Die Gartenlaube (1877)/Heft 30
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No. 30. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Die meisten Häuser alter und neuer Städte sagen uns weiter nichts, als: Ich habe eine Thür und so und so viele Fenster. Einige sagen uns: Ich bin von Adel; oder: Ich bin schön; oder: Ich bin Millionen werth. Es giebt noch einige andere – sie sind selten – diese besitzen mehr als vornehme Herkunft, mehr als Reichthum und mehr als Schönheit, sie haben eine Seele; sie durchathmet Stein und Mörtel und zieht uns an wie ein Magnet.
Ein solches Haus befindet sich in einer der engsten Straßen von Brüssel, welche hinter der Universität in sanfter Steigung sich zum höhern Terrain hinanzieht. Jenes Haus ist sehr breit und hoch, so hoch, daß man, um den Ansatz des Daches zu sehen, den Kopf ganz auf den Nacken legen muß. Es hat, abweichend von der Bauart der alten brabantischen Häuser, keinen Giebel; eine Reihe niederer, eng beieinander stehender Fenster bildet gleichsam ein durchgittertes Fries, denn sie liegen dicht unter dem Dache. Dann kommt ein großer Zwischenraum, ein Zwischenraum, welchen bequem ein Stockwerk ausfüllen könnte. Noch tiefer und nicht ganz aus der Mitte der Façade tritt einsam und schwermüthig ein Erker mit sechs hohen Spitzbogenfenstern hervor, deren Einfassung sich zu einem Bündel schlank aufstrebender Säulen vereinigt. Diese sind von einer steinernen, mit halbverwischten Farben bemalten Blumenkrone zusammengehalten, aus welcher die Enden der Säulen, gleich versteinerten Straußenfedern, sich anmuthig niederbeugen. Unter diesem Erker befinden sich drei breite vergitterte Fenster und die Hausthür von dunkelem Eichenholz; sie hat zwei Flügel, jeder in fünf horizontale geschnitzte Felder getheilt, und einen vergitterten maurischen Fensteraufsatz, über welchem ein Wappen eingehauen ist, das ein geschlossenes Visir und zwei Löwenköpfe enthält. Der dunkelgraue Mörtel, welcher das Haus bedeckt, zerbröckelt da und dort und läßt den röthlichen Stein sichtbar werden.
Wer entschlossen wäre, gegen einen tiefen, unheilbaren Gram nicht mehr anzukämpfen, sondern in stolzer Ergebenheit sich mit ihm von dem Geräusch des Lebens abzuschließen, müßte, sähe er jenes Haus, sich sagen: „Dieses Haus ist vor dreihundert Jahren für mich gebaut worden; hier will ich wohnen.“
Im Jahre 1825 wohnte ich dem eben beschriebenen Hause gegenüber. Als ich am Morgen nach meiner Ankunft die Vorhänge meines Fensters zurückzog und das bizarre Haus mit seiner melancholischen Façade erblickte, faßte es mich wie eine Art Schwindel; der Erker war der einzige Ruhepunkt für mein Auge. Blaßgrüne, schwere Gardinen flossen, dicht zusammengezogen, an seinen Fenstern nieder; unter der steinernen Blumenkrone nisteten Schwalben. Ich weiß nicht, wie es kam – ich dachte plötzlich, hinter diesen finstern Mauern müsse es himmlisch sein, mit einem geliebten Wesen zu leben, so ganz verborgen, ganz verloren. –
Dieses Haus war für mich nicht ein Gegenstand der Neugierde, sondern einer wirklichen seelischen Unruhe. Stundenlang stand ich, gleich einem Eifersüchtigen, hinter meinen Mousselin-Vorhängen und spähete nach einer Bewegung der grünen Gardinen. Endlich, nach einer Woche, sah ich etwas. Ich schrieb; plötzlich, wie auf einen inneren Ruf, blickte ich zum Erker hinüber: zwischen zwei von weißen Händen auseinander gehaltenen Gardinen stand eine zarte Frauengestalt und blickte mit großen, schwarzen Augen zum Himmel hinauf. Schwarz war auch ihr Haar und ihr Gewand. Ein sanfter Mund lag wie eine stumme Klage zwischen ihre blassen Wangen gebettet. Dieses Gesicht, vom reinsten Oval, hatte, wie das Haus, eine Seele. Es fiel mir nicht ein, die Linien ihrer Stirn oder ihres Mundes oder sonst eines Zuges zu prüfen – es war so zu sagen nicht nothwendig, um ihr Gesicht zu kennen, das ganz Inhalt war. Ich bemerkte, daß ein blondes Köpfchen, in etwa gleicher Höhe, neben dem ihrigen sichtbar wurde. Wahrscheinlich schaute die Blondine auch zum Himmel hinauf, aber ich sah es nicht. Die Andere fesselte mich ganz. Wie lange sie Beide am Fenster standen, weiß ich nicht; sie verschwanden hinter den zusammenfließenden Vorhängen gleich Nixen, die in’s Wasser zurücktauchen.
Etwa eine Stunde später rasselte ein Reisewagen die Straße herab und hielt vor dem Hause mit dem Erker. Das Herz bebte mir: „Sie wird doch nicht verreisen?“ dachte ich und trat an’s Fenster. Gleich darauf öffnete sich die Hausthür; zwei Koffer wurden herausgetragen und auf den Wagen geladen. Ein alter Mann trat aus der Thür, und ihm folgte sie, die Schwarze, in einen langen Mantel gehüllt. Sie stiegen Beide in den Wagen, welcher ohne weitern Aufenthalt fort fuhr. Unter der Hausthür standen die Blondine und eine ältliche Frau, welche sich die Augen mit einem weißen Tüchlein trocknete. Ich sank auf einen Stuhl; mir war, als seien meine Kniee gelähmt.
Hätte ich mich in ein Wesen verliebt, das ich vielleicht nur eine Secunde sah? Warum nicht? Und dennoch schien es mir, als sei ich nicht in sie verliebt; ihre Erscheinung und die Erinnerung daran gaben mir eine Empfindung, ähnlich der, welche Sterne von großer Lichtgewalt in uns erwecken – eine Mischung von Verlangen und Scheu.
Einige Wochen vergingen; die blaßgrünen Vorhänge am Erkerfenster hingen regungslos nieder, wie stehen gebliebene Wasserfälle. Zweimal sah ich die Blondine und die ältliche Frau [500] aus der Hausthür treten und die Straße hinauf gehen; ich bemerkte, daß die Blondine sehr hübsch war.
Ich hatte mit so viel Discretion wie möglich mich da und dort erkundigt, wer das melancholische Haus bewohne – Niemand wußte es.
Um diese Zeit erhielt ich einen Brief von der Mutter meines besten Freundes. Sie bewohnte ein kleines Landhaus nicht sehr weit von Dinant, aber doch schon ganz in den Ardennen; es war eigentlich mehr ein verschönertes Bauernhaus, als ein Landhaus zu nennen. Etwas Feld und Wiesen und ein Stück Wald gehörten dazu, und von dem mäßigen Ertrag dieses kleinen Besitzthums lebte die kluge und herzensgute Frau.
Ihr Sohn, Henry Flomberg, der schon früher eine außerordentliche Befähigung für Musik und Mathematik gezeigt hatte, spielte die Violine wie ein Künstler und kannte die Astronomie wie ein Gelehrter. Musik und Astronomie, haben sie nicht eine innere Verwandtschaft? – Henry war neunundzwanzig Jahre alt geworden, ohne eine eigentliche Stellung zu haben. Er war zwar als Aspirant am Observatorium aufgenommen worden, allein ein Bändchen, welches er herausgab und in dem er mit wissenschaftlichen Anhaltspunkten die Ueberzeugung aussprach, daß nicht nur alle Planeten unseres Sonnensystems, sondern auch jene aller anderen Sonnensysteme bewohnbar und folglich, wenn auch von verschieden organisirten Wesen, bewohnt seien, war ihm nachteilig geworden.
Die Gelehrten fanden es anmaßend von einem jungen Manne, gescheuter als die Alten sein zu wollen, und obschon sie die Möglichkeit zugaben, daß die Sterne bewohnt seien, so sagten die Einen doch, Flomberg sei nicht der Erste, welcher diese Ansicht gehabt, und er habe nur Anderen nachgeredet; ein anderer Theil der Gelehrten erklärte seine „Bewohntheit der Welten“ für eine phantastische Arbeit, welcher höchstens ein literarischer Werth zuzuerkennen sei. Die Geistlichkeit, in deren schwarzem Mantel die gebildete Gesellschaft gleich einem Kinde im Tragbette eingewickelt war, verdammte den „verwegenen Ketzer“, der sich vermaß, eine Theorie aufzustellen, welche den Gesichtskreis der Menschen erweitern und sie aus dem herkömmlichen Geleise auf höhere Bahnen führen wollte. Henry, von der einen Seite ignorirt, von der andern angefeindet, verließ Belgien und begab sich nach Italien und von da nach Spanien. Er war etwa seit drei Jahren abwesend, als seine Mutter mir schrieb:
„Henry schreibt mir von England, von London, wo er sich verlobt hat. Er sagt mir nicht, wer die Familie seiner Braut ist, noch irgend etwas, das mich befriedigen könnte; er spricht nur von ihrer Schönheit und zwar mit einer Begeisterung, die mich fürchten läßt, mein geistvoller Sohn habe einen dummen Streich gemacht. Schon in vier Wochen will er sich verheirathen. Haben Sie vielleicht eingehendere Nachricht von ihm? etc.“
Der letzte Brief, den ich von Henry erhalten hatte, war von Barcelona datirt; von seinem Aufenthalt in England hatte ich keine Ahnung gehabt. Die Befürchtung seiner heitern und außerordentlich klugen Mutter steckte mich an; meine Freundschaft für Flomberg. den ich seit frühester Jugend kannte, war keine oberflächliche; die Ereignisse seines Lebens waren mir stets so nahe gegangen, wie die meines eigenen Lebens. Ich war in einer unabhängigen Stellung; ohne nur eine Stunde zu zögern, ließ ich meinen Paß visiren, packte einen kleinen Koffer und reiste mit der Abendpost nach Ostende, wo ich mich einschiffte. Ich mußte die Braut sehen, ehe sie seine Frau wurde.
Flomberg war sehr erstaunt, mich in London zu sehen; ich schützte als Grund meiner Reise ein Kopfleiden vor, gegen welches mir Luftveränderung verordnet worden sei. Henry's äußere Erscheinung war unverändert geblieben; sein krauses, nußbraunes Haar hatte noch den wunderbaren Glanz, der Jedermann auffiel, und wenn er mit seinen weichen Fingern im Gespräche durch die lockigen Büschel fuhr, so hörte ich, wie früher, ein elektrisches Knistern. Sein lang geschnittenes, grau-grünes Auge hatte noch den eigenthümlichen Schimmer und den beherrschenden Blick, und im Lächeln seines Mundes fand ich noch jenen gutmüthigen Zug, von welchem seine Mutter zu sagen pflegte, er habe ihn mit auf die Welt gebracht.
„Du hast wohl durch meine Mutter erfahren, daß ich mich verlobt habe,“ sagte er heiter. „Meine Braut ist eine zweiundzwanzigjährige Wittwe, classisch schön und immer schön. Morgens, Mittags, Abends, immer ist sie schön. Du mußt sie kennen lernen; ich werde Dich zu ihr führen. Weißt Du, wem ich meine Braut verdanke? Der Insel Wight – dort fand ich sie, am Strande auf und ab gehend. Ihr vom Bade noch feuchtes Haar floß in dicken Strähnen auf den weißen Flanellmantel, der sie sackartig umschloß. Du wirst zugeben, daß nur eine Göttin in einem solchen Costüme schön zu sein vermag.
Am folgenden Tage führte er mich zu ihr. In einem reich ausgestatteten Salon, welcher nicht das geringste individuelle Interesse bot, saß in einem Schaukelstuhle die „Göttin“. Sie reichte Henry die Hand zum Kusse, eine schöne, wohlgepflegte Hand, und lud mich ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Mistreß Stephenson war groß und von vollendeter Körperform; ihr Gesicht hatte den griechischen Typus. Ich bekenne, daß ich kein Verehrer der griechischen Schönheit bin, das heißt, ich bewundere sie in der antiken Statue, allein ich bewundere und liebe sie nicht in der modernen, in der lebenden Frau, denn sie schließt die Individualität aus.
Mistreß Stephenson's Haar hatte die Farbe eines Goldstückes, welches viel Kupfer enthält, und war mit Sorgfalt in großen Schleifen mit einem Perlmutterkamm nach der damaligen Mode hoch aufgesteckt. Ueber dem linken Ohre tauchten zwischen den Haarschleifen purpurrothe und grüne Bandschleifen empor. Sie trug ein hartblaues Kleid, in welches bunte Blumen eingewirkt waren; an ihren Ohren, an den Armen und Fingern und am Halse schimmerten goldene Ringe und Ketten. Es lag, trotz dieser entsetzlichen Toilette, ein unbestreitbarer Farbenreiz in ihrer Erscheinung; ihr Gesicht, ihre Augen und ihr Haar waren wirklich Lilien und Rosen, Sapphiren und dem edlen Golde vergleichbar. Allein schöne Farben und regelmäßige Züge waren auch alles, was diese Frau besaß; sie war eine rein animalische Schönheit; ihr Gesicht war leer, ohne jede Spur geistigen Lebens. Wenn sie lächelte, machten mir ihre gesunden, weißen Zähne stets den fatalen Eindruck, als lechzten sie nach einer Hammelcotelette. Selbst ihre Finger waren animalisch, rund und träge und ohne jeden seelischen Accent.
„O Mutter Flomberg,“ dachte ich, „dein Sohn hat einen dummen Streich gemacht.“
Je näher ich Mistreß Stephenson kennen lernte, desto mehr fand ich mein erstes Gefühlsurtheil über sie bestätigt. Aber er, Henry, erkannte er denn ihre Geistesarmuth nicht? Fühlte er nicht die Nüchternheit, die Dürftigkeit ihres Gemüthes? Konne diese schön angestrichene Puppe ihn glücklich machen? Hatte er gar keine Angst? Es schien mir so völlig unbegreiflich, daß sich eines Tages der Verdacht in mir regte, Henry, dessen väterliches, ihm von der Mutter überlassenes Vermögen unbedeutend war, sei für Mistreß Stephenson's Vermögen nicht unempfindlich und dieses habe ihn zu einer Verbindung mit ihr verführt. Allein ich kannte seine einfache, beinahe bedürfnißlose Lebensweise und die Noblesse seines Charakters; auch hatte ich bald Gelegenheit zu erfahren, daß Mistreß Stephenson nicht eigentlich reich sei.
Es war unmöglich, daß Henry diese Frau liebte, er täuschte sich über seine eigenen Gefühle. Wie hoch hatte er früher das Ideal gestellt, das er lieben könnte! Wie oft hatte er, wenn ich ihm ein hübsches Mädchen zeigte, achselzuckend zu mir gesagt: „Eine hübsche Puppe, weiter nichts!“
Und Mistreß Stephenson, liebte sie ihn? Konnte diese Frau ihn lieben? Er war nicht groß, nicht stattlich; seine Gestalt war fein und nervös; der Reiz seiner Person war geistiger Art, und dafür hatte Mistreß Stephenson gar kein Organ. Warum wollte sie ihn heirathen? Er hatte keine Stellung und war in seinem Lande angefeindet. Heirathete er Mistreß Stephenson, so war er nach sechs Monaten ein unglücklicher Mann, ja, er war im Stande, seine Frau zu hassen. Aber wie ihm die Augen öffnen? Mit unendlicher Vorsicht ließ ich dann und wann einen kleinen Zweifel über sein künftiges Glück laut werden. Nie hatte ich in seiner Braut auch nur das geringste Interesse für seinen Geist, für seine Wissenschaft, ja kaum für seine Violine entdeckt. Ich hatte sie gähnen sehen, als er die Geige spielte und langgezogene, bebende Töne ihr entlockte, die heiß wie glühende Tropfen in mein Herz fielen. Die Geige wurde in seinen Händen eine Seele, und seine Braut – gähnte!
Ich sagte es ihm später; er lachte und sagte unbefangen: „Harriet liebt die heitere Musik. Wenn ich ihr den 'Carneval von Venedig' spiele, ist sie glücklich.“
[501] „Sie ist also nicht fähig, die wirkliche Musik und Dein innerstes Wesen zu verstehen, nicht einmal durch das Gefühl,“ bemerkte ich.
Er schwieg eine Weile und sagte dann: „Harriet gefällt Dir nicht, ich habe es gleich anfangs bemerkt. Was hast Du an ihr auszusetzen?“
„Nichts, als daß sie Dich heirathen will.“
„Wenn sie Dich heirathen wollte, hättest Du vielleicht nichts daran auszusetzen,“ sagte er piquirt.
„O! mich heirathen! In diesen Fall würde sie nie gerathen. Lieber keine Frau, als eine Frau ohne Seele!“ rief ich.
„Du wirst beleidigend,“ sagte Henry gereizt. „Hast Du denn kein Auge für ihre Schönheit? Ist sie nicht tadellos, bezaubernd schön?“
„Sie ist zu schön,“ sagte ich.
„Zu schön! Fühlst Du denn nicht die Poesie, die in einer vollendeten Schönheit liegt, und die Gedanken, die ein Mann von Geist aus ihr schöpfen kann?“
„Ei, so kaufe Dir eine lebensgroße Venus von Milo und eine von Medicis, eine von Arles, eine Venus Genitrix und eine Venus Urania, alle Meisterwerke der alten und neuen Bildhauerei und begeistere Dich daran! Du brauchst dann keine Harriet Stephenson.“
Er lachte. „Du bist ein Pedant,“ sagte er. „Du hast wohl noch nie in ihr blaues Auge geschaut?“
„O ja, ich schaue immer und suche und finde nichts darin, als blaue Farbe.“
„Dann findest Du in dem meinen wohl auch nichts, als grüne Farbe?“ sagte er lachend, aber sein Lachen war bitter.
Am folgenden Tage gingen wir mit ihr über die Straße. Ein blinder Mann stand in der Wölbung einer Hausthür und schaute mit den weißen, leeren Augen unverwandt zum Himmel, als ob er dort etwas suchte. Ein schwarzer Pudel war mit einer Schnur an seinen Arm gebunden und hielt ein leeres Körbchen zwischen den Zähnen; seine Augen, die des Pudels, drückten das Unglück seines Herrn aus, rührender, als irgend Worte es vermocht hätten. Henry und ich blieben stehen, um ein Geldstück in das leere Körbchen zu legen.
„Wenn wir bei jedem Bettler, dem wir begegnen werden, stehen bleiben, so werden wir nicht weit kommen,“ sagte Mistreß Stephenson übelgelaunt.
Henry wurde sehr blaß. „Ich kann keine Blinden sehen, ohne daß sich mir das Herz im Leibe umkehrt,“ erwiderte er sanft.
„O, wenn man in London lebt, gewöhnt man sich an solche Dinge,“ sagte sie und zog ihn fort. Er ging schweigend an ihrer Seite. Wir wohnten einem Morgenconcerte bei; der Zufall wollte, daß wir nicht drei Plätze nebeneinander fanden. Ich wollte mich von Henry und seiner Braut trennen; er faßte meinen Arm und sagte: „Bitte, setze Dich neben Harriet! Ich setze mich seitwärts.“
Er will sie beobachten, dachte ich; er that es wirklich; sein Auge ruhte unverwandt auf ihr; ich bin überzeugt, daß er vom ganzen Concerte nichts hörte. Sie nahm oft ihre Lorgnette und musterte die Hüte und die Kleider der anwesenden Damen; sie gähnte siebenmal, und obschon sie ihre Hand vor den Mund hielt, sah er es dennoch. Nach dem Concerte fuhren wir nach Hydepark. Henry setzte sich ihr gegenüber, sprach wenig, sah aber beinahe unverwandt in die Augen seiner Braut. Er fand diesmal vielleicht auch nichts darin, als blaue Farbe. – Wenn Mistreß Stephenson nur ein schwaches Fünkchen von Geist besessen hätte, so würde sie den beobachtenden Blick ihres Bräutigams verstanden haben, allein sie blieb völlig unbefangen; es ging gar nichts in ihr vor.
Da ich sah, daß Henry anfing, sie zu beobachten, hoffte ich, er werde zeitig genug seinen Irrthum erkennen. Indessen sann ich auf ein Mittel, ihn von London zu entfernen, da Mistreß Stephenson, wenn sie mit ihm allein war, vielleicht Liebenswürdigkeiten für ihn hatte, die ihn stets wieder in die Verblendung zurückführen konnten.
Da kam unerwartete Hülfe. Die neue Regierung rief ihn nach Brüssel, um ihm eine Stellung am Observatorium anzubieten; die näheren Bedingungen sollten mündlich zwischen ihm und dem Director des Observatoriums besprochen werden.
„Es ist fatal,“ sagte Henry, der sehr erregt mit dem Briefe zu mir kam, „daß meine Verheirathung erst in einigen Wochen stattfinden kann, denn ich werde bis dahin meine Abreise nach Brüssel aufschieben müssen. Harriet sagt, es sei ihr unmöglich, ihre Papiere, ihren Haushalt und ich weiß nicht was für Dinge noch früher in Ordnung zu bringen.“
„Reise gleich und hole Deine Braut später!“ sagte ich.
„Meinst Du? – Ich kann das nicht wohl thun; ich kann Harriet nicht so allein lassen.“
„Warum nicht?“
„Ich fürchte, sie wird einen solchen Vorschlag sehr empfindlich aufnehmen.“
„Es handelt sich aber um eine wichtige Sache, um Deine Stellung –“
„Ich weiß.“ Er schritt unruhig im Zimmer auf und ab; plötzlich nahm er seinen Hut und ging mit den Worten: „Wir reisen morgen, Du und ich, Harriet muß einwilligen, ich gehe, ihr meine Abreise anzuzeigen.“
Er konnte kaum auf der Treppe gewesen sein, als er die Thür wieder öffnete und mit wunderschön verklärtem Gesicht und weicher Stimme sagte: „Ich habe, seit ich hier bin, fast gar nie an meine Mutter gedacht; welche Freude wird sie haben, mich wieder zu sehen! Auf jeden Fall reisen wir morgen.“
Als er gegangen war, fragte ich mich, ob er wirklich körperlich eben unter der Thür gestanden?
Am folgenden Tage reisten wir nach Dover, und am zweiten fuhren wir auf dem Meere Ostende zu. Es gingen damals bekanntlich noch keine Dampfschiffe. Man brauchte bei gutem Wind etwa einen Tag und eine Nacht, um von Dover nach Ostende zu fahren. Ich hatte das Unglück, nach kaum einer Stunde so seekrank zu werden, daß ich mich weder um die Schönheit des Meeres, noch um die Passagiere bekümmern konnte, sondern, auf meiner Matratze in der Nähe des Steuermanns liegend, mich ganz dem unbeschreiblichen Gefühle meines Elends hingab. Henry, der nicht seekrank war, kam von Zeit zu Zeit zu mir, bedauerte mich, pries die Herrlichkeit des Meeres, den Genuß der frischen Seeluft und schien die Trennung von Mistreß Stephenson recht gut zu ertragen.
Gegen Abend, als die Sonne Gold und Purpur in das Meer goß und der blaue Himmel rosenroth ward, ertönte am andern Ende des Schiffes Henry’s Geige. Die süßen Töne einer leidenschaftlichen Klage schwebten über das stille Meer hin. Ich erhob den Blick: die weißen Segel, in welchen die Brise sanfte Hügel schwellen ließ, waren von zarter Gluth überhaucht, während die Segelstangen dunkelroth erglühten und das Tauwerk golden schimmerte. Mit leisem Murmeln trugen uns die durchschnittenen Wellen; dann und wann ging der schrille Ruf einer Möve durch die Luft. Als ich den Blick wieder senkte, hatte das Deck, auf dem ich lag, einen Goldglanz, so intensiv und strahlend, daß ich darüber erschrak. Das Gesicht des Steuermanns war wie von rothem Licht getränkt, und auf seiner Jacke lag eine Atmosphäre von Goldstaub. Ich schloß die Augen und betete, gleich einem alten Perser, die Sonne an. Vom Gebet kam ich in’s Träumen. Die Geige sang und weinte und jubelte und schluchzte wie ein Mensch; sie hatte Töne, die mir das Herz buchstäblich erzittern machten. Ich habe oft gedacht, die Musik besitze nicht nur eine seelische Macht, sondern auch eine substantiöse, wie etwa der Wein. Die Musik kann auch berauschen.
Ich hatte lange mit geschlossenen Augen gelegen und den Tönen der Geige gelauscht; plötzlich fühlte ich eine sonderbare elektrische Spannung in meinem Körper; ein Luftstoß fuhr heiß über mein Gesicht, und ihm folgte der kalte Gischt des Wassers. Ich erhob mich und rieb mir die Augen. Die Sonne war untergegangen; das Meer hatte eine kalte, schwarzgrüne Farbe, und der Horizont war violet und von schwefelgelben Streifen durchschnitten, welche in kurzer Zeit ihre Farbe verloren und bleigrau wurden.
„Wir werden ein Gewitter bekommen, nicht wahr?“ fragte ich den Steuermann.
„Möglich,“ antwortete er ruhig.
Ich fühlte keine Seekrankheit mehr; im Gegentheil, ich fühlte mich froh und außerordentlich angeregt. Henry stand, gegen Westen gewandt, am Geländer des Schiffes, ganz in Musik verloren; seine Geige und er waren Eins geworden. Indem ich auf ihn zutrat, bemerkte ich die wenigen Passagiere, die theils stehend, theils sitzend seinem Spiele lauschten. Unter ihnen fielen
[502] mir ein großer, schon bejahrter Mann auf und eine junge Frau, welche vor ihm auf einem niedrigen Bänkchen saß. Sie war in einen schwarzen Atlasmantel gehüllt, auf den ein Spitzentuch fiel, mit einer goldenen Nadel am Kopfe befestigt und auf der Brust leicht geschlungen. Sie saß so, daß ihr Profil mir zugewandt war. Was mir an diesem Profil auffiel, war der wunderschöne Rücken der Nase, welche gerade war und, ohne groß zu sein, ein wenig aus dem Gesichte vorstand, und das Kinn, dessen kaum bemerkbar zurückweichende Linie diesem Profile eine unbeschreibliche Anmuth und Sanftmuth verlieh. Ihr Haar, in der Mitte gescheitelt und an den Schläfen locker geflochten, floß unter dem Ohre gegen den Nacken hin und war so schwarz, daß es blaue Reflexe hatte. Ihr Auge war zu Boden gesenkt; ihre Hände ruhten, in einander verschlungen, auf den Knieen; unter dem Saume des Kleides streckte sich, wie unbewußt, ein feingebautes Füßchen vor, welches ein ausgeschnittener schwarzer Sammtschuh und ein blaßrosenrother Seidenstrumpf bekleideten. Sie lauschte offenbar den Tönen der Geige und zwar mit ganzer Seele. Das schwarze Spitzentuch hob und senkte sich, durch schnelle und tiefe Athemzüge bewegt. Die Weichheit und Poesie dieser Erscheinung fesselten mich; sie hatte etwas, das wohl that.
Henry’s Geige schwieg jetzt; er trat her zu mir und sagte, wie aus einem Traume erwachend: „Wo sind wir?“
In diesem Augenblicke erhob sich die Dame, auch wie aus einem Traume erwachend, und wandte uns ihr Gesicht zu. Alles Blut schoß mir zum Herzen. Es war mir, als ob mich eine Schraube im Genick faßte und niederrisse, und ich taumelte einen Schritt rückwärts. Die Dame war dieselbe, welche ich am Erkerfenster in Brüssel, mir gegenüber, gesehen hatte und die ich seitdem mit verschwiegener Anbetung in der Seele trug.
Sie ging an uns vorüber, ohne uns anzusehen; sie sah die Geige an, welche an Henry’s Hand hing. Der alte Herr, der hinter ihr gestanden, bot ihr jetzt den Arm; sie zog ein Ende ihres Spitzentuches vor’s Gesicht und ging langsam mit ihrem Begleiter auf und ab.
Henry’s Blick, welchem meine Bewegung entgangen war, folgte unverwandt der sympathischen Erscheinung.
„Sieh doch diese Gestalt! Ist sie nicht wie Musik?“ sagte er.
Die bleigrauen Streifen am Horizont klärten sich mehr und mehr; die bange Färbung des Himmels sänftigte sich. „Es ist nicht gut, daß das Gewitter sich verzieht, wir werden nun unruhiges Wasser bekommen,“ sagte der Steuermann. Die Nacht kam schnell; ihre braunen Schatten sanken sichtlich einer nach dem anderen und immer dichter und dichter herab; die Luft wurde empfindlich kühl, das Meer unruhig. Ein Matrose zündete die Schiffslaternen an; ihr schmutziges Licht glotzte unheimlich in die Nacht hinaus.
Mein Herz klopfte noch heftig von dem süßen Schrecken, den es erlitten hatte, und ich verwünschte die Nacht, die so eilig herab kam und das blasse Gesicht unter dem Spitzenschleier kaum noch errathen ließ.
„Hast Du die Dame genau angesehen? Ist sie schön?“ fragte mich Henry.
„Ich weiß nicht; ich gab nicht darauf Acht,“ erwiderte ich ausweichend.
„Es ist merkwürdig –“ fing er wieder an, „mich frappirte ihre Physiognomie, und doch weiß ich nicht, wie sie aussieht, ob sie schön oder nicht schön ist; ich habe über das Ganze die Einzelheiten vergessen.“
„Sie ist jedenfalls ein Gegensatz zu Mistreß Stephenson.“
„O, ganz entschieden ein Gegensatz,“ sagte er mit einem Tone, der fest und träumerisch zugleich war. Dann fügte er hinzu: „Arme Harriet, wie wird sie sich jetzt einsam fühlen!“
Die Passagiere, auch sie, der schwarze Stern, gingen in die Cabine hinab, an deren Wänden gepolsterte Ruhebänke hinliefen.
Henry und ich blieben auf dem Verdeck und legten uns, in wollene Decken und Pelze gehüllt, auf eine Matratze. Die Nacht wurde sehr finster; das Meer warf schwarze Wogen und phosphorescirenden Schaum in die Höhe und begleitete den munteren Gesang der Matrosen mit urweltlichen Accorden.
„Ich kenne drei Dinge, die alles Kleinliche im Gemüth zur Ruhe bringen: die Musik, das Meer und die Sterne,“ sagte Henry.
„Und die Liebe?“ fragte ich.
„O, die Liebe! Wer liebt, hat nichts Kleinliches mehr; wer liebt, der ist ein Gott!“
„Also bist Du ein Gott?“ fragte ich.
Er antwortete nicht. Wir sprachen nun nicht mehr und gingen, da die Kälte und Feuchtigkeit der Luft uns unangenehm wurden, bald in die Cabine hinab, wo im blassen Schimmer einiger Oellampen die Passagiere zerstreut lagen. Wir suchten uns eine bequeme Ecke und schliefen bald ein.
Ich erwachte, wie durch Rufe erweckt, und erhob mich. Die Passagiere schienen alle fest zu schlafen; ich weckte Henry und sah auf meine Uhr; es war zwei Uhr Morgens. Plötzlich schmetterte mich ein furchtbarer Stoß zu Boden; es fuhr durch das Schiff ein Krach, als sprängen über uns die Pforten der Ewigkeit entzwei. Der Schrei: „Wir sind verloren,“ tönte von allen Lippen. Ich raffte mich auf und tastete nach Henry – er war nicht mehr neben mir; ich blickte um mich – hinter mir stand die junge Frau. Ich legte meinen Arm um sie und zog sie zur Treppe hin.
„Retten Sie meinen Freund, den alten Mann!“ rief sie; „er hat ein Kind; ich habe Niemanden. Retten Sie ihn, ihn!“
„Ich rette Sie Beide, wenn es in meiner Macht liegt!“ rief ich, und nahm den alten Mann an der Hand. So kämpfte ich mich die Treppe hinauf, von welcher uns das Wasser entgegen kam. Die Matrosen warfen Seile herab, die wir erfaßten, und sie zogen uns so die Stufen hinan. Ich hielt meinen Stern fest umfaßt und fühlte des alten Mannes knöcherne Hand die meine verlassen und sich an dem Kragen meines Rockes festklammern. Als wir auf dem Verdeck waren, riß ich meinen Stern und den alten Mann, der mir grauenhaft am Rücken hing, vorwärts – da kam ein Berg und warf mich um. Das Wasser drang mir in Mund, Nase und Ohr; meine Hände lagen beide flach am Boden – wo, Gott, wo war mein Stern? Wo?! Der alte Mann lag auf mir. Seine Finger krallten sich in meinen Nacken und seine Zähne packten mein Haar. Jetzt kam noch ein Berg; der warf mich in die Höhe und seitwärts, dann jäh hinab. – „Das ist der Tod,“ dachte ich. Im nächsten Augenblicke schwoll das Wasser unter mir und trieb mich wieder nach oben; ich hörte schreiende Stimmen und griff um mich; meine Hand faßte ein Schiffstau, und da ich fühlte, daß es von oben herab hing und befestigt war, klammerte ich mich daran. Eine Woge schleuderte mich gegen etwas Hartes, und als sie über meinen Kopf hin gerauscht war, fühlte ich, daß ich auf festem Boden lag. Das Brausen des Meeres und das Pfeifen des Windes, die Gebete, die Flüche, die Aufschreie von Stimmen, die beinahe nichts Menschliches mehr hatten, drangen in mein Ohr wie Marterinstrumente; meine Schläfe pochten zum Zerspringen und ich gerieth in eine Exaltation, welche mir das Bewußtsein der Wirklichkeit raubte. Ich dachte, ein Planet, von Dämonen bewohnt, sei aus dem Himmelsraum herab gefallen und die Menschen lägen mit den Dämonen im Kampf. Ich öffnete die Augen – es war grauenhaft. Alles schwarz, ganz schwarz. In dieser Finsterniß hing ein rother, glühender Punkt, ein Feuertropfen – es war das Strandlicht von Ostende, allein ich erkannte es nicht. „Die Welt ist untergegangen, und ich bin gestorben,“ dachte ich; „wo nehm’ ich jetzt Flügel her, um meinem Sterne nachzufliegen?“
Eine Woge wälzte sich schwer und langsam über mich – ich erstarrte.
Nr. 39. Henneberger Jahrmarktsleute.
Der alte Brauch, Jahrmärkte zu halten, verdankt seinen Ursprung in Deutschland bekanntlich den Wallfahrten, Kirchweihen, Apostel- und anderen Heiligentagen. Die Besucher dieser Feste, die zum Theil aus weiter Ferne herzuströmten, suchten nicht blos Nahrung für Geist und Gemüth; sie fühlten auch das Bedürfnis, ihren Leib mit Speis’ und Trank zu versorgen. Deswegen war man schon frühe darauf bedacht, daß letztere in hinreichender Menge vorhanden waren. Bald aber wurden neben Speisen und
[503][504] Getränken auch Gegenstände für den häuslichen Gebrauch zum Verkauf ausgelegt, und diese stellten mit der Zeit jene sogar in den Hintergrund.
In neuerer Zeit haben im Allgemeinen die Jahrmärkte, gleich den Vogelschießen („Freischießen“), an Bedeutung verloren, weil nach und nach auch in größeren Dörfern sich Kaufleute aller Art niedergelassen haben und für die Hauptbedürfnisse des Landvolkes sorgen. Nichtsdestoweniger werden die Hennebergischen[2] Jahrmärkte in Städten und Flecken noch immer ziemlich stark besucht. Wenn nun auch diese dem Kleinhandel gewidmeten Vertriebsgelegenheiten so ziemlich überall dasselbe Gesicht zeigen, das einer ausführlicheren Schilderung derselben nur geringen Stoff von höherem Interesse bietet, so werden im vorliegenden Fall doch einige Notizen über die volksthümliche Außenseite dieser Henneberger Jahrmarktsleute einen bescheidenen Raum beanspruchen dürfen.
Einer der besuchtesten Jahrmärkte ist wohl der in der Residenzstadt Meiningen. Hier werden jährlich zehn Märkte abgehalten, zu welchen die Bewohner von mindestens fünfzig umliegenden Ortschaften kommen. Da sind die nachbarlichen Preußisch-Henneberger aus dem Hasel- und Schwarzagrunde (aus Rohr, Hühndorf, Dillstädt, Schwarza, Christes u. a) die Bewohner des ehemaligen Amtes Sand, die Werragründer, Grabfelder und die aus dem Herpfgrunde. Die Mehrzahl der Marktgänger kommt zu Fuß in die Stadt. Unter diesen sind insbesondere die Preußen und die aus dem Grunde der Herpf, deren Weg über den Berg führt. Wer’s kann, spannt einen Gaul an und fährt, doch nicht etwa in der Kutsche, sondern auf dem Leiterwagen, der mitunter „gesteckt voll“ geladen ist (im Volksmunde eine „Judenfuhre“); aber unser Bauer spricht: „Besser schlecht gefahren als stolz zu Fuß gegangen.“
Die Trachten der Marktleute sind sehr verschieden, und der aufmerksame Beobachter, der sich schon ein wenig auf diesem Gebiet umgesehen hat, weiß auf den ersten Blick, aus welcher der genannten Gegenden Der oder Jener stammt. Die Männer aus dem Preußisch-Hennebergischen, die sich durch ihre hohe, kräftige Gestalt, mehr aber noch durch ihre stramme Haltung bemerklich machen, welche sofort den Soldaten verräth, der auch Pulver gerochen hat, tragen gewöhnlich einen blauen, bis auf die Kniee herabreichenden Kittel aus „Beidermann“ (einem Gemenge aus Baumwolle und Leinen), lange Hose und Stiefel, oder statt deren auch Strümpfe und Schuhe, und eine baumwollene Zipfelmütze, doch auch nicht selten eine Schirmmütze (sogenannte „Russische Kappe“. Die Weiber und Mädchen aus dieser Gegend, die zwar ein frisches gesundes Ansehen haben, doch mehr von einer untersetzten Statur sind, tragen einen faltenreichen, wenig über die Kniee herabreichenden dunkelgrünen Tuchrock, mit doppeltem hellgrünem, seidenem oder auch baumwollenem Bande am unteren Ende, ein dunkles, weit ausgeschnittenes Leibchen, aus welchem das blau und weiße Hemd hervorschaut, weiße baumwollene Strümpfe oder auch, wenn der Weg trocken ist, Socken aus Tuchlappen. Auf dem Kopfe sitzt ein eigentümlich geformter Strohhut, der mit schwarzem Bande besetzt ist.
Der Marktgänger aus dem Amt Sand, der eine weniger kräftige Gestalt und eine nicht sehr lebhafte Gesichtsfarbe hat, ist bekleidet mit einem blauen Tuchrock oder auch einer dergleichen Jacke, einer leinenen oder bocksledernen Kniehose, Strümpfen und Schuhen, statt dieser auch Wadenstiefeln. Den Kopf bedeckt ein Cylinderhut, wohl auch eine Schildmütze; doch sieht man hin und wieder auch noch eine Pelzmütze, die Sommer und Winter getragen wird.
Die Mannspersonen aus dem Werra- und Herpfgrund und aus dem Grabfeld, die meist von schlanker Statur sind und sich schon mehr nach der Mode richten, tragen einen dunkelblauen Tuchrock, oder eine Jacke, lange Hosen aus Tuch oder aus Zeug und Stiefel. Ihre Kopfbedeckung besteht in einer Schildmütze, selten in einem Cylinderhut, der für Sonn- und Festtage aufbewahrt wird.
Kleidsamer ist überall die Tracht der Weiber und Mädchen, besonders der letzteren. Dieselben haben einen den Preußisch-Hennebergerinnen ähnlichen Rock, nur ist er viel länger und ohne Bandbesatz, der durch Schnüre und Litzen in Kniehöhe ersetzt wird, ein enganliegendes dunkles Jäckchen aus Tuch oder Zeug, weiße baumwollene Strümpfe und Zeugschuhe. Ihr Hut ist größer und statt des schwarzen Bandes der Preußinnen mit hellgrünem, meist seidenem Bande besetzt, von welchem eine lange Schleife über den Rücken hinabfällt. Einen besonderen Schmuck erhält der Hut, der auch im Winter nicht fehlt, noch durch einen Strauß von künstlichen Blumen, den jedoch die Hüte der Frauen entbehren. Ueber Jacke und Rock wird dann noch, zumal im Winter, ein Mantel aus Kattun geworfen. Die Kleidung der Weibspersonen aus dem Amt Sand hält die Mitte zwischen derjenigen der Preußisch-Hennebergerinnen und der Letztgenannten.
Ebenso verschieden sind die Tragkörbe, hier Kötzen genannt, ohne welche selten Eine zu Markte geht. Hin und wieder sieht man auch einen Mann oder einen Burschen, der eine Kötze auf dem Rücken hat, doch das ist nur eine Ausnahme von der Regel. Die Kötzen der Preußisch-Henneberger, sowie die der Amt-Sander, die nicht eben viel zu fassen vermögen, haben die Form einer abgekürzten Pyramide, welche oben nach der Weitung hin in’s Rundliche übergehen. Die Grabfelder tragen Körbe aus Weidengeflecht in eirunder Form, die mehr als jene fassen können. Dieser Korb ist neuerdings auch bei den Werra- und Herpfgründern im Gebrauche; ehedem benutzten dieselben den Thüringer Beinkorb, so genannt wegen der beiden langen, an der Tragseite des Korbes angebrachten Hölzer, auf welche derselbe beim Ausruhen an Berglehnen aufgestützt wird. Die alte Meininger Kötze ist der sogenannte „Coburger Korb“, der die schönste Form von all diesen Körben hat und auch viel mehr als jene fassen kann.
Unter den mancherlei Gegenständen, die zu Markte gebracht werden, machen sich besonders bemerklich die Töpferwaaren der Wasunger und Ummerstädter Häfner, die Büttnerwaaren (Gelte, Butten, Eimer und Wasserkannen) vom Thüringer Walde (meist aus dem Bezirke Eisfeld), die Schuhmacherwaaren der Ostheimer (Eisenacher Oberland) und Wasunger, die erstaunliche Menge von Schnittwaaren der Juden aus der Umgegend von Meiningen, die Bäckerei- und Zuckerwaaren von Wasungen und Schmalkalden. Auch giebt es da Gemüse aller Art, das besonders von Gogsheim (Unterfranken) und Bamberg kommt. Hühner und Tauben, nebst Eiern und Butter, liefern die Grabfelder Höker in und auf ihren Kötzen, die Gänse kommen größtenteils aus dem Werragrund, wo sie zu Hunderten, ja wohl zu Tausenden gezüchtet werden.
Mit den Jahrmärkten sind in der Regel noch Schweinemärkte verbunden; so auch in Meiningen. Eine gewisse Berühmtheit hatten und haben noch die Schweinemärkte in Helmershausen (Eisenacher Oberland) erlangt. Am belebtesten aber unter allen Hennebergischen Märkten überhaupt sind doch der Kirschenmarkt (Anfangs Juli), der Burkhardsmarkt (Mitte October) und der Christ- oder Weihnachtsmarkt (etwa acht Tage vor Weihnachten); wahre Festtage für die Kinder.
Auf allen Jahrmärkten zu jeder Jahreszeit erreicht Mittags mit dem höchsten Stand der Sonne auch der Menschenstrom seinen Höhepunkt. So wie derselbe allmählich wächst, nimmt er auch wieder ab. Zuletzt Packen auch die Krämer ihre unverkauften Waaren ein, um ihr Glück an einem anderen Orte zu versuchen; denn gar mancher von ihnen, der mit großen Hoffnungen kam, hat schon manchmal kaum so viel gelöst, um das Standgeld (Marktgeld) bezahlen zu können.[505]
Brixlegg hat für die Leser der „Gartenlaube“ bereits einen bekannten Klang. Vor drei Jahren theilte sie ihren Lesern die Beschreibung eines dem Oberammergauer nachgeahmten Passionsspiels mit, und bei dieser Gelegenheit nahm auch die herrliche Alpennatur die Augen gefangen. Um dem Leser das Bild von Brixlegg und seiner Umgebung noch besser in Erinnerung zu bringen, ist es wohl vorzuziehen, lieber die Illustration, als die Beschreibung der Ortschaft hier noch einmal folgen zu lassen.
Als wir vor circa vierzehn Tagen, zur Sommerfrische hier eingetroffen, in der umfangreichen Bretterhütte jenseits des Alpbaches, welche nur dem Bühnenzwecke dient und seit Jahren geschlossen stand, allerlei geheimnißvolle Geschäftigkeit bemerkten, war unsere Freude groß. Bald bestätigte sich die Sage der bevorstehenden Aufführung eines Ritterstückes, das nach alter Ueberlieferung ganz neu für das Bauernspiel eingerichtet und besonders „fein“ sei. Die Nachbarin erzählte von herrlichen Garderobe-Stücken und neuen Decorationen, welche vor Kurzem beschafft worden wären und viertausend Gulden gekostet hätten. Spät Abends, nachdem Feldarbeit und Nachtmahl vorüber, hörte man aus dem Musentempel rauschende Musik erklingen; dann wurden die Proben abgehalten, welche sich jedoch in Geheimniß hüllten, um die Ueberraschung desto lebhafter wirken zu lassen.
An einem regnerischen Sonntage, dem zweiten des Juli, prangten die in schweigender Nacht befestigten, leuchtend gelben Theaterzettel an Häuserecken und Bretterwänden.
Das angekündigte Spiel trug einen vielverheißenden Titel:
Die nun folgenden „Personen“ werden wir durch den Verlauf des Stückes kennen lernen.
Noch ehe die Casse geöffnet war – ein viereckiger Ausschnitt in der Bretterwand, hinter welchem der Cassirer stand wie eine Figur in der camera obscura – drängten sich die ungeduldigen Zuschauer bereits um dieselbe. Lachende Mädchengestalten, die unter dem runden Hut mit Goldquaste doppelt freundlich drein schauten, all die sonntäglich geputzten Insassen Brixleggs und manches umliegenden, durch abweichenden Schmuck der Kopfbedeckung kenntlichen Ortes bewegten sich fröhlich durch einander und verriethen angeregteste Erwartung. Bei so erfreulichem Anlaß schmückt sich Alt und Jung mit frischen Blumen; selbst das runzeligste Mütterchen trägt da eine rothe Nelke, oder gar ein Röslein hinter dem Ohr.
Kaum hatten sich die drei Pforten des Heils aufgethan, als das geräumige, sechs- bis achthundert Personen fassende Haus sich zu füllen begann.
Die Bühne, welche sich ganz wesentlich über den Zuschauerraum erhebt, überraschte uns schon bei niedergelassenem Vorhang durch eigenthümliche Anordnung, welche theils an das Schauspiel der Alten, theils an die Passionsspiele erinnerte. Das Bild des Vorhanges zeigte Jerusalem; oberhalb desselben ruhte Glaube, Liebe und Hoffnung in Wolken – anmuthige Gestalten, deren stehendem Typus neue Auffassung abgewonnen war; so erschien hier die rosenbekränzte Liebe als junge Mutter, die ihr Kind herzt; ihr zu Füßen schnäbelte sich ein Taubenpaar. Ueber dieser Gruppe schwebte ein Kreuz, von welchem sich Guirlanden aus Blumen und Früchten in weiten Bogen hinzogen, deren Enden von schwebenden Engeln festgehalten wurden. Oberhalb des Kreuzes ein großer Schwan mit seiner Brut; wenn sich dieser stolze Vogel hier als Pelikan geberdete und die Brust aufritzte, daß ihm sein rothes Blut über das weiße Gefieder rieselte, so nahm sich das ganz lieblich aus. Zur Rechten und Linken hielten die überlebensgroßen Gestalten des Moses und Elias in plastischer Malerei ernste Wacht. Große Flügelthüren, welche gleichfalls nur gemalt zu sein schienen, sich aber später als wirkliche Aus- und Eingänge erwiesen, folgten. Ihnen zur Seite, auf Sockeln, links der rothe Wappenlöwe, rechts ein lorbeerbekränzter Augustuskopf in Medaillen; die imperatorische Identität desselben wurde durch die darunter geschriebenen Buchstaben S. P. Q. R. („Senat und Volk von Rom“) jedem Zweifel entzogen.
Hiermit endete die horizontale Linie, und hübsch erdachte, orginelle Prosceniumslogen rückten seitwärts vor. Ihre luftigen Galerien ruhten auf säulengetragenem Unterbau; goldbefranzte Purpurfahnen senkten sich in schweren Brokatfalten darauf nieder. An die Loge links schloß sich eine Rosenlaube, an jene zur Rechten eine Felsgrotte, aus deren Gestein sich leichte Gruppen wirklicher Laubbäumchen erhoben.
Dies Alles wirkte höchst anmuthend; jede Einzelnheit war durchaus frisch und geschmackvoll.
Da keine Festfreude in Tirol ohne Pulvergeknall denkbar, leiteten reichliche Böllerschüsse das „G'spiel“ ein, die erst vor den rauschenden Klängen des Orchesters verstummten, welches, dem Auge unsichtbar, die erste der „Arien“ spielte. Staunend meinten wir uns nach Bayreuth vor Richard Wagner's Schaubühne versetzt, denn die bedeutende Höhe des Podiums täuschte völlig in den Eindruck eines unterirdischen Orchesters hinein.
Nun hob sich die Gardine zum Beginne des ersten Actes: „Befreiung aus Räuberhänden“.
Scene: ein säulengetragener Rittersaal, in dessen Mitte Graf Emmerich von Steinburg steht, mit Schuppenbeinkleid, Stulpenstiefeln, verbrämtem Wammse und riesengroßem Federhute stattlich angethan, überdies von einem goldbesetzten Mantel faltig umwallt, dessen breiter Saum ahnen läßt, daß er ursprünglich für Gewandung eines Heiligen verfertigt worden. Der edle Vater beklagt seine hohen Jahre und denkt voll Sorge an die Zukunft seiner Tochter Hedwig, deren tapferer Bruder im Kreuzzuge ficht. In dem Grafen Steinburg tritt uns einer der besten Spieler der Gesellschaft entgegen; Erscheinung und Rede bezeugen, wie innig er sich in seine Aufgabe vertieft hat. Er ist und bleibt ein echter Ritter von altem Schrot und Korn; jeder Zuschauer fühlt sich von romanischem Bewußtsein ergriffen.
Als nun die Tochter Hedwig auftritt, droht dieser Stimmung allerdings Gefahr. Ihre mit mancher ländlichen Geschmacksäußerung durchmischte Tracht eines Ritterfräuleins umhüllt eine redende Gliederpuppe. Meist steht sie regungslos gleich einer Säule, sobald sich jedoch Gelegenheit zum Affecte ergiebt, tritt sie plötzlich mit drei oder vier weiten Schritten bis dicht an die Rampe vor, breitet dort ganz unverhofft beide hochgepuffte Aermel horizontal aus, um schon im nächsten Momente, wie durch Drähte regiert, ihre Hände zusammenzuklappen und eifrig zu ringen. Und zum Affecte giebt schon die erste Scene reichlichen Anlaß: Der alte Ritter theilt nämlich seiner Tochter mit, daß er einen Gatten für sie erwählt habe, womit Dame Hedwig keineswegs einverstanden ist. Das „Nein!“ welches sie hervorstößt, klingt wie ein Ultimatum, und als ihr der Vater des Freiers Namen nennt, erreicht ihre Bestürzung den Gipfel. Umsonst wird ihr die Aussicht in den lockendsten Farben gemalt, mit diesem Grafen Ubald von Eilenburg, der dreißig Ahnen hat und Kanzler des Markgrafen von Oesterreich ist, nach des Letztern Hofe zu kommen. „Nein!“ und abermals „Nein!“ bleibt ihre mit ausgebreiteten Armen wiederholte Versicherung.
„Warum? wie so?“ fragt der Vater, doch ergreift auch ihn Abscheu und Schauder, als die Maid eine haarsträubende Geschichte berichtet, die sie mit eigenen Augen geschaut: daß nämlich Graf Ubald seine Hunde auf einen Bettler gehetzt und diese dem Armen „alle Kleider vom Leibe gerissen, bis er nackt und bloß an der Erde lag! Lieber in's Kloster!“
„Unerhört! schrecklich! entsetzlich!“ ruft der edle Vater, und gelobt, den Freier fortzuschicken – ein Versprechen, das ihm allerdings, nachdem Hedwig abgetreten, in bedenklichem Lichte erscheint, „weil er alt und Graf Eilenburg mächtig!“ Da erscheint sein mit großer Pracht gekleideter Burgvogt und meldet den Kanzler in Person. Eine steifleinene Gestalt, die, wenn sie wirklich den Teufel im Leibe hat, wenigstens nichts von feuriger Beweglichkeit mit abbekommen, sondern während all seiner Missethaten die Haltung einer Schildwache beibehält. In Gelb und Braun ritterlich angethan, durch einen Hermelinhut ausgezeichnet, [506] trägt er seine Werbung in bester Form dem Vater vor. Dieser, sichtlich verlegen, bringt einen Vorwand nach dem andern zu Tage, bis er auf zunehmendes Drängen des ungestümen Freiers endlich mit der Sprache heraus muß. Als Graf Ubald erfährt, daß ihn die Erwählte verschmähe, verlangt er sie selbst zu sprechen, und nachdem auch dies ihm unter dem Vorwande verweigert wird, daß gegenwärtig ihre Betstunde sei, zieht Graf Ubald sehr erbittert ab.
Verwandlung: Ein Tiroler Wald, worin der Jordan fließt und zwischen anderen Stämmen auch Palmen wachsen. Graf Ubald erscheint mit seinem Vertrauten, dem Ritter Rädinger von Ebersberg. Letzterer ein ritterlicher Samiel in schwarzer Rüstung mit feuerfarbigem Mantel und dito Federzier auf dem Barett. In hellem, steifem Ingrimme theilt Graf Ubald dem Freunde die erfahrene Unbill mit.
„Man hat meine Hand ausgestoßen – bin verachtet – verschmähte Liebe verwandelt sich in Haas; – Rache!“
Der Vertraute erklärt sich zu jedem Beistande bereit. Wir erfahren, daß er es einzig dem Grafen Ubald verdankt, sich vom Roßknechte zum Ritter aufgeschwungen zu haben, und dafür mit ihm durch Himmel und Hölle gehen will. Eilenburg steht brütend und blickt finster wie eine Novembernacht. Plötzlich wird er unheimlich beweglich und entwickelt einen Plan, Hedwig zu rauben. Rädinger soll sie bei Gelegenheit ihres täglichen Armenbesuchs im Thale zu treffen und mit einem Vorwande in den Wald zu locken suchen; dort will Ubald im Verborgenen ein Zeichen durch Händeklatschen erwarten, um die Geliebte mit Gewalt zu entführen, und „wenn Legionen von Teufeln sie bewachen, es hilft nix!“
Abgang Beider. Nun betritt der Liebesheld, Guido von der Horst, die Scene. Er ist in Himmelblau, Weiß und Silber prachtvoll ausgerüstet, trägt einen wirklichen Harnisch, dazu weiße Tricots. Das rothe Kreuz ist mitten auf dem Rücken seines Mantels eingestickt. Ein bescheidenes Bewußtsein großer persönlicher Reize umgiebt ihn bei jedem Auftreten; dennoch blickt er melancholisch. Wir erfahren, daß er vom Kreuzzuge heimgekehrt ist und keinen Freund sein eigen nennt, als sein treues Schwert, welches er hierbei mit einem Ruck aus der Scheide zieht, aber lange nicht mehr dazu bewegen kann, in dieselbe zurückzukehren. Nun stutzt er: „Hülferuf? Nahende Schritte?“ Er verbirgt sich, um abzuwarten, was sich zutragen wird. Hedwig und Rädinger erscheinen. Dass sie in seiner Gewalt ist, muß wahr sein, da er es sagt; ihr selbst, die völlig regungslos steht, ist der Umstand nicht anzumerken. Auch erfahren wir von Rädinger, daß es Nacht ist und donnert. Sie fleht um Freiheit; als er finster mit dem Kopfe schüttelt, versucht sie Flucht, wird aber von ihm festgehalten. Da stürzt der blaue Held mit gezücktem Schwerte aus dem Gebüsche. Beide Ritter kämpfen, und im Nu hat sich die „Befreiung aus Räuberhänden“ vollzogen. Während die Schwerter klirren, ist Hedwig umgefallen wie ein Brett.
Sobald der Befreier den Feind verscheucht hat, tröstet er die Maid und erbietet sich zum Heimgeleite; da erscheint aber schon Vater Steinburg mit bewaffnetem Gefolge, die vermißte Tochter zu suchen. Sie berichtet ihr Abenteuer: „Sobald ich einen Schrei that, hat er mir einen Stopfel in den Mund gethan!“
Dank und Rührscene, wobei der alte Ritter den jungen zu sich auf die Burg einladet und ihm das beste seiner Habe als Lohn der rettenden That bietet.
Guido: „Lohn? Nimmermehr! Ich bin zwar nur ein Waise, aber ich kenne Ritterpflicht. Seid mein Freund und laßt mich ziehen.“
Steinburg: „Dieses ist mir ein Räthsel. Solches hat noch Keiner gesprochen.“
Umsonst bittet auch Hedwig um Guido’s Begleitung. Alles ab.
Nun tritt der böse Ubald auf und wundert sich, daß Niemand in die Hände klatscht. „Rädinger! Brichst Du mir Dein Wort, so will ich Deine Seele dem Teufel als Leckerbissen auf die Tafel setzen! Mein muß sie werden, wenn ich sie auch aus dem Winkel der Finsterniß reißen sollte!“
Wir erfahren, daß jetzt der Mond scheint. Der Vertraute kommt wüthend an und berichtet sein Mißlingen. Nun planen Beide, unter fleißiger Anrufung Beelzebubs, den Befreier in Stücke zu schneiden und den Wellen preiszugeben, die Steinburg aber zu umzingeln, mit Aufgebot aller Knappen zu überfallen, Jedermann in Stücke zu hauen und Hedwig zu entführen. „Ich muß sie haben, oder sterben! Halte mein Pferd bereit! Um Mitternacht treffen wir uns!“
Der Vorhang fällt.
Zweiter Act: „Der Rache Schwur“.
Rittersaal. Vater Steinburg seufzt im Gespräche mit Hedwig ahnungsvoll nach seinem fernen Sohne. Da ertönt ein Trompetenstoß, der Burgvogt stürzt herein, zu melden, daß die Burg umzingelt sei. Schnell besonnen giebt der Burgherr Befehle, bittet Hedwig, die sich durchaus nicht regt, doch nicht so zu zittern, segnet sie und enteilt. Nun wird das Fräulein von heißer Tapferkeit ergriffen und ruft nach Waffen. Sie reißt einen Säbel von der Wand, über dessen räthselhafte Existenz an dieser Stelle wir uns vorher schon den Kopf zerbrochen, zieht die Klinge aus der Scheide, als zöge sie eine Rübe aus dem Boden, breitet den linken Arm in die Luft, während sie die Waffe gleich einem Bratspieße vor sich hinbohrt, und stürzt ab.
Verwandlung. Freier Platz vor der Burgmauer, in deren Mitte ein großes Thor. Die dahinter aufragende Burg schließt die Kuppel des Tempels von Palästina ein, was jedoch der rittermäßigen Wirkung durchaus keinen Eintrag thut. Vor dieser Ringmauer sehen wir Eilenburg in Berathung mit Rädinger. Plötzlich schmettern Trompetenstöße, das Thor springt auf, Ritter, Vogt und Knappen brechen mit entblößten Schwertern heraus, Hedwig, als kühne Minerva mit gleißendem Helme auf dem Kopfe, Allen voran! Nachdem Feinde und Verfolger über die Scene gestürmt, verwandelt sich dieselbe wieder in den Rittersaal der Steinburg. Vom treuen Burgvogt geleitet, wankt der verwundete Burgherr auf einen Sessel und klagt, seine Tochter sei spurlos verschwunden. Getreulich wiederholt der Vogt jeden Augenaufschlag, jedes Händeringen seines Ritters, der plötzlich ruft: „Sterben will ich! Die Welt ist eine abgebrannte Wüste!“ Hierauf reißt er sich den Verband ab und sinkt um.
Verwandlung. Neuer Rittersaal ohne Säulen. Hedwig steht vor Eilenburg und macht ihm bittere Vorwürfe; er aber entgegnet: „Mein Werben wurde verschmäht, da entbrannte in mir der Zorn, und ich habe gethan, was mich jetzt reut!“
Obgleich es ihn reut, weigert er sich doch hartnäckig, ihr die geforderte Freiheit zu geben, nachdem ihr tollkühner Ausfall sie in seine Hände geliefert.
„Sei die Meine!“
„Eher den Tod!“
Nun bricht sein Ingrimm aus: „So war also Mord und Brand vor nichts – fort aus dem Herzen, heiße Liebesgluth! Und Du, grausame Maid, wähle zwischen meiner Hand und dem Burgverließ!“
Von Letzterem, Schauerthurm genannt, macht er ihr die haarsträubendste Beschreibung, und als sie trotzdem bei ihrer Weigerung bleibt, ruft er seine Schergen. Ihrer Zwei erscheinen in Kitteln von braunem Glanzkattun, hinten offen, wie das erste Gewand eines Säuglings, Stahlkappen auf den Häuptern. Sie blicken wild und führen Hedwig ab.
Verwandlung: Anmuthige Landschaft; im Hintergrunde das Innthal. Links ein Bauernhaus, von gemalten Palmen und wirklichen Buchenstämmchen umschattet; das Laub der Letzteren bewegt sich mit sehr hübschem Effect im Luftzuge. Schon die Anmuth dieser Scenerie kündigt eines jener Zwischenspiele an, die sich im Tiroler Bauernspiel stets mit dem eigentlichen Stücke vermischen, die unmittelbare Gegenwart mit ihren alltäglichen Gebräuchen und Zuständen darstellen, und dem Volkswitze freien Raum lassen. Hier weicht das bisherige Hochdeutsch dem Dialekt. Der Bauer zankt seinen vom Berge niederspringenden Geisbuab’n scharf aus; dieser verantwortet sich schnippisch, und nach lebhaften Gegen- und Einzelreden, welche in knappen, klaren Zügen die Charakteristik dieser beiden Persönlichkeiten zeichnen, begeben sich Beide in das Haus.
Nun erscheint Guido, der blausilberne Held, welcher diesmal, nur im Röckchen, Barett und Mantel, bei weitem weniger elegisch dreinschaut, als zuvor. Von ihm erfahren wir, daß es tiefe Nacht ist, worüber uns der Sonnenuntergang des Hintergrundes außerdem in Zweifel lassen könnte. Sehnsucht nach seiner Geretteten treibt ihn umher; er beschließt, der Einladung des Ritters nachträglich doch zu folgen, und klopft an das Bauernhaus, [507] um den Weg nach der Steinburg zu erfragen Der Bauer humpelt schlaftrunken heraus, noch im Begriffe, seine Stiefeln wieder anzuziehen. Als er des Fremdlings Frage vernommen, fragt er verwundert, ob Jener denn nicht wisse, daß Graf Steinburg todt sei und heute zur Mitternachtsstunde begraben werden solle?
Steif wie eine Pappel bohrt sich Guido, der zugleich das Verschwinden des Fräuleins erfährt, beide Hände in die Augen, beschließt dann dem Begräbniß beizuwohnen, und verlangt einen Führer. Der Bauer ruft den Geisbuab'n, der schläfrig heraustrollt, sich die Augen reibt und dem Ritter spöttisch zuruft. „Hast jo an Sabel, was brauchst mi'?“
Verwandlung: Kirchhof mit hochragendem Crucifix in der Mitte. Es ist Nacht, der Eindruck dieser Scenerie ein wirklich mystischer.
Siegmund Steinburg, der Kreuzritter, tritt auf, in voller Stahlrüstung, mit rothem Mantel und einer kerzengeraden aufwärts ragenden Helmfeder. Er berichtet uns, dsß er im Begriffe ist, nach der väterlichen Burg heimzukehren, und freut sich, Vater und Schwester zu überraschen. Plötzlich tönt hinter der Scene ein Trauermarsch. Erst jetzt bemerkt der Ritter, daß er einen Friedhof betreten hat; ihm wird unheimlich zu Muthe, doch beschließt er abzuwarten, was die näher kommenden Klänge zu bedeuten haben.
„O, hier ist es schauerlich!“
In der That verwandelt sich auch des Zuschauers heitere Stimmung in beklommene Spannung, denn ganz unerwartet theilen sich die bisher als Decoration betrachteten Flügelthüren zur Linken der Bühne, und aus dem Proscenium schreitet ein von düsteren Klängen begleiteter Trauerzug hervor. Auf eine Reihe dunkel gekleideter Knaben, deren jeder einen Kranz trägt, folgen sechs verhüllte, mit faltigen Trauermänteln bekleidete Gestalten, auf deren Schultern der geschmückte Sarg ruht. Ritter und Knappen schließen sich in langem Zuge an, Alle in schwarzen Hüllen, aus welchen Rüstungen und Schwerter hervorblitzen.
Dieser Zug bewegt sich nach dem Tacte des Trauermarsches in gemessenen Schritten an der Bühne vorüber, von welcher aus Siegmund Steinburg ihm entgegenschaut, und wir können uns eines unheimlichen Eindrucks nicht erwehren, als er langsam unter der Prosceniumsthür zur Rechten verschwindet, um dann seitwärts auf der Scene selbst zu erscheinen, welche sich ganz mit den dunklen Gestalten füllt.
Nachdem sich alle Leidtragenden um den Sarg gruppirt haben, welcher am Fuße des Crucifixes niedergestellt worden ist, tritt aus ihrer Reihe Guido hervor und fordert, als Freund des Todten, der Deckel des Sarges solle gelüftet werden. Es geschieht, und der junge Held schwört, im Angesicht des Verblichenen, ihn zu rächen. Da ertönt ein wilder Schrei! Siegmund, der Sohn, hat seinen Vater erkannt! Im nächsten Augenblick erkennt er auch im Schwörenden seinen Waffenbruder und ruft: „Guido!“ Beide tauschen Rede und Gegenrede. Als Siegmund erfährt, daß Graf Eilenburg seines Vaters Tod verschuldet, die Steinburg zerstört und Hedwig geraubt habe, wird er zum Berserker, stampft mit den Füßen, daß der Boden zittert, und schwört nun seinerseits mit fürchterlicher Stimme: weder zu essen noch zu schlafen, bis sein Vater gerächt und seine Schwester befreit sei.
„Rache!“ tönt es einstimmig aus allen Kehlen. Die Leidtragenden treten in wirkungsvoller Gruppirung zusammen und kreuzen ihre Schwerter über dem Sarge. Bengalische Flammen tauchen die gestaltenreiche, malerische Gruppe in Purpurgluth. Dies ist der Höhepunkt des Stückes. Der Vorhang fällt.
Im dritten Acte „Wiederfinden im Schauerthurm“ schreitet die Handlung rasch vorwärts. Rädinger von Ebersberg hat aus mancherlei Anzeichen Besorgniß geschöpft, daß bei Anlaß der bevorstehenden Ankunft des Markgrafen Böses gegen den Kanzler im Werke sei. Er warnt Eilenburg und räth ihm, der drohenden Anklage damit die Spitze abzubrechen, daß er Hedwig im Guten berede, sofort seine Gemahlin zu werden.
„Sie hat ja doch kein Stachelherz, sie wird sich erweichen [508] lassen!“ – Schlimmsten Falles solle er sie tödten, damit sie wenigstens nicht als Zeugin gegen ihn auftreten könnte, falls die böse Angelegenheit, welche sinnreich mit einem Besitzinteresse des bischöflichen Stuhles verwoben wird, untersucht werden sollte. Beide Ritter sind zu allen Schandthaten bereit.
Nun erscheint Siegmund Steinburg im Gewand eines Minnesängers, um zu spähen. Er berichtet dem Grafen Ubald als große Neuigkeit des Tages, daß in Palästina zwischen „dem großen Saladin und dem Vicekönig von Aegypten“ Friede geschlossen worden sei, und in Folge dessen bereits viele Ritter vom Kreuzzuge heimgekehrt wären, unter Anderen auch Steinburg der Sohn, worüber Rädinger erschrickt, Ubald aber sich erbost. Siegmund bleibt unerkannt, es glückt ihm, in der Eilenburg Nachtquartier zu bekommen, und ganz unverhofft begegnet er dort seines Vaters treuem Burgvogt, der bei dem Feind in Dienst getreten, um sein Fräulein zu erkunden. Schon hat er herausgebracht, daß Hedwig im Schauerthurm schmachtet; auch hat er erhorcht, daß eine gewisse Stelle dieses Verließes schwach vermauert sei. Der Moment scheint gerade jetzt günstig. Siegmund will ihn benützen. Im Begriff, sich mit einem kolossalen Brecheisen Eingang in den Thurm zu erzwingen, wird er hierbei von Rädinger erwischt, der ihn nun selbst in das Verließ abführen läßt. –
Dieser Schauerthurm, ein ganz ansehnliches Gewölbe, macht trotz seiner dunklen Quadern keinen unwohnlichen Eindruck. Hedwig sitzt dort in schwarzem Atlaskleide, mit Schnallengürtel und weißem Stehkrägelchen. Sie trägt schwere eiserne Ketten und aufgelöste Haare, was sie recht vortheilhaft kleidet. Da es gilt, Verzweiflung auszudrücken, bewerkstelligt sie das, indem sie regelmäßig nach jeder dritten Silbe eine Kunstpause macht. Da kommt der böse Ubald herein.
„Eine Menschenstimme?“ sagt sie. „Der Schreckliche? O falsche, seifenblasenleere Welt! Ich bin zum Sterben bereit!“
Er: „Du machst mich rasend! Sei mein Weib!“
„Nein!!“
Schon stürzt er mit gezücktem Schwert auf sie los, da fällt ihm Rädinger in den Arm. Er ist soeben mit dem gefesselten Siegmund eingetreten und droht nun seinerseits Hedwig, „den Bruder vor ihren Augen zu Tode zu martern, falls sie dem Willen seines Freundes noch länger widerstehe.“ Rührendes Erkennen der Geschwister, die sich in den gefesselten Armen liegen. Hedwig beginnt ihre Feinde anzuflehen: „Seid Ihr Menschen von Fleisch und Blut? Die Brust des Herzens dreht sich mir im Leibe herum!“
Schließlich giebt sie nach. Während Ubald sie nach der einen Seite hin fortschleppt, dringt plötzlich von der anderen Ritter Guido, welchen der treue Burgvogt herbeigeholt hat, mit vielen Knappen durch die bewußte schwache Mauer in das Verließ. Rädinger flieht vor der Uebermacht in die Burg zurück, während Guido dem Gefangenen die Ketten abnimmt. Sobald Siegmund, der Berserker, sich frei sieht, beginnt er vor Freude zu tanzen.
Wir treffen nun zunächst im Saale den überaus zornigen Rädinger: „Wo kann man sich in dieser höllverfluchten Burg verbergen? Sie brennt an allen Ecken. Soll ich hier wie ein wildes Schwein lebendig gebraten werden?“
Ehe es hierzu kommt, treten Siegmund und Guido auf und bedrohen ihn mit dem Tode durch das Schwert, falls er nicht sagt, wohin Ubald die Geraubte gebracht. Er stellt sich, als wollte er seinen Freund verrathen, sagt nicht allein, derselbe sei mit Hedwig nach Wien, um sich dort mit ihr trauen zu lassen, sondern beschuldigt Ubald auch, ihn selbst zu allem Bösen verführt zu haben, fleht um Vergebung seines unfreiwilligen Antheils an allen Missethaten und bietet Siegmund seine Dienste und Treue an. Als dieser, durch so viel Heuchelei getäuscht, sich ihm nähert, springt Rädinger plötzlich von seinen Knieen auf und versucht Siegmund zu erdolchen, wird aber statt dessen selbst von Guido niedergestoßen.
Der letzte Act: „Kampf auf Leben und Tod“, beginnt mit einem sehr hübschen Zwischenspiel. Vor dem Hause des Ochsenwirthes wird ein Bauernfest gefeiert. Die Straße vor dem Wirthshause ist durch eine Barrière in zwei Theile geschieden, welche mit Wappen etc. reich geschmückt ist, denn das Volk hat sich hier versammelt, um den Markgrafen von Oesterreich zu empfangen. Ueberraschende Wahrheit der ganzen Scenerie sowohl als der Gruppirung und des Zusammenspiels, anmuthige Einzelscene, welche ein mit einander schmollendes Liebespärchen mit heiterer Schalkhaftigkeit durchführt, ländliche Blechmusik und Volksweisen, die im Chor gesungen werden – Alles das erfreut Auge und Ohr. Der Wirth erzählt einen komischen Vorfall, an dem frischer Antheil genommen wird; volles, regsames Leben pulsirt durch diese Scene.
Nun erscheint Ubald, der gleichfalls hier den Markgrafen begrüßen will; mit ihm Hedwig in weiß-goldenen, purpurnen Prachtgewändern, einen strahlenden Stirnreif im Haar. Sie fleht Ubald an, sie ihres erzwungenen Schwures zu entbinden, sie wünscht den Schleier zu nehmen.
Nun erscheint der Markgraf mit großem Gefolge. Er prangt in Sammet, Goldstickereien und Hermelin. Sein Volk begrüßt ihn mit freudigem Zurufe; er selbst erklärt, daß er in das Land komme, um Gnade und Gerechtigkeit zu üben. Da treten Guido und Siegmund in voller Rüstung vor die Barrière, als Kläger gegen den Grafen und Kanzler Ubald von Eilenburg, den sie öffentlich des „Ueberfalles, Mordes und Dirnenraubes“ zeihen. Der Markgraf, welcher eben noch seinen Kanzler in Gnaden begrüßt, fordert denselben bestürzt zur Erklärung auf. Ubald leugnet Alles. Ein viermal wiederholtes Verhör, zu dem auch Hedwig herangezogen wird, welche sich jenseits der Barrière zurückgezogen, stellt endlich die Sache klar. Siegmund fordert den Gottesgerichtskampf, welcher ihm vom Markgrafen bewilligt wird.
Nun klirren die Schwerter eine geraume Zeit. Ubald und Siegmund kämpfen gewaltig, bis der Bösewicht fällt. Ehe er stirbt, bekennt er seine Missethaten, und Hedwig gewährt ihm die erflehte Verzeihung.
Nun wird die so vielfach Geprüfte vom Markgrafen mit Guido zusammengethan.
Höchst effektvolle Gruppirung der die Bühne füllenden, in glänzenden Farben strahlenden und durch die Vermischung von Volk und Ritterschaft sehr lebendigen Menge. Rothe bengalische Beleuchtung als Schluß.
Dürfen wir nun den Gesammteindruck dieser Schaustellung zusammenfassen, so bleibt er als ein freudiger zurück. Wenn auch falsche Betonung des ungewohnten Hochdeutschen, wenn einige Coulissenreißerei und mancher drollige Anachronismus mitunter eine Heiterkeit weckt, welche dem rührenden Stoffe des Ritterspieles widerspricht, so trägt der Zuschauer doch weit Besseres mit nach Hause, als die Erinnerung an humorvolle Stunden. Wahrhaft volksthümliche Züge im Gange der Handlung, ein aufmerksames Zusammenspiel und der Eifer, womit jeder Theilnehmende seiner Aufgabe gerecht zu werden sucht, müssen an sich schon jeden Freund echter Volksbelustigung befriedigen. Ueberdies tritt uns in der belehrenden und religiösen Tendenz des Stückes die ganze ursprüngliche Anlage der alten Spiele entgegen. Dieser „Schwur um Mitternacht“ spiegelt vollständig jene zu Anfang unseres Jahrhunderts so beliebten Ritter- und Schauerstücke wieder, was den Gang der Handlung betrifft. Doch hat der gesunde Sinn des Volkes dieselben gleichsam umgeschmolzen und in seine eigene Form gegossen, denn das Bauernspiel übertrifft jene hyper-romantischen Ritterspiele sowohl durch weit größere Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, als durch sein nicht blos moralisirendes, sondern vorwiegend religiöses Gepräge. Gott wird beständig angerufen, eine höhere Leitung bleibt dem Zuschauer in Angst und Graus als Trost zurück, denn sie webt sich als sichtbarer rother Faden durch die Handlung.
In dem von uns hier skizzirten Stücke erhebt sich die Behandlung des Stoffes nicht selten zu echter Poesie. Momente wie Siegfried’s Erkennen seines Vaters im Sarge, wie das Zusammentreffen der Geschwister im Verließe sind von so unmittelbarer Wirkung, daß der Ernst, womit das Volk seinen Spielern lauscht, sehr begreiflich ist. All’ die Hunderte, welche das ländliche Schauspielhaus füllten, folgten mit sichtlicher, eifriger Spannung jeder Scene des ihrem romantisch-religiösen wie ihrem sittlichen Bewußtsein höchst zusagenden Stückes. Diese Hingabe an das Schauspiel begegnete sich von Seiten der Zuschauer wie der Spieler. Einzelne der Letzteren, wie Vater Steinburg und Rädinger, überraschten durch die Wahrheit und Innigkeit ihres Spieles, und wenn Andere der Aufgabe nicht ebenso gut gewachsen waren, so lag das wahrlich nicht am eigenen Eifer für die
[509] Sache. Zu rühmen bleibt auch, daß in den Volksscenen, welche Impromptus nicht blos zulassen, sondern dazu herausfordern, der gesunde Sinn des Tiroler den Mutterwitz nie in Rohheit oder Zweideutigkeit ausarten läßt.
Mit herzlicher Freude durften wir uns sagen, ein echtes Stück kerndeutschen Lebens in origineller Form geschaut zu haben. Möchten diese gegenwärtig schon selten gewordenen und den Tirolern so theuren Spiele ihnen für alle Zukunft erhalten bleiben!
„Guten Abend, Base,“ sagte er eintretend, indem er den Schnee von sich und von der Mütze schüttelte und in die erstarrten Hände schlug. „Ein Hundewetter das! Es stöbert und weht die Flocken durcheinander, daß man keinen Schritt vor sich sieht. Es ist doch nur ein Katzensprung von der Werkstätte zum Haus, und ich hab’ doch eine ganze Schneedecke mitgebracht.“
Judika war aufgestanden und hatte sich erboten, einen andern Rock zu holen, der Meister aber lehnte es ab und setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.
„Laß’ Sie es sein, Base!“ sagte er. „Das greift unser einen nicht an. – Es ist noch Niemand da, wie ich sehe. Die Magenuhr der Gesellen geht also zu spät, oder die meinige geht vor.“
„Ich will gleich das Zeichen geben,“ sagte Judika, „und für’s Anrichten sorgen.“
Sie wollte der Küche zueilen, aber der Meister hielt sie zurück.
„Hat nichts zu sagen,“ begann er wieder, „wenn’s auch ein paar Minuten später wird. Es ist mir ganz recht, daß wir so unter vier Augen beisammen sind; endlich kann ich Ihr sagen, was ich mir schon lange vorgenommen hab’ und was sich nicht länger aufschieben läßt. Ich muß wissen,“ fuhr er fort, als Judika ihn verwundert ansah, „wie ich mit Ihr d’ran bin. Sie weiß, mein Weib hat das Versprechen, das sie mir am Altar gegeben, mein Lebtag’ bei mir zu bleiben, nicht gehalten. Sie liegt drüben im Friedhof, und ich hab’ ihr selber einen schönen, schweren Stein auf’s Grab gemeißelt, aber ich habe selbst doch einen noch viel schwereren Stein auf mir liegen, an dem gar nichts Schönes ist. Ich muß arbeiten, muß mich plagen, mit fremden Leuten hausen; denn heirathen will ich nicht wieder. Ich möcht’ es mir selber und könnt’ es meiner Clara im Grabe nicht anthun. Das Mädel, das ich von ihr hab’, ist im Kloster, damit sie nicht da in der Wildniß aufwächst und etwa ein Unkraut wird. So muß ich in der Wirthschaft eine treue, vertraute Person haben, und so hab’ ich gemeint, ich höre einen Engel singen, wie Sie mir auf meine Anfrage die Botschaft gethan hat, daß Sie nimmer im Himmelmoos bleiben, sondern zu mir kommen wolle, wenn ich einen Platz für Sie hätte.“
„Auf eine Zeit lang,“ bemerkte Judika mit Nachdruck. „Auf eine Zeit lang, habe ich gesagt; für alleweil hab’ ich nichts versprochen.“
„Das ist es eben,“ begann er wieder. „So kann’s nicht fortgehen. Ich muß wissen, auf was ich mich verlassen kann. Ich habe selbiges Mal gleich angespannt und hab’ Sie mit Roß und Wagen abholen wollen, aber Sie hat es nicht gewollt, und hat gesagt, das brauche Niemand zu wissen, wo Sie wäre. Es wär’ Ihr von wegen des Geredes der Leute. Ich hab’ eingewilligt und hab’ auch den Maurer, den Fazi, der seinen Namen nicht mit Unrecht führt, in die Arbeit genommen, so wenig es mich gefreut hat, blos weil Sie ein gutes Wort für ihn eingelegt und gesagt hat, es wäre vielleicht doch noch möglich, einen ordentlichen Burschen aus ihm zu machen.“
„Ja, das habt Ihr allerdings gethan, Vetter,“ entgegnete Judika. „Aber ich hab’ mein Wort auch gehalten und das Hauswesen gewiß so geführt, daß Ihr nichts dagegen einwenden könnt.“
„Nicht soviel, als ein Vogel auf dem Schweife wegtragen kann,“ erwiderte er rasch. „Das ist es eben; ich möcht’ Sie für immer behalten; dann wäre, glaube ich, meine letzte Sorge auf Erden gehoben. Will Sie nicht bleiben, dann muß ich eine Andere suchen. Das ist eine schwere Sach’; deshalb muß ich bei Zeiten darum wissen, daß ich mich vorsehen kann. Sag’ Sie mir rund heraus, wie es damit steht!“
„Es steht noch alleweil’, wie es gestanden hat,“ sagte Judika. „Ich kann noch immer nichts Bestimmtes versprechen, aber es wird wohl nicht mehr lange dauern. Ich muß nur noch Eins abwarten – wenn das zutrifft, dann ist Alles gut, dann werd’ ich bald wissen, was ich zu thun hab’. Wenn’s aber fallirt, so ist es mit mir auch gefehlt, und dann bin ich wohl zu nichts mehr zu gebrauchen.“
„Ach, so arg wird’s nicht werden,“ rief der Meister. „Glaub’ wohl, daß die schreckliche Geschichte vom Himmelmooser Hofe Ihr schwer auf’s Herz gefallen ist; man sieht’s Ihr auch an, daß Sie es noch nicht verwunden hat.“
„Und werd’s auch wohl mein Lebtag nicht verwinden. Drum habt nur noch eine klein’ Geduld, Vetter; es geht mir im Geist vor, als wenn sich die Sach’ bald entscheiden müßt’.“
„Aber was soll sich denn entscheiden?“ fragte der Meister. „Warum hält Sie denn so hinter’m Berge damit? Wenn ich es wüßte. könnt’ ich Ihr vielleicht behülflich sein.“
„Nein, das kann Niemand; das muß ich schon allein durchmachen,“ erwiderte Judika mit traurigem Kopfschütteln.
„Es ist also doch, wie ich mir gleich vom Anfange eingebildet hab’. Sie hat einen besondern Grund gehabt, wegen dessen Sie vom Himmelmoos fort ist; ich hab’ mir gleich nicht einbilden können, daß eine so gescheidte Person wie Sie wegen der Waitz, wegen dem Gespenst, fort sein soll; Sie hat gewiß etwas Anderes im Sinne.“
„Da habt Ihr Recht, Vetter. Euch hab’ ich’s auch nie geleugnet. Ja, ich hab’ was im Sinne, aber ich darf noch nicht davon reden.“
Der Meister wollte noch etwas fragen, als die Steinmetzgesellen und Häuer eintraten, den Meister begrüßten und nach einem kurzen Gebete sich um den Tisch reihten, während Judika in der Küche verschwand, um bald mit einer Schüssel dampfender trockener Kartoffeln zu erscheinen, welche sie auf das Tischtuch schüttete und eine mächtige Schüssel mit brauner Brühe daneben stellte, in welcher Fleischstücke herumschwammen. Während die Arbeiter sich ihren Antheil holten und zu essen begannen, ging der Blick des Meisters in der Runde herum und blieb an dem Platze an der Ofenecke hängen, welcher unbesetzt war.
„Ich zähle nur sechszehn Köpfe,“ sagte er dann. „Wo ist denn Nummer siebzehn? Das ist gewiß der Fazi. Ich will nicht hoffen, daß er schon wieder blau gemacht hat.“
„Das just nicht, aber auch nicht viel anders,“ erwiderte lachend der Obergeselle. „Es hat Einer hingehen müssen in’s Dorf, um beim Obern Wirth wegen dem Grabsteintransport anzufragen. Der Fazi hat sich dazu angeboten; so hab’ ich ihn gehen lassen, weil ich gemeint hab’, daß er dazu immer noch besser zu brauchen ist als in der Werkstatt.“
„Das sieht dem Burschen gleich,“ sagte der Meister ärgerlich. „Wenn er sich nur von der Arbeit losschrauben kann! Da kann er wieder im Wirthshaus ein paar Stunden verludern und versaufen; ich glaub’ so, daß er nur wegen der Kellnerin, der unnützen Dirne, dahin geht.“
„So heißt’s wenigstens,“ sagte einer der Gesellen. „Ich hab’ erzählen hören, er wolle mit ihr fort und warte nur, bis er das Geld dazu beisammen habe.“
Die Gesellen lachten, der Meister aber unterbrach sie.
„Lacht nicht!“ sagte er. „es ist kein Spaß mit dem Fazi; dem trau ich Alles zu. Gott weiß, wo und auf welche Weise er das Geld zusammenbringen will, mit der Arbeit gewiß nicht.“
„Ich möchte nur wissen,“ unterbrach Judika, welche mit ruhiger Aufmerksamkeit zugehört hatte, „warum Ihr gerade gegen den Burschen so scharf seid und seid doch sonst ein so guter Mann. Er hat Euch versprochen, daß er sich bessern will.“
[510] „Und ich möchte wissen,“ entgegnete lachend der Meister, „wie Ihr, eine so kreuzbrave Person, dem verdächtigen Burschen so die Stange halten könnt.“
Judika kam nicht dazu, die Frage zu beantworten; denn auf dem Gange vor der Thür wurde ein Gepolter hörbar, die Fußtritte eines Mannes, der mit unsicherem Gang herankam und hie und da an die Wand greifen mußte, um sich aufrecht zu halten.
„Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt,“ rief der Meister. „Das ist er ohne Zweifel und wieder einmal schief geladen, wie es scheint.“
Er trat zur Thür, öffnete und auf der Schwelle erschien Fazi, über und über mit Schnee bedeckt, mit rothen, frosterstarrten Händen, aber auch mit rothglühendem Gesicht, nur aufrecht erhalten vom Geiste des Branntweins, der seinen Duft auf mehrere Schritte voraussandte.
„Hab’ ich’s nicht gesagt?“ rief der Meister. „Aber nun ist auch mein Geduldfaden zu Ende.“
Fazi, der nur ein schlechtes Hemd, schlechte Beinkleider und die alte, kragenlose Soldatenjacke am Leibe trug, war dem ungeachtet in der besten Laune. Er schien den Unmuth seines Herrn und Gebieters gar nicht zu gewahren, sondern taumelte seinem Sitze zu, auf den er sich mit schreiendem Lachen nieder ließ.
„Könnt Ihr’s erleiden in der warmen Stube und vor der vollen Schüssel,“ schrie er und schlug auf den Tisch, „während ich fast zu Schanden friere?“
„Ruhig mit dem Geschwätz!“ unterbrach ihn der Hausherr. „Du bist ein unnützer Bursche. Du sollst Dich ruhig halten und froh sein, wenn ich nicht mit Dir rede, wie es sich gehört. Ich will nichts sagen davon, daß Du immer leicht eine Ausrede hast, um von der Arbeit loszukommen, aber ist das ein Anzug für einen ordentlichen Menschen, um etwas auszurichten, wenn er beim Steinbruchmeister Harder in Arbeit steht? Hast Du sonst nichts anzuziehen als diesen blauen Janker, der aussieht, als hättest Du ihn irgendwo an der Straße aufgeklaubt oder als hätten Dir die Schergen den Kragen heruntergerissen? Ich gebe meinen Leuten ordentlich Kost und Lohn, daß sie gut leben und sich kleiden können, wie sich’s für anständige Leute schickt. Ich will Dich die längste Zeit in der Jacke gesehen haben, daß Du es nur weißt, und wenn Du bis heut über acht Tag nicht ein Gewand hast, wie ein richtiger Mensch, kannst Du Dein Bündel schnüren, wenn Du überhaupt etwas zu schnüren hast.“
„Oho, mir kann’s recht sein,“ entgegnete Fazi trotzig. „Ich werd’ Euch überhaupt nicht mehr lang zur Last fallen. Ja, ich will mein Bündel schnüren und geh’ dahin, wo unser einer auch etwas gilt, wenn er auch nicht gleich einen Geldsack mit auf die Welt gebracht hat.“
„Glück auf den Weg!“ sagte der Meister. „Wir werden Dir nicht nachschreien; das ist ja die letzte Hülfe für Alle, die zum Soldaten zu schlecht sind.“
„Oho!“ sagte Fazi, dessen Betrunkenheit in der Stubenwärme sich nicht minderte. „Was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig. Hab’ heut’ erst erzählen hören, daß der junge Himmelmooser Bauer sein Engerl unter den Arm nehmen und auch auswandern will, mit all’ seinem Reichthum. Ich mach’ es auch so. Ich nehm’ meine Kellnerin unter den Arm und sobald ich das Reis’geld beisammen hab’, mach’ ich mich auf den Weg, und um’s Reis’geld ist mir nicht bang.“ Er lachte tückisch in sich hinein und begann mit lallender Stimme zu singen:
„Der g’scheidteste Vogel
Muß der Gugetzer sein.
Die andern bau’n d’ Nester,
Und er setzt sich ’nein.“
Der Meister wollte in Unmuth losbrechen und sprang auf, ein beschwichtigender Blick Judika’s machte ihn aber innehalten.
„Thut mir den G’fallen, Meister,“ sagte sie, „und laßt’s für heute gut sein! Ihr seht ja, daß er nicht in der Verfassung ist, wo man ein vernünftiges Wort mit ihm reden kann. Laßt mich’s morgen mit ihm abmachen!“
„Es ist gut,“ sagte der Meister. „Ist ohnehin schon Feierabend; wir wollen morgen weiter davon reden.“
Die Gesellen erhoben sich, während der Meister an die Thür trat und dieselben an sich vorbeigehen ließ. Jeder tauchte die Finger in’s Weihwasserkesselchen an der Thür und bekreuzte sich; der Meister gab ihm mit ein paar Worten die Arbeit an, die am andern Tage zuerst in Angriff zu nehmen war. Der Einzige, der sich nicht entfernte, war Fazi; er hatte den Augenblick benützt und sich auf die „Hölle“ hinter dem Ofen hinaufgeschwungen, während Judika sich wieder an ihren Arbeitsplatz zu ihrem Strickstrumpf setzte.
„Ich muß heute noch den Strumpf zumachen,“ sagte sie, „und bleibe noch ein Weilchen sitzen. – Gute Nacht, Vetter, und macht es nicht gar zu streng mit dem Fazi! Es wird sich wohl ein altes Gewand für den Burschen finden lassen.“
Kopfschüttelnd verließ der Meister die Stube, in welcher bald die vollständigste Stille waltete.
Geraume Zeit war die rüstige Alte in der geräuschlosen, nächtlichen Stube über ihrer geräuschlosen Arbeit gesessen, dann kam auch für sie die Zeit, wo sie den Schlaf oder doch die Schlafstelle suchte. Sie zündete ein Oellämpchen an und schickte sich an, die Hängelampe auszulöschen. Es wurde noch düsterer in der Stube und schon wandte sie sich der Thür zu, als ein Geräusch vom Ofen her sie festhielt. Der Ton kam von der Hölle, und als sie mit gehobener Lampe hinleuchtete, wurde sie Fazi gewahr, der, als er sich entdeckt sah, sich anschickte, aus seiner Zuflucht herunterzusteigen.
„So,“ sagte sie, „Du bist da? Hast wohl eine wärmere Schlafstelle gesucht? Das geht aber nicht; da kannst Du nicht bleiben. Wirst’s in der Kammer auch schon aushalten können; hast ein gutes Bett und wirst nicht erfrieren.“
„Es ist nicht deswegen,“ sagte der Bursche, die Arme reckend. „Ich wollt mich nur ein bissel auswärmen und abwarten, bis Ihr allein seid. Ich muß Euch doch danken, daß Ihr Euch so um mich angenommen habt.“
Judika betrachtete ihn von unten bis oben und blickte ihm scharf in’s Gesicht, ob wirklich eine Regung des Dankes in demselben zu erblicken war. Sie sah aber nichts als das Zucken boshaften Spottes; zugleich glaubte sie zu bemerken, daß die Aufregung des Branntweins noch nicht verflogen war, und setzte die Lampe wieder auf den Tisch, als wolle sie sich zu einem längeren Gespräch bereiten.
Sie schien einen Entschluß gefaßt zu haben und sich zur Ausführung eines lange vorbereiteten Vorhabens zu rüsten.
„Es ist nicht des Aufhebens werth,“ sagte sie dann, „und meine Fürbitt’ wird auf die Länge auch nichts helfen. Wenn Du nicht ein besseres Gewand hast, wird Dich der Meister in acht Tagen doch fortschicken; er hat sein Wort darauf gegeben, und dafür kenn’ ich ihn, und Du kannst ihn auch kennen, so kurze Zeit Du auch erst im Hause bist. Hast Du denn gar nichts Anderes zum Anziehen?“ setzte sie unbefangen hinzu.
Der Bursche sah vor sich hin; er mochte eine dunkle Ahnung haben, daß er an einer verfänglichen Stelle angelangt sei, wo die Wege auseinander gingen.
„Ich hätte schon etwas,“ sagte er dann, indem er mit scheuem Blick die Stube durchflog, und doch zutraulich gemacht. „Aber ich kann’s nicht sehen lassen.“
Judika bebte zusammen, doch that sie sich Gewalt an, es zu verbergen, und vermochte anscheinend gleichgültig weiter zu fragen.
„Warum denn?“ sagte sie. „Ist es so schadhaft?“
„Ja wohl,“ erwiderte er mit rohem Lachen; „wie Sie es nur gleich so errathen kann! Das Gewand ist schadhaft und schmutzig obendrein.“
„So laß es reinigen und ausbessern,“ sagte Judika, „vielleicht fehlt gar nicht so viel. Wo hast Du’s denn?“
Fazi zögerte wieder einen Augenblick mit der Antwort; er hatte das Ansehen eines Menschen, der frisch gefrorenes Eis betreten will und es vorher vorsichtig prüft, ob es ihn auch zu tragen vermag. Judika kam ihm zu Hülfe, indem sie ihm die Antwort ersparte, sodaß er ihre Frage, ob er das Gewand oben in seiner Schlafkammer liegen habe, mit bloßem Nicken beantworten konnte.
„So bring’s herunter,“ fuhr sie fort, „und laß mich sehen, was noch damit anzufangen ist!“
Er zögerte, sie aber griff, als sie es gewahrte, nach der Lampe.
„Es muß aber heut’ nicht mehr sein,“ sagte sie und zog, um das Gesicht abwenden zu können, mit einer aus dem Haar genommenen Nadel den Lampendocht in die Höhe. „Es ist [511] ohnehin lang’ Zeit zum Schlafengehen, und ich habe nur gemeint, es wäre jetzt gerade gelegen gewesen, wo Niemand um den Weg ist; wenn ich es dann in den Händen hätte, könnt’ ich es in meiner Kammer zurecht richten und in ein paar Tagen könntest Du damit vor den Meister hintreten.“
Der Vorschlag leuchtete dem Burschen ein. „Ich bring’ das Gewand,“ sagte er rasch und verschwand durch die Thür. Bald hörte er seine Tritte auf der Treppe knarren, die in die Schlafkammer führte. Judika’s Kraft war erschöpft; sie glitt auf die Bank zurück und lauschte fast athemlos, ob er nicht etwa
sich anders besinne und ob die Tritte wiederkämen. … Sie vermochte nur die Hände über der Brust zu falten, ein Zeichen der Angst und zugleich eines stummen, brünstigen Gebetes.
Nach einigen Augenblicken kam Fazi wieder, einen unscheinbaren Rock über den Arm, den er Judika reichte und den sie auseinander faltete. Es war eine grautuchene Joppe, wie sie in der Gegend gebräuchlich waren, an der Vorderseite über und über mit Kalkspritzern bedeckt.
„Die schaut freilich bös aus,“ sagte Judika mit stockendem Athem. „Ist ja über und über voll Kalk.“
„Ja,“ erwiderte Fazi lachend. „Der Kalk ist beim Maurer was beim Kaminkehrer der Ruß. Der Lehrbub’ hat aus Muthwillen mit der Löschschaufel in die Grube hineingeschlagen und hat mich über und über angespritzt. Ich hab’ ihn aber auch dafür gebeutelt, daß mir fast sein Ohr in der Hand geblieben ist.“
„Es ist schrecklich, wie unnütz solche Buben sind!“ erwiderte Judika und zwang sich, auf Fazi’s Ton einzugehen. „Aber man kann doch noch helfen. Freilich hat sich der Kalk schon hineingefressen, und Flecken werden wohl immer bleiben. Ich will’s gleich versuchen.“
Sie stand auf und holte aus einem Wandkästchen eines jener Fläschchen, wie wandernde Kaufleute sie mit Seife und Fleckkugeln in den Dörfern zu verkaufen pflegen.
„Ich denke, es soll gehen,“ sagte sie, nachdem sie den Kalk weggerieben und einige Tropfen darauf geschüttet hatte. Dabei wandte sie, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen, den Rock hin und her; sie hatte bemerkt, daß die Joppe mit rauhen Beinknöpfen besetzt war, worauf Hirschköpfe abgebildet waren.
Vorn an der einen Brustseite fehlte ein solcher Knopf.
„Kannst mir ja den Rock da lassen,“ fuhr Judika mit möglichster Unbefangenheit fort. „Kann ihn dann auf meine Stube nehmen, oder noch besser: ich will gleich heute noch richten, was ich kann. Ich hab’ doch keinen Schlaf in den Augen. Geh’ Du [512] Deiner Wege!“ setzte sie leicht hinzu, „oder wenn Du noch gern in der warmen Stube bist, so setz’ Dich hin und erzähl’ mir was. – Wie war das, was Du von dem jungen Himmelmooser Bauern gesagt hast? Ich hab’s nicht recht verstanden.“
„Was wird’s sein,“ erwiderte er, „als daß es ihn auf dem Hof nicht leidet. Drum will er fort und will sein Mädel auch mitnehmen, die doch an Allem schuld ist. Ja. ja! Kannst es halt nicht lassen, Alte,“ fuhr er auflachend fort. „Wenn Du auch nimmer auf dem Hof bist, kannst es doch nicht lassen, Dich nach dem Buben zu erkundigen, der doch einmal Dein Herzkäferl gewesen ist.“
„Das ist lang vorbei,“ sagte Judika und bückte sich auf die Arbeit nieder. „Seit ich weiß, was er für ein gottloser Mensch ist, will ich nichts mehr von ihm wissen. Dem ungeachtet wär’ ich vielleicht geblieben, bis es entschieden gewesen wäre, was ihm geschieht, aber Du kannst Dir wohl denken, was mich vertrieben hat.“
„Was denn? Das kann ich mir nicht denken,“ erwiderte Fazi in einer Weise, die deutlich erkennen ließ, daß er sehr wohl daran dachte. „Wirst doch nicht etwa das dumme Zeug meinen –“
„Was für dummes Zeug?“
„Daß der alte Himmelmooser die ewige Ruh’ nicht finden kann und umgehen muß.“
„Nennst Du das dummes Zeug?“ fragte Judika, indem sie ihre Augen durchdringend auf Fazi heftete, sodaß er die seinen davor niederschlug. „Du glaubst also nicht an solche Sachen?“
„Nein,“ erwiderte er mit einem Lachen, das noch lauter, aber sehr gezwungen klang. „Solche Sachen giebt’ s nit.“
„So, dann bist Du besser daran als ich; mich hat die Waitz vom Himmelmoos vertrieben,“ war Judika’s Antwort; „solche Sachen giebt’s wohl; ich kann davon erzählen.“
„Was?“ fragte der Bursche, den, so keck und ungläubig er sich stellte, ein Schauder überrieselte. „Hättest Du vielleicht gar etwas gesehen?“
„Das hab’ ich,“ begann Judika, ihn nicht aus den Augen lassend. „Das ist es auch gewesen, was mich vom Himmelmoos verjagt hat. Es ist mich hart genug angekommen, fortzugehen, und hat mich doch nichts genützt.“
„Nichts genützt? Wie denn das?“
Judika zog wieder den Docht in die Höhe und sah in der Stube herum, als ob sie sich selbst fürchte. „Weil’s mich überall verfolgt,“ sagte sie leise, „weil’s mir auch hierher nachgegangen ist.“
„Hierher?“ rief Fazi emporspringend, sie aber zog ihn nieder und flüsterte fort: „Es sind noch keine acht Tage, daß ich Nachts nicht hab’ schlafen können; mir ist ganz eigen zu Muthe gewesen und hat mich an’s Fenster getrieben, ohne daß ich selbst gewußt hab’ warum. Da hab’ ich in die stockfinstre Nacht hinausgeschaut, und auf einmal hab’ ich vom Bruch her einen Schein gesehen – so einen gelben und blauen Schein, als wie wenn der Schwefel brennt, und in dem Schein mitten drinnen eine Gestalt, die ich nur zu gut gekannt habe … Der Alte hat plötzlich in allen seinen Sünden aus der Welt fortgemußt in die Ewigkeit; er kann nicht hinein in die ewige Seligkeit und wird im Fegfeuer sitzen müssen …“
Fazi schüttelte sich. „Das Alles hat Euch geträumt,“ stieß er mühsam hervor.
„Ich bin wach gewesen, wie jetzt,“ sagte Judika wieder, „und seitdem hab’ ich keine Nacht Ruh’ g’habt; denn in jeder Nacht seh’ ich in Gedanken den Schein wieder; ich sehe die Gestalt, das blasse, klägliche Gesicht, gerade so, wie er als Todter auf der Bank gelegen ist. Nachher hebt er die Händ’ auf, als wenn er bitten thät, und sagt mit einer Stimme, die Einem durch Mark und Bein geht: …“
„Hör’ Sie auf!“ rief Fazi, dem die Zähne aneinander schlugen. „Bei den Dummheiten kommt Einem wider Willen das Gruseln an.“
„O, mich gruselt auch, so oft ich daran denke,“ fuhr die unerbittliche Erzählerin fort. „Den ganzen Tag bring’ ich das Gesicht nicht aus dem Sinn und die Stimm’ nicht aus den Ohren, wie er die Händ’ aufhebt und bittet und ruft: ’Hilf, Judika, hilf!’“
„Ihr seid eine alte Närrin, und ich bin auch ein Narr, daß ich Euch zuhöre,“ rief Fazi und sprang auf, aber an allen Gliedern bebend, sodaß er nach der Tischplatte langen mußte – dennoch vermochte er sich nicht zu halten und knickte hart an der Bank in die Kniee zusammen, denn von draußen klang laut und angstvoll der Ruf: „Hilf, Judika, hilf!“
General Lewinski hatte uns mit der größten Bereitwilligkeit die Fermans ertheilt, die uns die Straße nach Bulgarien eröffnen sollten. Nach einem ausgiebigen, von einem englischen Collegen gespendeten Frühstück ging es von unserm Landhäuschen aus den schmalen Pfad hinunter, welcher zur Donau führt. Die Staubmassen, welche jeder Reiter aufwirbelte, wurden erst nach einer Viertelstunde durchsichtiger, dann hellte sich die Landschaft auf, wir waren auf einem weiten Flecken grüner Erde, welchen der Strom von drei Seiten anspülte. Wir schritten nun gerade aus auf das Ufer und – Bulgarien zu, welches so vor uns lag, als könnte man mit der Hand danach greifen. Eine trügerische Nähe, denn wir waren noch über dreiundeinhalb Kilometer von dem Gestade entfernt. Auf der Halbinsel selbst sah es aus wie in einem Lager. Hier ruhten die Truppen, ehe sie über die Donau setzten. Die unvermeidlichen Kosaken machen sich auch hier breit, und sie sehen auch um etliche Grad ungemüthlicher aus, als in den Straßen von Bukarest.
Endlich stehen wir am Strande des capriciösen und herrlichen Stromes. Auf demselben geht es ziemlich lebhaft zu, hinüber und herüber rudern Kähne mit Soldaten und Material beladen und zwischen den Kähnen dampft majestätisch ein Steamer, er bringt das Rohmaterial für die eben zu vollendende Pontonbrücke. An der ersten Brücke waren wir ohne Schwierigkeiten passirt, an der zweiten jedoch, wo Tags zuvor einige Pontons durch den Sturm weggerissen wurden und dadurch eine Lücke entstanden war, mußten wir die Pferde zurücklassen, deren Transport umständlich gewesen wäre. Dafür beorderte der hier commandirende General Richter einen jungen Aspiranten, der die Mission hatte, uns bis zur zweiten Brücke zu geleiten und dort ein Boot zu requiriren, auf welchem wir uns einschifften und, von zwölf Matrosen en pleine parade gerudert, das Ufer Bulgariens erreichten.
Welch ein herrliches, üppiges Land, das Bulgarien, in der That wohl werth, einem freien, glücklichen Volke als Heim zu dienen! Selbst die Felsen, an deren Fuße das Boot anlegte, sind mit hohem, duftendem Grase, mit Blumen und herrlichen Bäumen bedeckt. Soweit das Auge schweift, beherrscht es die nämliche üppige Flora, denselben Luxus der Vegetation. Welch eine Sünde, in diesem Eden – als solches präsentirt sich Bulgarien – frevelhafte Massenmorde auszuführen, wie im vorigen Jahre, oder Krieg zu führen, wie heuer! Man hat einige Mühe, sich in die Situation, welche die Politik dem Landstriche geschaffen, hineinzuleben und sich die Scene vorzustellen, die sich vor vier Tagen bei Morgengrauen hier abspielte, denn wir sind just an jener Stelle, wo der Kampf zwischen den landenden Russen und den Türken wüthete. Da oben auf dem von Bäumen beschatteten Plateau knieten die türkischen Tirailleure und sandten den Ankömmlingen Tausende von eisernen Grüßen entgegen. Jeder Tirailleur fand da hinter dem Gebüsche, hinter den einzelnen Bäumen eine bequeme Brustwehr, die russischen Angreifer dagegen segelten auf offenem Strome dem feuer- und verderbenspeienden Ufer entgegen. Ein wenig abseits von der Tirailleurstelle, auf dem höchsten Plateau, war eine Batterie aufgefahren; deren Kugeln waren es, die einige schwere russische Pontons mit Kanonen, Pferden und Mannschaft den Donaunixen im unermeßlichen
[513] Grunde preisgaben. Aber unbekümmert um die Zwischenfälle, unbekümmert um die Getroffenen und Versunkenen steuern die russisches Boote auf das Ziel los, der Tag ist der Nacht vollständig gewichen. Das Ufer ja erreicht, aber nun gilt es, die Anhöhe zu erklimmen. Fürwahr, das ja nicht leicht, mit Sack und Pack, ohne das Gewehr aus der Hand zu lassen, ohne die Patronentasche zu degarniren. Der Soldat muß da zur Katze werden. Wieder sind es Kosaken, die mit Zurücklassung ihrer Pferde zuerst hinaufschleichen und aus ihren Karabinern auf die Peabodys der Türken antworten. Und vorwärts kraucht es durch die Gebüsche, unbekümmert um die Cameraden, die auch hier, vom mörderischen Blei getroffen, zurückbleiben. Da ertönt wildes, ungestümes Hurrah auf der linken Seite des Hügels: etwa hundert Kosaken haben sich unbemerkt durch einen schmalen Pfad, einander auf die Achseln kletternd, emporgeschwungen; sie fallen den Türken in die Flanke. Nach den ersten abgefeuerten Schüssen werfen die Söhne des Don den Karabiner weg und dringen mit der Lanzenspitze auf den Feind ein. Die Türken aber sind mit dem Bajonnet nicht faul und bieten Paroli; es giebt ein Streiten und Ringen, während die übrigen türkischen Tirailleure unverfroren in den von Russen und Türken gebildeten Knäuel hineinpfeffern. Doch dieser Flankenangriff bringt dem Tage seine Entscheidung. Die von dem Beispiele der Vorhut angeeiferten Russen klettern nun ebenfalls wie die geschicktesten Seiltänzer und spießen die Türken von vorn, während sie die Uebrigen mit Lanze und Bajonnet in die Seite stechen.
Ein frisch aufgeworfener Hügel bezeichnet die Stelle, wo dieser Kampf Mann gegen Mann stattgefunden. Siebenzig Russen und vierzig Türken haben hier, bunt durcheinander gewürfelt, die letzte Ruhestätte gefunden, die wohl nach dem Kriege durch ein einfaches, den Heldensinn der Streiter beider Nationen ehrendes Kreuz dem Reisenden bezeichnet werden wird.
Und nun bergauf, den nämlichen Weg, den die landenden Russen verfolgten, als sie sich anschickten, die Früchte ihres Sieges zu pflücken. Der Pfad, der nach dem Vororte von Sistowa und von da nach Sistowa selbst führt, ist schmal, sehr holprig, ist nichts weniger als eine Kunststraße. Der Telegraph, der die Communication mit Rustschuk nach der einen und Nikopolis nach der andern Seite sichert, war an mehreren Stellen gewaltsam abgeschnitten. Der Weg auf dem Plateau führte uns durch die Batterie, von der aus die Türken drei Stunden lang, trotzdem die Position eine herrliche ist, ohne Schaden die Reserve der Russen beschossen hatten. Dagegen hatten die Russen in sehr glücklichem Wurfe ihre Bescheerungen bis hierher gesandt. Auf dem Boden lagen noch mehrere kleine, sehr zierliche Granaten, die zu explodiren vergessen hatten, und ein Bauernhäuschen am Ausgange der Verschanzung zeigte gar gewaltige Löcher in den Wänden links und rechts, abgesehen vom Dachstuhle, der Regen und Sonnenschein entgegengähnte. Auch hier zeugten Hügel von der Bestattung gefallener Krieger des Christenthums und des Islams.
Endlich standen wir am Eingange jener türkischen Vorstadt von Sistowa, wo sich die Russen zuerst etablirten und ihre Truppen concentrirten, um in ansehnlicher Zahl in der Stadt selbst zu erscheinen. Ein solches türkisches Dorf entbehrt vor Allem der schnurgeraden „Hauptgasse“, die bei europäischen Ortschaften unerläßlich ist. Es giebt hier überhaupt gar keine Straßen mit regelmäßigen Häuserreihen, sondern blos auf's Gerathewohl bunt durch einander laufende oder über einander gestapelte Hütten, wovon jede von einem hübschen wohlgepflegten Gemüse- und Pflanzengarten umgeben ist, die wilden Reben, die grünen Kukuruzhalme, die Kürbisse etc. maskiren vollkommen eine solche Bauernhütte, wo eine türkische Familie wohnt. Garten und Häuschen erfreuen sich einer Plankenumzäunung, welche jedoch dem Kriege zu Ehren an mancher Stelle gewaltsam durchbrochen ist. Die Schlafstätte der türkischen Familie befindet sich in dieser heißen Jahreszeit unter einer Veranda, welche zum Hause eine Außengalerie bildet. Hier und da waren noch unter den Verandas drei bis vier symmetrisch geordnete Strohsäcke zu sehen – aber mit aufgetrenntem Bauche, denn man hatte darin nach Baarschaften gesucht, und in der Eile den Inhalt an Wolle und Seegras überall verschüttet. Die Stuben, oder richtiger die Stube eines solchen türkischen Landhauses ist klein, eng, mit auffallend niedrigem Plafond. Den Boden bedecken die landesüblichen Matten, die dem Osmanen oft das ganze Mobiliar ersetzen. Ob es überhaupt ein anderes Mobiliar in diesen Stuben je gegeben, danach fragt mich nicht, denn es war in dem Augenblicke, wo wir Sistowa mit unserer Gegenwart beehrten, keine Spur mehr zu finden. Alles war auf's Gewissenhafteste ausgekramt, Alles, um einen weiland technischen Ausdruck zu gebrauchen, „gerettet“. Von wem? Darüber giebt es ebenso viel Lesarten, wie über einen angefochtenen Paragraphen des Koran. Die Bulgaren in Sistowa erzählen, die Türken haben aus Bosheit, ehe sie sich aus dem Staube machten, selbst Alles vernichtet und zertrümmert, damit es nicht in die Hände der Russen fiele; die Russen wieder, welche wohl fühlen, daß eine solche Lesart im Zahne wackelt, schieben die Plünderung den eingeborenen Bulgaren zu, die sich wegen der vorjährigen Ausschreitungen schadlos halten wollten. Die dritte Version aber ist die einfachste und geläufigste, daß nämlich die von dem so eben bestandenen mörderischen Kampfe erhitzten Kosaken das Dorf, in welches sie eingedrungen waren – ein wenig nach Kriegsbrauch, wenn nicht nach Kriegsrecht behandelten. Thatsache ist, daß der Anblick, welcher sich in den Hütten des türkischen Dorfes vor Sistowa bot, sich auch in dem türkischen Quartiere der Stadt selbst wiederholte.
Sistowa hat eine sehr große Ausdehnung. Die verschiedenartigen Baulichkeiten der Stadt reichen von dem Gipfel eines ziemlich hohen Hügels bis an die Donau hinunter. Geht man den Hügel bergauf, so wandert man durch das Türkenquartier – welches man sehr leicht an dem charakteristischsten Merkmale erkennt, den kleinen mehrfach vergitterten Jalousien, welche auf die Anwesenheit des sorgsam gehüteten Hausschatzes, des Harem deuten; es versteht sich aber von selbst, daß die Vögel ausgeflogen waren. Hier, namentlich aber in den Häusern mit dem vergitterten Präservativ häuslichen Glückes, war Alles mit Berserkerwuth zertrümmert, die Thüren waren aus den Angeln gerissen, die Fensterläden hingen lose auf die Straße hinaus, die Gewölbe der Kaufleute waren mit der wild hinüber und herüber geschleuderten Waare besäet; in den Boutiquen, wie in den Wohnungen war Alles traurig und öde – denn die Auswanderung, als der Ruf ertönte: „die Moskows kommen“, war eine allgemeine gewesen. Sie rannten davon, als hätten sie alle Würgengel des jüngsten Gerichts hinter sich. Und was hätten sie auch thun mögen, die strenggläubigen Osmanen in der von Giaurs genommenen Stadt, wo die „Christenhunde“ schaarenweise in die heiligen Räume der Moscheen gedrungen waren und hier im geweihten Raume, den der wahre Gläubige nur mit entblößten Füßen betritt, den ärgsten Spott getrieben hatten. Der Erdboden aller drei Gotteshäuser in Sistowa war, als wir denselben betraten, voller Schutt, die Kandelaber, welche die gläsernen Lämpchen stützen, waren in Trümmern, und das Geländer, welches oberhalb des Raumes für die Gläubigen einige verzierte Sitze und die Kanzel des Iman umzäunt, war an mehreren Stellen durchbrochen. Von dem Minaret drang nicht mehr der mahnende Ruf an die gottesfürchtigen Muselmänner zum Gebete, sondern nur der spöttische Ausruf eines russischen Officiers, der sich der herrlichen Aussicht freut, die man oben genießt.
Einen grellen Contrast zu dem türkischen Viertel bildet das bis an die Donau reichende bulgarische. Drüben war man bereits in Asien, hier kehrt man nach Europa zurück, statt der ärmlichen Hütten findet man hier ganz anständige Gehöfte und reinliche, wohlgebaute Bürgerhäuser. Durch die Hauptstraße zieht sich eine lange Reihe von Boutiquen, auf deren Vorhängeläden ein weißes Kreuz gemalt ist. Soll wohl heißen. „Freund Ruß, bin guter Christ, und laß mich ungeschoren.“ Man findet in diesen Buden so ziemlich Alles, ja den Hauptplatz decoriren sogar zwei sehr stattliche Apotheken mit gemaltem, lebensgroßem allegorischem Schilde. Wo es Apotheken giebt, steckt ein deutscher Gehülfe – wenn der Herr Pharmaceut selbst nicht germanischen Ursprungs ist. Richtig fanden wir auch in einigen der medicinischen Laboratorien einen ehrlichen Oesterreicher, der in Friedenszeiten auf der Route nach Tirnowa ein Gut verwaltet, für den Moment aber zu den Blutegeln und Brausepulvern seiner ersten studirenden Jugend zurückkehrte.
Der wackere Mann bot sich sofort als Cicerone an und war sogar bereitwillig genug, uns zu der in Simnitza weitgerühmten Restauration hinüber zu schleifen. Er erzählte uns, daß die Türken, wie sie die ersten Schüsse vor der Stadt fallen [514] hörten, in wilder Flucht per Esel, per Wagen, per Karren, und selbst zu Fuß hinausstürmten. Die türkischen Behörden hatten ihren Untergebenen weißgemacht, daß der Kaiser von Rußland sämmtliche nicht christlichen Unterthanen des Gebietes dem Feuer und Schwerte preisgegeben. Daher die wilde Flucht unter Zurücklassung der Habe. Als die Osmanen Reißaus nahmen, waren sie nur darauf bedacht, eins mitzuschleppen, die Pferde, welche ihnen bei der Flucht dienlich sein konnten. In dieser Beziehung aber gingen sie ohne Rücksicht vor, und auch unserem Cicerone wurden zwei hübsche Braune „requirirt“, über deren Verlust er sich gar nicht zu trösten wußte. Auch gruselte es ihm, wenn er daran dachte, wie die „Kruzitürken“ auf seinem Pachthofe wirthschaften würden!
In der Bulgarenstadt war es lebendig. Die christlichen Bewohner haben hier ein ehrenwerthes, spießbürgerliches Aussehen; die Notabilitäten erfreuen sich der Angströhre auf dem Kopfe, die kleineren Leute haben dem Türken die Commodität des Fez abgeguckt – aber um „Freund Ruß“ nicht zu beleidigen, ist über den rothen Fez ein weißes Tuch angebracht und auf diesem prangt ein schwarzes Kreuz. Die Dirnlein von Sistowa sind drall, gesund und kernig. Sie stehen an den Brunnen und ihre Zungen platschen um die Wette mit dem eisfrischen Wasser, welches in ihre Krüge rinnt. Andere Sistowaer Gesichter lugen wieder aus den Hausthüren hervor und sehen nach den auf und nieder sprengenden russischen Officieren.
Doch da giebt's was zu sehen, von der Donau her erschallen laute Hurrahs, die Bulgaren winken einander zu und Alles rennt nach der Straße, die über holperige Stege zu dem Strome führt. Alles steht spannungsvoll da mit gaffendem Munde und weit geöffneten Augen. „Der Kaiser, der Kaiser!“ ruft geschäftig der Cicerone. „Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie!“ Schon zeigten sich die Fellmützen der Tscherkessen von der Escorte, und hinter diesen keuchte der von zwei Pferden gezogene Wagen den Berg hinauf. Es war ein sehr einfacher, offener Reisewagen mit vier Sitzen. Der Kaiser, Großfürst Nicolaus und zwei junge Prinzen des kaiserlichen Hauses waren die Insassen desselben, alle vier in Campagne-Uniform mit weißer Tellermütze und sehr bestaubt. Der Kaiser sah sehr heiter aus und grüßte die herbeiströmenden Bulgaren mit beständigem Lächeln. Alexander der Zweite schien mir offenbar gesünder und bei besserem Humor, als damals, wo ich ihn in Petersburg bei der Rückkehr von Kischinew gesehen.
Neben dem Wagen, der in langsamem Schritt die Straße entlang fuhr, schritten einzelne Officiere der bulgarischen Legion (grüne Uniform mit der Pelzmütze und dem Kreuze darauf) mit gezücktem Säbel; auch ein Pope war unter ihnen; er hatte eben dem Czaren Salz und Brod gereicht. Der kleine kaiserliche Zug verschwand bald wie eine Vision hinter der Krümmung, die zum türkischen Stadttheil führt; wir dagegen eilten dem Donaustrande zu. Da winkte schon von ferne die Fahne mit dem an allen Donauhäfen sichtbaren K. K. D. D. G. (k. k. Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft.) Im Schatten der riesigen Flagge schaukeln sich etliche Barkassen, heute herrenlose Schiffe, deren sich die Türken bei Beginn der Feindseligkeiten bemächtigten und die nun verlassen dastehen. Einer von uns machte den Vorschlag, eine der Barkassen wegzuschleppen und dieselbe als „Reporterschiff“ für die Recognoscirung der Donaugelände zu verwenden. Aber da müßte man zuerst ein journalistisches Matrosencorps zusammen trommeln und sich nebenbei auch gegen Torpedos und ähnliche Unannehmlichkeiten assecuriren. Kaum findet man es werth, in dem vollkommen glänzend eingerichteten Gasthause der k. k. Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft darüber einige faule Witze zu reißen. Der verrätherische türkische Wein, zu dessen Genuß uns die Hitze und das scharf gewürzte „Rostbratl“ anspornen, löst bald alle Zungen, und es zeigt sich nun, daß Jeder so ziemlich seinen Kriegsplan fertig hat. Mit Hülfe des rothen Saftes ist der eine schon in einer Woche über den Balkan hinweg in Adrianopel eingeflogen, der andere garantirt den Einzug in Constantinopel binnen zehn Tagen. Da es aber rasch Nacht zu werden beginnt, müssen wir Balkan und Constantinopel-Besetzung im Stiche lassen und uns nach unseren Quartieren in Simnitza rückwärts concentriren.
Der ganze Horizont flackert in einem Flammenmeere, denn überall auf den Bergen wie in der Ebene sind Wachtfeuer angezündet, bis auf den höchsten Gipfel des Vorgebirges des Balkan. Auf der Insel finden wir das Kosakenlager in freudiger Erregung. Um ein ungeheures Wachtfeuer braten am Spieße ganze Hammel und zwei Fässer Wein sind angestochen. Ein Chor von dreißig Mann singt einzelne Sätze eines altrussischen Liedes, welche Sätze jedesmal mit dem aus dreihundert Kehlen dringenden Refrain enden: „Hurrah, hurrah, für unseren Czaren!“ Der Czar, den die Leute besingen, hat aber auch fünf davon mit der Tapferkeitsmedaille eigenhändig decorirt für ihre Haltung bei dem Donauübergang. Außerdem wurde der Sotnia eine Extra-Löhnung und Weinvertheilung zuerkannt. Daher die Freude. Unter den singenden Kosaken hatte sich der eine den Kopf in einen safrangelben Stiefel gesteckt, der andere befestigte ein reichgesticktes Damast-Läppchen auf seine Fellmütze, abseits lagen allerlei Kleinigkeiten türkischen Ursprungs, die für etliche Kopeken zu haben waren. So Mancher konnte da ein ganz billiges Andenken an Sistowa nach Hause bringen. Wir waren indessen versorgt; in den Trümmern der türkischen Wohnstätten hatten wir eine ganze Bibliothek an Gebetbüchern, Korans etc. aufgegabelt. Dies bildete unsern Beuteantheil.
(Mit Abbildung S. 511.)
„Da reich’ ich dir, das weißt auch du,
Dein letztes Futter, gute Muh!
Aus Noth mußt du nun von uns gehn,
Nie werden wir uns wiedersehn.“
Das Kindchen spricht es. Tiefbewegt
Die Hand auf's Thier die Mutter legt:
„Du hast uns Alle lang’ genährt,
Warst mir gleich einem Menschen werth –
Ich schloß in mein Gebet dich ein;
War’s Sünde, mag mir’s Gott verzeihn.
Wie um ein Kind drückt mir’s das Herz;
Es ist ein Leid und ist ein Schmerz.
Ich hab geweint auch um ein Kind,
Weiß, welche Thränen bitter sind.“
Der Händler feilscht, der Bauer zagt.
„Es soll! So sei es Gott geklagt.
Die letzte Kuh! Schlagt ein! Es soll!
Das Haus wird leer, das Unglück voll.“
Sie weinen all’; nur Einer lacht,
Der hat ein gut Geschäft gemacht.
An die alten Thomaner in aller Welt! – In Leipzig hat sich ein Comité gebildet, welches von vielen alten und jungen Thomanern gewählt und beauftragt ist, den Auszug aus dem alten Schulgebäude und den Einzug in das neue zu einer würdigen und möglichst gemeinsamen Feier recht vieler der Tausende von Zöglingen der altehrwürdigen Schola Thomana zu gestalten. Zweierlei soll mit dem Feste verbunden werden: erstens die Herstellung eines Verzeichnisses der sämmtlichen Thomaner mit der Angabe, „was aus ihnen geworden ist“, – als Festgabe für die Gegenwart –, und zweitens die Stiftung eines Stipendiums für tüchtige und bedürftige Thomasschüler mit, wenn möglich, einer oder mehreren Freistellen für Externe, – als Festgabe für die Zukunft. Ihre Adressen mit dermaligen Standes- und Berufsangaben schicken die alten Thomaner an die Herren: Pastor Prof. Dr. Fricke, Rector Prof. Dr. Lipsius oder Rechtscandidat Dr. jur. Gentzsch, die Beiträge zur Stiftung aber an Prof. Dr. Heym, Zimmerstraße 6, in Leipzig.
D. Ch. in R. .Die in dem Koppenfels’schen Artikel über Gorillajagden (Nr. 25[WS 1] unseres Blattes) erwähnten Objecte, welche der Reisende mit nach Europa gebracht, befinden sich zum allergrößten Theile im Dresdener Museum, und zwar das Seite 419 erwähnte Gorilla-Männchen als ausgestopfter Balg und als Skelet, von dem Seite 420 erwähnten Gorilla-Männchen der Schädel und die defecte Haut; ferner die Seite 420 erwähnten zwei Chimpansen, ein altes Männchen und ein junges, beide als ausgestopfte Bälge und Skelete. Es bildeten die Objecte eine ausgezeichnete Bereicherung der an anthropomorphen Affen schon reichen Sammlung. Außerdem erhielt das Museum von Herrn von Koppenfels noch eine größere Reihe vortrefflich präparirter und conservirter Säugethiere, Vögel, Amphibien, Insecten etc.
Fr. in W. Nicht geeignet.
- ↑ Verf. von „Eine Leidenschaft“ und „Ein Meteor“.
- ↑ Die ehemalige gefürstete Grafschaft Henneberg, benannt nach der in der Nähe der Stadt Meiningen in Trümmern liegenden Burg Henneberg, umfaßte 34 Quadratmeilen fränkisches Land nebst einigen thüringischen Gebietstheilen; das Fürstengeschlecht starb 1583 aus, das Land fiel an die sächsischen Häuser und ist gegenwärtig unter Preußen, Sachsen-Weimar, Sachsen-Coburg-Gotha und Sachsen-Meiningen, dessen Stammland größtentheils hennebergisch war, vertheilt. Hennebergische Residenzen waren Schleusingen und Römhild, hennebergische Schlösser u. A. der Straufhain bei Rodach und die Veste Coburg. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Nr. 28