Ein Meteor
Mein Leben ist einsam und fruchtlos wie die Haide, auf der ich geboren ward. Ich will auch nicht von mir, sondern von einem Meteore erzählen, welches leuchtend vom Horizonte meiner Haide aufstieg und zu meinen Füßen erlosch.
Ich hatte etwa zehn Jahre als Maler in B. gelebt, als ein Buch im Druck erschien, welches große Bewunderung und großen Verdruß hervorrief. Dieses Buch führte den Titel „Alltagslichter und Meteore“. Der Verfasser dieses originellen und geistreichen Werkes hatte sich nicht genannt, und es war meinen allerdings beschränkten Forschungen nicht gelungen, seinen Namen aufzufinden.
Um dieselbe Zeit riefen mich Familienverhältnisse nach W. Dort erfuhr ich den Namen des Verfassers und zugleich Näheres über ihn selbst. Er war Ordensherr eines kirchlichen Stifts und Collegiums in Dalmatien. Ich will jenes Stift in meiner Erzählung „Constantin“ und den Verfasser des Buches „Bodiwil“ nennen.
Man wußte nur wenig vom Stift. Es waren wohl von Zeit zu Zeit in den Kirchenberichten kleine zerstreute Bemerkungen darüber erschienen, welche von einer Malerschule sprachen, die einer der Stiftsherren zu Constantin gegründet habe; allein das Stift lag einsam und gänzlich abgeschnitten von der Kunstwelt, und der Begriff von klösterlicher Tendenz, welcher sich bei Nennung des Stiftes unwillkürlich aufdrängte, hatte keine Sympathie in den Künstlerkreisen erweckt und ein lebhaftes und allgemeines Interesse für die obscure Malerschule zu Constantin nicht aufkommen lassen. Man hielt es nicht der Mühe werth, sich von der Sache zu überzeugen; man dachte, eine Schule von künstlerischer Bedeutung würde suchen, sich öffentlich zur Geltung zu bringen, während die Schule des Stiftes Constantin niemals einen Schritt aus ihrer klösterlichen Zelle gethan. Die Künstler insbesondere betrachteten die Malerei zu Constantin, wenn sie wirklich existirte, als eine dilettantische Stümperei, durchaus nicht der Beachtung und höchstens eines Lächelns werth.
Das Buch „Alltagslichter und Meteore“ aber hatte, da der Verleger desselben den Namen des Verfassers verrieth, mit einem Schlage die Neugier erweckt, und als kurze Zeit darauf – noch während meines Aufenthaltes in W. – der kunstsinnige Fürst Ap. von einer Reise in Dalmatien zwei Gemälde des Stifts nach W. brachte und für seine Bekannten und die Künstler in der Gemäldegalerie seines Palais ausstellte, da merkten die Künstler wohl, daß die Malerei zu Constantin etwas sehr Ernsthaftes, etwas sehr Neues und Bedeutendes sei. Die Bilder stammten von Bodiwil, dem Haupte der Schule, und als ich sie zum ersten Male sah, empfand ich etwas wie einen elektrischen Stoß.
Das eine stellte Satan in der gewitterhaften Schönheit des grollenden Engels dar. Er stand im schwarzen Strahl seiner Fittige. Das zweite hatte zum Gegenstande: Fingal, welcher den Geist Loda’s mit seinem Speere durchbohrt, eine Episode aus dem Ossian’schen Gedichte Carrik-Thura. Es war ein Bild, in die Nacht hinein gemalt. Aus schwarzbrauner Wolke beugte sich die ungeheure, neblichte Gestalt Loda’s, von dem hinter ihr stehenden blutigen Monde durchschimmert. Dasselbe Licht, aber stark und voll, fiel auf Fingal’s Angesicht, seinen rechten Arm und den emporgehobenen Speer. Alles Uebrige war Nacht.
Da standen wir und staunten, wir kleinen Maler, und fühlten den Wurm im Herzen, den Wurm der Geistesarmuth. Ja, wir waren nur malende Alltagsmenschen, Alltagslichter, der Stiftsherr Bodiwil aber war der malende Poet – das Meteor.
Ich faßte eine wahre Leidenschaft für Bodiwil’s Genie und empfand den brennenden Wunsch, ihn kennen zu lernen. Das Gerücht, Bodiwil habe eine Einladung des Fürsten Ap. angenommen und werde binnen Kurzem in W. eintreffen, wurde mir vom Fürsten Ap. selbst bestätigt. Indessen verzögerte sich Bodiwil’s Ankunft, und mein Urlaub war zu Ende. Ich mußte nach B. zurück, wo ich die Fresken für ein neues städtisches Gebäude übernommen und bereits angefangen hatte.
In B. vernahm ich nach einigen Wochen die Ankunft Bodiwil’s in W. Ich hoffte stets, mich für einige Tage von B. entfernen zu können, allein die Einweihung des neuen Gebäudes war auf einen festgesetzten Zeitpunkt bestimmt, die Arbeit sehr umfangreich, kurz, es war an ein Fortgehen von B. nicht zu denken.
Fünf Monate vergingen. Ich hörte, daß Bodiwil W. längst verlassen habe und nach Constantin zurückgekehrt sei. Nach fünf weiteren Monaten war meine Arbeit beendet. Ich hatte mich übermüdet und bedurfte der Erholung. Eine Reise nach Dalmatien lag mir im Sinn; ohne aber mich dafür entschieden zu haben, ging ich nach W., wo ich vorerst Näheres über Bodiwil zu erfahren hoffte.
Die Urtheile und Meinungen meiner Bekannten in W. – meistens Künstler – waren verschieden; allein eigentliche Sympathie hatte Bodiwil in Keinem derselben erweckt, Einige hielten ihn für überaus stolz und jede nähere Berührung abwehrend. Andere glaubten, es liege diesem Stolze Menschenscheu und überreizte [784] Sensitivität zu Grunde. Seine Art zu sprechen bezeichneten Alle als fließend und natürlich; allein Einige meinten, er spreche nur wenig, Andere hoben mit Tadel hervor, daß er mit verschiedenen Personen in verschiedenem Tone spreche und die Eindrücke, welche diese Personen auf ihn machten, viel zu sehr fühlbar werden lasse, und noch Einige bemerkten mit Verdruß, er sage fast immer Dinge, welche keinem Anderen noch eingefallen seien. –
Ich sah, daß Bodiwil’s ausgeprägte und überlegene Individualität im Kreise dieser Menschen, von welchen jeder Einzelne sich für sehr bedeutend hielt, Unbehagen und Neid hervorrief. Der Wunsch, Bodiwil persönlich kennen zu lernen, wurde nur dringender in mir; ein Besuch beim Fürsten Ap., dem liebenswürdigen Bewunderer und Freunde Bodiwil’s, bestimmte mich unwiderruflich zu einer Reise nach dem Stifte Constantin. Vom Fürsten brieflich an den Prälaten des Stiftes und an Bodiwil empfohlen, durfte ich hoffen, gütig empfangen zu werden.
Da ich nicht von mir und nicht von meiner Reise erzählen will, so übergehe ich die ersten neun Tage derselben. Ich war theils mit der Post, theils zu Fuße gereist. Im Städtchen Bl. nahm ich einen Führer und zwei kleine starke Pferde. Wir verließen die Poststraße und nahmen den Weg über die Berge, die Ausläufer der julischen Alpen.
Es war Anfang September; die Frische der Luft und die Düfte des Waldes berauschten mich und gaben meiner Erwartung einen besonderen poetischen Reiz. Das Gebirge verflachte sich allmählich; das Thal erweiterte sich, und am Vormittage des zweiten Tages wurde die Gegend mehr und mehr einsam. Wir kamen an mehreren fast ganz trockenen Teichen vorüber. Der Boden wurde mooricht und war nur zuweilen durch ein dürftiges Wäldchen geschmückt.
Gegen Abend kamen wir durch ein Dorf, und von hier erhob sich rechts allmählich eine niedrige grüne Hügelkette, während links die braune Ebene sich hinzog, von den stahlblauen Bergen begrenzt. Die Hügel bildeten kleine Vorsprünge in die Ebene und hatten beinahe die anmuthigen Windungen eines Flusses. Als wir den fünften dieser Vorsprünge umgangen, wies mein Führer mit dem Finger auf den nächsten und sagte:
„Sieh, Herr, dort liegt das Stift Constantin.“
Ich hielt mein Pferd an. Die Sonne war noch nicht hinuntergegangen. Sie hing über dem fernen Gebirge, strahlenlos und blutroth; das Stift stand von ihrer Lohe übergossen. Die Abendglocke begann vom Hügel herab zu läuten; sie hatte einen ernsten majestätischen Klang. Als die Sonne verschwand, schwieg die Glocke. Der Himmel brannte noch; das Gebirge aber hüllte sich in einen sammtenen Duft und an seinem Fuße tauchten rosige Dünste auf, vielfach zerrissen und langsam erbleichend. Dann sank die Dämmerung schnell herab. Ich trieb mein Pferd zur Eile an und wandte den Blick jetzt nicht mehr vom Stiftsgebäude.
Es war in byzantinischem Stile erbaut, überaus groß und imposant und schien mindestens dreihundert bis vierhundert Jahre alt zu sein. An den zwei Stockwerken der uns zugewandten Seite zählte ich vierundsechszig Doppelfenster. Dies war die lange Seite des Gebäudes. Sie hatte zwei Eingänge: ein hohes Portal und eine niedrige Pforte, welche recht klösterlich aussah. Die Bäume eines Gartens ragten von der Rückseite über das flache Dach. An der östlichen kurzen Seite des Gebäudes schoß ein runder schlanker Thurm in die Höhe, an dem ein vergoldetes Kreuz blinkte.
Wir erreichten eine große, dem Stifte gehörende Meierei, wo ich die Nacht zu bleiben beschloß. Ich erfuhr dort, daß die Stiftsherren große Freiheit genössen. Sie trügen weltliche, nur mäßig lange Kleidung und wären nicht gebunden, die Messe zu lesen. Diese, wie alle streng priesterlichen Pflichten wären auf zwei Geistliche übertragen, welche dem Orden des Stifts nicht angehörten. Die Stiftsherren selbst beschäftigten sich hauptsächlich mit der intellectuellen Ausbildung der Zöglinge und mit der christlichen Gelehrsamkeit.
– Am nächsten Morgen um neun Uhr machte ich mich auf den Weg zum Stifte. Da die Länge meines Aufenthaltes in Constantin von dem Empfange beim Prälaten und Bodiwil abhing, so entließ ich meinen Führer vorläufig nicht.
Das Stift war nur zweihundert Schritte von der Meierei entfernt. Ich ging durch das offene Portal in einen länglich viereckigen Hof, den ein niedriger, gedeckter Säulengang mit dem Gebäude verband. Die Steine des Hofes waren mit Moos überwuchert. In der Mitte lag ein rundes, von Oleanderbäumen umgebenes Bassin, in dessen trübem Wasser einige Enten schwammen.
Ein unter den Säulen gehender junger Mann kam auf mich zu, höflich fragend, ob er mir in Etwas dienen könne. Ich erfuhr durch ihn, daß der Prälat für einige Wochen verreist, Bodiwil aber im Stifte anwesend sei. Er führte mich in einen Saal, wo er mich Bodiwil zu erwarten bat, den er von meiner Anwesenheit in Kenntniß setzen wolle. Ich bat ihn, Bodiwil den Brief des Fürsten Ap. zu übergeben.
Der Boden des Saales war mit bunten Strohmatten belegt. Von den breiten Doppelfenstern fielen blaue Vorhänge herab; altmodische Stühle standen steif an den Wänden. Nach einigen Minuten trat ein Mann herein – ich werde die Erscheinung nie vergessen. Er war mehr als mittelgroß und überaus fein gebaut. Sein schwarzes gelocktes Haar fiel in Büscheln auf eine weite und weiße Stirn. Ich fühlte, daß dieser Mann Bodiwil war.
Sein ernstes Auge fixirte mich einen Augenblick, dann sagte er mit warmer Stimme und mir die Hand entgegenreichend: „Ich danke Ihnen für das Interesse, welches Sie an mir nehmen. Wie? Um mich zu sehen, haben Sie diese Reise gemacht?“
Dieser einfache und herzliche Empfang bezauberte mich.
Ich sagte ihm, daß ich, um ihn kennen zu lernen, nicht nur nach Dalmatien, sondern bis nach Japan gegangen sein würde.
„Hat man Ihnen in W. nicht gesagt, daß ich unangenehm sei?“ frug er fein lächelnd.
Ich erzählte ihm ganz offen, wie meine Bekannten über ihn urtheilten, und versicherte ihm, daß diese Urtheile meinen Wunsch, ihn kennen zu lernen, noch gesteigert hätten.
„Hätte man Sie in W. liebenswürdig und sympathisch gefunden,“ setzte ich hinzu, „so würde ich aufgehört haben, mich für Sie zu interessiren, ja, ich würde sogar nicht mehr geglaubt haben, daß Sie es sind, der ‚Satan‘ und ‚Fingal‘ malte.“
„Es ist nicht meine Schuld,“ versetzte Bodiwil, „daß ‚Satan‘ und ‚Fingal‘ zur Ansicht des Publicums gelangten. Ich gab die Bilder dem Fürsten Ap. als einen sehr schwachen Ausdruck meiner Verehrung für ihn. Sie glauben nicht, welche ursprüngliche, große Natur der Fürst ist; allein deshalb ist er auch in seinen Gefühlen nicht zu bändigen. Seine Bewunderung für mein schwaches Talent geht fast bis zur Vergötterung und beschämt mich. Ich empfand ein großes Unbehagen, als ich erfuhr, meine Gemälde seien in W. bekannt geworden.“
Auf meine Frage, ob er beabsichtige, immer verborgen zu bleiben, antwortete er: „Ja. Es existirt so viel Schöneres und Größeres, als ich schaffe, daß die Welt mich sehr leicht entbehren kann. Als ich glaubte, durch meine Ideen über die Alltagslichter und die Meteore im Leben und in der Kunst der Welt nützlich sein zu können, beging ich einen großen Irrthum.“
„Wie so?“ frug ich erstaunt.
„Anstatt Aufklärung zu geben, habe ich nur Verdruß und Neid geweckt. Anstatt die Mittelmäßigkeit in ihre Grenzen zu verweisen, habe ich sie zu noch größerem Dünkel aufgestachelt. Keiner will ein Alltagslicht sein; Jeder hält den Andern dafür, aber niemals sich selbst. Alle wollen Meteore sein. Die mittelmäßigen Alltagsmenschen, welche ich früher nur als würdevoll, sicher, gespreizt, herablassend und vorlaut gekannt, fand ich, nachdem sie mein Buch gelesen, arrogant, herausfordernd, impertinent, pomphaft aufgebläht und tödtlich bewaffnet. Die wenigen Meteore, die ich sah, flogen schweigend und mit scheu zurückgehaltenem Athem vorüber. Denn die Alltagsmenschen, die sonst mit mitleidiger Duldung diesen Meteoren zuweilen einen gütigen Blick durch die Lorgnette zuwarfen, bellten sie jetzt an, wie die Hunde den Mond. Als ich dies sah, unterdrückte ich die im Druck begriffene dritte Auflage des Buchs und entschädigte den Verleger aus meiner Casse.“
„Sie können aber die bestehenden Exemplare nicht vertilgen,“ sagte ich.
„Das ist auch nicht nöthig,“ erwiderte er ironisch; „die Zeit wird sie vertilgen.“
Er hatte sich bei diesen Worten im Saale umgesehen und [785] fragte mich, wo ich mein Gepäck habe. Ich sagte ihm, daß ich es im Meierhofe bei meinem Führer gelassen.
„Sie brauchen jetzt keinen Führer mehr,“ fiel er lächelnd ein. „Ich bestehe darauf, daß Sie einige Wochen hier bleiben und mein Gast sind. Ihr Gepäck werde ich sogleich holen lassen; den Führer können Sie im Laufe das Tages verabschieden. Sind Sie damit einverstanden?“
„Sie überschütten mich mit Güte,“ sagte ich, „und thun es auf eine so liebenswürdige Weise, daß ich entschlossen bin, zu bleiben und mich ruhig überschütten zu lassen.“
Er bat mich nun, mit ihm auf seine Zelle zu kommen. Wir verließen den Saal. Bodiwil hatte einen leichten, eleganten Schritt und eine prächtige Haltung. Er sagte mir, indem wir einen langen Gang durchschritten, daß die Fundamente des Gebäudes römischen Ursprunges seien. Es sei anzunehmen, daß die Saracenen später eine Festung hier gehabt, wofür der orientalische Thurm an der Ostseite des Gebäudes spreche. „Im Erdgeschosse,“ sagte er, „sind das Empfangszimmer, ein immenser Festsaal, welcher die ganze Westseite einnimmt, die Zimmer des Prälaten, die Bibliothek, eine Naturaliensammlung, das Refectorium, die Apotheke, mehrere Lehrsäle und die Kapelle. Im oberen Stocke liegen die Zimmer der Stiftsherren und der Zöglinge, die Fremdenzimmer, eine Gemäldesammlung, einige Lehrsäle und das Atelier der malenden Zöglinge.“
Wir stiegen über eine steinerne Treppe in den obern Stock, wo auf der Nordseite über dem Garten Bodiwil’s Zelle lag, wie er sein Zimmer nannte. Es war ein Saal, durch einen Vorhang von schwerem violettem Seidendamast in zwei ungleiche Theile getheilt. Die größere Hälfte bildete Bodiwil’s Studir- und Wohnstube; in der kleineren schlief er. Der Vorhang war in der Mitte offen; ich sah über Bodiwil’s Bett ein Gemälde, eine Sphinx darstellend. In der Studirstube standen ein Schreibepult, ein Piano, verschiedene Glasschränke, in welchen ich Bücher und ägyptische Merkwürdigkeiten sah; auf einer niedrigen Truhe stand ein ägyptischer Sarg, der eine Mumie enthielt.
Bodiwil sagte, als er meine Ueberraschung sah: „Wundern Sie sich über meine Vorliebe für Aegypten? Ich habe stets eine unbezwingliche Neigung für das tiefsinnige Land der Sphinxen gehabt, und der Wunsch, jenes Land zu sehen, wurde eine Plage für mich und für Andere. Mein Oheim, der Prälat, wollte mich wohl nach Italien gehen lassen, weil er dachte, es sei für meine künstlerische Ausbildung nothwendig; allein eine Reise nach Aegypten hielt er für unzweckmäßig. Ich ließ mich nach Italien schicken, und von da aus ging ich, ohne um Erlaubniß zu fragen, nach Aegypten. Ich schrieb dem Prälaten aus Kairo, daß, wenn er mir diese Unart nicht verzeihe, ich Muselmann werden und einen Turban tragen werde. Darauf kam eine vollständige Verzeihung und die Erlaubniß, das ganze Nilthal bereisen zu dürfen.“
Auf meine Frage, wie lange Zeit er dazu gebraucht habe, antwortete er:
„Zwei Monate; was für die Schätze Aegyptens gerade so wenig ist, wie zwei Tage für die Genüsse dieser Erde.“
„Darf ich das Gemälde über Ihrem Bette sehen?“ fragte ich.
Bodiwil zögerte, wie es mir schien, einen Moment, sagte aber sehr verbindlich: „Gewiß, es ist mein bestes Bild; allein dies ist das Verdienst des Gegenstandes und nicht das meinige.“
Das Gemälde wirkte auf mich wie jene Weine, welche erst eine süße Wärme, aber nach und nach ein fahrendes, wahnsinniges Feuer in uns verbreiten. Die Sphinx lag im Sande hingestreckt, das Angesicht voll dem Beschauer zuwendend. Das Licht im Bilde hatte die matte bräunliche Färbung der Abenddämmerung. Ein Purpurstreifen, der sich am Himmel hinzog, ließ einen zarten Schimmer auf den Scheitel der Sphinx fallen. Der Scheitel war von der strengen ägyptischen Haube bedeckt, welche bis zu den Schultern herab fiel und ein weißes, mit goldenen Fäden durchwirktes Gewebe zu sein schien. Das Angesicht der Sphinx, welche nicht ein steinernes Bild, sondern ein lebendiges Weib war, hatte die Blässe einer sehr blassen Theerose. Feine, gerade Augenbrauen zogen sich über den nicht besonders großen, mandelförmigen Augen hin, welche die Farbe einer reifen Haselnuß hatten. Der Mund war unbeschreiblich süß und unbeschreiblich ernst, das Kinn weich und oval. Zwei dicke braune Flechten fielen unter der Haube herab und verschlangen sich auf der Brust zu einem reichen Knoten.
Aber die Stirn! Sie war breit, voll und von so geistiger Feinheit, daß die Gedanken darunter hervorzuleuchten schienen. Der Ausdruck der Augen war leidenschaftlich und tiefsinnig, sanft und begeistert, durchdringend und träumerisch. Ich dachte bei mir: wenn ein solches Weib lebt, der, welcher es sähe, müßte seine Seele daran verlieren.
Bodiwil führte mich nun in sein Privat-Atelier, welches neben dem Studirzimmer lag. Ich würde zu weitläufig werden, wollte ich hier eingehend von den Bildern sprechen, welche ich sah. Ich hebe nur einen Christus hervor, in dessen herrlichem Angesichte Hoheit, Milde und feine Ironie auf’s Wunderbarste verschmolzen waren. Alle Bilder Bodiwil’s hatten indeß die Gewalt der Wahrheit und des Ureigenen. Täglich, so lange ich im Stifte war, stand ich vor diesen Schöpfungen, und mit jedem Tage bewunderte ich sie mehr. Der Fürst Ap. hatte mit Recht gesagt: „Bodiwil’s Bilder erinnern an keine Schule und an keine Epoche. Es ist eine absolute, große Individualität darin, die Individualität eines gottbegnadeten Genies.“
Bodiwil’s Schule zählte neun Zöglinge, von welchen zwei bedeutendes Talent hatten. Ihre Bilder waren übrigens frei gewählt und frei ausgeführt. Bodiwil’s Princip war, die Individualität seiner Schüler herauszulocken; er wollte, daß Jeder eine eigene Auffassung und Gefühlsweise, einen eigenen Styl, eigenen Ausdruck und Ton habe. Er erkannte diese Verschiedenheiten unter seinen Schülern mit seltenem Scharfsinne und bildete sie künstlerisch aus durch die Unmittelbarkeit und Feinheit seines Genies.
Dieses Princip der Originalität, der Vielseitigkeit gab der kleinen Schule zu Constantin einen Vorzug, der nicht genug geschätzt werden kann. Bodiwil war übrigens nicht eigentlich der Stifter der Schule. Er erzählte mir, daß er im Alter von zwölf Jahren seine Eltern verloren habe. Der Prälat des Stiftes, ein Bruder von Bodiwil’s Vater, führte den verwaisten Knaben nach Constantin. Es hatte damals schon ein älterer Stiftsherr die Malerei in den Unterricht eingeführt und, da die meisten Zöglinge drei bis vier Jahre im Stifte blieben, die talentvollsten der Schüler bis zu einem gewissen künstlerischen Grade ausgebildet. Bodiwil hatte nie einen anderen Unterricht, als den des alten Stiftsherrn genossen. Sein wunderbares Genie ward die Veranlassung einer Theilung unter den Schülern. Man schied die entschiedenen Talente von den mittelmäßigen und beschloß, die letztern als Dilettanten, die erstern aber als angehende Künstler zu betrachten. Es wurde ein Atelier gebaut und die zu einer Schule gehörenden Requisiten angeschafft. Die kleine Bildergalerie des Stiftes bestand, mit Ausnahme einiger alter byzantinischer Bilder, nur aus Gemälden der Zöglinge. Nach des alten Stiftsherrn Tode ward Bodiwil das Haupt der Schule. Er beschäftigte sich täglich zwei Stunden mit seinen Zöglingen im allgemeinen Atelier. Außer der Malerei lehrte er Geschichte der bildenden Kunst, Geschichte des Alterthums und Anatomie. Seine Kenntnisse des Alterthums, namentlich Aegyptens und Indiens, waren staunenswerth; sein Vortrag frei, fließend, hinreißend.
Je mehr ich diesen klaren, überlegenen Verstand, diesen sprühenden Geist, diese warme, große Natur kennen lernte, desto unbegreiflicher ward es mir, daß Bodiwil sich mit der dumpfen, obscuren Existenz auf Constantin begnügte. Hätte er in der Welt gelebt, so würde er sich einen unsterblichen Namen errungen haben.
Man hatte mir ein Zimmer in Bodiwil’s Nähe angewiesen, und da er ebenso viel Sympathie für mich zu haben schien wie ich für ihn, so fühlte ich mich im Stifte schon nach einigen Tagen wie zu Hause. Nach dem Abendessen pflegten Bodiwil und ich im Garten auf und ab zu gehen. Oftmals machte Bodiwil einsame Spaziergänge, nach welchen ich ihn stets einsilbig und zerstreut fand. Bei unseren gemeinsamen Spaziergängen war er mittheilsam und beinahe überfließend. Als ich ihn einmal fragte, ob er aus eigener Wahl Klosterherr geworden sei, da zuckte er die Achseln und sagte:
„Mein Onkel hatte diese Idee, als ich noch zu jung war, um selbst Ideen haben zu können. Auch liebte ich die Malerei so leidenschaftlich, daß ich ganz darin aufging und nicht dem [786] Unterschiede zwischen Welt und Kloster nachsann. Später, als ich zum ersten Male in die Welt ging – auf einer Reise mit dem Prälaten –, trug ich die großen Menschentypen des Alterthums in mir und fand das moderne Leben und die modernen Menschen so hohl, so klein, so erbärmlich, daß ich mich nach der braunen Moorebene und der Einsamkeit von Constantin zurücksehnte. Ich begriff wahrhaftig nicht, wo die Menschen, die ich in der mittleren und hohen Gesellschaft sah, den Muth hernahmen, sechszig und noch mehr Jahre ein Leben zu leben, in welchem sie sich vom Thiere durch nichts auszeichnen, als, anstatt im Stalle, unter einer seidenen Federdecke zu schlafen, mit Messer und Gabel zu essen, aus krystallenen Gläsern zu trinken, ein wenig Grammatik zu lernen, sich für Andere anzukleiden, sich gegenseitig anzulügen, zu verleumden, zu hassen, zu zerreißen und zu belächeln.“
Ein anderes Mal sagte er: „Ich bin nicht menschenscheu, es ist nicht Furchtsamkeit, was mir den Umgang mit der Gesellschaft unbehaglich macht; aber ich habe eine so furchtbare moralische Spürkraft, daß ich die Natur eines Menschen beim ersten Blicke erkenne. Es ist dies keine Menschenkenntniß, es ist reine Gefühlssache, und ich bin darum zu bedauern, denn die Sympathien und Antipathien unterjochen mich gänzlich. Um mit einer solchen Organisation in der Welt vorwärts zu kommen, muß man ein niedriger Heuchler werden. Meine Einsamkeit hingegen läßt mir meine ganze Freiheit. Ich habe nicht nöthig, mir Freunde oder Gönner zu machen; ich darf volle, schwarze Abneigungen haben und sie zeigen und mich ruhig darum hassen lassen.“
Bodiwil hatte, ohne schön zu sein, Momente von großer Schönheit. Sein dunkles, hochgebautes Auge war von seltener Klarheit und Festigkeit. Seine Nasenflügel, welche sich unter einer gebogenen, fast zu feinen Nase wölbten, waren von einer Lebhaftigkeit, die seine Erregbarkeit verrieth. Er trug, nach dem Gesetze des Ordens, keinen Bart. Sein Mund war fest und ruhig; aber wenn Bodiwil sprach, dann spielte um die Winkel eine seltsame Mischung von geistreichem Uebermuthe und heimlichem Schmerze.
Obwohl wir sehr vertraut geworden waren, hatte Bodiwil für mich etwas Räthselhaftes. Er verschwand zuweilen für mehrere Stunden, für einen halben Tag; dann machte er seine einsamen Spaziergänge. Er sagte mir nie, wo er gewesen, welche Pflanzen oder Insecten er gesammelt. Diese Spaziergänge machte er bei Regen und Sturm wie bei Sonnenschein. Er hatte im Garten einen Lieblingsplatz, eine Rotunde von Kastanien, unter welchen eine steinerne Bank stand. Wir saßen oft bis spät Abends dort und plauderten, wenn es zu dunkel zum Lesen geworden. Zuweilen, wenn der Abend kalt war, holte er Mäntel und Decken für uns Beide. Er hatte, wie es mir schien, eine fast krankhafte Vorliebe für jenen Platz. Wenn wir im Garten auf- und abgingen und es saß einer der Stiftsherren auf der Bank, so bemerkte ich, daß Bodiwil unruhig, ungeduldig wurde, und mehr als einmal sagte er dann: „Will Er denn noch nicht aufstehen und gehen?“ Ein fast trostloser Ausdruck überzog sein Gesicht, wenn er von seiner Bank abgerufen wurde. Auch sah ich ihn von meinen Fenstern aus zu verschiedenen Tageszeiten in der Rotunde sitzen oder an einen der Bäume gelehnt, ein Buch in der Hand und über das Buch hinaus träumerisch in die Landschaft schauend.
Diese Landschaft hatte indessen keinen besonderen Reiz. Es war, wie gesagt, eine moorichte Ebene, weit hingestreckt, in welcher zuweilen ein Wäldchen grünte oder auch ein Busch Haidekraut. An den Hügeln hingen einige vereinzelte Bauernhäuser, von Wiesen oder Feldern umgeben. Der in der Ferne sichtbare Zweig der julischen Alpen war fast immer verschleiert.
Einer der periodischen Seen, welche in Dalmatien häufig, aber im Sommer trocken sind und erst im Spätherbste sich füllen, gähnte dunkel in der Ebene, und nur selten glitzerte aus ihm ein seichter Wasserstreifen.
Oft hingen, da wir schon im September waren, dichte Nebel an den Hügeln und wallten schwermüthig über das Moor hin. Bodiwil pflegte dann ein kurzes Fernglas aus der Tasche zu ziehen und nach den Hügeln hinzublicken. Ich unterließ instinctmäßig, ihn wegen dieser Seltsamkeit zu befragen. Wenn ich Abends neben ihm in der Rotunde saß und sein brennendes Auge die Lichtlein auf den Hügeln verschlingen sah, als wären sie Sterne des Himmels, dann war mir zu Muthe, als säße ich neben einem Geheimnisse, und dieses Geheimniß schien nicht unter einem Schleier, sondern unter Siegeln zu schlummern.
Eines Tages that Bodiwil’s Herz einen Schrei, und die Siegel sprangen. Ich war seit vier Wochen im Stifte, als eines Nachmittags, während ich beim Flüstern des Regens auf meinem Zimmer malte, rasche Schritte gegen meine Thür kamen. Man klopfte an dieselbe und trat gleichzeitig ein. Es war Bodiwil. Als ich ihn sah, stand ich sprachlos und der Pinsel entfiel meiner Hand.
Bodiwil war todtenbleich, und seine Züge drückten die tiefste Verzweiflung aus. Er faßte meinen Arm und fragte mit erstickter Stimme: „Haben Sie Freundschaft für mich?“
„Können Sie zweifeln?“ fragte ich zurück.
„Ich liebe ein Weib und dieses Weib ist sterbend,“ rief er, mit beiden Händen seinen Kopf fassend.
„Um des Himmels willen, was kann ich für Sie thun? – “ fragte ich, kaum der Sprache mächtig.
„Gehen Sie zu ihr, gleich, augenblicklich! Sagen Sie ihr, daß ich in einer halben Stunde bei ihr sein werde. Ich kann jetzt nicht gehen, ich kann nicht. Der Prälat ist soeben angekommen und hat nach mir verlangt. Sagen Sie ihr, daß ich in einer halben Stunde bei ihr sein werde – wenn ich bis dahin nicht wahnsinnig bin,“ rief er mit herzbrechendem Tone. „Verlangen Sie, sie selbst zu sprechen! Sagen Sie ihr, daß Sie mein Freund und von mir geschickt sind! Suchen Sie etwas zu ihrer Erleichterung, zu ihrer Rettung zu thun! In meinem Zimmer finden Sie einen Mann, der Sie hinführen wird. Wenn Sie schnell gehen, so können Sie in zehn Minuten dort sein. Nicht wahr, Sie gehen schnell, schnell, schnell!?“
Ich versprach Alles.
„Ich werde Ihnen später Alles erzählen,“ sagte Bodiwil mit bebender Stimme; „später, morgen, wenn’s ein Morgen für mich giebt.“
[799] Ich ging mit dem Manne. Der Kopf brauste mir. Ich war wie Einer, den man plötzlich aus dem Schlafe gerissen und auf die Straße gestoßen hat und der noch nicht recht zu sich gekommen und nicht weiß, was ihm geschah. Ein halbverwischter Traum schwirrt ihm vor dem Auge.
Ich ging barhaupt. Der Regen that mir wohl, und ich kam nach und nach zu mir. Ich bemerkte, daß ich nicht ging, sondern rannte. Der mir nachkeuchende Mann rief: „Herr, wenn Du so läufst, so wirst Du gleich hinsinken und dann kommen wir gar nicht vorwärts.“
Der Mann hatte Recht. Ich hielt einen Augenblick an; allein Bodiwil’s Angst, mit der er gebeten hatte: „Nicht wahr, Sie gehen schnell, schnell, schnell!?“ klang mir im Ohr, und ich fing von Neuem an, zu laufen.
„Rechts!“ rief der Mann, als der Weg sich theilte. Ich war genöthigt, langsamer zu gehen, denn der Boden wurde jetzt mehr und mehr mooricht und feucht und erschwerte schnelles Gehen. Nach und nach stieg der Pfad; wir näherten uns einem Hügel, und da war festerer Boden.
„Haben wir noch weit?“ fragte ich den Mann.
„Nein, Herr,“ antwortete er. „Siehst Du das röthliche Haus unter den Tannenbäumen auf dem Hügel? Dort ist’s, wohin wir gehen.“
Noch einige Minuten – und wir standen vor dem Hause. Es hatte ein Stockwerk mit einem einfenstrigen Aufsatz und zeichnete sich durch Nichts von den Bauernhöfen der Gegend aus. Meine Bangigkeit wuchs, als ich über die Schwelle trat.
Die Thür eines Zimmers öffnete sich leise, und eine ältliche Frau in der Landestracht schaute mich mit bangen, verweinten Augen an. Sie schien Alles zu verstehen, noch ehe ich gesprochen hatte.
„Warum kommt er nicht selbst?“ fragte sie.
Ich sagte ihr die Ursache und bat, zu der Kranken geführt zu werden.
„Gleich,“ sprach sie, „ich will das Fräulein nur erst vorbereiten.“
Nach einigen Secunden kam sie zurück und sagte: „Komm’, Herr! Sie will Dich sehen.“
Ich folgte der Frau; das Herz hämmerte mir in der Brust. Sie führte mich durch eine kleine Stube in eine größere, wo zwei Dinge mir in die Augen fielen: ein violetter Damastvorhang und eine auf einem Divan davor liegende weibliche Gestalt, in einen weißen Shawl gehüllt und mit einer türkischen Decke bis über die Kniee zugedeckt. Sie hielt beide Hände vor’s Gesicht, feine, durchsichtige Hände, und zwischen den Fingern quollen reichlich Thränen hervor.
Ich stand erschüttert. Ihre Hände sanken herab ich – empfand, als ich ihr Gesicht sah, einen elektrischen Stoß, wie ich ihn beim Anblick von Bodiwil’s Bildern empfunden hatte – es war das Gesicht der Sphinx, die über Bodiwil’s Bette hing. –
Sie streckte eine Hand nach mir aus und sagte mit schwacher Stimme: „Sie sind sein Freund?“
Ich beugte mich zu ihr nieder und küßte ihre Hand. „Allmächtiger Gott!“ rief es in mir, „soll dieses Geschöpf sterben?“
„Wird Bodiwil bald kommen?“ fragte sie.
Ich rang nach Fassung und sagte: „Vielleicht gleich, längstens aber in einer halben Stunde.“
„Ich fühle mich ein wenig besser,“ sagte sie seufzend. „Vielleicht kann ich noch ein paar Tage leben. Sagen Sie Bodiwil nicht, daß ich geweint habe! Er könnte glauben, ich habe Furcht, und ich weine doch nur, weil ich von ihm gehen muß.“ Sie trocknete die Thränen, die zitternd auf ihre Wangen herabtröpfelten.
Das Herz wollte mir brechen. „Kann ich nichts für Sie thun?“ fragte ich.
„Doch!“ sagte sie, und wies auf einen Stuhl, welchen die Frau neben den Divan gestellt hatte.
„Ich bitte, ich beschwöre Sie,“ sprach sie, „verlassen Sie Bodiwil nicht, wenn ich todt bin; nicht bei Tag und nicht bei Nacht! Zwingen Sie ihn zur Arbeit! Er darf der Kunst nicht verloren gehen. Reißen Sie ihn aus der Einsamkeit, nehmen Sie ihn mit nach Deutschland und wecken Sie seinen Ehrgeiz! Eine Intelligenz, wie die seinige, gehört der Welt und nicht dem Kloster. Müßte ich nicht sterben, so wäre es meine Aufgabe, ihn zum Ruhme zu führen; aber bei allem guten Willen bin ich ohnmächtig wie ein Kind, denn ich bin in der Gewalt des Todes.“
Ich wagte, ihr zu erwidern: „Verlieren Sie den Muth nicht! So jung, wie Sie sind, stirbt man nicht so leicht.“
„Nein,“ sagte sie wehmüthig, „man stirbt nicht leicht, allein man stirbt darum nicht weniger sicher.“
Sie schwieg erschöpft und schloß die Augen. Nach einiger [800] Zeit hörte ich Schritte vor dem Hause. Die Kranke hörte sie auch. Eine selige Verklärung flog über ihre Züge, und sie richtete sich auf. „Das ist Bodiwil,“ sagte sie und heftete die Augen auf die Thür.
Bodiwil trat ein und sank am Divan zusammen. Ich stützte ihn, bis er sich ermannt hatte. Dann verließ ich das Zimmer und setzte mich im Vorgemach nieder, nachdem ich die Thür hinter mir geschlossen.
Ich begann mich zu sammeln. Das also war das Geheimnißvolle in Bodiwil. Warum auch hatte ich nichts geahnt, wenn er einsam in der Rotunde saß und zu den Hügeln hinblickte, oder wenn er die Nebel mit dem Fernrohr zu durchdringen suchte! Wer aber war das Wesen, das hier verborgen lebte? Wie konnte Bodiwil sie besuchen, ohne daß man im Stifte Kenntniß davon bekam? Woran starb das Mädchen, und war es wirklich unrettbar?
Als die Frau, welche die Pflegerin der Kranken zu sein schien, nach einiger Zeit herein kam, fragte ich sie, worin des Fräuleins Krankheit bestehe.
„Sie hat das Sumpffieber, Herr, aber sie stirbt nicht eigentlich daran,“ sagte sie.
„Woran denn?“ fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und sprach: „Ich kann Dir das jetzt nicht sagen, Herr. Es ist zu traurig.“
„Ihr habt doch einen Arzt gerufen?“ rief ich bestürzt.
„Der Arzt sagt, es sei dem Fräulein nicht zu helfen,“ erwiderte die Frau und verließ, in Thränen ausbrechend, das Zimmer.
Ich saß lange allein. Der Regen fiel noch immer; zuweilen schlug der Wind die Tropfen gegen die Fensterscheiben, und jedes Mal erschrak ich. Als es zu dämmern anfing, trat Bodiwil herein und sank in einen Sessel. „Wie ist es möglich!“ rief er. „Wie soll ich es ertragen?!“
„Ist ihr besser?“ fragte ich.
„Sie schläft; vielleicht erwacht sie nicht mehr,“ erwiderte er, und schwere Tropfen fielen aus seinen Augen.
„Muth, Bodiwil, Muth!“ sprach ich.
Es wurde dunkel in der Stube. Keiner von uns sprach; Keiner wagte dem Andern seine Gedanken zu sagen. Als später die Frau mit Licht herein kam, äußerte Bodiwil: „Lieber Freund, ich bitte Sie, diese Nacht und morgen, und vielleicht länger noch sich hier mit mir zu verbergen. Ich habe, um bei Mariana bleiben zu können, dem Prälaten gesagt, wir machten eine Excursion und kämen erst in zwei oder drei Tagen zurück.“
„Wie?“ fiel ich ein, „wird man es nicht seltsam finden, daß wir bei Regen eine Excursion unternehmen?“
„Seltsam oder nicht!“ versetzte Bodiwil. „Uebrigens ist man an mir allerlei Excentricitäten schon gewohnt.“
Mariana war erwacht und rief Bodiwil. Er ging zu ihr und ließ die Thür offen. Ich hörte Beide längere Zeit leise sprechen; dann rief mich Bodiwil. Eine Lampe brannte in einer Ecke des Zimmers. Mariana’s Züge schienen mir seltsam gespannt; ihr Auge hatte einen Blick, der mir durch die Seele schnitt – ich fühlte, daß der Tod im Zimmer war. Mit einer Stimme, süß und schaurig zugleich, sagte sie zu mir: „Ich vermache Ihnen meine Freundschaft für Bodiwil. Verlassen Sie ihn nicht, lieben Sie ihn und wachen Sie über ihn! Weil ich so frühe sterben muß, soll er um so länger leben. Machen Sie, daß er noch glücklich werde!“
Sie hatte langsam und mühsam gesprochen. Bodiwil knieete neben ihr. Ich gelobte ihr, Bodiwil zu lieben, ihn nicht zu verlassen und über ihm zu wachen. Dann verließ ich, meiner selbst kaum noch mächtig, das Sterbezimmer.
Gegen Mitternacht hörte ich einen dumpfen Schrei und einen Fall; ich eilte hinzu und fand Bodiwil besinnungslos neben Mariana’s Leiche an der Erde liegen.
Drei Tage später erhob sich im Tannengrunde hinter dem Hause ein Grabhügel. In die Rinde der ihm zu Häupten stehenden Tanne waren die Worte gegraben: Mariana Santorin.
Bodiwil und ich waren, nachdem wir Mariana in die Erde gelegt hatten, in’s Stift zurückgekehrt. Ich gab vor, er habe sich erkältet und einen Anfall von Sumpffieber, welches in der Gegend häufig ist.
Man ließ ihn ruhig auf seinem Zimmer. Ich war stets bei ihm. Der Prälat, welcher täglich zweimal nach ihm sah, verrieth weder durch Wort noch Blick, daß er von den Ereignissen und unserem Aufenthalte während der drei letzten Tage Kunde hatte. Ich erfuhr dies erst später. Er war ein Mann von etwa fünfundsechszig Jahren und hatte ein intelligentes und gemüthvolles Gesicht. Er flößte mir großes Vertrauen, große Verehrung ein. Dem Fieber Bodiwil’s scheinbar Glauben schenkend, brachte er aus der Hausapotheke die gegen das Fieber gebräuchlichen Mittel herauf und fragte besorgt nach Bodiwil’s Wünschen; mehr als einmal sah ich Thränen in seinen Augen stehen.
Bodiwil war wie ein still Wahnsinniger. Er verweigerte jede Speise, und wenn ich versuchte, ihm eindringlich zuzureden, so hielt er sich die Ohren zu oder trat an’s Piano und schlug laute, schreiende Accorde an, die meine Stimme übertönten. Nach einigen Tagen verlangte er auszugehen; ich begleitete ihn. Er schlug den Weg zum Tannengrunde ein. Als wir an Mariana’s Grab kamen, fanden wir ihren Hund, eine große braune Dogge, todt neben dem Hügel liegen.
„Hat dieser Hund mehr Schmerz empfunden als ich?“ rief Bodiwil ingrimmig aus. „Mariana! Mariana! Warum kann ich nicht sterben?“
Dann wandte er sich heftig zu mir und sagte: „Heinrich, wenn Sie das Geschöpf, das hier unten liegt, gekannt hätten, so würden Sie mich, der ich es schon um sechs Tage überlebt habe, für den stärksten oder auch für den erbärmlichsten Menschen halten.“ Er sank mit diesen Worten der Länge nach auf den Grabhügel, drückte seine Finger in das Erdreich und bedeckte ihn mit leidenschaftlichen Küssen. Er überließ sich einem Schmerzensausbruche, der mich entsetzte.
„Bodiwil,“ rief ich, „das Weib hier drunten ist mit männlicher Fassung gestorben, und Sie, ein Mann, haben nicht den Muth, das Leben mehr zu ertragen? Das Leben, welches sie mich gebeten hat Ihnen zu erhalten? Ihr Genie, Ihren Beruf – vergessen Sie Alles?“
„Mein Genie!“ rief er. „Als ob die Welt oder das Kloster es brauchten! Als ob ich es überhaupt noch besäße! Es ist in mir erloschen, langsam erloschen, da sie zu sterben anfing.“
Ich wollte ihm entgegnen; allein er fiel mir in’s Wort und sagte: „Kommen Sie mit mir in das Haus, in dem sie starb! Dort will ich Ihnen von ihr erzählen.“
Dieser Entschluß war mir erwünscht; ich dachte, die Mittheilung werde ihn erleichtern, ihm wohlthun.
Mariana’s Zimmer waren unberührt geblieben. Der Divan, auf welchem sie verschieden, stand noch vor dem Vorhange, welcher, ganz wie in Bodiwil’s Zimmer, die Wohnstube von dem Schlafcabinete trennte. Ein Theil des Vorhanges war zurückgeschlagen; ich sah Mariana’s Bett und über ihm Bodiwil’s Bild, in Oel gemalt. Dieses Bild war merkwürdig durch die Wahrheit des Ausdrucks, in welchem die ganze reiche und mächtige Individualität Bodiwil’s zu lesen war, und durch eine Durchsichtigkeit und Vergeistigung des Tons, wie ich sie nie in einem Portrait gesehen hatte.
Es war Bodiwil in einem jener Momente, wo, wie bei allen genialen Naturen, der ganze Inhalt seines Wesens aus den Schlupfwinkeln trat und dem Angesicht eine Zaubergewalt verlieh, die man „seelischen Magnetismus“ nennen könnte.
Das Bild war ein Meisterwerk, welches einen Maler hätte unsterblich machen können.
„Wer hat dieses Bild gemalt?“ fragte ich Bodiwil.
„Sie – Mariana,“ antwortete er.
Erstaunt blickte ich ihn an. „Aber wer war denn das wunderbare Geschöpf? Reden Sie!“ bat ich.
Bodiwil setzte sich neben den Divan und heftete seinen Blick auf das Kissen, wo Mariana’s Haupt gelegen hatte.
„Als ich,“ begann er, „ein zwölfjähriger Knabe, in’s Stift kam, war sie noch nicht geboren. Ein Jahr später wurde auf dem zwei Stunden von hier entfernten Gute des Herrn Santorin die Taufe eines Töchterchens gefeiert. Der Prälat und zwei Stiftsherren waren zur Taufe geladen und nahmen mich mit. Das Kind lag in einer mit hellblauer Seide ausgefütterten Korbwiege und schlief, als man es mir zeigte. Ich mußte [801] weinen und wußte nicht, warum. Santorin war ehrgeizig, leidenschaftlich und finster. Seine Besitzung war groß, und er galt für reich und angesehen in der Umgegend; allein er wollte der Reichste und Angesehenste unter den Gutsbesitzern werden und ließ keine Gelegenheit vorübergehen, sich Land und Vieh auf vortheilhafte Weise zuzulegen. Einige Jahre nach der Geburt seines Töchterchens suchte er die Verwaltung des Stifts zur Abtretung eines großen Landstriches zu bewegen, welcher an seine Besitzungen stieß. Dieser Landstrich war dem Stifte sehr nützlich, fast unentbehrlich; die Verwaltung lehnte daher Santorin’s Vorschlag ab und blieb unbeugsam, als Santorin nach einigen Monaten noch einmal und ziemlich gebieterisch die Sache in Vorschlag brachte. Von da an brach Santorin allen Umgang mit dem Stifte ab und wurde unser Feind. Er grüßte keinen der Stiftsherrn mehr; er verbot seinen Pächtern und Dienstleuten den Umgang mit den Leuten unserer Meierei; er verleumdete die Tendenz des Collegiums und suchte uns die Söhne der angesehenen dalmatischen Familien zu entziehen. Er ging in seinem Hasse und seiner Rachsucht bis zu Gewaltthätigkeiten: eines Morgens sah man seinen Sohn, einen Knaben von vierzehn Jahren, in der Nähe einer unserer Schafhürden und fand zehn Schafe darin niedergestochen. Etwas später that man es den Pferden an. Man hatte fünf Zugpferde in einer warmen Sommernacht, in einem leichten Holzverschlage angebunden, auf dem Felde gelassen. Der in der Nähe schlafende Hüter erwachte durch das entsetzliche Toben der Pferde. Als er hinzu eilte, fand er zwei der Pferde todt, die andern rasend. Er schoß sie nieder und fand in ihren Ohren brennenden Schwamm. Der Prälat ließ die Sache gerichtlich untersuchen. Man konnte Santorin oder seine Leute der That nicht überführen, obwohl Meilen weit keine andern Besitzungen als die Santorin’schen lagen und sein Wohnhaus sogar nahe dem Felde stand, wo die That begangen wurde. Allein der Proceß und der Verdacht, welcher auf seinem Namen lag, schadeten seinem Ansehen in der Umgegend. Sein Haß wurde jetzt noch ingrimmiger; doch Santorin wußte, daß er scharf beobachtet wurde, was ihn zur Vorsicht zwang und von Gewaltthätigkeiten abhielt. Eine dalmatische Rache aber schläft nie, selbst wenn sie die Augen zu hat. Santorin’s Rache that zuweilen kleine Katzensprünge, da ihr die Tigerangriffe versagt waren. Von seiner Familie hörten wir nichts mehr seit dem Tode von Santorin’s Frau, welche eine Deutsche war und während der Zwistigkeiten starb.
Ich machte häufig Ausflüge, theils um mich im Skizziren zu üben, theils um Pflanzen und Insecten zu sammeln. Als ich eines Abends bei Sonnenuntergang, nahe bei Santorin’s Gute, durch ein Wäldchen kam, hörte ich leises Wimmern. Ich ging der Stimme nach und fand ein Mädchen von acht bis neun Jahren, welches in einen Sumpf gerathen und bis an’s Knie hineingesunken war. Als die Kleine mich sah, rief sie:
‚Herr, Herr, ach hilf mir!‘
Ich zog sie aus dem Sumpfe und fragte, wie sie heiße.
‚Mariana Santorin,‘ sagte sie.
Ich fragte, ob sie die Tochter des Gutsherrn Santorin sei.
‚Ja, Herr,‘ antwortete sie. ‚Mein Vater wohnt nicht weit von hier.‘
Auf meine Frage, wie sie in den Sumpf gerathen war, erwiderte sie:
,Ich liebe die Bäume; ich komme oft her, um sie auswendig zu lernen, damit ich sie zu Hause zeichnen kann.‘
Ich öffnete mein Skizzenbuch und bat die Kleine, mir einen Baum hineinzuzeichnen. Sie blickte einen Augenblick auf eine meiner Skizzen und sagte: ‚Du machst lauter kleine Bäume, Herr; ich kann solche kleine Bäume nicht leiden.‘ Dann machte sie zwei kräftige Striche in großer Entfernung, einen oben und einen unten.
‚Sieh, Herr,‘ sagte sie, ‚der Strich oben ist der Himmel und der unten die Erde, und dazwischen hinein zeichne ich meine Bäume. Die Wurzeln gehen in die Erde, und die Spitze stößt an den Himmel.‘
In wenigen Secunden hatte sie mit groben, aber sichern Strichen eine Tanne gezeichnet, wie sie in Norwegen, aber nicht in Dalmatien zu finden ist: groß, breit, voll, ernst und ausdrucksvoll. Sie war mit einem so wahren Naturgefühle gezeichnet, daß ich bei mir dachte: ich möchte diesem Kinde Unterricht geben. Sie sagte mir, es helfe ihr Niemand beim Zeichnen, und es kümmere sich auch Niemand zu Hause darum. Ich nahm das Kind an der Hand, um es nach Hause zu führen; bald fühlte ich an seinen schwankenden Schritten, daß seine Füßchen im Sumpfe schwer und müde geworden waren. Ich hob es auf meinen Arm und trug es bis zu Santorin’s Hause. Vor der Thür saß eine Frau und spann; ich übergab ihr das Kind und erzählte ihr mit kurzen Worten, wo und wie ich es gefunden hatte. Sie dankte mir mit finsterm, verdrossenem Tone, einen langen Blick auf mein Gewand werfend, welches den Stiftsherrn erkennen ließ. Die Kleine küßte mir die Hand und sagte: ‚Herr, ich danke Dir. Du bist sehr gut gegen mich gewesen. Wie heißt Du?‘
Ich sagte ihr meinen Namen und ermunterte sie, fleißig zu zeichnen. Dies war das einzige Mal, daß ich Santorin’s Töchterchen sah. Als ich einige Wochen darauf Santorin’s Sohn im Felde begegnete, hetzte er seinen Hund auf mich. Ich fragte ihn, warum er dies thue?
‚Weil Du meine Schwester auf den Armen getragen hast,‘ antwortete er. ‚Du solltest mir dafür danken,‘ sagte ich, ‚denn Deine Schwester war müde.‘ ‚Ich wollte lieber, daß sie im Sumpfe erstickt wäre, als daß ein Stifsherr von Constantin sie berührt hat,‘ erwiderte er und hetzte auf’s Neue den Hund auf mich. Ich schlug diesem mit meinem Stocke über den Rücken, ließ den wüthenden Jungen toben und ging meines Weges.
Nach und nach schenkte man im Stifte den ohnmächtigen Rache-Ausbrüchen der Santorin keine Aufmerksamkeit mehr, und selten nur nannte man ihren Namen. Jahre vergingen; ich hatte meine Reisen gemacht und war nach Constantin zurückgekommen. Der Stiftsherr Samuel starb, und die Leitung der Malerschule wurde auf mich übertragen. Vor zwei Jahren starb der Gutsherr Santorin. Sein Sohn verkaufte die Güter und zog mit seiner Schwester fort. Wir wußten nicht, wohin sie gegangen, und kümmerten uns auch nicht darum. Sehen Sie, der Gedanke, daß ich neben einem Wesen, welches die Gottheit für mich schuf, achtzehn Jahre lang in unwissender Gleichgültigkeit gelebt habe – dieser Gedanke könnte mich wahnsinnig machen.“ Bodiwil vergrub seinen Kopf in beide Hände und schwieg.
Ich entgegnete nichts, denn ich begriff die furchtbare Bitterkeit seines Gedankens.
„Der Fürst Ap.,“ fuhr er nach einer Weile fort, „kam im vorigen Herbste nach Constantin. Ich mußte ihm versprechen, ihn in W. zu besuchen. Ende December reiste ich ab; der Prälat gab mir einen Urlaub von drei Monaten. Der Fürst hatte alle erdenklichen Aufmerksamkeiten für mich. Da er meinen Hang zur Einsamkeit kannte, hatte er ein Häuschen am Ende seines Gartens für mich einrichten lassen; es war in maurischem Stile erbaut und enthielt mehrere Zimmer und ein großes Atelier. Ein Diener, welcher die Zimmer in Ordnung hielt, war die einzige Person, welche mit mir das Häuschen bewohnte. Der Fürst ging oft in Gesellschaft, und nur um ihm gefällig zu sein, ging ich mit. Ich war durch die Bilder, welche ich dem Fürsten zum Geschenke gemacht und die er vor meiner Ankunft ausgestellt hatte, für Manche ein Gegenstand der Neugierde und empfing zuweilen Besuche in meinem Atelier, namentlich Besuche von Damen. Es konnte mich also nicht befremden, als eines Vormittags mein Diener wieder eine Dame bei mir anmeldete. Ich ließ sie bitten, einzutreten. Gott, wie war sie verschieden von den andern! Sie trug ein einfaches schwarzes Seidenkleid und hielt eine Mappe an einem Bändchen. Sie schien kaum achtzehn Jahre alt zu sein; ihr Gesicht war blaß, süß und ernst. Sie blieb an der Thür stehen und sagte: ‚Verzeihen Sie, daß ich Sie störe und es wage, ohne Empfehlung zu Ihnen zu kommen!‘
Ich bat sie, sich zu setzen und fragte, ihr die Mappe abnehmend, was mir die Ehre ihres Besuches verschaffe.
‚Ich bin Mariana Santorin,‘ sagte sie.
‚Santorin?‘ wiederholte ich, mich besinnend.
‚Ja,‘ sprach sie, ‚die kleine Santorin, welche Sie vor zehn Jahren aus einem Sumpfe zogen.‘
‚Wie?‘ rief ich, ‚Mariana Santorin besucht den Stiftsherrn von Constantin? Das beweist viel Selbstüberwindung.‘
‚Vielleicht auch nicht,‘ erwiderte sie. ‚Ich komme nicht, um Ihnen einen Gegendienst zu erweisen, sondern um eine Gunst [802] von Ihnen zu erbitten.‘ Sie warf einen Blick auf die Mappe, welche ich ihr abgenommen und auf einen Stuhl gelegt hatte, und sagte: ‚Ich habe einige Skizzen mitgebracht und bitte Sie, dieselben prüfen und mir einige Anleitung geben zu wollen, wenn Sie meine Fähigkeiten dieser Ehre werth halten.“
‚Sie malen?‘ fragte ich.
‚Ja,‘ antwortete sie. ‚Ich habe ein halbes Jahr lang Unterricht beim Maler Fl. gehabt. Seit ich Ihre Bilder in der Galerie des Fürsten Ap. sah, habe ich den Unterricht bei Fl. aufgegeben. Ich hörte von Ihrer Ankunft, allein – ich hatte nicht gleich den Muth, mich Ihnen vorzustellen.‘
Ich öffnete die Mappe. Sie enthielt etwa ein Dutzend Bleistift- und Kohlenskizzen und einen auf Leinwand gemalten Greisenkopf. Die Skizzen waren poetische Momente, kühn hingeworfen und von einem großen Zug durchweht. Zwei davon waren meisterhaft, das eine: Zenobia’s Geist, traurig aus einer Wolke auf die Trümmer Palmyras niederschauend; das andere: die Poesie, eine schöne weibliche Gestalt vor einer steinernen Sphinx in tiefe Träumerei versunken, eine Leier in der lässig herabhängenden Hand haltend. Dies war so neu, so ureigen empfunden und entsprach so ganz meiner eigenen Gefühlsweise, daß ich erstaunt ausrief: ‚Und dies, in der That, sind Ihre eigenen Compositionen?‘
Ich blickte das Mädchen theilnehmend an; es war mir, als sei sie eine Widerstrahlung, eine Verdoppelung meines eigenen Wesens. Es war etwas Feierliches in diesem Augenblicke, wir fühlten es Beide. Es hätte mich verlegen gemacht, ihr meine Bewunderung auszusprechen. Ich sagte ihr nur, sie habe eine reiche Phantasie und ein großes Gestaltungstalent, und fragte, ob sie Künstlerin werden wolle.
‚Nicht für die Oeffentlichkeit, nur für mein eigenes Glück,‘ sagte sie.
Auch diese Empfindungsweise entsprach meiner eigenen und fiel mir um so mehr auf, als mit einer so reichen künstlerischen Natur, wie die Mariana’s, gewöhnlich ein glühender Ehrgeiz verbunden ist.
Ich sagte ihr, daß ich nur noch zwei Monate in W. bleiben werde, da sie aber schon eine so bedeutende künstlerische Selbstständigkeit besitze, so werde diese kurze Zeit wohl zu dem Wenigen genügen, was ich sie lehren könne. Ich fragte sie auch, ob sie sich bequemen wolle, in meinem Atelier zu arbeiten, und sie antwortete, sie habe nicht zu hoffen gewagt, daß ihr eine solche Ehre zu Theil würde.
Auf meine Frage, ob sie sich für immer in W. niedergelassen, theilte sie mir mit, daß ihr Bruder das Gut des Vaters verkauft habe, weil er die Landwirthschaft nicht liebe, und da sie von frühester Jugend periodisch am Sumpffieber gelitten, habe er es für gut befunden, ganz mit ihr fortzuziehen. Nach einer Reise durch Italien hätten sie sich für unbestimmte Zeit in W. niedergelassen; ihr Bruder habe sich aber inzwischen mit einer jungen Dame verlobt und werde nach seiner Verheirathung nach Mähren ziehen, wo er eine Erzgießerei gekauft habe. Ich frug sie, ob sie noch immer am Fieber leide.
‚Seit ich Dalmatien verließ, bin ich viel wohler,‘ sagte sie.
Ich stellte ihr frei, zu kommen, so oft sie wolle, und bevollmächtigte den Diener, sie in mein Atelier zu führen, wenn ich auch gerade nicht zu Hause sein sollte.
Sie bat, gleich am nächsten Tage kommen zu dürfen. Ich ward von ihrem Eifer gerührt und versicherte ihr, daß sie mir keine größere Freude machen könne, als schon morgen und alle Tage zu kommen.
Ein glückliches Lächeln flog über ihr Gesicht; es stand ihr gut und that ihr wohl. –
Als ich allein war, befand ich mich in einem sonderbaren Zustande. Es war nicht, als ob mich eine Dame besucht oder ich eine Schülerin übernommen, sondern als ob ich eine Erscheinung gehabt, die Erscheinung eines Wesens, mit dem ich vor tausenden von Jahren Eins gewesen wäre. Am Abend desselben Tages ging ich mit dem Fürsten in Gesellschaft. Ich fand die Frauen hohl, albern, lächerlich.
Am nächsten Morgen kam Mariana, von einem Diener gefolgt, welcher eine Staffelei und eine Leinwand trug. Als ich ihren Finger an die Thür klopfen hörte, schlug mein Herz hörbar; dies geschah mir lange Zeit täglich, denn sie kam täglich. Ich wies ihr zum Arbeiten einen Platz an, an welchem ich sie von meiner Staffelei aus sehen konnte. In den ersten Tagen ließ ich sie in der Farbenbehandlung sich üben, da mir schien, als habe sie einige Unsicherheit darin. Sie faßte schnell, und was sie erfaßte, das konnte sie auch augenblicklich ausführen. Die Technik war bei ihr nicht Sache der Uebung, sondern des Begriffs. Sie war in diesem Punkte, wie in so manchem Andern, ein Phänomen. Schülerhaftes Copiren war ihr unmöglich; überall brach ihre eigene mächtige Natur durch. Ich bin gewiß, daß, wenn ich dies getadelt hätte, sie bei ihrem großen und ernsten Eifer sich alle Mühe würde gegeben haben, ihre Natur zu unterdrücken; allein ich bin auch ebenso gewiß, daß sie es nicht gekonnt hätte. Ihr Wesen war ein tiefer, voller Strom, von einem Gott getrieben – und er trieb mächtig, dieser Gott.
Mariana war stets schweigsam und ernst; sie sprach nur, wenn ich sie anredete. Hörte sie aus der Art meiner Frage, daß ich meine Gedanken von der Arbeit losriß, so antwortete sie kurz; fühlte sie aber, daß ich gern ein Gespräch mit ihr anknüpfte – und sie fühlte immer richtig – so antwortete sie wortreicher und setzte die Unterhaltung selbst fort. Ihre Gedanken waren ernster und hoher Art; für die gewöhnlichen Lebensformen und Vergnügungen hatte sie gar keinen Sinn. Zuweilen, wenn sie sprach, blickte sie zu mir herüber, und ihr Auge gab mir Räthsel auf, tiefsinnigere als die griechische Sphinx dem Oedipus zu lösen gab. Jeder ihrer Blicke, jedes ihrer Worte, jede ihrer Bewegungen hingen sich an mich und umschlangen mich wie ein unabweislicher Zauber. Ich konnte mir bald nicht mehr verhehlen, daß ich Mariana liebte. Ich fragte mich mit Sorgen, was aus Mariana und mir werden würde, denn – es war seltsam – ich hatte die feste Ueberzeugung, daß Mariana für mich geschaffen sei und daß sie mich lieben müsse – ich glaubte unfehlbar daran. Ich glaubte sogar, daß diese Bestimmung es war, was sie unbewußt zu mir getrieben hatte, und daß Mariana, gleich mir, sich in diese Liebe fügen werde, wie in ein himmlisches Gebot.
Es schien mir natürlich, daß unser Loos außerhalb der gewöhnlichen Lebensformen lag. Zuweilen beruhigte mich dieser Gedanke, und ich ließ das Schicksal dann ruhig im Verborgenen unsere Seligkeiten und unsere Nöthe weben; zu anderen Malen aber überkam mich eine grenzenlose Bangigkeit. Ich wurde dann finster und hart, um mich nicht zu verrathen.
Es war etwas furchtbar Ernstes in dieser Liebesgewalt. Oft, wenn Mariana vor ihrer Staffelei saß, die zarte Gestalt ein wenig in sich gesunken und den ausdrucksvollen Kopf tiefsinnend vorgebeugt, hätte ich Thüren und Fenster vermauern und zu ihren Füßen stürzen und sagen mögen: ‚Du weißt, daß Du mein bist, denn Du bist von Anbeginn mein gewesen. Laß uns hier mitsammen sterben!‘ –
Ihr Fleiß war beunruhigend. Sie kam Morgens um neun und arbeitete bei mir bis zwei Uhr. Zu Hause arbeitete sie gleichfalls. Sie brachte wöchentlich zwei bis drei Skizzen, welche ihr den ganzen Nachmittag und Abend mußten genommen haben. Ich bat sie eines Tages, sich weniger anzustrengen. ‚Sie sind ja jung,‘ setzte ich hinzu, ‚und haben noch viele Jahre zur Vollendung vor sich.‘
‚Nein,‘ sagte sie, ‚das habe ich nicht. Ich muß mich im Gegentheil sehr beeilen, denn ich werde kaum noch ein Jahr leben.‘“
[815] „Mariana sagte dies in einem so natürlichen Tone voraus, daß ich erschrak. Ich wollte es sie nicht merken lassen und rief lächelnd: ‚Wie können Sie nur eine so krankhafte Idee haben?‘ Da sie mir nicht antwortete, drang ich in sie und fragte, ob sie denn noch immer am Fieber leide.
‚Es ist nicht des Fiebers wegen,‘ sagte sie. ‚Vielleicht hilft das zum Ende, allein ich werde nicht eigentlich daran sterben.‘
Ich legte Pinsel und Palette nieder und sah Marianen voll und ernst in’s Auge. ‚Sagen Sie mir, was es ist und wie Sie zu diesem unseligen Traume gekommen sind!‘ bat ich.
Sie hörte auf, zu malen und sagte: ‚Als ich fünfzehn Jahre alt war und wieder einen starken Fieberanfall hatte, schickte mich mein Vater mit der Frau, die meine Amme gewesen war, in die Berge. Es lagerte dort eben eine Bande Zigeuner. Das malerische Treiben dieser Leute hat stets einen großen Reiz für mich gehabt; ich ging daher oft mit Christina, meiner Amme, auf’s Feld, wo die Zigeuner ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Eines Tages, als wir wieder die Zigeuner besuchten und ich Nüsse und Trauben unter die Kinder vertheilte, nahm Christina eine alte Frau aus der Bande zur Seite und sprach leise mit ihr. Die Frau ging mit uns nach Hause; meine Amme wollte, wie sie mir sagte, ihr alte Leinwand geben. Ich war nach meinen Spaziergängen immer so ermüdet, daß ich mich schlafen legen mußte. Auch diesmal legte ich, zu Hause angekommen, mich auf’s Bett, um zu schlafen. Ich schloß meine Augen; allein ich schlief nicht ein. Mit einer Art von Wohlbehagen hörte ich die Schwalben vor den Fenstern zwitschern und die zwei Frauen im Zimmer nebenan leise sprechen, Ich hörte auch eine Schieblade knarren und dachte bei mir: jetzt giebt Christina der Zigeunerin die Leinwand. Dann hörte ich das Gluckern einer Flüssigkeit und dachte: jetzt giebt Christina der Zigeunerin ein Glas Wein. Ich war vollständig wach, allein ich konnte mich nicht rühren, nicht einmal die Augen öffnen, und meine Gedanken gingen langsam und wie in der Dämmerung. Nach einiger Zeit öffnete sich die Thür meines Zimmers, und leise Schritte näherten sich meinem Bette. Ich fühlte, daß Christina sich über mich beugte; dann hörte ich sie flüstern: ‚Sie schläft.‘ Und nun nahm sie vorsichtig meinen Arm, der an der Seite des Bettes herabhing, und drehte ihn langsam, bis die innere Fläche meiner Hand nach oben lag. Ich fühlte instinctmäßig, daß sie meine Hand der Zigeunerin hinhielt und daß mir diese daraus wahrsagen werde. Kühle Finger, welche nicht die Christina’s waren, legten sich leise auf die meinigen und drückten sie sanft herab. Dann sagte die Zigeunerin nach einer Weile: ‚Armes Kind! Die Lebenslinie ist durchschnitten. Das Kind stirbt in seinem zwanzigsten Jahre an einer Wunde in der Brust, an einer im Herzen und an seinen eigenen Gedanken.‘ ‚Jesus Christus!‘ stöhnte Christina. Als die Frauen hinausgegangen waren, richtete ich mich gewaltsam auf, um mich zu überzeugen, daß ich wachte. Ich hörte Christina schluchzen und sah durch’s Fenster die Zigeunerin dem Felde zuschreiten.‘
Hier schwieg Mariana und malte ruhig weiter. Ich war nicht abergläubisch und ich hatte die Ueberzeugung, daß Mariana es auch nicht war. Hätte ein anderes Mädchen mir diese Geschichte erzählt, so würde ich nur abgeschmackten Aberglauben oder sentimentale Coquetterie darin gefunden haben; allein daß die ernste, verständige, groß denkende Mariana dieser Voraussage unbedingten Glauben schenkte, dies machte mich schauern, ich gestehe es. Ich fragte sie, ob sie die Zigeunerin später nicht wieder gesehen habe.
Sie antwortete: ‚Doch; sie wollte mir aber nichts Genaueres sagen. Ich bin gefaßt, zu sterben. Manchmal thut es mir leid, daß ich so jung aus dem Leben gehen soll; allein ich sage mir dann, daß nicht die Länge des Lebens das Leben ausmacht. Auch bin ich Niemand auf dieser Erde unentbehrlich.‘
Ich wollte ‚doch!‘ rufen – aber ich bezwang mich und sagte: ‚Wie? und Ihr Bruder?‘
‚Mein Bruder!‘ rief sie. ‚Mein Bruder ist ein finsterer Mensch, dem ich zur Last bin. Ich wohne viel mehr in seinem Gewissen, als in seinem Herzen.‘
‚Weiß Ihr Bruder, daß ich Sie unterrichte?‘ fragte ich.
‚Nein,‘ antwortete sie fest.
‚Soll er nichts davon wissen?‘ fragte ich wieder.
Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: ‚Es ist besser, daß er es nicht weiß.‘
Ich fragte sie, ob er die Stiftsherren von Constantin noch immer hasse. Sie blickte mich groß an und erwiderte: ‚Der Haß eines Dalmatiers stirbt nicht; er vererbt sich bis in’s siebente Glied.‘
Als sie nach diesem Gespräche aufstand, um zu gehen, kam mir ein Gedanke. Die Art, nach welcher die Zigeuner aus der Hand wahrsagen, war mir bekannt; ich wollte Mariana’s Hand, scheinbar zum Scherze, betrachten.
[816] ‚Geben Sie mir Ihre Hand! Ich will Ihnen auch wahrsagen,‘ sagte ich zu ihr. Sie reichte sie mir hin.
Die Hand, äußerlich mattweiß, war auf der inneren Fläche zart geröthet wie ein Rosenblatt. Diese Röthe folgte genau der Zeichnung der Hand bis zu den Fingerspitzen. Es sah aus, als ob sie mit Rosenblättern gefüttert wäre. Ich weiß nicht, ob Sie sich den Reiz einer solchen Hand vorstellen können?“ fragte Bodiwil.
Ich nickte mit dem Kopfe.
Bodiwil fuhr fort: „Kaum hatte ich diese Hand in die meinige gelegt, als ich vergaß, warum ich es gethan. Es war mir, als hielte ich Mariana’s Seele in meiner Hand. Das Mädchen sah es, und obschon selbst bewegt – ihre Hand zitterte in der meinen – sagte sie: ‚Sie wollten mir wahrsagen, nicht wahr?‘
Ich hatte nicht den Muth, ihre Hand zu prüfen. Ich sagte: ‚Es war nur Scherz; ich verstehe mich nicht auf Zigeunerkünste. Ich wollte Sie nur bitten, nachzudenken, zu welchem Zwecke die Natur unser Schicksal in unsere Hand gegraben hätte. Etwa, damit wir es erfahren, wenn wir zufällig einer Zigeunerin begegnen? Und zu was trügen diejenigen Menschen, welche der Zigeunerin nicht begegnen, ihr Schicksal in den Linien der Hand? Versprechen Sie mir, darüber nachzudenken!‘
‚Ich hatte Unrecht, es Ihnen zu erzählen – denken Sie nicht mehr daran!‘ bat sie.
Von diesem Tage an war es, als wären wir uns schweigend um einen Schritt näher gekommen. Ich nahm mich jetzt weniger zusammen: oft überraschte sie mich, wie ich müßig zu ihr hin schaute; wenn sie ging, gaben wir uns jedesmal die Hand, und ich glaubte zuweilen zu fühlen, daß Mariana dabei von einem leisen Zittern ergriffen wurde. Aber die Lippen schwiegen, die ihren und die meinen. Es war in diesem stummen Kampfe etwas Süßes und etwas Entsetzliches.
Mariana’s Eifer ließ jetzt auch nach. Sie brachte stets seltener Zeichnungen von Hause mit, und auch bei mir saß sie oft müßig und zerstreut vor der Staffelei. Dies beunruhigte mich; ich fürchtete, sie fühle sich krank, und suchte sie auszuforschen. Sie, die immer meine Gedanken errieth, sagte: ‚Nein, ich bin nicht krank; allein, da ich doch nicht mehr lange genug leben werde, um etwas Tüchtiges leisten zu können, warum soll ich so viel arbeiten?‘
Diese Aenderung in ihrem Wesen beängstigte mich. Ich fragte mit schlecht verhehlter Bestürzung, ob sie den Unterricht aufgeben wolle.
‚Aufgeben? Wie meinen Sie das?‘ fragte sie, mich erstaunt anblickend.
‚Nicht mehr her zu mir kommen –‘ sagte ich mit gepreßter Stimme.
‚Nicht mehr her zu Ihnen kommen?‘ rief sie, vom Stuhle aufstehend und beide Hände auf die Brust drückend. ‚Was sollte dann aus mir werden, wenn ich nicht mehr her zu Ihnen käme? – Mein Gott! Mein Gott!‘
Mir flimmerte es vor den Augen, als ich sie so reden hörte, und das Blut schoß mir in Wogen zum Herzen. Ich erfaßte ihre Hände; sie entriß sie mir und schlug sie vor das Gesicht.
‚Mariana, haben Sie Erbarmen mit mir! Ich wollte Ihnen nicht wehe thun,‘ rief ich außer mir. Sie sank sprachlos in einen Stuhl. Meiner nicht mehr mächtig, stürzte ich zu ihren Füßen und rief ihren Namen.
In diesem Augenblicke schellte es an der Hausthür. Es waren zuweilen Besuche gekommen; ich hatte Mariana immer unbefangen als meine Schülerin vorgestellt. In diesem Augenblicke aber konnte ich sie den Blicken Fremder nicht preisgeben.
Ich nahm sie auf meine Arme und trug sie in das an das Atelier stoßende Zimmer, wo ich sie zu bleiben bat, bis ich zurückkäme. Ihren Hut und Mantel, welche auf einem Stuhle im Atelier lagen, deckte ich mit einem Teppiche zu. Der Bediente meldete mir einen Fremden; ich ließ ihn bitten, einzutreten. Er war jung, groß gebaut und von schöner, aber finsterer Gesichtsbildung.
‚Sie kennen mich nicht?‘ fragte er.
Ich verneinte höflich.
‚Mein Name ist Julian Santorin; ich komme, meine Schwester nach Hause zu führen,‘ sagte er.
‚Seien Sie mir willkommen!‘ versetzte ich. ‚Ihre Schwester hat mein Atelier heute früher als gewöhnlich verlassen; ich bedaure, daß Sie sich umsonst zu mir bemüht haben.‘
‚Ich bin entschlossen, den Unterricht meiner Schwester abzubrechen,‘ sagte Santorin. ‚Es verträgt sich mit den Verhältnissen und meinen Gefühlen nicht, daß Mariana Santorin Unterricht bei einem Stiftsherrn von Constantin nehme. Wenn Sie den richtigen Tact besäßen, so hätten Sie meine Schwester nicht als Schülerin angenommen.‘
Ich war tief verletzt. ‚Mein Herr,‘ sagte ich, ‚ich bin nicht gewöhnt, Zurechtweisungen von Menschen, die ich nicht kenne, anzunehmen; ich weise daher mit Entschiedenheit Ihre Bemerkung zurück.‘
‚Sie kennen doch den Haß der Santorin?‘ fragte er höhnisch.
‚Der Haß ist mir keine Pflicht, wie er es Ihnen zu sein scheint,‘ erwiderte ich. ‚Die Stiftsherren von Constantin erinnern sich der Santorin’schen Gewaltthätigkeiten nicht mehr. Ihre Schwester ist eine geniale Erscheinung, deren wunderbare Fähigkeiten zu fördern ich mit Freuden übernahm. Name und Verhältnisse fallen vor der Kunst in Nichts zusammen.‘
Santorin maß mich mit drohendem Blicke und sagte: ‚Es sind vielleicht zehn Jahre her, daß ich meinen Hund auf den Stiftsherrn Bodiwil hetzte, weil er meine Schwester auf den Armen getragen hatte. Damals war ich ein Knabe, heute bin ich ein Mann. Ich will nicht, daß Mariana Santorin die Schülerin und Freundin des Stiftsherrn Bodiwil sei. Verstehen Sie mich? Des Knaben Waffe war ein Hund; des Mannes Waffe ist ein Messer. Erwarten Sie meine Schwester nicht mehr!‘
‚Ich erwarte den freien und selbstständigen Entschluß Ihrer Schwester,‘ sagte ich ruhig.
Santorin biß sich auf die Lippen und sprach: ‚Meine Schwester hat keinen freien und selbstständigen Entschluß zu treffen; ich bin ihr älterer Bruder und ihr Vormund.‘
Ich entgegnete: ‚Die Vormundschaft hat kein Recht, den freien Willen eines vernünftigen Wesens zu knechten; ihre erste Pflicht ist: Humanität.‘
‚Pfäffische Feinheiten sind nicht meine Sache,‘ sagte Santorin mit häßlichem Lächeln; ‚ich bin ein Dalmatier. Meine Sprache ist ein Messer in der Scheide, und wer mich nicht verstehen will, dem zeige ich das Messer ohne Scheide.‘
‚Ich meinerseits verstehe diese Banditensprache nicht,‘ versetzte ich, ‚und da wir uns gegenseitig nicht verstehen, so ist es besser, daß wir unser Gespräch abbrechen. Sollten Sie je mit friedlicheren und würdigeren Gesinnungen meine Schwelle wieder betreten, so werde ich Ihnen mit Freuden meine Hand reichen.‘
Santorin erhob seinen Arm und rief: ‚Meine Hand soll verfaulen, wenn sie je vergißt, was sie der Rache schuldig ist.‘ Mit diesen Worten ging er hinaus und schlug die Thür heftig hinter sich zu. Ich wartete, bis er das Haus verlassen und ich seine Schritte im Garten hörte, dann wandte ich mich, um zu Mariana zu gehen.
Sie stand auf der Schwelle des Ateliers, bleich, entschlossen, kühn, wie ich sie nie gesehen hatte. ‚Ich habe Alles gehört,‘ sagte sie. ‚Es war nicht Feigheit, was mich zurückhielt, sondern die Gewißheit, daß Blut fließen würde, wenn mein Bruder mich aus Ihren Zimmern kommen sähe.‘
,Mariana,‘ sprach ich heftig kämpfend, ‚ich verliere viel, ich verliere Alles, wenn ich Sie aufgebe; aber ich thue es dennoch. Ihr Bruder ist der Stärkere, und ich will nicht, daß Sie meinetwegen leiden. Ich bitte Sie, kommen Sie nicht mehr – sagen Sie mir Lebewohl!‘
‚In Ewigkeit nicht!‘ rief sie entschlossen und feierlich. ‚Ich will, wenn es sein muß, mit meinem Leben das einzige Recht meines Herzens behaupten. Bodiwil – ich saß lange in Stille und Gram und wollte das himmlische Feuer mit meinen Thränen ersticken; ich habe Unrecht an Gott, an Ihnen und an mir selbst gethan. Ich weiß, Sie haben nicht zu mir gesprochen, weil Sie ein Mönch sind; darum, und weil ich nicht mehr lange leben werde, will ich sprechen. Bodiwil – ich will nicht Gott aus Ihrem Herzen reißen; ich will nicht Ihr Gelübde lockern; ich will nicht Ihre geweihten Finger beflecken – aber ich sage Ihnen, daß ich Sie liebe, mächtig, unerschütterlich, ewig.‘
Ich riß Marianen an mich und wünschte, daß in diesem seligen Augenblicke ein jäher Tod unser Leben enden möge.“
[817] Bodiwil schwieg hier und drückte sein Angesicht in das Kissen, auf dem Mariana’s sterbendes Haupt gelegen. Ich überließ ihn einige Zeit sich selbst; dann richtete ich ihn auf. „Reden Sie weiter!“ bat ich, „erschöpfen Sie sich ganz. Es wird Ihnen wohl thun.“
„Am nächsten Morgen,“ fuhr Bodiwil fort, „kam sie zur gewöhnlichen Stunde. Sie erzählte mir, daß sie eine Unterredung mit ihrem Bruder gehabt, in welcher sie ihm erklärte, daß es ihr Wille sei, den Unterricht bei mir fortzusetzen, und daß ihr Wille unbeugsam sei. ‚Warum mußt Du gerade bei Bodiwil lernen?‘ fragte er sie. Sie sagte ihm, ich sei der einzige Lehrer, welcher sie nach ihrer eigenen Gefühlsweise malen lasse. Dann fragte er sie, warum sie denn überhaupt noch lernen wolle, da sie doch bald sterben zu müssen glaube. Sie antwortete ihm: ‚Deine Leidenschaft ist die Jagd; die meinige ist, eine geistige That zu thun, ehe ich sterbe.‘ Als er ihr zum Vorwurf machte, daß sie den Haß ihres Vaters und ihres Bruders zu wenig ehre, und hinzusetzte: ‚Vielleicht empfindest Du für den Stiftsherrn von Constantin das Gegentheil von Haß,‘ antwortete sie ihm: sie sei nicht verpflichtet einen Haß zu ehren, den sie für höchst ungerecht halte. Als sie ihn noch immer unbeugsam fand, erklärte sie ihm, daß, sollte er sich eine Gewaltthätigkeit gegen sie erlauben, sie sich unter den Schutz des Gerichtes stellen werde. ‚Verheirathe Dich, schmiede Dein Eisen und laß mich ruhig sterben!‘ sagte sie ihm. Er verließ sie, einen Fluch zwischen den Lippen murmelnd. Von diesem Tage an fühlte ich, daß die Zigeunerin wahr gesprochen hatte, und ich sah das Schicksal heran kommen.
Mariana las stets meine Gedanken; oft sagte sie: ‚Warum denkst Du immer daran und quälst Dich damit? Laß das Unvermeidliche doch ruhig heran kommen!‘ Oft auch klammerte sie sich an mich und sagte: ‚Hör’ auf zu arbeiten, sieh mich an, sprich mit mir! Je mehr Dein Herz von mir erfüllt ist, desto seliger sterbe ich, denn ich bin und bleibe dann in Dir.‘
Mein Urlaub ging indeß zu Ende; gleichzeitig näherte sich der Hochzeitstag Santorin’s. Mariana und ihre künftige Schwägerin waren sich nicht sympathisch. Mariana gab ihrem Bruder gegenüber vor, nach Italien zu gehen, um sich in der Malerei weiter auszubilden; in Wahrheit aber wollte sie nach Dalmatien zurückkehren und sich in der Nähe des Stiftes niederlassen. Ich besuchte Mariana nie in ihrer Wohnung in W., des Bruders wegen. Sie kam täglich, beim heftigsten Regen und in der grimmigsten Kälte. Oft waren ihre Hände und Füße, wenn sie kam, so kalt und steif, daß sie eine Stunde brauchte, um sich zu erwärmen. Gegen Ende des Monats März kam eines Morgens statt ihrer selbst ein Brief. Sie schrieb mir, sie habe sich stark erkältet und werde wohl für einige Tage nicht ausgehen können. Ihr Bruder gehe am Nachmittage des nächsten Tages auf die Jagd; sie bitte mich, Abends zu ihr zu kommen.
Meine Folter während der beiden Tage war grenzenlos. Die Zeit schien stille zu stehen. Gott, wie war es lange bis morgen Abend! Endlich kam die Stunde. Ich flog zu Marianen. Es war viel Schnee gefallen und fiel noch. Menschen und Pferde gingen geräuschlos, und nur das Klingeln eines Schlittens war zuweilen zu hören. Es war alles so still, so weiß, so weich. Es war etwas süß Einlullendes in den Flocken, wie sie dicht und unaufhaltsam herab kamen. Ich hatte ein Gefühl von Wonne, die mir neu war. Wie ein Trunkener hielt ich mich an der Pforte ihres Hauses, ehe ich die Klingel zog. Eine Frau, Mariana’s Amme, öffnete mir und führte mich, nachdem ich ihr meinen Namen genannt, in Mariana’s Wohnstube. Als ich eintrat, flog Mariana mit einem Schrei vom Lehnstuhle, in welchem sie gesessen, in meine Arme. Mir schwanden die Sinne; nur zwei Dinge fühlte ich noch: Mariana’s seidene Hand, die mir sanft über Stirn und Wangen glitt, und ihr Herz, das ungestüm gegen meine Brust klopfte. Als ich zu mir selbst kam, saß sie im Fauteuil, und ich lag auf den Knieen vor ihr. Das röthliche Licht einer Lampe fiel auf ihr Gesicht, welches eine Glückseligkeit ausdrückte, die ihr eine übermenschliche Schönheit verlieh. Lassen Sie mich schweigen von dieser Stunde, aber hören Sie ihr Ende, ihr schreckenvolles, unseliges Ende!
Mariana’s Wohnung lag im Erdgeschosse; darüber waren zwei Stockwerke, von Leuten bewohnt, die Mariana nicht kannte. Wir plauderten selig; plötzlich hörte ich, daß die Hausthür von außen geöffnet wurde. Erschrocken fuhr ich auf. Mariana sagte beruhigend: ‚Es ist Jemand von Oben; es geht uns nichts an‘; sie schlang ihren Arm um meinen Hals und legte meinen Kopf an ihre Schulter. Im Vorzimmer saß Christina, allein. Da sie die Nacht zuvor bei Mariana gewacht hatte, war sie eingeschlafen und hörte nicht, daß Einer eintrat. Auch trat er vorsichtig ein und leise wie eine Katze, denn wir selbst hörten ihn nicht. Mit einem Male öffnete sich die Thür zu Mariana’s Zimmer, und Julian Santorin stand vor uns. Ich sprang auf; Mariana blieb ruhig in ihrem Fauteuil sitzen, den Blick fest auf ihren Bruder geheftet. Dieser sagte mit kaltem Lächeln: ‚Mariana Santorin bezahlt dem Stiftsherrn die Lectionen mit süßer Münze.‘
Ich versetzte: ‚Der Stiftsherr läßt sich seine Lectionen mit keinerlei Münze bezahlen; allein er nimmt sich die Freiheit, seine kranke Schülerin zu besuchen –‘
‚Und ihr die am Morgen versäumte Lection am Abend zu geben,‘ fiel mir Santorin höhnisch in’s Wort.
Christina kam herbei und wollte Santorin beschwichtigen; er schob sie rauh zur Seite. Mariana erhob sich, that einen Schritt gegen ihren Bruder und fragte: ‚Warum ist Julian Santorin nicht auf die Jagd gegangen, wie er vorgab?‘
‚Weil er ein Wild hier in der Nähe witterte,‘ sprach er, einen drohenden Blick auf mich werfend.
‚Ich glaubte nicht,‘ versetzte ich, ‚daß ein ehrlicher Jäger das Wild bis in das Zimmer einer kranken Frau verfolgen würde.‘
‚Ein Santorin jagt, wo er will,‘ rief Julian, indem er ein Jagdmesser unter seiner Weste hervorzog und auf mich zustürzte. Mariana, schneller als er, warf sich zwischen ihn und mich; aber der vor Wuth Unsinnige stach ihr sein Messer in die Brust. Als Mariana aufschrie, that er über ihre Schulter hinweg einen Stich in meinen Arm. Christine riß ihn zurück; er taumelte, und das Messer entfiel seiner Hand. Sie hob es auf und wollte Mariana hinwegtragen. Allein jetzt geschah etwas, was ich heute noch für unmöglich halten würde, hätte ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen. Vom Fieber und vom Heldenmuthe mit doppelter Kraft beseelt, umfaßte Mariana ihren Bruder mit beiden Armen und trug ihn durch zwei Zimmer hindurch in seine Schlafstube, wo sie ihn einschloß. Dann rief sie ihm durch die Thür zu: ‚Julian Santorin, Du weißt, daß, wenn einem Dalmatier der Schimpf geschah, von einer Frau auf den Armen hinweg getragen zu werden, so darf er mit dieser Frau nichts mehr gemein haben und muß sie meiden, bis an sein Ende, wäre sie auch seine Mutter, seine Schwester oder Frau.“
Santorin brüllte und schlug mit der Faust auf den Tisch. Mariana war von Blut übergossen; sie ließ sich von mir auf ihr Bett tragen, wo sie bewußtlos zusammenbrach. – Sie hatte jetzt die Wunde in der Brust; die Wunde im Herzen hatte sie auch – ich fühlte das Ende kommen. – –
Ihre Wunde war nicht tödtlich, aber schwierig. Vierzehn Tage nach diesem Ereignisse stand sie zum ersten Male auf, obschon das Fieber sie noch nicht verlassen hatte. Santorin hatte am Tage nach dem schauderhaften Ereignisse das Haus verlassen und ließ nichts von sich hören; wir vermutheten ihn in Mähren.
Mariana war von jetzt an wie verwandelt. Sie sprach mehr und schwungvoller als früher, und in ihrer Stimme zitterte eine hinreißende Innigkeit. Sie war wie ein junger Adler, dem die Flügel wachsen und der die Stunde kommen fühlt, wo er der Sonne entgegenfliegen wird. Die Gedanken über Kunst, Liebe und Ewigkeit strömten ihr so reichlich zu, daß sie täglich schrieb, um sich zu erleichtern, wie sie sagte. Sie gab mir jeden Abend, was sie den Tag über geschrieben hatte. Es war sie selbst: voll Geist und voll Empfindung, groß, feurig und tiefsinnig; es war anders, als alles Andere, was ich kannte. Sie zog mich in ihre wunderbare Atmosphäre; ich ward darin ein Gott – heute bin ich ein Bettler. –
Mein Urlaub war zu Ende; eine Trennung von vier Wochen war unumgänglich nothwendig, da der Arzt erklärte, Mariana könne eine Reise nicht eher wagen. Am Abend vor meiner Abreise sagte Mariana:
‚Höre mich, Bodiwil! Wüßte ich nicht, daß ich bald sterben werde, so würde ich Dir nicht nach Dalmatien folgen. Ich würde Dir sagen: Brauchst Du mich zu Deinem Glück, so mache Dich frei, brauchst Du mich nicht, so bleibe ein Mönch und [818] meide mich! Aber da ich bald sterben werde, soll nichts Gewaltsames geschehen.‘
Der Abschied war hart. Die sonst so starke Mariana zerfloß in Thränen; mir brach fast das Herz. Als ich auf der Straße stand, war es mir, als hätte ich mich von mir selber losgerissen und sei nur mein Schatten.
Es war im April, als ich W. verließ. Laue Winde brausten durch’s Land; die Bäume knospeten; vollgesogene Wolken ließen große Tropfen auf das sprossende Gras herabfallen. Diese sehnsüchtige, drängende Natur erweckte in mir eine solche Verzweiflung, daß mein ganzes Wesen ungestüm zu Marianen zurücktrieb. Hundertmal war ich im Begriffe, aus der Postchaise zu springen und über die Berge und durch die Haide zu ihr zurückzulaufen. Vier Wochen ohne Marianen leben, vier Wochen! Der Gedanke warf mich fast nieder. –
Meine Ankunft im Stifte wurde gefeiert; es war mir lästig, denn ich sollte eine Freude zeigen, die ich nicht empfand.
Mariana’s Amme hat einen unverheiratheten Bruder, dem dieses Häuschen gehört. Er willigte ein, Mariana und seine Schwester aufzunehmen. Mariana und ich schrieben uns täglich; unsere Briefe gingen durch die zuverlässige Hand von Christinens Bruder. Man war im Stifte gewöhnt, öfters Bauern zu sehen, welche mir Pflanzen und Insecten brachten. Unter diesem Vorwande kam Christinens Bruder zu mir, auch dann noch, als Mariana angekommen war, denn da wir uns nicht täglich sehen konnten, schrieben wir uns häufig. Zehn Tage nach meiner Ankunft im Stifte schrieb mir Mariana, daß ich keinen Brief mehr an sie abschicken solle, da sie in fünf Tagen abreisen werde. Sie sei wohl und könne nicht länger mehr die Trennung ertragen. Freude und Angst durchzuckten mich. War es nicht gefährlich, die Reise schon so früh zu wagen? Ich stelle mir noch jetzt täglich, stündlich die Frage, ob Mariana nicht noch leben würde, wenn sie der ärztlichen Vorschrift gehorcht hätte. Wäre sie nicht gänzlich zu retten gewesen, wenn nicht der unselige Glaube an ihren nahen Tod sie jede Vorsicht hätte für unnütz ansehen lassen? Das sind Dinge, welche nicht zu ergründen sind.
Mariana kam. Um alles Aufsehen zu vermeiden, hatte sie in D. die Postchaise verlassen und eine Landkutsche genommen, mit der sie spät Abends hier eintraf. Ich lauschte im Stiftsgarten unter den Kastanien, von wo man dieses Häuschen sieht.
Als der Wagen unten am Stifte vorbeirollte, drohten mir die Kniee zu brechen, und in einer Art süßen Wahnsinns glaubte ich das Rollen der Räder zu hören, als es längst in der Ferne verhallt war. Dann nahm ich mein Fernrohr an’s Auge und bohrte meinen Blick in die Finsterniß.
Ich hatte stets die Gewohnheit einsamer Spaziergänge und konnte daher drei- bis vier- oder auch mehrmal wöchentlich Mariana besuchen, ohne Verdacht zu erwecken. Dieses Haus war unserm Geheimnisse günstig; denn man kann, wie Sie wissen, anstatt von der Straße den Hügel hinanzusteigen, von hinten durch den Tannengrund das Haus erreichen, ohne gesehen zu werden, da die Tannen bis an den Gemüsegarten heraufgehen.
Lassen Sie mich schweigen über unser Wiedersehn!“
Bodiwil ging jetzt im Zimmer auf und ab, jeden Gegenstand mit andächtigem Blicke betrachtend. „Dieses Buch hat ihre Hand berührt,“ sprach er; „auf diesem Bilde hat ihr Blick geruht; diesen Teppich hat ihr Fuß gestreift; auf diesem Kissen hat ihr Haupt geruht; aus diesem Glase hat ihr Mund getrunken – Heinrich, sagen Sie mir, ist es möglich, daß sie ganz todt ist? – Alles soll so bleiben bis an mein Ende. Dieses Zimmer ist mein, und Niemand hat das Recht, etwas darin zu berühren. Ich will, daß ihr Odem, der noch in dieser Luft sich wiegt, nicht verwehe; ich will etwas Körperliches von ihr behalten.“
Bodiwil setzte sich wieder und stützte den Kopf in beide Hände.
„Erzählen Sie weiter, erzählen Sie mir Alles!“ bat ich.
„Alles!“ rief er bitter. „Ich habe nichts mehr zu erzählen; die Geschichte ist aus.“
„Aber an was starb sie denn?“ fragte ich.
„Die Zigeunerin hat es gesagt. – Als Mariana hierher kam, war sie, kleine abendliche Wundfieber ausgenommen, wohl. Allein schon nach wenigen Tagen wurden diese Fieber stärker, und nach vier Wochen kam das Sumpffieber hinzu. Der herbeigerufene Arzt verordnete ihr Bergluft. ‚Es ist Alles umsonst,‘ sagte sie zu mir, ‚ich werde sterben, und wenn ich auch in die Alpen gehe; ich fühl’s – ich weiß es. Ich will keine Woche, keinen Tag in unnützer Trennung von Dir verlieren. Ein Leben fern von Dir ist auch ein Tod. Warum soll ich dem einen entfliehen, um dem andern in die Arme zu sinken? Die Trennung würde mein Ende nur beschleunigen.‘
Sie wollte nicht gehen und klagte bitter, so oft ich davon sprach. Sie sah dem Tode ruhig entgegen, von der Ueberzeugung ausgehend, daß es ihr Schicksal sei. War es ihr Schicksal? Hat die Zigeunerin wahr gesprochen? Zeichnet die Natur unser Schicksal in unsere Hand? Sind wir zu dem oder jenem Ende vorausbestimmt? – Ich erinnere mich, daß der Fürst Ap., als Mariana eine Isis vollendet hatte, das Bild lange betrachtete und dann zu mir sagte: ‚Wenn ich Jemanden kenne, der mehr Genie hat als Sie, Bodiwil, so ist es Mariana Santorin. Aber ich fürchte, sie wird nicht zum Ruhme gelangen, denn solche Wunder sterben früh.‘“ –
Bodiwil’s Schmerz ward von diesem Tage an milder. Er gab seine Lectionen im Stifte und widersprach mir nicht, wenn ich ihm die Vortheile einer Reise nach Deutschland auseinandersetzte. Er schien freilich nicht davon überzeugt zu sein; allein ich begnügte mich für den Augenblick mit der Geduld, mit welcher er mich anhörte.
Als ich ernstlicher in ihn drang, sagte er: „Ich glaube, Heinrich, Sie sind ein großer Heuchler. Ein Mann, wie Sie, weiß sehr gut, daß der Ehrgeiz eine schmerzhafte Krankheit ist. Warum wollen Sie mir diese Krankheit einimpfen? Ist dies Freundschaft?“
Ein anderes Mal entgegnete er mir: „Sie sollten wissen, daß ich viel zu vernünftig bin, als daß der Ruhm Reiz für mich haben könnte. Ich achte die Menschen viel zu wenig, als daß es mir einfiele, von ihnen bewundert werden zu wollen. Was den Ruhm nach dem Tode betrifft, so ist man seiner niemals sicher, und wäre man es auch, was liegt daran? Ich finde die Befriedigung des Gedankens, nach dem Tode von Menschen, die wir nicht kennen und die noch gar nicht geboren, folglich uns gleichgültig sind, zuweilen noch genannt zu werden, eine kindische, eine höchst kindische.“
„Sie leugnen doch aber nicht den Vorzug, Genie zu haben, und die Pflicht, es für die Menschheit zu verwerthen?“ rief ich.
„Ich leugne nicht den Vorzug, Genie zu haben, aber ich leugne die unbedingte Pflicht, es für die Menschheit zu verwerthen,“ erwiderte Bodiwil. „Eine edle, große Handlung thut mehr für die Menschheit und ihre Veredlung, als alle Gemälde und Statuen der Welt je für sie gethan haben und noch thun werden. Mein Glaube ist der: Der mehr oder minder empfängliche Mensch empfängt von einem Kunstwerke einen sehr oberflächlichen, einen sehr flüchtigen, einen sehr zweifelhaften Genuß und keine nachwirkende Erhebung des Gedankens. Eine Natur hingegen, welche den göttlichen Funken in sich trägt, empfindet in einem Kunstwerke sich selbst und dieses kann weder die Gedanken dieser Natur bereichern, noch ihre Empfindungen veredeln, noch ihre Gestaltungskraft ausbilden. Wer den göttlichen Funken in sich hat, ist und bleibt positiv in seiner Natur.“
Drei Wochen nach Mariana’s Tode kam er zu mir auf mein Zimmer und sagte: „Heinrich, ich will Ihnen meinen guten Willen und meine Dankbarkeit für Ihre Freundschaft beweisen: ich werde mit Ihnen nach Deutschland reisen.“
Ich umarmte ihn vor Freude. Der Prälat gab ihm einen Urlaub von sechs Monaten. Am Tage vor unserer Abreise ließ dieser mich zu sich rufen.
„Ich weiß Alles; verheimlichen Sie Bodiwil, daß ich Kenntniß davon habe!“ sagte er. „Suchen Sie ihn um jeden Preis dem Leben zu erhalten! Wenn es nothwendig ist, werde ich seine Entlassung aus dem geistlichen Stande erwirken. Schreiben Sie mir, wenn die Zeit dazu gekommen ist!“
Wir hatten beschlossen, den folgendem Morgen abzureisen. Der Postwagen, von M. kommend, sollte unten auf der Straße halten und uns aufnehmen. Am Abend ging Bodiwil in’s Häuschen auf dem Hügel; gegen zehn Uhr kam er zurück. Wir plauderten bis gegen Mitternacht, ordneten unsern Reiseplan [819] und unsere Papiere und sagten uns dann gute Nacht. Als Bodiwil unter der Thür stand, wandte er sich noch einmal um und fragte:
„Wann müssen wir morgen bereit sein?“
„Um sieben Uhr,“ sagte ich.
„Gut,“ versetzte er und schloß die Thür hinter sich.
Ich war müde. Nach einem prüfenden Blick an den Himmel, der trüb und wolkig war und kein schönes Reisewetter versprach, legte ich mich nieder. Die Stiftsuhr schlug zwölf; ich zählte die Schläge mechanisch nach und schlief ein.
Als ich am Morgen erwachte, war es nicht ganz fünf Uhr. Ich hörte das Knarren einer Thür im Gange draußen und schnelle Schritte auf der Treppe. Nachdem ich noch eine halbe Stunde im Halbschlummer liegen geblieben, stand ich auf und kleidete mich an. Ich öffnete das Fenster; die frische, fast kalte Herbstluft wehte mir entgegen und gab mir eine angenehme Empfindung von hoffnungsvoller Fröhlichkeit. Ein leichter Nebel lag über dem Moor. Am Himmel zog grauweißes Gewölke hin, durch welches die [819] Sonne zuweilen einen Strahl niederfallen ließ, und dann schimmerte der Nebel wie flüssiges Silber.
Man klopfte an meiner Thür; es war ein Küchenjunge, der mich zum Frühstück in’s Refectorium hinab rief. Ich blickte auf meine Uhr. Es war fünf Minuten über sechs. Indem ich den Gang durchschritt, sah ich die Thür von Bodiwil’s Zimmer halb offen. Ich trat unter die Thür und rief: „Bodiwil, ich gehe in’s Refectorium hinunter.“
Da ich keine Antwort erhielt, dachte ich, er sei schon unten. Allein ich fand ihn nicht im Refectorium und wartete einige Minuten vergebens auf ihn. Ich ging in Bodiwil’s Zimmer zurück; er war nicht darin, auch nicht im Atelier. Auf’s Höchste unruhig, ging ich in’s Refectorium zurück, rief den Küchenjungen und fragte ihn, ob er Bodiwil nicht gesehen habe. Er sagte mir, er habe schon vor fünf Uhr den Stiftsherrn die Treppe herunter kommen sehen; der Stiftsherr habe ihm zugerufen, das Frühstück auf sechs Uhr bereit zu halten, und sei dann durch die kleine Pforte in’s Freie gegangen. Dies beruhigte mich.
Ich dachte mir, Bodiwil werde noch einmal in’s Häuschen auf dem Hügel gegangen sein. Er hatte das Frühstück selbst auf sechs Uhr bestellt, konnte also jeden Augenblick zurückkommen. Ich setzte mich und frühstückte; von Zeit zu Zeit blickte ich auf die Uhr. Als es halb sieben Uhr war, beschloß ich, Bodiwil zu holen, vermutend, daß er die Zeit vergessen habe.
Auf der Straße überfiel mich auf’s Neue eine Bangigkeit. Das Gras am Wege zitterte in der kühlen Herbstluft, und bleiche Nebel walleten schwermüthig über das Moor. Ich hatte halb und halb erwartet, Bodiwil auf der Straße zu begegnen, und mit jeder Minute wuchs meine Angst. Zuweilen schoß mir eine heiße Blutwelle jäh zu Kopf.
Ich fand die Hausthür angelehnt und die Thür zum Vorzimmer offen. Als ich dasselbe durchschritten, klopfte ich an der Thür zu Mariana’s Zimmer. Ich blickte durch’s Schlüsselloch; es stak kein Schlüssel darin. Ich rief Bodiwil’s Namen und blieb ohne Antwort. Christinens Bruder schlief in der Mansarde; ich ging hinauf, um nach Bodiwil zu fragen – die Mansarde war leer. „Bodiwil ist wahrscheinlich im Tannengrunde,“ dachte ich und eilte hinunter. Auch dort war er nicht. Mariana’s Grab lag einsam in der Morgenstille und war mit einem frischen Tannenzweige zugedeckt.
Es war mir, als ob eine eisige Hand mir das Herz zerdrückte – von Todesangst gefoltert eilte ich zum Hause zurück. Im Gemüsegarten fand ich Christinens Bruder, von welchem ich erfuhr, daß Bodiwil am verflossenen Abende zu Christinen gesagt, er werde früh Morgens noch einmal kommen, sie solle daher nicht unruhig werden, wenn sie Geräusch höre, sondern ruhig weiter schlafen. Er selbst, Christinens Bruder, sei schon um drei Uhr in einen Torfstich gegangen, und komme eben nach Hause. Ich bat ihn um einen Schlüssel, der Mariana’s Zimmer öffne. Er folgte mir; ich schloß die Thür auf und öffnete sie. – Barmherziger Gott! – Bodiwil lag in einer furchtbaren Blutlache, mit dem Gesichte an der Erde. Ich hob ihn auf; sein Haupt fiel schwer auf die Brust herab – er war todt.
Ich raffte, was mir an Kraft noch blieb, zusammen und entkleidete ihn. Er hatte zwei Wunden im Rücken und eine in der Seite.
Ich hatte noch nie so etwas Entsetzliches gesehen und hatte noch nie einen Bodiwil verloren; kalter Schweiß bedeckte mich, und der Jammer übermannte mich. Als ich mich wieder kräftiger fühlte, legten Christine und ich den Leichnam auf den Divan. Sein Haupt ruhte, wo das Mariana’s geruht hatte. Ich trat zu ihm hin, küßte ihm Stirn und Hände und netzte sie mit leidenschaftlichen Thränen.
Plötzlich, von einer unwillkürlichen Bewegung getrieben, trat ich vor den Vorhang, welcher das Zimmer theilte; ich öffnete ihn und blickte auf Bodiwil’s Bild – es war in Fetzen zerschnitten. Ich erschrak so heftig, daß ich mich am Fußende des Bettes mit beiden Händen festhalten mußte. Da hörte ich etwas zwischen dem Bette und der Wand zu Boden fallen. Mit einem Ruck entfernte ich das Bett von der Wand und fand einen Dolch an der Erde. Bodiwil’s Blut klebte daran – ich hob ihn schaudernd auf und forschte in den Arabesken des Griffs mit gierigen Augen. Ich fand, was ich geahnt hatte, die Buchstaben J. S.
Sofort fuhr ich auf einem Leiterwagen zum nächsten Städtchen, wo ich dem Schultheiß Bericht über das Geschehene erstattete und den Dolch als einen Beweis gegen Julian Santorin niederlegte.
Die Gerichtsbarkeit in Dalmatien ist oder war damals von so trauriger Beschaffenheit, daß ich voraus sah, es werde die Ermordung Bodiwil’s nicht gesühnt werden. Selbst die Würde des Prälaten, das Ansehen des Stifts und die Entrüstung der Umgegend blieben diesem Mangel an einer geordneten und tüchtigen Gerichtsbarkeit gegenüber machtlos. Julian Santorin wurde nicht aufgefunden, und Bodiwil blieb ungerächt.
Nachdem ich in’s Stift zurückgekehrt war und dem Prälaten das Furchtbare mitgetheilt hatte, ging ich zur Leiche Bodiwil’s [820] zurück. Da das Häuschen auf dem Hügel dem Friedhofe näher lag als das Stift, ließ man die Leiche bis zur Beerdigung dort. Ich wachte bei ihr Tag und Nacht. Da lag er nun kalt und steif, der schöne, sonst so geschmeidige Körper! Die nicht ganz geschlossenen Augenlider ließen unter den dunkeln Wimpern einen Streifen des Auges sehen; um den Mund lag ein Friede, um den ich den Todten beneidete. „Bodiwil, wo bist Du nun? Fliegt Dein Geist durch die Finsternisse der Ewigkeit, Marianen suchend? Sie kann nicht weit sein, Bodiwil; Du bist ihr ja so schnell nachgefolgt. Oder hat sie am Thore der Ewigkeit auf Dich gewartet und fliegt Ihr miteinander den ewigen Sonnen zu? Oder schläft sie traumlos im Tannengrund und schläfst Du traumlos hier auf der Bahre?“ – Ach, was ich zu ihm sprach, was ich ihn fragte, es blieb ohne Antwort. Seine Lippen öffneten sich nicht mehr, und sein sonst so beredter Blick war erloschen. Bodiwil gab mir keinen Aufschluß über den Tod und keinen Trost für mein zerrissenes Herz.
Ehe man den Deckel des Sarges schloß, legte ich ihm Mariana’s Briefe und Manuscripte, welche ich aus Bodiwil’s Koffer genommen, unter sein Haupt. Als er unter der Erde lag, trieb es mich mit Hast von Constantin hinweg. Ich hatte Bodiwil mehr geliebt als meinen eigenen Bruder; ich konnte den Ort, wo mir so Schmerzliches und so Entsetzliches geschehen, nicht mehr ertragen. Mit einem Gefühl von Trostlosigkeit, das ich nicht beschreiben kann, löste ich sein zerfetztes Bild aus dem Rahmen und nahm es mit mir.
Auf dem Rückwege zum Stifte weinte ich wie ein Kind – und ich schäme mich nicht, es zu bekennen.
Am folgenden Tage nahm ich Abschied vom Prälaten. Ich fand ihn geknickt und fühlte, daß er sich nicht mehr aufrichten werde. Mit einem Händedruck sagte er zu mir: „Nehmen Sie die Sphinx über Bodiwil’s Bett zum Andenken mit!“
Am nächsten Morgen reiste ich ab. Ich erwartete den Postwagen um sieben Uhr; es blieb mir noch eine Viertelstunde; ich ging in den Garten und setzte mich auf die Bank unter den Kastanienbäumen. Ein dichter Nebel lag über dem Moor und den Hügeln. Alles lag vor mir da wie eine Wüste. Ein Schwalbenzug strich durch die Luft – auch ich zog fort, aber nicht froh, wie jene Schwalben. – Als ich das Rollen des Wagens hörte, ging ich den Hügel hinab. Der Postillon blies eine lustige Weise, die mir in’s Herz schnitt.
Ich warf einen letzten Blick nach der Seite hin, wo im Nebel der Friedhof lag. Dann stieg ich in den Wagen und drückte meinen Hut tiefer in’s Gesicht hinab.
Fünfundzwanzig Jahre sind seitdem verflossen; ein Theil des Stiftes Constantin brannte ab, und mit ihm verbrannten Bodiwil’s Bilder. Das Stift ist aufgelöst; die Stiftsherren wurden da und dorthin zerstreut. Ich bin alt und lebe einsam auf der Haide. Wenn ich in lauen Sommernächten vor meinem Häuschen sitze und es fliegt ein Meteor am Himmel vorüber, dann rufe ich laut und inbrünstig: „Gruß Dir, mein Bodiwil!“
- ↑ * Verfasser von „Eine Leidenschaft“. Die Redaction.