um.

„Herr Hofrath!“

„Was wollen Sie denn noch?“ fragte dieser verzweiflungsvoll.

„Wenn Sie mit Agnes die Sache besprechen, vermeiden Sie jede Aufregung dabei! Sie wissen ja, wie gefährlich das ist. Sechs Tropfen von der Arznei in einem Glase Wasser, dreimal täglich, und vor allen Dingen Mäßigung und Ruhe! Ich würde untröstlich sein, wenn meinem lieben Schwiegervater irgend etwas zustieße.“

Damit ging er endlich. Der Hofrath sank wie zerbrochen in seinen Lehnstuhl zurück; jetzt, wo er sich allein überlassen war, wurde ihm erst klar, wie unerhört man ihn behandelte, und er durfte sich nicht einmal ärgern, er mußte sich ja vor Schlaganfällen hüten. – –

Doctor Brunnow hatte übrigens keineswegs so schnell die Wohnung verlassen, wie Moser voraussetzte. Er stand noch draußen im Vorzimmer und hatte den Arm um Agnes gelegt, als ob sich das ganz von selbst verstände und er bereits anerkannter Bräutigam sei. Das junge Mädchen forschte ängstlich nach dem Inhalt der Unterredung und wollte wissen, was der Vater geantwortet habe.

„Für jetzt sagt er noch Nein,“ erklärte Max, „aber sei ohne Sorge! Er wird schon Ja sagen. Ich rechnete auch gar nicht darauf, daß sich die Festung sogleich ergeben würde; sie muß regelrecht belagert werden. Im Ganzen bin ich mit dem Resultat dieses ersten Sturmlaufes zufrieden; es ist bereits Bresche geschossen, und morgen rücke ich weiter vor.“

„Ach, Max,“ flüsterte Agnes unter Thränen, „was steht uns noch alles bevor! Mir sinkt der Muth im Angesichte all dieser Hindernisse. Ich werde sie nie überwinden.“

„Das ist auch nicht nöthig; das ist meine Sache,“ tröstete der junge Arzt. „Ich bleibe hier, bis alles geordnet und unser Hochzeitstag bestimmt ist. Vorläufig hat Dein Vater Zeit, sich mit der Sache vertraut zu machen, und inzwischen werde ich der Frau Aebtissin und dem Herrn Beichtvater, die Du so sehr fürchtest, hochachtungsvoll und ergebenst unsere Verlobung anzeigen.“

Agnes machte eine Bewegung des Schreckens.

„Einen Theil des Sturmes wirst Du freilich auch aushalten müssen,“ fuhr Max fort, „die Hauptsache aber nehme ich auf mich allein. Sei standhaft, meine Agnes! Ich gebe Dir mein Wort darauf: Dein Vater segnet uns noch höchsteigenhändig.“ Und mit diesen Worten und einem Kusse nahm er Abschied von seiner Braut.




Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages. Freiherr von Raven befand sich wie gewöhnlich in seinem Arbeitszimmer, und der Polizeidirector war bei ihm. Der Letztere betrat jetzt nur selten das Regierungsgebäude; einerseits machte die vollständig wieder hergestellte Ruhe in der Stadt die häufigen Meldungen und Conferenzen mit dem Gouverneur überflüssig, andrerseits hatte dieser seit der Verhaftung Brunnow’s eine so zurückweisende Kälte angenommen, daß der Polizeichef die Begegnung mit ihm möglichst vermied. Heute aber führte ihn eine nothwendige Besprechung über amtliche Maßregeln her, und der Gegenstand wurde von beiden Herren so kurz und geschäftsmäßig erledigt, wie es nur möglich war.

Trotzdem behielt der Polizeidirector seine gewohnte verbindliche Art bei, wenn er auch nach dem Beispiele des Gouverneurs gleichfalls sehr zurückhaltend war. Er erlaubte sich keine einzige Hindeutung auf die Vorgänge der letzten Tage. Die Haltung des Freiherrn war stolzer als je, aber es lag etwas in dem Wesen Raven’s, was an das zu Tode gehetzte Wild mahnte, das sein nahes Zusammenbrechen fühlt und, noch einmal die letzten Kräfte zusammenraffend, sich seinen Verfolgern stellt. Die Energie, welche noch immer ungebrochen aus der ganzen Erscheinung des Mannes leuchtete, war vielleicht nicht mehr ein Ausfluß der Kraft, sondern nur der Verzweiflung.

Der Polizeidirector hatte einen Theil seines Vortrages beendet. Er sprach von den neuesten Verfügungen, die ihm zugegangen waren, und berührte dabei auch die Freilassung des Doctor Brunnow, als der Freiherr ihm in die Rede fiel:

„Seit wann ist Brunnow aus der Haft entlassen?“

„Seit gestern Mittag.“

„So?“ bemerkte Raven einsilbig.

„Wie ich höre, beabsichtigt der Doctor morgen schon unsere Stadt zu verlassen,“ fuhr der Polizeidirector fort, „er will aber sofort nach der Schweiz zurückkehren und gedenkt auch den Rest seines Lebens dort zuzubringen.“

„Er thut Recht daran,“ sagte der Freiherr. „Wer so lange Jahre im Exil gelebt hat, findet sich selten oder nie wieder in der Heimath zurecht. Das Adoptivvaterland behauptet schließlich seine Rechte.“

Er sprach das gleichgültig, als handelte es sich um einen völlig Fremden, von dessen Begnadigung er zufällig hörte. Der Polizeidirector ließ sich freilich durch diese Gleichgültigkeit nicht täuschen, aber auch ihm war es, trotz seiner scharfen Beobachtungsgabe, noch nicht gelungen einen Blick in dieses streng verschlossene Innere zu thun und zu entdecken, welche Stellung der Freiherr jener Beschuldigung gegenüber eigentlich einzunehmen beabsichtigte.

Das Gespräch wurde unterbrochen; man brachte dem Gouverneur eine Depesche, die soeben aus der Residenz angelangt war ein großes amtliches Schreiben. Er winkte dem Diener,

[535] sich wieder zu entfernen, und erbrach das Siegel, während er flüchtig sagte:

„Entschuldigen Sie mich nur eine Minute lang!“

„Bitte, Excellenz, legen Sie sich meinetwillen keinen Zwang auf!“ entgegnete der Polizeidirector, aber es war ein ganz eigenthümlicher Blick, mit dem sein Auge bei diesen Worten erst das Schreiben und dann den Empfänger streifte.

Raven entfaltete die Depesche, aber er hatte kaum einen Blick auf den Inhalt geworfen, als er zusammenzuckte. Sein Antlitz wurde erdfahl, und seine Rechte zerknitterte krampfhaft das Papier, während die Linke sich ballte. Ein Beben der Wuth oder des Schmerzes erschütterte die ganze mächtige Gestalt, und einen Augenblick schien sie zusammenbrechen zu wollen.

„Sie haben doch nicht unangenehme Nachrichten erhalten?“ fragte der Polizeichef im Tone unbefangener Theilnahme.

Der Freiherr sah auf. Sein Auge heftete sich durchbohrend auf das Gesicht des Mannes, dessen Rolle er seit der Verhaftung Brunnow’s klar durchschaute, und der Ausdruck eines leisen Hohnes in den Zügen seines Gegenüber verrieth ihm, daß der Polizeidirector den Inhalt des Schreibens bereits kannte – das gab ihm Kraft und Besinnung wieder.

„Ueberraschende Nachrichten wenigstens,“ sagte er, die Depesche bei Seite legend. „Doch dafür findet sich noch später Zeit – bitte, fahren Sie fort!“

Der Angeredete zögerte; diese unglaubliche Selbstbeherrschung imponirte ihm doch. Er war Zeuge davon gewesen, wie furchtbar jener Schlag getroffen hatte, aber es wurde ihm nicht gegönnt, die Wunde bluten zu sehen. Der Getroffene drückte die Hand darauf und stand fest wie zuvor. War denn der Trotz und Hochmuth dieses Raven nie zu brechen?

„Die Hauptsachen haben wir ja bereits besprochen,“ meinte der Polizeidirector mit einer gewissen Verlegenheit. „Wenn Sie anderweitig in Anspruch genommen sind – ich möchte nicht stören.“

„Ich bitte Sie fortzufahren,“ die Stimme des Freiherrn war tonlos, aber fest.

Der also Aufgeforderte sah, daß jede Schonung hier als Beleidigung empfunden werde; er sprach also weiter. Die Bemerkungen, die Raven am Schlusse hinwarf, waren vollkommen zutreffend, aber sie klangen rein mechanisch, und ebenso mechanisch erhob er sich, als der Polizeidirector aufstand, um zu gehen.

„Sonst haben Excellenz keine weiteren Anordnungen zu treffen?“

„Nein,“ entgegnete der Freiherr kalt. „Ich kann Ihnen nur den Rath geben, Ihren Instructionen so pünktlich wie bisher nachzukommen. Dann wird Ihnen die Anerkennung sicher nicht fehlen.“

Der Polizeidirector fand für gut, den Erstaunten zu spielen. „Ich verstehe Sie nicht, Excellenz. Welche Instructionen meinen Sie?“

„Die, welche Sie aus der Residenz mit hierher brachten als Ihnen mit dem Posten in R. zugleich eine – Ueberwachung anvertraut wurde.“

„Die Ueberwachung der Stadt meinen Sie? Ich glaube in dieser Hinsicht meine Schuldigkeit gethan zu haben. Uebrigens sind die Unruhen ja jetzt vorüber, und Alles ist zu Ende.“

„Ja wohl,“ erwiderte Raven verächtlich, „und auch wir sind zu Ende mit einander. Sie begreifen das wohl.“

Er kehrte ihm, ohne ein Wort weiter zu verlieren, den Rücken und trat an das Fenster. Das war eine offenbare Beleidigung, aber der Polizeidirector wollte jetzt nicht beleidigt scheinen; das konnte zu unangenehmen Verwickelungen führen. Er verabschiedete sich daher mit einem Gruße, der nicht erwidert wurde, und verließ das Zimmer.

Draußen athmete er erleichtert auf. Es war ihm peinlich, daß der Freiherr ihn so vollständig durchschaute, um so peinlicher, als er keine Veranlassung hatte, dessen persönlicher Feind zu sein. Er hatte ja nur im „höheren Auftrage“ gehandelt, als er der Vergangenheit Raven’s nachspürte und sich des Schlüssels zu dieser Vergangenheit, des Doctor Brunnow, bemächtigte, um das endlich aufgefundene Geheimniß der Welt preiszugeben. Es wurde ihm nicht eben allzu schwer, sich mit einigen Sophismen über die zweideutige Rolle zu trösten, die er von Anfang an dem Freiherrn gegenüber gespielt hatte, und jetzt hatte diese Rolle ja auch ihr Ende erreicht.

Raven war allein geblieben. Er stand am Schreibtische und durchlas noch einmal das verhängnißvolle Schreiben – seine Entlassung. Sie war ihm in der schroffsten, beleidigendsten Form ertheilt worden. Man forderte keine Erklärung, keine Vertheidigung des so schwer angegriffenen Mannes; man ließ ihm überhaupt nicht Zeit, sich zu erklären oder zu vertheidigen. Er wurde verurtheilt, ohne auch nur gehört worden zu sein. Nicht einmal den gewöhnlichen Ausweg ließ man ihm offen, seine Entlassung zu nehmen; sie wurde ihm gegeben, in einer Form gegeben, die nur für Schuldige da war und die Welt auch nicht einen Augenblick in Zweifel darüber ließ, daß die Regierung sich auf Seiten der Anklage stellte und ihren bisherigen Vertreter für überführt erachtete.

Der Freiherr schleuderte die Depesche von sich und ging in stummem Kampfe im Zimmer auf und nieder. Seine Lippen zuckten; seine Augen flammten.

Auf einmal blieb er, wie von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt, stehen und trat dann langsam zu einem Seitentischchen, auf dem ein Kasten von nur geringer Größe stand. Ein Druck an der Feder ließ den Deckel aufspringen und zeigte ein Paar vorzüglich gearbeitete Pistolen. Der Freiherr nahm deren eine heraus und untersuchte sorgfältig, ob sie sich noch in vollkommener Ordnung befinde. Einige Minuten lang hielt er die Waffe in der Hand und blickte, in düsteres Nachsinnen verloren, darauf nieder; dann legte er sie wieder an ihren Platz zurück und richtete sich mit einer raschen Bewegung empor.

„Nein!“ sagte er halblaut. „Das würde für Feigheit, für ein Eingeständniß der Schuld gelten. Es wird wohl noch einen anderen Ausweg geben – den Triumph wenigstens sollen sie nicht haben.“

Er warf den Deckel des Kastens zu und wandte sich ab, und wieder begann die stumme ruhelose Wanderung, das finstere Brüten über irgend einem Entschlusse. Der Ausweg mußte gefunden werden. – –

Inzwischen war Doctor Brunnow in der Wohuung seines Sohnes mit den Vorbereitungen zur Abreise beschäftigt, die auf morgen festgesetzt war. Max hatte ihn verlassen, um die gestern begonnene „Belagerung“ fortzusetzen Er befand sich wieder bei dem Hofrath Moser und führte seinem „lieben Schwiegervater“ noch ausführlicher als gestern zu Gemüthe, welchen ausgezeichneten und ganz unübertrefflichen Schwiegersohn er in dem Doctor Max Brunnow erhalten werde. Gegen die Beharrlichkeit dieses Freiers half kein Einschließen und kein Verriegeln.

Der Vater ließ ihn gewähren; er kannte Max und wußte, daß dieser schließlich seinen Willen durchsetzen werde. Er selbst wäre am liebsten schon heute abgereist, wenn ihn das dem Sohne gegebene Versprechen nicht bis morgen gehalten hätte. Ihm brannte wirklich der Boden unter den Füßen, und alle die Antheilbezeigungen und Glückwünsche wegen seiner Befreiung schienen ihm den Aufenthalt nur noch mehr zu verleiden.

Brunnow hatte soeben einen Brief beendigt, der seine bevorstehende Ankunft zu Hause anzeigen sollte, und stand im Begriffe, ihn der Aufwärterin zu übergeben, als diese ungerufen, aber in größter Eile eintrat und ganz athemlos meldete: „Herr Doctor – Seine Excellenz!“

„Wer?“ fragte Brunnow zerstreut, indem er das Couvert schloß.

„Seine Excellenz, der Herr Gouverneur!“

Brunnow wendete sich rasch um; sein Blick fiel auf den Freiherrn, der bereits eingetreten war und im Nebenzimmer stand. Er näherte sich jetzt und sagte in völlig fremdem Tone:

„Ich wünsche Sie auf einige Minuten zu sprechen, Herr Doctor.“

„Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Excellenz,“ versetzte Brunnow, den das verwunderte Gesicht der Aufwärterin daran mahnte, daß er seine Ueberraschung nicht zeigen dürfe. Er übergab der Frau rasch den Brief und sandte sie damit fort.

Als sie ohne Zeugen waren, ließ Raven die angenommene Fremdheit fallen.

„Mein Kommen befremdet Dich?“ sagte er. „Bist Du allein?“

„Ja, mein Sohn ist ausgegangen.“

„Das ist mir lieb, denn unsere Unterredung verträgt keinen Zeugen. Du hast wohl die Güte, die Thür abzuschließen, damit wir ungestört bleiben.“

[536] Der Doctor kam schweigend der Aufforderung nach. Er schob den Riegel vor die Eingangsthür und kehrte dann in das zweite Zimmer zurück. Sein unruhiger Blick schien zu fragen, was dieser seltsame Besuch bedeute. Die beiden Männer standen sich einige Secunden lang stumm, aber ebenso feindselig gegenüber, wie neulich bei ihrer ersten Begegnung.

Der Freiherr nahm zuerst das Wort. „Du hast wohl nicht erwartet, mich bei Dir zu sehen?“

„Ich wüßte in der That nicht, was den Gouverneur von R. zu mir führen sollte,“ war die Antwort.

„Ich bin nicht mehr Gouverneur,“ sagte Raven kalt.

Brunnow richtete einen schnellen, forschenden Blick auf ihn. „Du hast also Deine Entlassung genommen?“ fragte er.

„Ich trete von meinem Posten ab,“ entgegnete er gepreßt. „Ehe ich aber die Stadt verlasse, wünsche ich Auskunft über jenen Zeitungsartikel, der sich so eingehend mit meiner Vergangenheit beschäftigt. Du kannst mir diese Auskunft wohl am besten geben, und deshalb komme ich zu Dir.“

Der Doctor wendete sich ab. „Der Artikel stammt nicht von mir,“ sprach er nach einer kurzen Pause.

„Das ist möglich, jedenfalls hast Du ihn aber veranlaßt. Du und ich, wir sind jetzt die einzigen noch lebenden Theilnehmer jener Katastrophe; die anderen sind todt oder verschollen. Nur Du warst im Stande, jene Enthüllungen zu geben.“

Brunnow schwieg; er erinnerte sich nur zu gut des Tages, wo das geschickte Manöver des Polizeidirectors ihm die Aeußerungen abgerungen hatte, die nun in solcher Weise preisgegeben wurden.

„Ich wundere mich nur, weshalb Du diese Vorgänge nicht früher verwerthet hast,“ fuhr Raven fort. „Du oder die Anderen!“

„Beantworte Dir die Frage selbst!“ sagte Brunnow finster. „Uns fehlten die Beweise. Wenn wir die unumstößliche Ueberzeugung Deiner Schuld hatten, so war das eben unsere Sache. Die Welt verlangt Thatsachen, und die konnten wir ihr nicht geben. Weshalb sich nicht früher eine Stimme gegen Dich erhob, fragst Du? Du weißt doch am besten, daß in der Zeit, die jetzt hoffentlich für immer hinter uns liegt, jede Stimme erstickt wurde, die man nicht hören wollte. Und Arno Raven wurde ja in kürzester Frist der einflußreichste Freund und Günstling des Ministers, den er bald darauf Vater nennen durfte. Der Freiherr von Raven war später die mächtigste Stütze der Regierung, die ihn nicht entbehren konnte. Man hätte keine Anklage gegen Dich zugelassen; es wäre Lüge, Verleumdung gewesen und als solche unterdrückt worden. Das wußten wir Alle und darum schwiegen die Anderen. Mich banden diese Rücksichten nicht, aber ich – wollte Dich nicht anklagen und habe es auch jetzt nicht gethan. Einige Aeußerungen während meiner Haft, die mir, wie ich fürchte, absichtlich abgelockt wurden, können allein den Anlaß zu den Enthüllungen gegeben haben. Der Polizeidirector hat jedenfalls die Hand dabei im Spiele. Er ist Dein Feind.“

„Nein, nur ein Spion!“ sagte Raven verächtlich, „und deshalb verzichte ich darauf, von ihm Rechenschaft zu verlangen. Ueberdies war er nicht verpflichtet, zu verschweigen, was ihm mitgetheilt wurde. Du hast jene Aeußerungen gethan – Du wirst mir Genugthuung dafür geben.“

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüthen.

Jahn’s, des Turnvaters, hundertjähriges Geburtsfest. Wie Ernst Keil als eine der Hauptaufgaben seiner „Gartenlaube“ die gerechte Würdigung unserer Männer, das heißt der Männer des Volks, betrachtete und sein ganzes Leben lang keine Gefahr für sich und sein Blatt gescheut hat, wenn es galt, von höherer Gewalt Unterdrückte oder von einem ungerechten Vorurtheile Verfolgte unter den Schutz der deutlichen Meinung zu stellen, der er ein so machtvolles Organ geschaffen, so ist er nicht weniger als acht Male in der „Gartenlaube“ auch für Friedrich Ludwig Jahn eingetreten.

Der „Alte im Bart“ war am 15. October 1852 gestorben und schon im ersten Jahrgange des damals so bescheidenen „Beiblatts zum Dorfbarbier“, als welches das spätere Weltblatt zuerst auftrat, führte er seinen Lesern in Bild und Wort den Gründer der deutschen Turnerei vor. Der Jahrgang 1856 brachte „Eine Fahrt mit dem alten Jahn“ von Wilhelm Künstler, bei welcher auch die berühmte „Denk-Ohrfeige“ vor dem Brandenburgerthore in Berlin zu der sich mehrere Empfänger gemeldet, eine Berichtigung gefunden. Zwei Jahre später setzte Hermann Marggraff, der Mann mit dem scharfen Geiste und warmen Herzen, Jahn und Friedrich List ein gemeinsames Denkmal in seinem Artikel „Heimgegangene“, und im Jahre darauf (1859) konnte die „Gartenlaube“ endlich die Nachricht bringen, das Jahn’s Grabdenkmal in Freiburg an der Unstrut am 16. October feierlich enthüllt werden solle. Jahn’s Wohnhaus, damals ein Hauptgewinn der Schiller-Lotterie, ist im Jahrgange 1860, S. 252, abgebildet. In dem folgenden Bande werden (S. 623) zwei charakteristische, den Todten ehrende Züge „Aus Jahn’s Leben“ erzählt, und im Jahrgange 1867, theilt ein Kampfgenosse Jahn’s und Körner’s einen der wichtigsten Momente aus seinem Leben mit, in welchem der „Turnvater Jahn als Spion“ sich die größten Verdienste um den Sieg bei der Göhrde erwarb.

Wie Jahn das Eiserne Kreuz als Lützower erst 1840, fünfundzwanzig Jahre nach dem Friedensschlusse der Befreiungskriege, erhielt, so erhielt er zwanzig Jhre nach seinem Tode sein Nationaldenkmal in der Hasenhaide bei Berlin. Die Enthüllung fand am 10. August 1872 statt. Die Abbildung desselben brachte die „Gartenlaube“ in Nr. 35 jenes Jahrganges. „Noch ein später Kämpferlohn“, so nannte ich in dem jene Abbildung begleitenden Artikel diese dritte von den „drei Säulen für drei Männer, deren Namen für alle Zeit in der deutschen Leidens- und Siegesgeschichte strahlen, für Arndt - Stein - Jahn!“ Nach allen diesen Kundgebungen der „Gartenlaube“ über Jahn dürfte es gerechtfertigt sein, wenn wir bei der hundertjährigen Geburtsfeier des Mannes uns der Hauptsache nach auf die obigen Hinweisungen beschränken.

Das Denkmal, welches Jahn selbst, neben seinen Thaten, in seinen Schriften sich setzen wollte, ist von seinen Zeitgenossen am wenigsten mit gerechtem Maße gemessen worden. Man ließ sich zu sehr von den Ecken und Schrullen der Form zurückscheuchen und versäumte es zu oft, den guten gesunden Kern derselben herauszuschälen. Wer heute, wo so Vieles in Erfüllung gegangen ist, nach welchem der rastlose Mann mit ganzer Seele vergeblich gestrebt hatte, wer seine „Runen“ von 1814, sein „Deutsches Volksthum“ von 1817 und auch die zwei Nachträge zu beiden, die „Neuen Runen Blätter“ (1828) und die „Merke zum deutschen Volksthum“ (1833) – lauter einst vom Bundestage als staatsgefährlich verbotene Bücher – jetzt zur Hand nimmt, den kann nur Hochachtung erfüllen vor dem Muthe der Wahrheit, mit welchem ein Mann zu jener Zeit mit solchen Gedanken hervorzutreten wagte, ja, wir sind nicht selten in der Lage, den prophetischen Geist zu bewundern, der aus ihnen gesprochen hat, – damals unverstanden oder ungeglaubt, an ihm selbst aber hart und bitter genug bestraft. –

Wenn wir von Jahn’s Denkmälern reden, so dürfen wir auch dasjenige nicht vergessen, welches Heinrich Pröhle schon vor dreiundzwanzig Jahren dem Alten gesetzt hat in seinem „Leben Friedrich Ludwig Jahns, nebst Mittheilungen aus seinem literarischen Nachlasse.“ Eine Stelle dieses Buches, von Pröhle einem Papierblättchen entnommen, auf welches Jahn dieselbe als Notiz niedergeschrieben hatte, möge hier zum Schlusse einen Platz finden! Sie lautet:

„Deutschlands Einheit war der Traum meines erwachenden Lebens, war das Morgenroth meiner Jugend, der Sonnenschein der Manneskraft, und ist der Abendstern, der mich zur ewigen Ruhe geleitet. Für diesen Hochgedanken habe ich gelebt und gestrebt, gestritten und gelitten. Anerkannt haben das selbst die Mainzer Untersuchungsbehörde und der Bundestag. Beide haben mir nachgerühmt, ‚daß ich die höchst gefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands zuerst aufgebracht‘. Das soll meine Grabschrift sein, wenn meinen Gebeinen noch ein Plätzchen in Deutschland vergönnt wird. An der Einheit Deutschlands habe ich festgehalten, wie an einer unglücklichen Liebe.“

Und, wunderbar genug, verfolgt das Unglück dieser Liebe ihn auch nach dem Tode noch. Die Einheit Deutschlands ist der größte Sieg unserer Tage, die segensreichste That, welche unser Vaterland seinem ersten deutschen Kaiser verdankt. Aber weil es Menschen in Deutschland giebt, die in dieser Einheit für die Durchführung ihrer wahnwitzigen Pläne das größte Hinderniß erblicken, so hat unser Kaiser für diese Einheit mit dem Leben büßen sollen, und an diesen Mordversuchen gegen den Kaiser scheiterte das hundertjährige Jubelfest, mit welchem alle deutschen Turner den Mann zu ehren gedachten, dessen „gefährliche Lehre“ und „unglückliche Liebe“ Deutschlands Einheit war. – Möge die deutsche Nation, auch jenen drei Säulen zu Ehren morgen – ich schreibe dies am Tage vor der Reichstagswahl – durch die Ausübung ihres Stimmrechts aller Welt beweisen, daß sie die Einheit will und eines freien und mächtigen Reiches würdig ist.

Fr. Hofmann.




Kleiner Briefkasten.

O. U. in der Capstadt. Ist’s wirklich so, wie Sie uns ganz glaubhaft versichern, so ist allerdings jeder junge Mann und Familienvater zu warnen, der, durch die Lockpfeifen englischer Seelenverkäufer verleitet, Lust haben sollte, sich gerade jetzt zur Auswanderung nach dem Caplande zu entschließen. England braucht dort keine Arbeiter; die sich massenhaft zum Verdienst in der Capstadt drängenden Malayen genügen. Aber England braucht dort Soldaten, und dazu sind ihm die Deutschen besonders lieb, namentlich, da dieselben jetzt so billig gegen glänzende Versprechungen zu haben sind, während sie früher deutschen Fürsten um hohen Preis abgekauft werden mußten. Der Geschäftsdruck in Deutschland wird benutzt, um Emigrantenschiffe zu füllen, die man drüben sogar schon ziemlich bestimmt erwartet, um die als „Arbeiter“ Eingeführten sofort zum Militärdienst zu pressen. Möge die Warnung für möglichst Wenige zu spät kommen!

R. Fr. in Frnkf. a. O. Sie verlangen zu viel! Wir sollen Jemanden gleichsam steckbrieflich verfolgen, weil er Ihnen etwas schuldig geblieben ist. Sollen wir ihn nicht lieber gleich hinter Schloß und Riegel bringen?


  1. Die Abbildungen sind mit freundlicher Erlaubniß des Verfassers und Verlegers dem Prachtwerke „Arabische Korallen“ von Ernst Haeckel (Berlin bei G. Reimer 1876) entnommen.

Anmerkungen (Wikisource)