Die Gartenlaube (1875)/Heft 42
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)
Unser Ball ist brillant ausgefallen, obgleich die Gäste sich erst spät versammelten und zum Theile in etwas erregter Stimmung, denn eine bedeutende Feuersbrunst hatte während des Tages die Stadt in Schrecken gesetzt und die Gemüther in Spannung erhalten. Mehrere der großen, neben den Kasernen befindlichen Magazine sind plötzlich ein Raub der Flammen geworden, ohne daß man bis jetzt auch nur irgend glaubwürdige Vermuthungen über die Entstehung des Feuers hegen konnte, dem die angehäuften Stroh- und Heumassen eine reißend schnelle Verbreitung gaben.
Es war eine wenig angenehme Vorbedeutung für unser Fest, als mit lautem Schellenläuten und Wagengerassel die Feuerwehr durch unsere Straße stürmte, als der frostkalte Himmel in rother Gluth aufleuchtete und von allen Seiten Geschrei und Rennen des Volkes sich hörbar machte. Da indessen später die Kunde sich verbreitete, daß man des Feuers Herr geworden und daß kein Privateigenthum zerstört sei, beruhigte sich Jedermann. Unserer Soirée sollte sogar die erregte Stimmung der Gäste zum Vortheile gereichen, da von vornherein ein Unterhaltungsstoff geboten war, der Alle lebhaft beschäftigte und keine Langeweile aufkommen ließ.
Beim Eintritte in den heute für den Ball gleichsam zu einem grünen Garten umgeschaffenen Musiksaal entlockte der in voller Pracht strahlende Tannenbaum der Gesellschaft ein einstimmiges „Ah!“ der Ueberraschung und des Entzückens. Man fand den Einfall charmant, unsere Gebieterin erntete von allen Seiten Complimente dafür, und ich wurde so viel gefragt, mußte immer wieder von unserer deutschen Weise, Weihnachten zu feiern, erzählen, daß mir am Ende der Kopf brannte und ich mit Vergnügen für eine kurze Zeit mich zurückzog, um unserem Volke von Dienern einige Aufmerksamkeit zu schenken, damit es seine Pflicht thue und es im Saale nicht an Erfrischungen mangeln lasse. Madame ist auch in diesem Punkte das Muster naiver, nie dagewesener Trägheit. Sie hat es allmählich so ganz wie von selbst einzuleiten gewußt, daß die Oberaufsicht des Hauswesens von ihr auf mich übergegangen ist, und wenn ich sie vorher um die Einrichtung zu dieser oder jener Festlichkeit fragen will, so antwortet sie mir in der Regel: „Aber, Mademoiselle Helene, verschonen Sie mich! Sehen Sie denn nicht, daß ich die entsetzlichste Migräne habe? Bestimmen Sie Alles! Dann weiß ich, daß es wunderschön wird. Sagen Sie dem Koch, wenn er mir auch nur ein einziges verdorbenes Gericht auf den Tisch liefert, so wird Iwan Alexandrowitsch mit dem Gouverneur sprechen, damit er in’s Regiment, wohin er eigentlich gehört, zurückgeschickt und nach dem Kaukasus commandirt wird. Und dem Buffetschik drohen Sie, ich werde ihn, wenn er sich noch einmal wieder betrinkt, anstatt auf seinen Dienst zu passen, prügeln und fortjagen lassen.“
Die Warnungen halfen, wie denn überhaupt in der Regel Alles am Schnürchen geht, nur die aufwartenden Diener müssen mitunter die Nähe eines wachsamen Auges empfinden, damit sie nicht unverschämter Weise zu viele der feinsten Delicatessen in ihre Taschen verschwinden lassen.
Als ich nach dieser kleinen Zwischenpause, die mir, wie gesagt, nicht unerwünscht war, in den Saal zurückkehrte, begegnete mir sogleich am Eingange mein alter Gönner und Freund Bessedofski, der sich meiner mit Vergnügen bemächtigte, um mir mitzutheilen, daß die große, längst schmerzlich von ihm erwartete Spielorgel aus Paris angekommen sei. Der alte Herr liebt nämlich, wie sehr viele Russen, die Musik so leidenschaftlich, daß er sie schon Morgens früh, ja zu allen Zeiten des Tages und selbst in der Nacht, wenn er nicht schlafen kann, hören möchte. Da er nun aber nicht reich genug ist, sich auf seinem einige Werst von Woronesch entfernten Landsitze eine Capelle zu halten, hat er sich die Riesenorgel kommen lassen, die ihm ein ganzes Orchester ersetzen soll. Er ist entzückt davon und sagte mir, ich müsse ihn nächstens besuchen, um sie zu hören.
„Aber mein Gott, Fräulein Helene, warum tanzen Sie denn nicht?“ unterbrach er dann plötzlich selbst seinen Redestrom, als er bemerkt hatte, daß ich mehrmals die Aufforderung dazu ablehnte, „ich bin mit meinem Geschwätze doch nicht etwa schuld daran?“
„O nein, Herr Bessedofski, ich tanze nie,“ erwiderte ich ihm lächelnd.
„Nie? Aber warum denn nicht?“
„Weil es mir kein Vergnügen macht.“
„Ei, ei, Fräulein Helene!“ der alte Herr warf mir unter seinen buschigen weißen Brauen hervor einen listig heitern Blick zu, „wissen Sie denn nicht, daß diese Behauptung ein wenig Anmaßung verräth, oder die Vorbedeutung, daß Sie sich im nächsten Jahre verheirathen werden?“
Ich schüttelte den Kopf und sagte kühl ablehnend: „Verheirathen? Es ist noch sehr die Frage, ob ich mich dazu jemals bereitwilliger finden lassen werde, als zum Tanzen.“
[698] „Gemach,“ sagte Herr Bessedofski; „gemach, mein liebes Fräulein! Das findet sich Alles im geeigneten Augenblicke, aber da sehe ich Jemanden herannahen, der Sie vielleicht doch noch wirksamer bereden möchte, Ihrem Vorsatze, wenigstens dem letzteren, ungetreu zu werden, als ich.“
Er richtete meine Aufmerksamkeit auf eine Stelle in dem glänzenden Gewühle, welches eben nach Beendigung einer Française inmitten des Saales durcheinander wogte. Da strebte eine Gestalt in einer mir merkwürdig bekannten, dunkelgrünen Uniform sich in der Richtung des Divans Bahn zu brechen, auf dem ich mit dem Alten soeben Platz genommen hatte.
„Kommen Sie!“ rief der Letztere dem mittlerweile Herantretenden entgegen. „Kommen Sie, Herr Capellmeister, und versuchen Sie, dieses eigensinnige Kind zum Tanze zu überreden!“
„Herr Hirschfeldt wird sich keine Mühe geben,“ sagte ich, „da er weiß, daß er sie nur unnütz verschwenden würde.“
„Auch dann, wenn ich Sie wirklich diesmal sehr ernsthaft um einen Tanz bäte?“ fragte der Genannte, indem er sich verbeugte.
„Auch dann,“ war meine Antwort, welche an Entschiedenheit des Tones nichts zu wünschen übrig ließ.
„Nun, so werden Sie wenigstens gestatten, daß ich mich zu Ihnen setze und an Ihrer Unterhaltung theilnehme,“ erwiderte Hirschfeldt und nahm an meiner Seite Platz. „Das wird mich mehr amüsiren als irgend ein Tanz sonst, denn es ist die einfache Wahrheit, wenn ich behaupte, in der Unterhaltung all dieser jungen Damen hier im Saale zusammen genommen ist nicht so viel Geist zu entdecken, als in einer hingeworfenen Bemerkung von Ihnen, gnädiges Fräulein.“
Einen Augenblick sah ich ihn groß an, als ob ich meinen Ohren mißtraue, dann entgegnete ich kurz: „Bitte, Herr Capellmeister, beginnen Sie nicht mit mir in einer Tonart, von der Sie wissen, daß sie bei mir keinen Anklang findet!“
Er biß sich auf die Lippen, und ich sah, daß er sich ärgerte, aber ich that es ebenfalls. Ich will mir keine vagen Complimete von ihm sagen lassen, und überdies – wäre Fräulein Adrianoff gegenwärtig gewesen, er würde wohl gewußt haben, interessante Unterhaltung ohne mich zu finden.
Herr Bessedofski lachte, sagte mir, ich sei ein kleiner Eisenkopf, und wußte durch seine drolligen und gemüthlichen Einfälle die Unterhaltung alsbald wieder in’s Geleise harmloser Unbefangenheit hinüber zu leiten, so daß wir uns wirklich amüsirten und auch der Capellmeister nicht lange in seinem grollenden Schweigen verharren konnte. Ja, er wurde sogar lebhaft und ausgelassen, als allmählich ein Kreis sich um uns bildete, in welchem es heiter genug zuging. Ich kenne ihn jedoch bereits zu genau, um mich täuschen zu lassen, und es konnte mir daher nicht entgehen, daß Hirschfeldt’s Lebhaftigkeit etwas Forcirtes hatte. Als eine kurze Pause in der Unterhaltung eingetreten war, wendete er sich, wie von einem raschen Einfalle getrieben, plötzlich zu mir, zog seine Brieftasche heraus, entnahm derselben ein Schreiben und sagte, es mir reichend:
„Lesen Sie doch, welche günstige Bedingungen man mir für ein Engagement in Petersburg macht!“
Ich nahm den Brief, warf einen Blick hinein und hatte Mühe, meinen inneren Schreck nicht merken zu lassen. Es war ein Billet von Wéra, in welchem sie ihren glühenden Schmerz schilderte, eines leichten Unwohlseins wegen den Sylvesterball, der in der assemblée des nobles stattfinden wird, nicht besuchen zu können. Sie habe seit langer Zeit gehofft, auf demselben Hirschfeldt zu sehen. Sie bat ihn dringend, irgend einen Ort ausfindig zu machen, an dem sie ihn nach ihrer Wiederherstellung treffen könne, da sie ihn unbedingt sprechen müsse.“
„Was rathen Sie mir?“ fragte der Capellmeister, als ich ihm den Brief zurückgab.
„Ich würde mir die Sache doch erst gründlich überlegen,“ antwortete ich ihm. Constantin Feodorowitsch’s ernstes Antlitz tauchte in demselben Augenblicke vor meinem Geiste auf, und ich werde von nun an mich nicht von der stillen Angst frei machen können, daß der Musiker vielleicht irgend eine Unvorsichtigkeit begehen könnte, die zu Conflicten mit Constantin führen muß.
Dieser kleine Zwischenfall, von dessen Bedeutung keiner der übrigen Anwesenden auch nur eine Ahnung hatte, berührte mein Herz unheimlich wie eine Mahnung. Wie wenig heitere Stunden sind mir doch gegönnt, ohne daß still getragene Angst wie ein Frosthauch erkältend darüber hinfährt!
Ein neues Jahr hat begonnen. Was wird es mir bringen? Ich falte still meine Hände und denke: Gott im Himmel wird Alles zum Besten lenken, möge er nur das Eine geben, daß ich am Schlusse auf keine Stunde desselben mit Reue zurückzublicken habe!
Die Branikow’s und Olga waren zu dem großen Sylvesterballe gefahren, und Zenaïde Petrowna wollte mir, da ich nicht tanze, ein Billet für die Galerie zum Zusehen gebe, aber ich schlug zu Olga’s maßloser Verwunderung das Anerbieten dankend aus. Es that mir unendlich wohl, den Abend ganz allein zuzubringen, was ihr allerdings wie eine Grille vorkommen mochte.
Die Aufregung in der Stadt nach der Feuersbrunst von neulich hat sich immer noch nicht wieder gelegt, und zwar aus guten Gründe nicht. Verschiedentlich an den letzten Morgen hat man an besonders in die Augen fallenden Stellen, an den öffentlichen Gebäuden und Kirchen, während der Nacht befestigte Placate entdeckt, die nichts mehr und nichts weniger enthalten als die Drohung, daß Woronesch in nächster Zeit ganz durch Feuer vom Erdboden vertilgt werde solle. Einem unheimlichen Schreckgespenste gleich schlich die Furcht vor dem in Verborgenheit und Nacht gehüllten und deshalb, wie Jeder wähnt, um so gefährlicheren Feinde durch unsere Stadt, bis heute das Phantom einigermaßen greifbare Gestalt angenommen hat. Aus verschiedenen Gegenden des russischen Reiches treffen nämlich Berichte von ähnlichen, zum Theil sehr verheerenden Feuersbrünsten ein und zwar stets aus den Städten, in denen die polnischen Gefangenen internirt sind, deren letzten Aufstandsversuch eben General Murawiew mit eiserner Hand in Blut erstickt.
„Es sind die Polen, welche die Feuer anlegen,“ geht es jetzt von Mund zu Mund, und ich muß gestehen, daß ich diese Idee in keiner Weise beruhigend finde. Was ist nicht von diesen wilden Gesellen zu fürchten, die nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen haben als die Rache?
Neulich begegneten wir einem Transport derselben, der gerade vom Kriegsschauplatze anlangte, und ich konnte Tage lang den Eindruck nicht überwinden. Immer wieder traten mir die verwilderten, verwahrlosten Gestalten vor Augen, denen man die erduldelen Qualen und die verbissene Wuth so deutlich von den hageren Gesichtern las. Wie schrecklich ist dieser Aufstand, der von vornherein ohne Hoffnung und Möglichkeit des Erfolges begann und jetzt mit drakonischer Strenge und mit Energie niedergetreten wird! Von allen Seiten sagt man mir, es muß sein – aber mich schaudert vor dieser Nothwendigkeit. In Deutschland könnte das nicht vorkommen, und ich sehe mit Verwunderung die vornehme Welt an, die tanzt und glänzende Feste feiert, als herrsche in der ganzen Welt Friede und Fröhlichkeit. Zenaïde Petrowna kennt nur das eine Bestreben, von diesen unangenehmen Dingen so wenig wie möglich zu erfahren, damit ihre Stimmung nicht dadurch alterirt wird. Sie hat strenges Verbot erlassen, in ihrer Gegenwart überhaupt davon zu sprechen.
Die Vorbereitungen zu dem Wohlthätigkeitsconcerte sind nunmehr definitiv in Angriff genommen. Es soll am Sonntag, den 26. Januar, im großen Saale der Assemblée stattfinden, der fünf- bis sechshundert Personen faßt. Ich denke mit Schrecken daran und weiß nicht, woher ich den Muth nehmen soll, vor so viel Menschen zu spielen. Wären nicht unsere Musikabende vorhergegangen, so würde es mir eine Unmöglichkeit sein. Morgen werden wir die erste Probe haben, und unsere Soiréen sind wegen der Vorbereitungen zu diesem Concerte für den Monat Januar ganz ausgesetzt.
Als ich diesen Nachmittag auf mein Zimmer kam, fand ich daselbst ein kleines Paket, und Masche sagte mir auf mein Befragen, es sei ihr von einer fremden alten Frau für mich übergeben. Als ich es öffnete, fand ich verschiedene Hefte Noten darin, über die ich vor längerer Zeit mit Fräulein Adrianoff gesprochen. Sie hatte es übernommen, mir dieselben zu besorgen, ohne daß ich jetzt noch daran gedacht hätte. Zwischen den Blättern lag ein zartes, duftendes Briefchen folgenden Inhaltes:
[699] „Theuerste Helene!
Gott allein weiß, was ich seit der Zeit leide, wo ich Sie nicht mehr sehe. So Vieles, so Schweres beklemmt mein armes Herz. Meine beste Helene, Sie verstehen mich, nicht wahr? Ich weiß nicht, was mit nur ist – ich verstehe nicht, was ich thue – mein Kopf brennt wie Feuer. O – wenn ich ihn nur sehen könnte! Mir würde leichter, wenn ich ihm sagen könnte, wie so sehr, wie so innig ich ihn liebe. Doch – wozu? Er muß es wissen – er weiß es, aber er weiß nicht, welche furchtbare Gefahr mich bedroht. Bitte, sagen Sie ihm das!
Hier sind endlich die Noten, die ich gestern aus Charkoff bekam. Tausend Grüße an Alle und ein freundlicher Händedruck an Sie, meine Vielgeliebte!
Ewig und immer Ihre
Fast erschrocken starrte ich auf das zierliche Blatt in meiner Hand. Welch Unheil kündet es mir wieder dunkel an, und von welcher Gefahr redet Wéra nur? Vielleicht beziehen diese Worte sich auf ihre bevorstehende Verlobung, von welcher in der ganzen Stadt gesprochen wird, ohne daß doch irgend ein Mensch etwas Gewisses darüber sagen könnte. Man muß gestehen, Constantin übt in der That sein Wächteramt erbarmungslos, und doch – hat er vielleicht Recht. Während des ganzen Abends schon bin ich von Zweifeln geplagt, ob ich morgen mit Hirschfeldt über das Billet sprechen, oder es ihm zeigen soll, und kann doch zu keiner Entscheidung kommen. Vielleicht, daß guter Rath über Nacht sich einstellt, und ich will mir jetzt nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, zumal heute Abend wieder ein Ball in der Assemblée stattfindet, wo er und Wéra sich möglicher Weise sehen und Gelegenheit finden könnten, einige Worte mit einander zu wechseln.
Wir haben gestern in unserer Probe sehr fleißig geübt. Unser Capellmeister kam, weil er dienstlich sehr in Anspruch genommen war, ziemlich spät, und ich fand nur noch zuletzt Gelegenheit, ungestört einen Augenblick mit ihm zu plaudern. Er hat allerdings gestern Fräulein Adrianoff gesehen, aber nur wenige Worte mit ihr wechseln können, da sie fortwährend von ihren Tänzern umringt und in Anspruch genommen war. Die Beiden haben daher verabredet, am nächsten Sonntage sich nach der Kirche an einem ihnen bekannten Platze neben der Kathedrale zu treffen, wie sie sich denn auch am Abende des Concerts zu sehen hoffen.
Hirschfeldt sah bei der Mittheilung sorgenvoll aus. Ich habe bereits seit einiger Zeit die Bemerkung gemacht, daß seine Stimmung ungleich und forcirt ist. Jener unverwüstliche Lebensmuth, jene heitere Elasticität, die ihn früher allen Widerwärtigkeiten und Enttäuschungen gegenüber nur kühner vorwärts trieb, scheint mitunter ganz von ihm gewichen zu sein, und in der dunkeln Tiefe seiner nachdenklich auf mich gerichteten Augen begegnet mir alsdann ein Ausdruck zweifelnder Unsicherheit, der sich nicht mit seinem dereinstigen Wesen vereinbaren läßt. Ich fand ihn auch gestern so, und da ich ihm doch schließlich das am Tage zuvor für mich angelangte Billet von Wéra nicht vorenthalten mochte und es ihm zum Lesen darreichte, hatte er kaum einen Blick darauf geworfen, als er es mir auch schon aus der Hand nahm, es, ohne meine Einwendungen viel zu beobachten, in seine Brieftasche verschwinden ließ und nach kurzem Gruße auf und davon war. Wunderliche Menschen! Von ihm hätte ich am wenigsten dergleichen erwartet. Seine Stimmung macht mich traurig, denn sicher verzweifelt er, aus dem Labyrinth dieser unglücklichen Liebe einen Ausweg zu finden, ist daher unglücklich und grämt sich – aber warum nur vertraut er mir nicht Alles an, wie doch sonst seine Gewohnheit war?
Ich konnte es in der ganzen verflossenen Woche nicht möglich machen, auch nur einmal zum Schreiben zu kommen. Wir leben nur noch in Repetitionen und Proben, die mich allmählich vollkommen nervös machen, und wenn ich daran denke, daß ich übermorgen öffentlich spielen soll, erfaßt mich eine Art von Schwindel. Ich sagte heute Nachmittag zu Hirschfeldt:
„Wollen Sie glauben, daß ich Furcht habe?“
Er drohte mir mit dem Finger und antwortete: „Unterstehen Sie sich nicht! Sie müssen meine Hauptstütze sein.“
Er hat wohl Recht, Furcht ist ein vollständig lähmendes Gefühl, aber auch dasjenige, über welches man am allerschwersten Herr wird.
Unsere Gebieterin scheint wirklich stolz darauf zu sein, daß sie eine der „Hauptstützen“ in der Person ihrer Gesellschafterin zu dem Concerte liefert. Sie fühlt sich überhaupt unendlich wichtig in ihrer Eigenschaft als Directrice und glaubt, daß sie sich vollständig aufopfert, während ihre Anstrengungen in Wahrheit sehr imaginärer Natur sind und sie im Grunde nur den Namen dazu herleiht.
Also – übermorgen! Möge der Himmel geben, daß nicht ein unvorherzusehender, unberechenbarer Zwischenfall eintritt! Mein Herz fühlt sich, abgesehen von der Furcht, die mir das Concert einflößt, oft von einem dunkeln Gefühle der Ahnung niedergedrückt, von dem ich mich durchaus nicht frei machen kann.
Ich befinde mich heute in der seltsamsten Stimmung und Lage und bin der Meinung, Zenaïde Petrowna ist das undankbarste Menschenkind, welchem man in dieser wunderlichen Welt begegnen kann. Doch – mögen die Ereignisse für meine Vermuthung sprechen! Während des gestrigen Vormittags überlief es mich immer heiß und kalt, wenn ich an den Abend dachte, und wir hatten noch die Unbequemlichkeit zu überwinden, daß unsere letzte Probe erst am Abende von halb fünf bis sechs Uhr stattfinden konnte, weil man uns den großen Saal nicht früher einräumte. Nach meiner Rückkehr aus der Probe blieb mir gerade soviel Zeit, meine Toilette machen zu können. Als ich in den Concertsaal trat – man hatte bereits angefangen – und mit dem Blicke die sechshundert geputzten Menschen überflog, die ihn bis in den fernsten Winkel füllten, wurde mir recht bange um’s Herz.
Meine Nummer war die dritte des Programms. Fünf Minuten vorher trat Hirschfeldt zu mir, bot mir den Arm und führte mich in ein Nebenzimmer.
„Vier Minuten,“ sagte er, seine Uhr herausziehend, „gebe ich Ihnen jetzt zu den letzten Vorbereitungen.“
„Und die sind?“ fragte ich gespannt.
Er ließ lächelnd den Blick über mich hingleiten, über mein hübsches weißes Musselinkleid, welches, überall mit himmelblauer Seide eingefaßt, reichlich mit Schleifen von demselben Stoffe und einer ebensolchen breiten Schärpe verziert war.
„Diese Vorbereitungen bestehen darin,“ lautete seine Erwiderung, „daß Sie noch einmal jede Schleife zurechtzupfen, daß Sie sich fest vornehmen, nicht ein einziges Mal das Publicum anzusehen, und daß Sie überhaupt sich vollständig sammeln.“
Ich möchte nicht eben behaupten, es sei der mir so nöthigen Sammlung sehr fördernd gewesen, daß ich in diesem Augenblicke gerade das schöne Antlitz mir nahe gegenüber erblickte, aus dem ein ermuthigender, freundlicher Ausdruck mich herzgewinnend anlächelte, aber ich legte mir im Stillen das Gelübde ab, daß ich meinem Lehrmeister keine Schande machen wolle, und wenige Secunden später betrat ich an seiner Hand die Estrade. Wie ich an das Instrument gekommen bin, davon weiß ich Nichts mehr, nur wie ein nebelhaftes Traumbild schwebt mir die unklare Erinnerung vor, daß ich oben war, allen Blicken ausgesetzt, daß eine bunte verworrene Masse vor meinen Augen auftauchte und wieder verschwand, aus der ein Geräusch vieler klatschenden Hände zu mir heraufschallte, und daß ich als Revanche ein Compliment machte. Recht zur Besinnung kam ich erst wieder, als ich, am Flügel sitzend, meine Handschuhe auszog; Hirschfeldt, der an dem andern Instrumente Platz genommen hatte, gab mir mit dem Kopfe ein Signal und – fort ging es. Nun muß ich gestehen, daß etwas Wunderbares sich zutrug; ich hatte nicht die leiseste Anwandlung von Furcht, nicht einmal von Befangenheit, und die glückliche Folge davon war, daß es vortrefflich ging bis an’s Ende, wo ein wahrer sich mehrmals wiederholender Beifallssturm losbrach, unter dessen Nachhall ich an des Capellmeisters Hand die Estrade wieder verließ.
Es war ein unbeschreiblicher Moment, und ich kann wohl behaupten, daß ich mich in demselben vollkommen glücklich fühlte. [700] Auch die übrigen Piecen gelangen nach Wunsch; wir rissen in den Ensemblestücken die Unsicheren mit fort, und unser Erfolg wurde von allen Seiten anerkannt.
Herr Bessedofski schwamm in einem Meere von Entzücken, und legte durchaus Beschlag auf den Platz an meiner Seite und sagte mir so viele närrische Dinge, daß ich mich nicht erinnere, seit langer Zeit so herzlich gelacht zu haben. Zenaïde Petrowna erntete neben der Gouverneurin wohlfeil erlangten Ruhm, und weil sie ihn voller Selbstgefälligkeit und anscheinend in bester Laune hinnahm, achtete ich auch nicht darauf, daß sie sich beim Nachhausefahren sehr einsilbig verhielt. Ich nahm ihr Schweigen für Abspannung, und erst als beim Gutenachtsagen Olga mir mit eigenthümlicher Betonung zurief: „Möge Ihnen der heutige Tag recht wohl bekommen, Fräulein Helene!“ berührten mich diese Worte fatal, wie ein unheilverkündender Eulenruf.
Ich schlief trotzdem in dieser Nacht vortrefflich, da es nach dem glücklich überstandenen Concerte wie eine wohlthuende Ruhe über mich gekommen war. Heute Morgen begab ich mich in heiterster Stimmung zum Frühstück, nichts anderes erwartend, als daß die Erlebnisse des gestrigen Abends in gemüthlicher Weise dabei die Unterhaltung bilden würden. Das war jedoch eine Täuschung. Unsere Gebieterin befand sich in der allerschlechtesten Laune und machte ein Gesicht, als ob sie sich darauf vorbereite, allen Leiden dieses mühevollen Erdendaseins in kürzester Frist zu erliegen. Sie hielt fortwährend ihre Zofe, welche mit geängstigter Miene an der Thür stand, in Bewegung, indem sie sich einmal ihr Taschentuch bringen ließ, dann wieder ihr Flacon oder ein Glas Wasser, an welchem sie in hinsterbender Schwachheit nippte.
Da ihr Zustand – wahr oder erheuchelt – sich durchaus nicht ignoriren ließ, wagte ich endlich die Frage, ob Zenaïde Petrowna leidend sei, und diese unglückliche Frage schien das Tröpfchen zu sein, durch welches das Faß zum Ueberströmen gebracht wurde. Sprechen konnte die Dame noch, obgleich dies eben zweifelhaft genug erschienen war, aber die Worte flossen nicht wie Honigseim von ihren Lippen, sondern wie Galle. Sie erklärte sich für angegriffen bis zum Sterben, aber es ließe sich auch gar nicht anders erwarten, fügte sie hinzu, da die Verderbtheit der menschlichen Natur geradezu entsetzlich sei, man müsse immer wieder einsehen, daß man in unwürdiger Weise hintergangen werde, und das sei vollständig entmuthigend, wenn es von Personen ausgehe, denen man Vertrauen geschenkt habe.
Ich war eben im Begriffe, vollkommen arglos zu fragen, wer denn so unglücklich gewesen sei, sich in solchem Grade gegen unsere Gebieterin zu versündigen, als von ungefähr mein Blick demjenigen Olga Nikolajewna’s begegnete, der mit einer Art triumphirenden Hohnes auf mich gerichtet war. Sie senkte ihn augenblicklich und rührte, während sie in ihrer geräuschlosen, jetzt freilich sehr wenig angebrachten Weise lachte, eifrig ihren Thee um, aber getäuscht hatte ich mich nicht und sofort begriff ich Alles. Zenaïde Petrowna’s Lamentationen waren ebenso viele auf mich gemünzte Anspielungen, und als Iwan Alexandrowitsch, auf den die Launen seiner Gemahlin zwar sonst keinen allzu tiefen Eindruck machen, der sich aber bei der herrschenden Verstimmung langweilte und darum verdrießlich war, sich entfernt hatte, begann sie in wahrhaft ungemessener Weise die Schalen ihres Zornes über Hirschfeldt auszugießen. Sie nannte ihn einen Unsinnigen, der es wage, seine Blicke zu hoch über ihm stehenden Damen zu erheben, der nichts als Unheil anrichte und für seine Unverschämtheiten eine exemplarische Züchtigung verdiene. Sie werde nächstens mit dem Gouverneur oder dem General Adrianoff sprechen, welchen, da Hirschfeldt als Regimentscapellmeister im Staatsdienste stehe, es eine leichte Sache sein würde, ihn nach einem fernen Gouvernement versetzen zu lassen oder ihn gar nach Sibirien zu schicken, wenn er es zu arg treibe.
Ich hätte des Himmels Einsturz eher erwartet, als daß gerade heute, unmittelbar nach dem gestrigen Erfolge, Madame ihren bisherigen Günstling so total fallen lassen würde. Mein Erstaunen war so groß wie mein innerlicher Schreck und meine Entrüstung. Aber da ich nicht zu Hirschfeldt’s Vertheidigerin berufen bin, da die Beschuldigungen sich immer in allgemeinen Anspielungen hielten und ich wußte, Widerspruch würde die Sache nur verschlimmern, schwieg ich beharrlich auch dann, als unsere Gebieterin anfing, anzügliche Bemerkungen über Zwischenträgerinnen einzuflechten. Ich hielt es für das Klügste, hartnäckig nicht zu verstehen, an wen hier gedacht sein könne, und wie an jedem anderen Morgen meine gewohnten Beschäftigungen vorzunehmen.
Der ganze Tag entsprach in seinem Verlaufe leider dem Morgen und war fast unerträglich. Wollte ich vorspielen, so sagte Madame, daß die Migräne, welche sie quäle, sie verhindere, zuzuhören. Nahm ich meine Stickerei, so machte das Aufziehen der Fäden sie nervös, und fragte ich, ob ich ihr vorlesen dürfe, so erklärte sie die Lectüre für zu aufregend. Zwischendurch flocht sie stets wieder ihre malitiösen Bemerkungen ein, aber ich that ihr nicht den Gefallen, auch nur ein Wort darauf zu erwidern, sondern behandelte die Sache hartnäckig, als ob sie mich in keiner Weise berühre. Wohl zu Muthe war mir freilich nicht bei diesem Zustande, denn ich mußte mir am Ende sagen, daß dies mehr bedeute als eine der gewöhnlichen Launen Zenaïde Petrowna’s, und daß ich nicht allzu lange im Stande sein werde, die verborgenen Angriffe zu ertragen und meinen Freund schmähen zu hören. Ich war also von Herzen froh, mich in gewohnter Weise nach dem Diner eine Weile in mein Zimmer zurückziehen zu können. Ich wanderte ruhelos darin auf und ab, indem ich mir ohne Aufhören den Kopf zermarterte, um den Grund dieser plötzlichen Ungnade unserer Herrin zu entdecken, da ich mir doch einbildete, wir, Hirschfeldt und ich, hätten gestern ein wenig ihren Dank verdient. Aus den fruchtlosen Grübeleien wurde ich durch das Erscheinen meines Mädchens aufgestört, welches plötzlich eintrat und sich in einer Weise mit meiner Garderobe zu schaffen machte, in der ich alsbald einen Vorwand erkannte für ihr mir in der That jetzt lästiges Erscheinen.
Masche mochte bemerken, daß ich ihr Thun mit ungeduldigen Blicken verfolgte – „Fräulein Helene –“, begann sie zu mir hintretend und zupfte verlegen an ihrer kleinen weißen Schürze.
„Was giebt’s, Masche?“ fragte ich ungeduldig. „Doch ich erinnere mich, es ist heute der Tag des heiligen Timofei – möchtest Du vielleicht den Namenstag Deines Vaters mitfeiern und die Piroge zu Hause essen, dann theile mir nur möglichst rasch Dein Begehren mit!“
Die Gefragte schüttelte den Kopf, sah mich aus ihren schräg geschnittenen Augen offenbar ängstlich an und erwiderte stockend: „O nein, Fräulein Helene, es handelt sich um etwas ganz Anderes.“
Ich hatte also recht gerathen – es handelte sich wirklich um Etwas. „Masche,“ nahm ich wieder das Wort, „hast Du mir eine Bitte vorzutragen, in welcher Art es auch sei, oder hast Du irgend eins meiner Sachen verdorben, so sage es offen heraus, nur quäle mich nicht lange mit unnützen Vorreden! Ich habe keine Zeit, sie anzuhören.“
Wer beschreibt jedoch mein Erstaunen, als nach diesen wohlgemeinten Worten das Mädchen plötzlich in Thränen ausbrach, sich vor mir niederwarf und begann mein Kleid zu küssen. „Fräulein Helene,“ schluchzte sie dabei, „versprechen Sie mir fest, daß Sie mich nicht verrathen wollen, so –“
Hier unterbrach sie sich wieder, um mein Kleid zu küssen, weinte und erging sich in Bitten und Betheuerungen. Ich hatte Mühe, sie so viel zu beruhigen, daß sie mich vernünftig anhörte, und mir wurde bei ihrem Benehmen ganz wunderlich zu Muthe. Masche ist eine kleine gute Person, die mir stets treu gedient und mir nicht die mindeste Ursache gegeben hat, ihr zu mißtrauen. Daß jetzt etwas ganz Ungewöhnliches sie in solche Aufregung versetzte, war unverkennbar, und ich gab ihr nach einigem Ueberlegen mein Wort, von Allem, was sie mir anvertrauen würde, nichts zu verrathen. Das wirkte endlich so viel, daß ich sie dazu brachte, wieder im Zusammenhange zu reden, und nicht ohne Mühe gelang es mir, sie zur Erzählung folgender Thatsachen zu veranlassen.
Spiritistischer Gespenster-Humbug in der neuen Welt.
Es ist interessant zu beobachten, wie der eingeborene Amerikaner, der so gern mit bedauerndem Achselzucken vom Aberglauben der alten Welt redet, selbst eifrig bemüht ist, mit seinem Gemüthe und seiner Phantasie aus der puritanischen Oede seiner religiösen Anschauungen in die Regionen des Uebersinnlichen zu flüchten, um dort einige Entschädigung für diese vernachlässigten Geistesanlagen zu finden. Die gebildete Minorität hält sich in Amerika, wie überall, vom groben Aberglauben fern, und es ist hier deshalb nur von der großen Masse des Volks die Rede, welches durch die eigenthümliche Kargheit seines religiösen und inneren Lebens überhaupt, sowie die praktische Einseitigkeit seiner äußeren Existenz von einem heiteren Gemüthsleben ausgeschlossen wird. Aus diesem Grunde fehlen rationelle Vergnügungen, ein für die gesunde Entwickelung des Volkslebens so wichtiges Element, in Amerika zur Zeit noch ganz, aber man kennt dafür die aus diesem Mangel entspringende Langeweile, welche die arbeitenden Classen befällt, wenn ihnen in Feierstunden nicht die nöthige, noch so einfache Erholung geboten wird. Der Sonntag wird dem Amerikaner durch seine religiösen Vorurtheile gänzlich verkümmert, denn das Heitere und Angenehme, meint er, sind Schlingen, in welche der Böse arglose Menschenkinder zu ihrem Verderben lockt. Abtödten läßt sich im Menschengeist nun aber das natürliche Verlangen nach dem Schönen, Heiteren und Guten nicht, und so treibt unwillkürlich die Langeweile zu Grübeleien, an denen die Vernunft wenig Antheil hat, bei denen aber Phantasie und Gemüth ihre verkümmerten Rechte geltend machen und meist den Grübler mit überzeugender Wärme in Gebiete fortreißen, in die zu folgen sich die gesunde Vernunft und das gebildete Urtheil entschieden weigern.
Aus dieser künstlichen Starrheit entwickelte sich vor ungefähr zwanzig Jahren die Geisterklopferei und brach sich zündend Bahn bis in die entferntesten Winkel der Union; alle Confessionen beeilten sich, ihre Beziehungen zur Geisterwelt herzustellen und auf’s Dauerndste durch kräftige Vermittler, „Medien“ genannt, zu befestigen. Man rückte und klopfte Tisch nach Herzenslust. Die Unwissenden, und leider auch Viele, von denen man Besseres erwarten konnte, schwelgten in dieser Aufregung, und die Charlatanerie beutete aus, was die Dummheit etwa auszunützen unterlassen hatte. Bekanntlich durchlief dieses Phänomen verschiedene Stadien. Zuerst blieb es beim Tischrücken und -Klopfen, dann fing man an, als Medium zu schreiben und zu wahrsagen; bald darauf waren die unsichtbaren Geister auf’s Lebhafteste gegenwärtig, hoben Tische, Pianos, selbst Menschen vom Erdboden in die Höhe und spielten sogar allerlei Instrumente. Darauf ließen sich ganz vernehmlich Stimmen der Geister hören; nun dauerte es nicht mehr lange, und man konnte die Gespenster schon photographiren. Den Höhepunkt erreichte jedoch in jüngster Zeit dieser Schwindel in der Verkörperung der Geister oder der „Materialisation“, wie der hiesige Kunstausdruck heißt, ein Proceß, der stattfindet, indem die Geister vom Medium die nöthige Lebenskraft entlehnen, um auf Augenblicke in ihrer einstigen körperlichen Gestalt zu erscheinen. In England und Amerika ist der Humbug in dieser Beziehung auf’s Vortheilhafteste thätig gewesen.
Im Staate Vermont hat seit einiger Zeit eine Familie Eddy durch ihre groben Kunststücke die Gläubigen in Erstaunen gesetzt, während in Philadelphia ein Ehepaar Holmes das Publicum mit seinen Geistervorstellungen in Aufregung hielt, bis der Berichterstatter einer dortigen Zeitung den Monate lang getriebenen Betrug entlarvte und die Gläubigen beschämte, indem das ganze Verfahren durch eine der Betheiligten eidlich vor Gericht bloßgestellt wurde und damit der rand- und bandlos gewordenen Phantasie einstweilen wieder Schranken gezogen wurden.
Ich lasse hier eine Person selbst reden, die sich längere Zeit einem glaubenskühnen Publicum als verkörperten Geist präsentirte. Folgende Aussage wurde beschworen und unterschrieben von dem Ehrbaren W. H. Hanna, Richter des Weisengerichts, und von glaubenswürdigen Zeugen bestätigt. Also lassen wir das Exgespenst reden:
„Ich bin im Staate Massachusetts geboren und werde dem Publicum gegenüber ‚Katie King‘ heißen, da mein wahrer Name Niemand von Interesse sein kann. Im März 1874 miethete ich in der Nord 13. Straße in Philadelphia ein Haus mit der Absicht, eine Pension zu eröffnen, wurde aber beim Ankaufe der Möbel, die ich mit dem Hause übernahm, so betrogen, daß ich sie einbüßte und nach einigen Wochen mein kaum eröffnetes Haus schließen mußte, da ich fast all mein baares Geld bei diesem Handel verloren hatte. Während dieser Zeit wurde ich mit Herrn und Frau Nelson Holmes bekannt, die, eben aus England zurückgekehrt, bei mir logirten. In meiner schlimmen Lage schlugen sie mir vor, ich solle ein anderes Haus miethen und es mit dem Wenigen, was ich noch habe, möbliren. Sie wollten dann auch ferner bei mir in Pension bleiben und mir mit der Miethe aushelfen. Ich ging auf diesen Vorschlag ein. Wir mietheten ein Haus; die Zimmer im zweiten Stocke behielten sich Herr und Frau Holmes vor, und hier fingen sie an, ihre berühmt gewordenen ‚Geistersitzungen‘ zu halten, obgleich Katie King, die ihnen diese Berühmtheit verschaffte, aus guten Gründen erst später auftrat. Sobald wir das neue Haus bezogen, wurde sogleich ein Cabinet eingerichtet, in welchem sich die Geister ‚verkörpern‘ sollten. Dieses Cabinet war im vordern Zimmer, wo die ‚Sitzungen‘ gehalten wurden, und bedeckte im Dreieck die in der Ecke befindliche Eingangsthür zum hintern Zimmer, das Herrn und Frau Holmes als Schlafzimmer diente. Besagtes Cabinet war inwendig mit schwarzem Zeuge ausgeschlagen und mit einer Thür zum Gebrauche des Mediums, die in’s Vorderzimmer führte, versehen; auch waren zu beiden Seiten derselben zwei kleine Fenster, etwa sechs Fuß über dem Fußboden, angebracht, die gleichfalls mit schwarzen Vorhängen verwahrt wurden, denn zu viel Licht ist diesen Vorstellungen gefährlich.
Die Kundgebungen des Mediums, Frau Holmes, fingen gewöhnlich mit den bekannten ‚dunkeln Sitzungen‘ an. Doch ehe das Zimmer verdunkelt wird, läßt sich das Medium von den Anwesenden das Versprechen geben, sich den nöthigen Bedingungen zu fügen, die darin bestehen, daß man sich gegenseitig ‚bei den Händen halten, möglichst still sitzen und die Füße nicht zu weit vorstrecken soll‘. Es muß ganz still sein; zu reden ist nicht erlaubt, nicht einmal zu flüstern. Frau Holmes, die bei diesen Vorstellungen die Hauptrolle spielte, forderte gewöhnlich Jemanden unter den Anwesenden auf, ihr die Hände nach Gutdünken mit einem Seile zu binden, und war ein Ungläubiger zugegen, so nahm er gewöhnlich die Aufforderung an. War Alles bereit, so setzte sie sich an einen Tisch, der an der einen Seite des Zimmers fest gegen die Wand stand; auf diesem Tische befanden sich Guitarren, gewöhnliche Tischklingeln, Castagnetten etc. Das Zimmer wurde dann vollständig verdunkelt; die Vorstellung begann mit Gesang, in den man die Anwesenden einzustimmen bat. Manchmal wurde auch eine Strohfiedel oder ein sonstiges Instrument zur Eröffnung der Sitzung in Anwendung gebracht.
Bald nach Beginn der Musik läßt sich unter den Instrumenten auf dem Tische eine große Störung wahrnehmen, und der erste Geist, der sich hören läßt, ist ‚Dick‘, ein vor dreizehn Jahren im Marinehospital verstorbener Matrose. Dick spielt auf der Guitarre, schellt mit den Klingeln, hängt die Castagnetten einem der Anwesenden um den Hals und begeht viele andere Abgeschmacktheiten. Dann kommt ‚Rosa‘, die sagt, sie gehöre dem Stamme der Choktaw-Indianer an, sei vor dreizehn Jahren im fünften Lebensjahre vom Blitze erschlagen worden und bei ihrem Tode nur achtzehn Zoll hoch gewesen. Man giebt an, daß Rosa das Medium magnetisire und sich dann ihrer Sprachorgane bediene, um das Publicum anzureden. Ihre ganze Unterhaltung ist im höchsten Grade lächerlich, ebenso wie die der folgenden Geister fast blödsinnig zu nennen ist und einem intelligenten Menschen geradezu Ekel einflößen muß. Eine sechszehnjährige Erfahrung im Bauchreden Seitens des Herrn Holmes erklärt alle diese Erscheinungen.
Nachdem diese Posse zu Ende ist, beginnt die ‚helle Sitzung‘. Herr Holmes verfügt sich nun von innen durch eine vom Schlafzimmer aus angebrachte Geheimthür in’s Cabinet und verriegelt die Thür nach dem Publicum. Nur ein sehr [703] schwaches Licht im entferntesten Theile des Zimmers beleuchtet die Scene, so daß die Züge der Anwesenden nicht zu erkennen sind; das Publicum singt wie vorher, und die Geistermusik ist hörbar. Nach einer kurzen Pause von fünf bis zehn Minuten wird einer der Vorhänge an den Guckfenstern bei Seite geschoben und das vorgebliche Anlitz eines Geistes erscheint und bringt gewöhnlich große Bewegung unter den Anwesenden hervor. Frau Holmes, die sich vor dem Cabinete befindet, bittet ganz unschuldig und mit großer Eindringlichkeit, man möge, wenn möglich, den Geist identificiren, denn ‚es freue die Geister, erkannt zu werden‘. Diese Gesichter sind einfach Masken, die dutzendweise, für zehn Cents das Stück, angeschafft wurden. Man überzieht sie mit weicher Gaze und überhängt sie so, daß die Hand des Mediums verborgen bleibt und dieselben nach Belieben bewegt werden können. Dem Publicum wird gesagt, daß die ‚verkörperten Geister‘ diese Schleier tragen, um das Gehirn zu schützen, und diese Erklärung genügt auch vollkommen. Die Gesichter sind nur auf Augenblicke sichtbar, ‚weil die Verkörperung nicht länger andauern kann‘, und es ist eine merkwürdige Thatsache, daß kaum ein Gesicht erscheint, das nicht vollständig von Jemandem unter den dreißig bis vierzig Anwesenden erkannt wird.
Eines Tages, als wir uns über das Gelingen dieser Geistererscheinung unterhielten, warf Frau Holmes ein weißes Tuch über meinen Kopf mit der Bemerkung, ich würde eine gute Katie King abgeben. Katie King war die Tochter eines indischen Missionärs, die vor vielen Jahren in England starb, wo sie zur Zeit erzogen wurde, und deren Erscheinen bei einer Geistersitzung in London unter dem Präsidium der berühmten Florence Cook großes Aufsehen erregt hatte. ‚Gehen Sie einmal in das Cabinet und reden Sie das Publicum an!‘ nöthigte mich Frau Holmes, ‚und sehen Sie zu, wie es glückt!‘
Zuerst weigerte ich mich standhaft. Doch ich war allein in einer fremden Stadt, ohne Heimath außer der, welche ich mit dem Holmes’schen Ehepaare theilte. Geld hatte ich nicht, und meine Gesundheit war schwach. Was sollte ich thun? Man bot mir zwei Dollars für jede Vorstellung; ich gab endlich nach und entschloß mich aus Noth, die Rolle auf kurze Zeit zu übernehmen. Mein erstes Auftreten wurde für den 12. Mai festgesetzt. Ich mußte mir ein Gewand von feinem weißem Mousselin anschaffen, das bis zur Erde wallte. Es hatte lange weite Aermel und wurde von einem weißen Gürtel um die Taille gehalten. Dieses Costüm nebst einem langen weißen Schleier gab mir ein sehr ätherisches Ansehen. Mit ‚Magnoliabalsam‘ – einer hier sehr beliebten Schminke – verlieh ich Gesicht, Armen und Händen eine Leichenblässe und konnte wohl als Geist erscheinen. Wie ich aus dem Cabinete heraus- und hineinging, wird später erzählt. Diesmal gelangte ich durch die Holmes’sche Kammer dahin.
Herr Holmes befand sich im Cabinet, und nachdem er einige Masken gezeigt, um die Stimmung zu steigern, zog ich leise einen der Vorhänge weg, und indem ich mein Gesicht sehen ließ, flüsterte ich kaum hörbar: ‚Guten Abend, Freunde!‘ – Dann zog ich mich zurück und ließ den Vorhang fallen. Diese sprechende Erscheinung erregte große Sensation unter den Zuschauern; obgleich ich etwas aufgeregt war von meinem Debüt, hörte ich doch deutlich die verschiedenen Aeußerungen, die man darüber machte, z. B.: ‚Haben Sie es sprechen hören?‘ – ‚Ich möchte wissen, wer es ist.‘ – ‚Ich wollte, es käme wieder‘ etc. Frau Holmes, welche sich vor dem Cabinet im Publicum befand, war höchst zufrieden mit meinem Empfang und bemerkte, es müsse etwas Besonderes in Aussicht stehen, da die Geister den ganzen Abend von ihrer Kraft so stark gezogen hätten, um sich zu verkörpern, daß sie ganz erschöpft sei. Nachdem sich die Aufregung ein wenig gelegt hatte und mehrere Bitten laut wurden, ich möge doch wieder erscheinen, zog ich den Vorhang nochmals bei Seite und zeigte mich am Schalter, worauf gleich drei oder vier auf einmal riefen: ‚Wer bist Du? – Bitte, sage uns Deinen Namen!‘ Ich antwortete flüsternd: ‚Ich bin Katie King, ihr Einfältigen.‘ Diese und ähnliche unhöfliche Redensarten seien von Florence Cook in England bei derselben Erscheinung gebraucht worden, sagten mir Herr und Frau Holmes, deshalb sei es sehr wichtig, sie hier wieder anzuwenden, damit man glauben solle, ich sei der Londoner Geist. Die Aufregung des Publicums steigerte sich immer mehr, und schließlich fragte man auch: ‚Ist dies dieselbe Katie King, die in London bei Florence Cook erschien?‘ Nach einigen Augenblicken kam ich wieder an’s Fenster. Ich beantwortete die Frage: ‚Freilich ist es dieselbe, ihr Einfältigen,‘ und nun stieg die Aufregung auf’s Höchste. Ich verschwand alsbald, und das Medium erklärte, die Geister könnten nur einige Augenblicke verkörpert bleiben, wonach sie sich in’s Cabinet zurückziehen müßten, um neue Kräfte zu sammeln. Als ich wieder kam, fragte mich ein Herr, wann ich zuletzt in London gewesen sei?
‚Heute war ich bei einer Sitzung dort zugegen, Einfalt,‘ erwiderte ich und ließ den Vorhang fallen. Herr Holmes bedeutete mir, daß ich für diesen Abend genug gesprochen habe, und ich trat sogleich meinen Rückzug durch’s Hinterzimmer an, um meine Kammer im dritten Stock zu erreichen. Das Publicum ging bald darauf mit gegenseitigen Beglückwünschungen auseinander, daß die Verkörperung der Geister jetzt eine über alle Zweifel erhabene Thatsache sei.
Katie’s erstes Erscheinen war also vollkommen gelungen, das Medium hoch erfreut und das Publicum befriedigt. Die Nachricht, daß ein Geist erschienen sei, verbreitete sich mit Blitzesschnelle unter den Gläubigen, und so groß wurde der Andrang, daß die Zimmer die Schaulustigen nicht fassen konnten und viele abgewiesen werden mußten. Alles war nun im herrlichsten Gange. Katie durfte sich jetzt mit den Anwesenden unterhalten und erlauben, daß man sich einzeln näherte, um sie durch die Fensteröffnung zu betrachten, doch hielt sie sich in sicherer Entfernung, und nur einigen tief Eingeweihten wurden Privilegien zugestanden. Einem bekannten hiesigen Arzte wurde erlaubt, ihren Puls zu fühlen; von einer Dame nahm sie einen goldenen Ring zum Geschenk an, und Herrn O., einer in literarischen Kreisen bekannten Persönlichkeit, wurde gestattet, ihr denselben an den Finger zu stecken.
Jetzt, da Herrn O.’s Vertrauen gewonnen war, hielt man es an der Zeit, die Cabinetsthür zu öffnen, um den Geist in seiner ganzen Gestalt sehen zu lassen. Ich fing also damit an, die Thür auf Augenblicke zu öffnen, damit Alle mich sehen konnten, verließ aber das Cabinet noch nicht, sondern begnügte mich, mit den Händen so zierlich wie möglich zu grüßen. Da, wie schon gesagt, das Zimmer ziemlich dunkel, dagegen mein Schleier und Gewand, sowie Gesicht und Arme ganz weiß waren, kam schon eine geisterhafte Erscheinung zu Stande.
Frau Holmes erklärte, vor einiger Zeit Kundgebungen von dem Geiste einer Indianerin, Namens Saunten, erhalten zu haben. Ich mußte mir deshalb aus der Theatergarderobe einer Freundin den nöthigen Anzug verschaffen, färbte mein Gesicht und erschien zu rechter Zeit am Cabinetsfenster. Auf die Frage: ‚Wer bist Du?‘ antwortete ich getrost: ‚Saunten.‘ Frau Holmes zeigte sich sehr ergriffen und erstaunt und ließ ein erschrockenes ‚Ach Gott!‘ hören. Ich hatte nach Indianerart eine Decke über meinen Anzug geworfen, die auch den Kopf bedeckte und unter dem Kinne gehalten wurde. Diesen Abend verließ ich das Cabinet mehrere Male und ging vor dem Publicum auf und ab, indem ich den Dialect der Indianer und deren Art nachahmte, so gut ich konnte. Darauf zog ich mich zurück, warf meinen Indianeranzug ab, erschien als Matrose und paßte auch dieser Verkleidung meine Aeußerungen und Bewegungen möglichst an. Auf die gewöhnliche Frage: ‚Wer bist Du?‘ antwortete ich mit heiserer Stimme: ‚Kennt Ihr mich nicht? Ich bin Dick.‘
Jeden Abend waren unsere Zimmer gedrängt voll und unser Publicum auf’s Höchste gespannt, doch hielt man es für gerathen, die Sache nicht auf’s Aeußerste zu treiben, sondern die herrschende Stimmung erst so viel wie möglich auszunutzen. Zu meinem Verdrusse schlug ein Herr vor, daß Alle, die es wünschten, sich dem Fenster nähern sollten, um sich von mir berühren zu lassen. Ich getraute mich nicht, dieses Verlangen abzuschlagen, doch zitterte ich für meine geistige Existenz, denn ich fürchtete, Jemand könne mich anpacken, und dann wäre es um mich geschehen. Einer der Herren bat, ich solle ihn küssen; ich antwortete sehr bestimmt: ‚Nein!‘, that sehr zerknirscht, ließ den Vorhang fallen und verschwand, froh, eine Entschuldigung zu haben, den Rest des Abends für mich zubringen zu können.“
Soweit die Enthüllungen der Dame selbst. Die weitere Entdeckung des Schwindels geschah durch einige nicht ganz Gläubige unter Leitung des besagten Berichterstatters, die den verschwindenden [704] Geist eines Tages verfolgten, die verschiebbare Thür im Cabinete entdeckten und schließlich den Spuren des Geistes selbst bis in sein Schlafzimmer im dritten Stock nachgingen, wo er ihnen dann auch bald recht höflich Rede stand und sich zu obigem Protocoll verstand.
Die junge Person, die mit so viel Grazie und Geschick diese Rolle spielte, soll hübsch und anmuthig und dabei von sehr zarter Gesundheit sein; sie ist Wittwe und hat ein Kind und eine alte Mutter zu ernähren. Sie verstand sich nur aus Noth, wie sie ferner aussagte, zu diesem äußersten Schritte, der ihr großen Kummer und viele Thränen verursachte, da sie sich des groben Betrugs völlig bewußt war.
Merkwürdig ist aber, daß das Holmes’sche Ehepaar unter seinen Anhängern bekannte und bedeutende Namen zählt, die sich öffentlich zu diesem Geisterglauben bekennen, zwar in diesem Falle den Betrug zugeben, aber dennoch von der „Verkörperung der Geister“ fest überzeugt sind.
Hier in Boston allein hat das Geisterwesen zwei Organe, „Banner des Lichts“ und „Geister-Forscher“, die ganz den Besprechungen und Kundgebungen über diesen Gegenstand gewidmet sind und sich rühmen, daß die Rochester Geisterklopferei und die Verkörperung der Geister von Amerika aus über die ganze Welt verbreitet worden sind.
Franzosen und Französinnen.
Indem ich meine in Nr. 12 dieses Blattes unter obigem Titel begonnenen Studien hiermit nach längerer Unterbrechung wieder aufnehme, möchte ich zuerst auf einen bezeichnenden Zug im französischen Charakter hinweisen:
Bei aller Heißblütigkeit, bei allen leidenschaftlichen Aufwallungen besitzt der Franzose doch einen sehr klaren, praktischen Verstand. Das Unklare, das Undeutliche, das Verworrene ist ihm zuwider. Ist aber Klarheit eine hervorragende Eigenschaft des französischen Geistes, so bildet Heiterkeit den Grundzug des französischen Temperaments. Der Franzose faßt das Leben mit munterem Sinne auf, mit jenem „esprit gaulois“, den er als ein vorzügliches Erbe seiner gallischen Urahnen betrachtet, und ist bei Weitem geneigter, über die Schwächen und Gebrechen der armen Menschheit zu scherzen und zu lachen, als darüber Thränen des Jammers zu vergießen. Er schnallt sich nicht gern den Kothurn an und liebt die hochgeschürzte Thalia bei Weitem mehr, als die streng drapirte Melpomene. Die französische Tragödie ist mit wenigen Ausnahmen conventionell, kalt, declamatorisch; die komische Bühnenliteratur der Franzosen, von der Posse bis zur vollendeten Charakterkomödie, ist voll Leben und Naturwahrheit. Ja, die Franzosen sind unter allen modernen Völkern das einzige, das eine wahrhaft komische Bühne besitzt und dieselbe unausgesetzt mit neuen Hervorbringungen versieht.
Selbst im hohen Greisenalter verliert der Franzose nicht den heitern Sinn. Er sieht nicht, wenn die Jahre seinen Scheitel gebleicht und tiefe Furchen in seine Stirn gegraben, schmollend und grollend auf die freudige Jugend. Er nimmt vielmehr gern Theil an ihren Belustigungen und äußert sein Mißfallen, wenn er junge Leute mit kalten Gesichtszügen sieht. Nichts ist ihm überhaupt verhaßter, als die „morgue“, als das sauertöpfische Wesen. Er glaubt, daß, wer nicht mit Anderen lacht, auch nicht mit Anderen fühlt, daß man das Herz eines Menschen nicht erschüttern kann, der sich das Zwerchfell nicht erschüttern läßt. Nirgendwo findet man frischere, lebensfrohere, jugendlichere Greise als in Frankreich, und nirgendwo erhalten sich hohe Greise in solch rastloser Thätigkeit. Ingres hat noch als hoher Achtziger an seiner Staffelei geschaffen; Auber hatte beinahe das Alter von neunzig Jahren erreicht, ohne seiner Muse zu entsagen oder in seiner Unterhaltung an Anmuth, Witz und Lebhaftigkeit etwas zu verlieren; dem achtundachtzigjährigen Guizot hat nur der Tod die emsige Feder aus der Hand reißen können, und Thiers, ein tiefer Siebenziger und der französischste aller Franzosen, setzt durch seine unermüdliche Rührigkeit und den Zauber seines Gespräches die reiche Schaar seiner Freunde und Widersacher in Erstaunen. Ich weiß nicht, ob sich die Jugendfrische durch Thätigkeit erhält, oder ob diese durch jene aufgemuntert wird. Wahrscheinlich wirken beide wechselseitig auf einander. So viel ist indessen gewiß, daß, wenn der Franzose selbst im Greisenalter sich eine jugendliche Heiterkeit bewahrt, er dies zum großen Theile dem Umgange mit den Frauen verdankt, welchem er in keiner Altersstufe entsagt, ja, ohne welchen er gar nicht leben kann. Und hier erlaube mir der Leser, etwas auszuholen und eine Lanze für die Französinnen zu brechen!
Die armen Französinnen! Wie verkehrt, wie ungerecht werden sie im Auslande beurtheilt! Die sogenannte kleine Pariser Presse, die meisten Stücke des jüngeren Alexander Dumas und dessen Nachahmer, die Romane Feydeau’s und vieler Anderer haben nicht wenig zu dieser ungerechten Beurtheilung außerhalb Frankreichs beigetragen, und die Fremden, die eine Vergnügungsreise nach Paris machen, suchen dort meistens nur solche Bekanntschaften, durch welche sie keineswegs in den Stand gesetzt werden, ihr Urtheil zu berichtigen. Auf dem Asphalt der Boulevards und den öffentlichen Belustigungsplätzen kann man doch eben die weibliche Jugend nicht kennen lernen. Auch sind es nicht immer Französinnen, die aus der Galanterie ein Geschäft machen. Das Contingent zur Pariser Halbwelt liefert die ganze Welt, und was die kleineren Weltfractionen betrifft, so sind dieselben in Paris nicht zahlreicher als in andern großen Städten. Dem sei aber, wie ihm wolle, wer nur einigermaßen die Geschichte Frankreichs kennt, weiß, welche bedeutende Rolle das Weib in dieser Geschichte spielt.
Fast auf jedem Blatte der politischen und Culturgeschichte Frankreichs begegnet man einem ausgezeichneten Weibe. Heloïse, Laura, Jeanne d’Arc, Jeanne Hachette, Madame Roland, Lucile Desmoulins sind unvergängliche Namen. Madame Dacier ist in der Gelehrtenwelt, Madame Vigée-Lebrun in der Kunstwelt bekannt genug, und die Schriften der Madame de Sévigné und der Madame de Staël gehören zu den französischen Classikern. Doch sprechen wir von der Gegenwart! Die greise George Sand ist noch immer in schriftstellerischer Thätigkeit, und die Werke Rosa Bonheur’s und Henriette Browne’s zieren die besten Kunstsammlungen. Freilich sind diese zwei Künstlerinnen die vorzüglichsten, sie sind aber durchaus nicht die einzigen in der französischen Malerschule der Gegenwart. Wer einen Blick in den Katalog der alljährlichen Pariser Kunstausstellung wirft, wird in demselben unzählige Frauen durch größere oder kleinere Werke vertreten finden, und was Muth, Aufopferungsfähigkeit, Gutherzigkeit und ergebungsvolle Ausdauer in unsäglichen Entbehrungen und Leiden betrifft, so hat das französische Weib im jüngsten Kriege und besonders während der Belagerung von Paris mit Recht allgemeine Bewunderung erregt.
Die Französin fühlt und empfindet nicht wie das deutsche Weib; sie steht aber keineswegs unter diesem. Vergleicht man die mittleren Schichten der französischen Bevölkerung mit der deutschen, so muß man gestehen, daß in dieser das Weib viel unterrichteter ist als in jener; hingegen hat man auch anzuerkennen, daß die Frauen des französischen mittleren Bürgerstandes thätiger sind als die des deutschen. Dies gilt besonders von Paris und den größeren Provinzialstädten. Die Französin theilt mit ihrem Gatten die Arbeit, ja nicht selten übernimmt sie die größere Hälfte, und die Arbeit beginnt oft am frühen Morgen, um erst gegen Mitternacht, oder sogar nach Mitternacht, zu enden, wie dies der Fall in den unzähligen Kaffeehäusern ist, die nicht vor ein Uhr Morgens geschlossen werden und in denen Frauen an der Casse sitzen und die Bücher führen. Sie hält es auch nicht unter ihrer Würde, die geringsten Hausmagddienste zu verrichten. Gar manche Frau, die während des Tages in hübscher Toilette den Kunden die Handschuhe anmißt, steht am frühen Morgen in Holzschuhen mit dem Besen in der Hand, [705] oder putzt mit einem großen Waschschwamme die Auslagescheiben. Dabei ist sie aufgeräumt, gesprächig, liebenswürdig und verliert selbst den unangenehmsten Kunden gegenüber niemals die Geduld. Sie hängt ebenso treu an ihrem Gatten wie irgend eine Deutsche oder Engländerin, und man irrt sehr, wenn man glaubt, daß in Frankreich das Familienleben so sehr zerrüttet sei. Freilich in Paris ist dasselbe in gewissen Classen locker genug; allein nach diesen Pariser Classen darf man das französische Familienleben im Allgemeinen durchaus nicht beurtheilen.
Wie sich die Franzosen von den Deutschen und Engländern unterscheiden, so unterscheidet sich natürlich die französische Familie von der englischen und deutschen, ohne deshalb weniger achtungswürdig als diese zu sein. Ich habe während meines mehrjährigen Aufenthaltes in England viel, ich kann sogar sagen fast ausschließlich mit englischen Familien verkehrt. Ich habe in englischen Häusern die zuvorkommendste Gastfreundschaft gefunden und werde die Erinnerung an dieselbe auf’s Dankbarste bewahren. Gewiß, das englische Familienleben hat sehr viel Vorzüge, allein es ist kalt und monoton. In einer englischen Familie wird ebenso viel gegähnt wie gesprochen und sehr oft weniger gesprochen als gegähnt. Schweigsam von Natur, verbannt der Engländer die ergiebigsten Stoffe aus der Unterhaltung. Ein Ausländer, der in einer englischen Familie über Religion oder über Eheverhältnisse spricht, begeht schon ein großes Wagstück, und spricht er darüber nicht mit der äußersten Vorsicht und mit der allerrücksichtsvollsten Schonung englischer Zustände, so wird man ihm nicht lange die Gastfreundschaft angedeihen lassen. Der Franzose ist eitel und hört sich gern loben; der Engländer ist stolz und hört sich nicht gern tadeln. Es ist aber unangenehmer, einen gerechten Tadel unterdrücken zu müssen, als etwas Weihrauch zu spenden. Die Eitelkeit, die einen Werth auf unsere Anerkennung legt, behagt uns mehr als der Stolz, der unser Urtheil kalt abweist.
Die englische Prüderie, eine häßliche Stiefschwester der Schamhaftigkeit, zwingt die gesellige Unterhaltung in einen sehr eng umschriebenen Kreis und giebt derselben etwas Steifes, Gezwungenes, an welches der Engländer gewöhnt ist, der Ausländer sich aber nur schwer gewöhnt. Mit einem Worte: dem englischen Familienleben fehlt die Anmuth; in der französischen Familie fehlt sie selten.
Es war mir einst vergönnt, einige Zeit auf dem Lande im Hause einer legitimistischen Familie zuzubringen. Drei Generationen waren in dieser Familie vertreten. Die Großmutter, die Herrin des Hauses, theilte dasselbe mit ihrer Tochter und deren Gatten und mit den bereits herangewachsenen Enkelkindern, unter welchen sich ein sehr hübsches Mädchen befand. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß die Familie sehr fromm war. Die Matrone ging jeden Morgen zur Kirche, und an der Tafel saß fast täglich ein Geistlicher; sehr häufig wurden deren zwei eingeladen. Dessen ungeachtet war das Gespräch heiter; die Geistlichen trugen sogar nicht wenig zur Belebung desselben bei. Der katholische Geistliche ist auch in Deutschland in vielen Gegenden ein viel angenehmerer Gesellschafter als der protestantische, und in Frankreich ist er es noch mehr als in Deutschland. Er ist kein Griesgram und nimmt, soweit es seine Stellung nur immer zuläßt, an den geselligen Zerstreuungen den lebhaftesten Antheil. Statt die Augen zu verdrehen, drückt er sie oft zu, und verlangt er, daß man seinen Stand schone, so fühlt er sich auch verpflichtet, durch keinen Mißton die Geselligkeit zu stören. Die Unterhaltung stockte auch niemals. Während Abends die Damen sich mit Stickerei beschäftigen, in der, beiläufig gesagt, die Lilien vorherrschten, trug Jeder seinen Theil zum Gespräche bei, welches, ob ernst, ob scherzhaft, stets natürlich und ungezwungen war. Die Tafel war vortrefflich, wenn auch just von keinem besondern Luxus. Sie brachte mich indessen einige Male in Verlegenheit. Freitags nämlich enthielt sich die Familie der Fleischspeise, während für mich allein eine solche aufgetragen ward. Ich wagte keine Bemerkung. Als ich jedoch, im Hause vertrauter geworden, mich einst mit der ehrwürdigen Matrone allein befand und mir eine Anspielung auf die Ausnahmsschüssel erlaubte, sagte die Dame:
„Mein Herr, Sie waren so freundlich, unsere Gastfreundschaft anzunehmen, und ich bin überzeugt, daß Sie bei uns gar manche Bequemlichkeit entbehren, an die Sie in Ihrer Behausung gewöhnt sind. Das läßt sich nun nicht ändern. Wir wollen aber durchaus nicht Ihre Lebensweise stören, wo wir im Stande sind, dieselbe unverändert zu erhalten. Wir wissen, daß Sie weder unsere religiöse noch politische Ueberzeugung theilen, daß Sie aber diese Ueberzeugungen achten, und so gering auch unsere Gastfreundschaft sein mag, lassen Sie sich dieselbe gefallen, wie wir sie Ihnen bieten!“
Besagte Schüssel wurde nach wie vor servirt und genoß nicht mehr die Ehre, irgend eine Bemerkung zu veranlassen.
Fühlte ich mich nun in diesem Hause von der liebevollen Hochachtung der Kinder gegen die Eltern, von der Liebenswürdigkeit der Eltern gegen die Kinder sehr angemuthet, so gewährte mir die Beziehung zwischen Herrschaft und Dienerschaft die lebhafteste Befriedigung. Hier war einerseits nichts von mürrischem, hochmüthigem Gebieten und andererseits nichts von kriechendem Gehorsame wahrzunehmen. Die Herrschaft behandelte das Hausgesinde mit freundlichem Wohlwollen, ohne sich dabei den Schein besonderer Herablassung zu geben, und das Gesinde hing mit Liebe und Verehrung an der Herrschaft, um so mehr, als diese auf die Zukunft jedes Einzelnen im Dienstpersonale fortwährend bedacht war. Sobald ein Mitglied desselben eine kleine Summe erspart hatte, wurde sie von der Herrschaft in sicheren Werthpapieren angelegt. Einer der Kammerfrauen wurde sogar von ihren Ersparnissen ein Häuschen angekauft, das ihr eine kleine Jahresrente abwarf und in welchem sie in späteren Jahren unabhängig leben konnte. Unter den weiblichen Dienstpersonen befanden sich mehrere Schwestern, und die Frau des Kutschers gehörte ebenfalls zum Hausgesinde, das auf diese Weise sein eigenes Familienleben zu führen und in gemeinsamer Arbeit etwas Erkleckliches für das Alter zurückzulegen vermochte. Wie nun die Herrschaft einfach, schlicht, freundlich und zuvorkommend gegen Jedermannn war, so zeigte sich die Dienerschaft gleich freundlich und zuvorkommend gegen Hoch und Niedrig, gegen Arm und Reich und stach gar sehr vortheilhaft ab von dem hochnasigen Bedientenvolk in den Häusern der vom blinden Glücke improvisirten Millionäre, in jenen Häusern, wo der Herr oft nicht mehr Bildung besitzt als seine Bedienten und sogar noch weniger als diese.
In den reichen Bourgeoishäusern herrscht ein anderer Ton. Man lebt hier nicht in der Vergangenheit, in romantischen Traditionen. In diesen Häusern ist der Voltairianismus vorherrschend. Man hält zwar an seinem Glauben; allein man glaubt nicht mehr, als man schicklicher Weise glauben muß, oder, wenn ich mich so ausdrücken darf, als in der Haushaltung nöthig ist. Der Gatte, der Familienvater begleitet seine Frau, seine Tochter gewöhnlich bis an die Kirche und kehrt an der Schwelle derselben wieder um. Er besucht das Innerste der Kirche nur bei Geburts-, Hochzeits- und Todesfällen unter Verwandten und Freunden, oder wenn er in der Municipalität eine Würde bekleidet und den unteren Volksclassen mit gutem Beispiele vorangehen will. Indessen ist das Familienleben in dieser Bürgerclasse sehr achtbar. Der freie Ton zwischen Eltern und Kindern beeinträchtigt die Hochachtung dieser vor jenen nicht im allergeringsten. Für die heranwachsenden Söhne wird gewöhnlich durch Anstellungen gesorgt, wenn der Vater sich bereits von den Geschäften zurückgezogen oder als geborener Rentier niemals eine andere Beschäftigung gekannt, als die Coupons von den Staatspapieren abzuschneiden. Was die Töchter betrifft, so sucht man für sie ebenbürtige Partien, wenn keine Aussicht vorhanden, mit einem höheren Stande in Familienverbindung zu treten. Bevor aber die Töchter unter die Haube kommen, sind sie nur an der Seite ihrer Eltern, besonders an derjenigen ihrer Mütter sichtbar. Ein französisches Mädchen läßt sich niemals ohne Begleitung der Eltern, Brüder oder sonstigen Verwandten auf der Straße sehen. Nur die Ouvrières oder die Ladenmädchen zeigen sich ohne Begleitung auf der Straße und durchmessen diese mit hastigen Schritten, um anzudeuten, daß sie keine Begleitung wünschen.
Sehr achtbar, wenn auch sehr prosaisch, ist das Familienleben des französischen Kleinbürgers, des Krämers, des Boutikers. Hier wird unablässig gearbeitet und fortwährend gespart. Wenn aber auch alle Mitglieder der Familie an der Arbeit theilnehmen und die Ersparnisse vermehren helfen, so ist es doch besonders die Hausfrau, die an Thätigkeit und kluger Verwaltung es allen
[706] Anderen zuvorthut. Sie ruht weder an Sonn- noch an Feiertagen, und ein Theaterbesuch, oder ein Ausflug in die Umgegend von Paris an einem Sommersonntag bildet in ihrem Dasein eine merkwürdige Epoche. Und wie viele Frauen in dieser Classe giebt es, die niemals ihr Stadtviertel verlassen! Ich selbst kenne mehrere, die kaum einmal im Jahre die Boulevards sehen, oder von einem Seineufer zum andern kommen.
Wenden wir uns nun der Arbeiterclasse zu, jener Classe nämlich, die von der Hand zum Munde lebt, so finden wir die Hausfrau ebenfalls in ununterbrochener Rührigkeit und die größten Entbehrungen ertragend, um ihre Kinder anständig zu kleiden. Wer ein Bild von dem Familienleben dieser Volksschichte haben will, der beobachte die Menge, die sich während der schönen Jahreszeit an Sonntagen aus der Stadt nach deren reizender Umgebung drängt. Er wird auf jedem Schritte jenen Arbeiterfamilien begegnen. Sie lagern sich dann dicht an den Fortificationen im Grünen und nichts ist reizender, als der Anblick der Kinder, die sich leicht zu gemeinsamen Spielen gruppiren, sich einander mit „Monsieur“ und „Mademoiselle“ anreden und nur höchst selten in Streit gerathen.
Der Franzose liebt nicht nur seine eigenen Kinder, sondern die Kinder überhaupt. Wer einem Kinde hart begegnet, zieht sich gleich allgemeinen Tadel zu, und er setzt sich den unangenehmsten Folgen aus, wenn er es wagt, ein Kind roh zu behandeln. Ich will, da ich von dem französischen Familienleben spreche, noch hinzufügen, daß der Familienvater Abends bei den Seinigen bleibt, oder nur mit diesen das Haus verläßt. Die Pariser Kaffeehäuser sind stets gefüllt, aber die Besucher derselben bestehen aus Fremden, aus jungen Leuten, oder aus solchen Individuen, die keinen häuslichen Heerd gegründet. Ich spreche natürlich hier, wie überhaupt in dieser Skizze, von der Regel und nicht von den Ausnahmen. –
Ich habe bereits gesagt, daß Scheinheiligkeit unter den Franzosen sehr selten; unter den Französinnen ist die Prüderie ebenfalls sehr selten. Mit einer französischen Frau kann man über Alles sprechen, selbst über die allerheikelsten Dinge, wenn es nur mit Geist und Anstand geschieht.
Aeußerst wohlwollend von Natur, schreckt die Französin vor keinem Vorurtheile ihres Geschlechtes zurück, wenn es sich um eine That der Menschlichkeit handelt. Das Institut der Soeurs de charité hat in Frankreich seinen Ursprung. Ich habe mich indessen unzählige Male überzeugt, daß eine Französin nicht erst die Tracht dieser aufopferungsvollen Schwestern zu tragen braucht, um es diesen an Opferfreudigkeit gleich zu thun.
Ein sehr feines Tactgefühl herrscht selbst in den untersten Schichten der weiblichen Bevölkerung. Folgendes Beispiel möge dies beweisen.
Ich wohnte eine lange Reihe von Jahren in einem und demselben Hause und wurde von Burschen bedient, welche die Hausmeisterin in Dienst nahm, da sie selbst, alt und schwach, zur Arbeit unfähig war. Einer dieser Burschen, ein leichtsinniger Range, blieb nicht lange im Hause. Kaum hatte er aber dasselbe verlassen, als ich ein Exemplar der Gedichte Béranger’s vermißte, was mir um so unangenehmer war, als das Buch nicht mir gehörte. Ich theilte dies der Hausmeisterin mit, deren Verdacht sogleich auf den eben entlassenen Burschen fiel. Eine Stunde später stellte sich eine Frau mit bleichen Wangen und verweinten Augen bei mir ein.
„Ich bringe Ihnen das Buch,“ sagte sie, „welches Ihre Hausmeisterin bei mir reclamirte. Mein Sohn hatte nicht die Absicht, es zu entwenden; er hat es nur lesen wollen, und da er es ohne Erlaubniß genommen und, nachlässig wie er ist, es beschmutzte, hat er nicht gewagt, es wieder an Ort und Stelle zu legen.“
Ich sagte der Frau, um sie zu beruhigen, daß das Buch eben nicht kostspielig, nur sei es mir unangenehm, dasselbe dem Eigenthümer in solch unsauberem Zustande zurückzuschicken.
Als ich gegen Abend nach Hause kam, fand ich ein neues Exemplar der Gedichte, und zwar in der Ausgabe des von mir entlehnten. Die arme Frau hatte den Ertrag von mindestens zwei Arbeitstagen geopfert, um mich den leichtsinnigen Streich ihres Sohnes vergessen zu lassen. Ich will keinesweges behaupten, daß man außerhalb Frankreichs solchen zarten Zügen nicht begegnet, gewiß aber begegnet man ihnen in den unteren Volksclassen Frankreichs häufiger als anderswo.
Als ich nach dem jüngsten deutsch-französischen Kriege und der Unterdrückung der Commune, nach zehnmonatlicher Abwesenheit, wieder in Paris eintraf, fand ich in meiner Wohnung Alles, wie ich es verlassen. Selbst die Reste von Brennmaterialien hatte man unberührt gelassen. Da ich nun wußte, welche Leiden die Pariser während der Belagerung durch die ungewöhnliche Strenge des Winters auszustehen hatten, daß Mädchen und Frauen die frühen Morgenstunden unter freiem Himmel zubrachten, um ein Stückchen grünes Holz zu erhalten und sich dabei gefährliche Krankheiten und wohl gar den Tod zugezogen: da ich dies wußte, warf ich der Hausmeisterin vor, meinen kleinen Holzvorrath nicht für sich oder für Andere benutzt zu haben. Sie widerlegte jedoch meinen Vorwurf mit der Bemerkung, daß man sich unter keinen Umständen an fremdem Eigenthum vergreifen dürfe. Was ich nun bei dieser Gelegeheit erfuhr, erfuhren mit verhältnißmäßig unerheblichen Ausnahmen auch die anderen Deutschen bei ihrer Rückkehr nach Paris. Ich berufe mich auf diese meine Landsleute, die überhaupt in den vorliegenden flüchtigen Schilderungen keinen Widerspruch mit ihren eigenen Beobachtungen finden werden.
Die für Jedermann leicht verständliche Bezeichnung: Bahnpost, Post auf der Bahn, ist erst vor Kurzem an die Stelle des früheren Namens: Eisenbahnpostbureau, getreten. Die letztere Bezeichnung ist mithin einer jener Ausdrücke, mit welchen, als der Ausbreitung und Verallgemeinerung des Postinstituts zuwider, der Generalpostdirector Stephan kurzen Proceß gemacht hat. Es ist auffallend, wie sich Bezeichnungen, wie Declaration, Assecuranz, Procura, recommandirt, poste restante etc. eine so lange Zeit halten konnten in einer Verkehrsanstalt, deren Aufgabe es ist, sich dem ganzen Volke zugänglich zu machen, deren höchstes Ziel also sein muß, ein Volksinstitut im weitesten Sinne des Wortes zu werden.
Um nun einen Blick in den Hergang und das rege Treiben in der Bahnpost zu thun, wolle der Leser mich auf einer Fahrt von Berlin nach Breslau, auf welcher Route ich mehrere Jahre hindurch den Bahnpostdienst versehen habe, im Postwagen begleiten, und zwar wählen wir den elf Uhr Abends in Berlin abgehenden Courierzug, auf welchem die meiste Correspondenz zusammentrifft. Damit wir den Postwagen ungestört in Augenschein nehmen können, begeben wir uns schon gegen sieben Uhr in denselben, denn bald nachher findet sich bereits das Begleitungspersonal ein. Der Wagen besteht aus zwei Räumen; der erstere kleinere dient hauptsächlich für die Empfangnahme und Abgabe der Postsachen; der weit größere zweite Raum macht das eigentliche Expeditionszimmer aus und entspricht im Wesentlichen einem solchen bei einer Ortspostanstalt. Vor Allem machen sich mehrere große Sortirspinde mit einer Anzahl von Fächern bemerklich; wir zählen deren gegen hundertfünfzig, ungerechnet die viel größeren Fachwerke am Boden des Wagens, welche zur Aufbewahrung der angefertigte Briefbunde dienen.
Zu beiden Seiten des Wagens, an einer Stelle, welche dem Blicke des Sortirbeamten am meisten ausgesetzt ist, befindet sich je ein Briefkasten mit einer kleinen Glasthür, so daß die hineingelegten Briefe sogleich bemerkt werden müssen. Ein in einer Ecke abgestellter eigenthümlich construirter Ofen von Eisen strömt eine behagliche Wärme aus; ihm gegenüber ladet ein bequemer Eckstuhl zur süßen Ruhe ein, unter den hier obwaltenden Verhältnissen nicht ohne einen Anflug von Ironie. Die Erleuchtung des Wagens erfolgt durch Gas. Der Boden ist mit einem gegen Kälte von unten schützenden Teppiche belegt. Im Ganzen macht der Wagen einen gemüthlichen Eindruck. Das Begleitungspersonal besteht aus vier Beamten und zwei Unterbeamten.
[707] Dank der Humanität des Generalpostdirectors Stephan, welcher das straffe Uniformwesen auf das Allernöthigste beschränkt hat, dürfen die Beamten die Fahrt in Civilkleidern zurücklegen. Man muß wissen, was es heißt, zehn bis zwölf Stunden zur heißen Jahreszeit in einem so engen Raume auszuhalten und dabei in höchster Anstrengung arbeiten zu müssen, um jede anscheinend auch noch so geringe Erleichterung als eine Wohlthat zu begrüßen.
Gleich nach dem Eintreffen der Beamten langt der erste Brieftransport vom Berliner Hauptpostamt an. Die Beutel werden eiligst geöffnet, und es beginnt nun ein wahres Schnellfeuer, um die Briefe in die für sie bestimmten Fächer zu bringen. Die Schnelligkeit, mit welcher das Sortirgeschäft ausgeführt wird, imponirt, besonders wenn man sich von der großen Sicherheit desselben überzeugt hat, und wenn man die Größe des Gebietes in Betracht zieht, auf welches sich die Thätigkeit der Sortirbeamten erstreckt; denn dasselbe umfaßt den ganzen südöstlichen Theil des Königreichs Preußen, Südrußland, fast ganz Oesterreich, Ungarn, Italien, Rumänien, die Türkei, Griechenland, Aegypten, Asien und Australien.
Von dem Betriebe dieser Bahnposten wird man sich eine Vorstellung machen können, wenn ich erwähne, daß dieselben directe Briefposten nach Odessa am schwarzen Meere absenden. Die Vielseitigkeit des Expeditionsdienstes folgt aber auch daraus, daß die Correspondenz nach sehr vielen an Seitencoursen gelegenen Orten fast bei jedem Zuge auf einen anderen Uebergangspunkt zu leiten ist. Es gehört in der That keine geringe Aufmerksamkeit dazu, eine so complicirte Spedition, auch während der höchsten Eile des Sortirens, mit der hier nöthigen Präcision im Geiste festzuhalten.
Nach dem Gesagten leuchtet es ein, welch großer Vortheil es für den Postbeamten und speciell für den in der Bahnpost beschäftigten Beamten ist, wenn der Name des Bestimmungsortes recht deutlich auf dem Briefe angegeben ist; ebenso ist es klar, daß es unerläßlich ist, unbekanntere Orte, auch wenn sich daselbst Postanstalten befinden, auf irgend eine geeignete Weise auf der Adresse des Briefes näher zu bestimmen, denn wenn sich auch der Postbeamte in die hochgehenden Wogen eines umfangreichen Bahnpostdienstes ohne einen reichen Schatz geographischer Kenntnisse gar nicht hineinwagen kann, so wird man doch füglich nicht erwarten können, daß er über die Lage eines jeden auch noch so unbedeutenden Ortes orientirt ist. Meist unterbleibt eine nähere Bezeichnung deshalb, weil der Absender die Bedeutung des Adreßortes nach derjenigen bemißt, welche sie für ihn hat. So mag beispielsweise der Name Skaisgirren für den Absender eine kleine Welt in sich begreifen, eine geographische Ignoranz wird es aber seitens des in einer rheinischen Bahnpost thätigen Postbeamten noch lange nicht bekunden, wenn derselbe über die Lage dieses Oertchens nicht hinreichend unterrichtet ist. Hiernach richte man sich! Unterlassungen werden sich sehr häufig durch Verzögerungen strafen.
Während noch auf das Emsigste an der Bewältigung des ersten Brieftransports gearbeitet wird, trifft bereits ein zweiter und dritter ein. Es geht dies mit kurzen Unterbrechungen bis zum Abgange des Zuges so fort. Wehe, wenn nun noch, neben dem gewöhnlichen Verkehr, als reine Zugabe eine Fluth von Streifbandsendungen mit Lotterie-Offerten über die Beamten hereinbricht und den Muth derselben erschüttert!
Um elf Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. Auf den Betrieb im Postwagen übt dies keinen Einfluß aus. Hier wird mit derselben Hast weiter sortirt und mit derselben Eile das Einschreiben der einzutragenden Gegenstände fortgesetzt wie vorher. Nur greifen die Beamten beim Schreiben zu kleinen mit Tuch überzogenen Holztafeln, welche ihnen, indem sie dieselben mit der linken Hand in der Schwebe halten, als Schreibtisch dienen. Es gehört einige Uebung dazu, bis man die hier nöthige Fertigkeit im Schreiben erlangt hat.
Die Expeditionsgeschäfte vertheilen sich auf die einzelnen Beamten derart, daß zwei von ihnen ausschließlich sortiren, der dritte die sortirten Briefe zu Kartenschlüssen vereinigt und die eingeschriebenen Briefe bearbeitet und der vierte die Umschreibung der Geldbriefe und Werthpackete besorgt. Von den zwei Unterbeamten, welchen die Ausführung der untergeordneten Geschäfte obliegt, ist der eine fast ausschließlich mit dem Abbinden der Briefe in Bunde beschäftigt. So leicht dieses Geschäft an sich auch ist, so treibt doch die große Eile, mit welcher dasselbe geschehen muß, dem Manne die Schweißtropfen in’s Gesicht, und wir werden mit ihm ärgerlich, wenn wir Briefe bemerken, welche sich ihrer Unförmlichkeit wegen diesem Zwange durchaus nicht fügen wollen. Auch einen dreieckigen Brief erblicken wir: gewiß ein Liebespfeil, von recht schwieliger Hand abgesandt. Ihn sowohl, wie ein zierliches billet doux rettet der aufmerksame Blick des Beamten vor den verhängnißvollen Folgen einer Verbindung, welche sie mit einer der hierzu besonders geneigten Streifbandsendungen eingegangen waren. Wenn doch das Publicum solche, die Existenz seiner Briefe ernstlich bedrohende Extravaganzen unterlassen wollte!
Werfen wir jetzt einen Blick auf die Thätigkeit des Beamten, welchem die Umarbeitung der Geldbriefe obliegt! Das Verfahren, nach welchem derselbe arbeitet, ist eine Stephan’sche Schöpfung und besteht erst seit einigen Jahren. Die Einführung desselben galt seiner Zeit als ein kühner Schritt; jetzt hat eine mehrjährige Erfahrung es längst als berechtigt und wohlgelungen erklärt. Das Bahnpostpersonal fühlt sich durch dasselbe erleichtert und mehr gesichert, und das Publicum erfreut sich des hieraus entspringenden Vortheils einer durchweg unaufgehaltenen Geldbriefbeförderung. Sehen wir uns die einzelnen Geldbriefe etwas näher an, so fällt uns auf, daß noch immer eine so große Anzahl mit Beträgen bis zweihundert Mark, ja sogar bis hundert Mark, mit fünfzig Pfennigen frankirt ist. Sicher enthält nicht der zehnte Theil dieser Briefe sogenannte wilde Cassenscheine. Bei den allermeisten derselben hätten also durch Anwendung einer Postanweisung dreißig oder doch zwanzig Pfennige erspart werden können. Deshalb merke man: bei Geldbeträgen bis zweihundert Mark und Entfernungen von mehr als zehn Meilen sind Postanweisungen in Anwendung zu bringen. Dies gewährt unter Umständen noch den Vortheil einer schnelleren Beförderung, da sich nicht jeder Zug mit der Beförderung von Geldbriefen befaßt. An dieser Stelle bietet sich Gelegenheit, auf die immer noch viel zu wenig bekannte schnellste Art der Geldübermittelung, die Depeschenanweisungen – Anweisung von Geld durch eine telegraphische Depesche – aufmerksam zu machen.
Das Signal der Locomotive ertönt; wir fahren in den Bahnhof von Fürstenwalde ein. Eiligst wird das letzte Briefbund für diese Station formirt und der Beutel geschlossen. Mit Abgabe desselben tritt eine wesentliche Entlastung der Bahnpost nicht ein; denn an Stelle der abgewiesenen Correspondenz tritt diejenige aus Fürstenwalde und den mit diesem in Verbindung stehenden Orten. Und so geht es fort; auf jeder Station Abgabe und Empfangnahme von Briefbeuteln. Bekanntlich halten die Courierzüge nur an den größeren Stationen; die Bewohner der zwischenliegenden kleineren Orte dürfen jedoch betreffs der Mitsendung ihrer Briefe ganz außer Sorge sein. Je nach dem Gange der anderen Züge wird die Correspondenz dieser Orte dem Courierzuge entweder entgegen- oder vorausgesandt, und wo es gar nicht anders gehen will, kommt es der Postverwaltung nicht darauf an, zu ganz außergewöhnlichen Maßnahmen zu greifen, um dieser Briefe während der Fahrt habhaft zu werden. Zu diesem Zwecke ist nämlich am Postwagen ein Drahtnetz angebracht, durch welches der Briefbeutel bei der Durchfahrt durch den Bahnhof von einem dort aufgestellten Pfahle abgestreift und in den Postwagen gezogen wird. Auch mit der Abgabe von Briefen während der Fahrt befassen sich die Bahnposten, indem die Briefbeutel einem im Bahnhofe darauf wartenden Postunterbeamten zugeworfen werden.
Beim Schließen des Briefbeutels für eine der nächsten Stationen wird unsere Aufmerksamkeit auf eine besondere Species von Postsendungen, die Waarenproben, hingelenkt. Was giebt es da für kunterbunte Sachen! Kleine Taschen mit Kaffee, Mehl, Farin, Getreide, Sämereien und allerhand Gräupnereien, kleine Packete mit Mustern aller nur erdenklichen Stoffe, Holzbretter, die verschiedenartigsten Maschinentheile, kleine Säcke mit Korken, Kästchen mit künstlichen Blumen u. dgl. m. Die seltsamste aller dieser Sendungen kam mir aber vor etwa zwei Jahren in die Hände. Als ich damals eine solche Sendung bezüglich ihres Inhalts prüfte, war ich nicht wenig erstaunt, ein sehr hübsches Exemplar einer Lacerta viridis – grüne Eidechse – darin vorzufinden.
[708] Der Adressat dieser Sendung, welchem, wie ich weiß, dieses Blatt vor Augen kommt, wird sich beim Lesen dieser Zeilen eines Lächelns kaum erwehren können.
Bei Erwähnung der Waarenprobensendungen möchte ich auf einen Uebelstand aufmerksam machen, dessen Abstellung auch im Interesse der Correspondenten erwünscht ist. Es geht nämlich kein Zug in die Welt, wo nicht eine oder mehrere dieser mit feinkörnigem Inhalte oft viel zu überfüllten Täschchen zerreißen, so daß der Packtisch der Bahnposten oft wie übersät aussieht. Da die Zeit für eine umständliche Verpackung meist nicht vorhanden ist, so kann es sich ereignen, daß ein solches Täschchen völlig leer am Bestimmungsorte eingeht. Eine ausreichende Verpackung dieser Sendungen sei also hiermit dringend empfohlen.
Nachdem wir Guben passirt, tritt auf der Station Sommerfeld ein Reisender an den Postwagen und bittet um Ablassung einer Postkarte. Sie wird ihm bereitwilligst gewährt; denn auch mit dem Verkauf von Postkarten, Freimarken und Briefumschlägen
befassen sich die Bahnposten. Diese Einrichtung kann dem Reisenden unter Umständen von großem Nutzen sein, nur muß er es nicht machen wie der eben erwähnte Reisende, welcher die Postkarte auf einer der nächsten Stationen in den Briefkasten der Bahnpost steckt, aber die Adresse anzugeben vergessen hat.
Uebrigens kommt die Einlieferung von Postkarten ohne Adresse gar nicht so selten vor; habe ich doch fünf bis acht solcher Fälle in Erinnerung. Und die Moral? Man gewöhne sich daran, bei Benutzung von Postkarten immer zuerst die Adresse zu schreiben; den Text wird man nicht vergessen.
Während der kurzen Haltezeit in Liegnitz wird nach Bahnhofsbriefen gefragt. Da auch diese Einrichtung neu und noch sehr wenig bekannt ist, möchte ich sie dem Leser nicht unerklärt lassen. Es ist nämlich gestattet, für den Preis von zwölf Mark pro Monat, sich täglich von einem bestimmten Absender einen Brief schicken zu lassen, welcher nicht erst an die Postanstalt des Bestimmungsortes zu gelangen braucht, sondern dort schon auf dem Bahnhofe durch das Uebergabe-Personal der Ortspostanstalt in Empfang genommen werden kann. Da diese Einrichtung eine feststehende tägliche Correspondenz zwischen zwei bestimmten Personen voraussetzt, so wird sich deren Benutzung freilich nur für Wenige eignen.
Zum letzten Male auf unserer Reise ertönt die Dampfpfeife; wir fahren sechs, ein halb Uhr früh in den Bahnhof von Breslau ein. In den Coupés recken und strecken sich die Reisenden auf den weichen Polstern und gähnen laut auf: „Wie war die Reise doch so anstrengend!“ Und der Postbeamte, welcher dieselbe stehend zurückgelegt, welcher elf Stunden ohne jede Unterbrechung mit höchster Anstrengung gearbeitet hat? Krankhaft aufgeregt sucht er seine Behausung auf und theilnahmlos für seine Umgebung und oft ohne sich zur Einnahme einer Erfrischung entschließen zu können, sinkt er auf sein Lager. Wie hat mich der Traumgott in solchen Nächten oft geängstigt[1] und mich die Reise im Schlafe fortsetzen lassen! Bald spiegelte er mir vor, ich sei rückständig mit meinen Arbeiten auf der Station angekommen oder habe ein Bund oder einen ganzen Beutel mit Briefen über die Abgabestation hinaus mitgenommen, auch ängstigte er mich wohl gar mit dem Fehlen eines Geldbeutels. – Von weit geringerer Aufregung ist natürlich der auf Tagesstunden fallende Fahrdienst.
So etwa ist eine Fahrt in der Bahnpost, bei welcher Alles seinen regelmäßigen Verlauf nimmt. Aber es giebt Reisen, wo sich zu den gewöhnlichen Schwierigkeiten noch andere gesellen, welche als unübersteigliche Hindernisse angesehen werden könnten. Hier ein Beispiel:
In einer Decembernacht des Jahres 186– begleitete ich den Courierzug Breslau-Berlin, dessen Abgang in Breslau, wie jetzt, zehn Uhr Abends erfolgte. Außer mir waren noch ein zweiter Beamter und zwei Conducteure in der Bahnpost thätig. Mein College war im Dienste jünger als ich, und ich trug deshalb bei etwaigen außergewöhnlichen Vorkommnissen alle Verantwortung. Kurz hinter der Station Spittelndorf, welche etwa sieben Meilen von Breslau entfernt ist, versetzten uns plötzlich eintretende furchtbare Stöße und Schwankungen des Postwagens in die höchste Angst. Sofort suchte ich mich mit dem Eisenbahnzugpersonal in Verbindung zu setzen; doch schon wurde das Haltesignal gegeben, und der Zug hielt bald darauf an. Es ergab sich, daß der Postwagen entgleist und bereits eine kurze Strecke neben den Schienen auf dem Sande gefahren war. Die Aufmerksamkeit des Zugführers hatte ein Unglück verhütet, dem wir jedenfalls zum Opfer gefallen wären. Der Postwagen mußte zurückgelassen werden; zur Weiterreise wurde mir ein kleines abgesondertes Coupé mit vier Sitzbänken in der dritten Wagenclasse überlassen. In diesem kleinen Raume mußten wir vier Menschen mit der gesammten Correspondenz, einer sehr großen Anzahl von Geldbeuteln sowie mit einer Menge von Utensilien Platz finden. Für die Umladung wurden uns einige Minuten bewilligt; in dieser Zeit sollten also Tausende und aber Tausende von Briefen, welche in mehr als hundert Fächern vertheilt lagen, in Bunde vereinigt werden, wenn nicht die ganze Arbeit des Sortirens verloren sein sollte. Mir schauderte bei dem Gedanken, vierzig Meilen in einem für meine Dienstgeschäfte gänzlich ungeeigneten Raume zurückzulegen. Und doch mußte um jeden Preis ausgehalten werden; denn die Einstellung der Thätigkeit würde hier die tiefgreifendsten Verkehrsstörungen nach sich ziehen, die, schon wegen des Ausbleibens der regelmäßig erscheinenden Zeitungen, in den entlegensten Gegenden und Orten empfunden werden müßten.
Man sieht hieraus, welchen Werth die Thätigkeit in der Bahnpost repräsentirt. Gewiß selten dürften die Fälle sein, wo die Versagung einer einzigen Menschenkraft Folgen von solchem Umfange nach sich zieht.
Zum Sortiren der Briefe blieb mir die Hälfte einer Sitzbank. Man stelle sich nun die Ausführung dieses Geschäftes in diesem Raume vor, wozu sonst im Postwagen über hundert Fächer oft nicht ausreichten! Selbstverständlich kam hier, beim gänzlichen Mangel an Fächern, Alles auf das Gedächtniß an. Sieben Stunden saß ich so, mit dem Oberkörper nach vorn gebeugt, und sortirte auf die mir gegenüberliegende Bank mit der höchsten mir erreichbaren Schnelligkeit. Es gelang mir, die Arbeit zu bewältigen. Als ich mich aber bei der Ankunft in Berlin aufrichten wollte, war mir dies unmöglich. In Folge des anhaltenden Krummsitzens in dem eisig kalten Wagen schien mein Körper der aufrechten Stellung nicht mehr fähig zu sein. Es dauerte lange, bis ich mich dieses besonderen Vorzuges der Menschheit wieder im vollen Umfange erfreute. Doch gern nahm ich diesen Uebelstand in den Kauf; hatte ich doch das Bewußtsein,
[709][710] auch unter den schwierigsten Verhältnissen Störungen im Verkehrsleben abgewendet zu haben.
Auch an erheiternden Zufällen fehlt es in der Bahnpost nicht. Zu diesen trägt vor allen die Beförderung lebender Thiere bei. Was wird da nicht alles mit der Post versandt! Das Seltsamste, was mir in dieser Beziehung vorgekommen ist, waren zwei allerliebste junge Waschbären. Besonders häufig sind Vogelsendungen. Fast auf allen diesen Sendungen befindet sich eine Bemerkung, durch welche die Postbeamten ersucht werden, die Vögel mit Wasser zu versehen.
Gewiß wird jeder Postbeamte dem Ansuchen, Thiere zu tränken, gern entsprechen; naiv dagegen ist das ebenfalls nicht seltene Verlangen: „Man bittet, den Vögeln unterwegs etwas Futter zu verabreichen.“ Vergebens sieht man sich nach einem vielleicht irgendwo niedergelegten Reservevorrath um; wahrscheinlich ist in solchen Fällen vom Absender angenommen, daß die Postbeamten Hanf oder Mehlwürmer bei sich führen.
Ich bin am Schlusse meiner Schilderung. Möge sie das Resultat erzielen, daß im Verkehr des Publicums mit der Bahnpost in Zukunft folgende sieben Punkte besser beachtet werden als bisher:
1) Anwendung der Postanweisung bei Versendung von Geldbeträgen bis zweihundert Mark auf Entfernungen über zehn Meilen, eventuell durch Telegramm.
2) Vermeidung zu kleiner Briefe. (Das richtige Format ist durch die Postbriefumschläge angezeigt.)
3.) Sorgsame Verpackung der Waarenproben mit feinkörnigem Inhalte.
4.) Man gewöhne sich, auf Postkarten immer zuerst die Adresse zu schreiben.
5.) Die Bahnposten führen Postkarten, Freimarken und Briefumschläge zum Verkaufe mit sich.
6.) Bahnhofsbriefe!
7.) Vor Allem aber gewöhne man sich, den Bestimmungsort auf dem Briefe deutlich anzugeben und die Lage unbekannter Orte durch einen geeigneten Zusatz näher zu bezeichnen.
Durch Beachtung dieser Punkte wird man sich den Dank aller und besonders der Bahnpostbeamten verdienen, von deren schwerem Berufe diese Skizze ein ungefähres Bild entworfen hat.
Bald nachdem in einem Kinde das Organ für die innere Sammlung und Anschauung der äußeren Eindrücke durch die Sprache zu einem Hinausgehen über die unmittelbarsten derselben befähigt ist, sobald es anfängt, abgeleitete Vorstellungen zu bilden, beginnt es seine Eltern mit den kindlichen Fragen zu belästigen: wer Abends den Mond anzünde, und wer die Bäume gemacht habe etc. Geweckte Kinder setzen die Eltern mit ihre ewigen Fragen in Verlegenheit, und die Wenigsten unter den Letzteren denken daran, daß sich auch in diesem Vorgange der Menschenentwickelung nur ein altes Naturgeheimniß wiederholt, jene ersten Versuche des Wunderkindes dieser Welt, sich klar zu werden über sein Verhältniß zu den Außendingen, über den Ursprung und Zusammenhalt der Dinge. Und da Niemand da war, der dem Urmenschen auf seine naheliegenden Fragen irgend eine beruhigende Antwort ertheilen konnte, so machte er sich selber eine Weltanschauung nach seinem Zuschnitte, wie sich im Grunde auch heute Jeder die seinem Verstande entsprechende Weltanschauung, die nach einem Durchschnittsmaße in den Schulen geliefert wird, wie einen Schuh „austritt“. Darnach müßte es so viel Weltanschauungen wie Menschen geben, doch da sich diejenigen der beieinander lebenden Personen ausgleichen, so gab es naturgemäß ebenso viele grundverschiedene, wie es Sprachstämme giebt, bis Einzelne, die weiter gekommen zu sein glaubten, die ihrigen Andern mit sanfter oder stürmischer Gewalt aufzwängten. Allein die Weltspiegelbilder der verschiedensten Stämme haben, wenn man auf eine gleiche Bildungsstufe zurückgeht, eine erstaunliche Aehnlichkeit, und sicherlich wiesen diejenigen der Steinmenschen ehemals dieselbe allgemeine Uebereinstimmung in allen Welttheilen, wie später diejenigen der Bronzemenschen und schließlich die des Eisenalters. Denn Dasjenige, was wir für die freieste, zügellos schaffende Macht in der Welt ansehen möchten, ist die menschliche Phantasie; sie folgt in ihren Schöpfungen bestimmten Naturgesetzen, die wir Denkgesetze nennen, und der Gedanke erhebt sich in demselben Schritte zu einer höhern Stufe, wie der Denker.
Wo wir immer Nachfrage halten mögen bei Völkern, die heute gewaltsam aus der Steinzeit herausgerissen werden, immer finden wir dieselben in einer Weltanschauung begriffen, die man als den höchsten Grad des Spiritualismus bezeichnen muß. Dem Naturmenschen ist die gesammte Welt ohne Ausnahme durchseelt, Sonne, Mond und Sterne, Luft, Feuer und Wasser, Mensch, Thier, Pflanze und Stein. Versuchen wir es, uns über den Grund dieser die Wahrheit unter rohen Bildern verbergenden Anschauung Rechenschaft zu geben, so finden wir ihre Veranlassung in einem sehr einfachen Denkvorgange, der an die tiefgeheime Wunde der Menschheit anknüpft, an ihre Sterblichkeit. Was ist für ein Unterschied zwischen jenem Menschen, der vor einer Stunde lebte in aller Kraft, und nun daliegt, kalt, bewegungslos und starr? Mit einem letzten, langen Athemzuge ist die Kraft und die Wärme plötzlich von ihm gegangen, sollte da ein Etwas ihn verlassen haben, was den Körper sonst bewegte? Solche Eindrücke und Fragen waren es, die, durch Wahrnehmungen an den Thieren, die der Urmensch täglich in ihrem Todeskampfe beobachtete, unterstützt, die erste leicht umrissene Skizze des Begriffs einer lebenverleihenden Seele bildete, um durch das Traumleben ihre dunkle Schattirung zu erhalten. Der im festverschlossenen Steingrabe beigesetzte Vater tritt Nachts munter wie je an das Lager des Sohnes, spricht wie sonst zu ihm und zerfließt beim Erwachen langsam in Luft. Es bestätigt sich also, daß dieses vom Körper getrennte, seine Gestalt erborgende Etwas unsterblich war und für sich weiter lebt, der Manendienst (Todtendienst) tritt unmittelbar in’s Leben, während der Götterdienst erst fern am Horizonte auftaucht.
Ich glaube nicht, daß man den zwingenden Einfluß des Traumlebens auf den grübelnden Verstand des Urmenschen und seinen ersten Cultus bisher genügend in Rechnung gezogen hat. Der Verstorbene lebt also weiter, er bedarf seiner Kleider, Waffen, seines Rosses und seiner Diener. Denn da er in seinen Kleidern und mit seinen Waffe erschien, so haben auch diese Dinge etwas von ihnen ausgehendes Geistiges, und man muß Roß und Diener dem Herrn an seinem Grabe opfern, damit er sich frei ihrer Geister, wie vordem der Leiber, bedienen möge; man muß die Gattin mitverbrennen, damit er in seinem neuen Zustande nicht ohne ihre Hülfe sei. Schon in den Grabstätten der ältesten europäischen Steinzeit begegnet man den unverkenbarsten Spuren dieser naheliegenden Anschauung, wenn dieselbe auch nicht überall zu Menschenopfern geführt haben wird. Aber die Waffen des Verstorbenen, so werth sie den Ueberlebenden sein mußten, die Bärenkeule, von deren Geist er sich zunächst nähren konnte, finden sich in ihren Spuren überall im Grabe. Sogar die Wohnung überließen viele Völker den Gestorbenen.
Und das Naturkind fragt sich weiter: sollte der Vater, der seine fortdauernde Liebe durch die Traumbesuche zeigt, nicht auch in seiner von den Fesseln des Leibes befreiten Gestalt mehr Macht gewonnen haben, uns zu schützen und zu helfen? Sollte der Häuptling, der so tapfer und so besorgt im Leben
[711] für uns alle handelte, nicht mit verdoppelten Kräften fortfahren, dies zu thun? Man richtet Bitten und Gebete an die Todten; der Manen- und Heroen-Cultus gewinnt bestimmtere Formen.
Unmittelbar darauf wird dieses bewegende Etwas in allen umgebenden Dingen gesucht, in dem Wasser, welches läuft, als ob es Beine hätte, im Feuer, welches brennt, als ob es mit tausend Nadeln stäche, in dem Blitz, der den Menschen erschlägt, plötzlich wie der Kämpfer mit seiner Streitaxt. Und da der Urbegriff von der Menschenseele als etwas Persönlichem ausgeht, so führt er von der einfachen Beseelung aller Dinge schnell zur Personification der in ihnen wirkenden Naturkräfte. Der Mensch glaubt zu finden, daß diese Seelen der andern Dinge viel mächtiger sind als die eigene; er bittet sie Alle, ihm gnädig zu sein, und wählt einen todten Gegenstand, eine Pflanze oder ein Thier, auf dessen Kraft er besonderes Vertrauen setzt, zu seinem höchsten Fetisch oder Totem. Es ist dieser Fetischismus und die Totem-Wählerei eine gemeinsame niederste Religionsstufe der ungebildeten Steinzeit-Völker, bei welcher die Unterordnung der eigenen Kraft unter die der andern Seelen überaus charakteristisch für die Schwäche ihres Schlußvermögens ist.
Eine Stufe höher, und aus der allgemeinen unheimlichen Besessenheit der gesammten Naturdinge im Einzelnen steigt gleichzeitig mit der Ausbildung des Heroen-Cultus die Vielgötterei (Polytheismus), die Religion der Bronzezeit, empor. Man kann sie eine Abstraction, eine Läuterung der vorigen nennen. Von nun an herrscht nicht in jedem Stein, in jedem Wässerchen und jeder Pflanze ein besonderer Geist als unumschränkte Macht, sondern diese Geister ordnen sich, wenn nicht gänzlich abgeschafft, allgemeinen Gottheiten der Erde, des Himmels, der Blumen, des Wassers, Feuers etc. unter. Die Naturgegenstände selbst sinken gleichzeitig auf den Werth von Symbolen der betreffenden Gottheiten herab, besonders das vordem an sich verehrte Feuer als das reine, leuchtende, nach oben strebende Symbol aller Gottheit. Nur die Thiere in ihrer stark ausgeprägten Individualität widerstrebten, ebeso wie die halb unsterblichen Bäume, so lange der Unterordnung unter eine abgeleitete Gottheit der Thiere oder Bäume, bis die Zeit dieser Götterschöpfungen vorüber war, und wurden dann nach einer langen Periode selbstständiger Verehrung den verschiedenen Göttern als Diener zuertheilt. Was die einzelnen Gestalten anbetrifft, so konnte der Mensch, wie er in diesem ganzen geistige Proceß von sich selber ausging, die Götter natürlich nur nach seinem eigenen Ebenbilde formen, und daher die bekannte Thatsache, daß die Götter Griechenlands schöne, aber in mancher Beziehung sehr menschliche Griechen waren, die Götter des Nordes kampf- und trinklustige Zechbrüder, und die Götter der Indianer vollkommene Wilde.
Allein weil sich der Mensch fortwährend umwandelte, durften die Götter nicht zurückbleiben, denn sonst wären sie ihm fremd geworden, und wie sich aus dem Chaos der allgemeinen Vergötterung der Natur begriffliche Göttertypen abgesondert hatten, so mußte diese durch Vergleichung in dem zunehmenden Verstande endlich zu dem Gottesbegriffe in seiner Reinheit führen. Man kann die Vorbereitung dieser dritten Abstraction am besten verfolgen, wenn man den Gestirndienst der zweiten Periode in’s Auge faßt. Alle irgend durch Besonderheit in’s Auge fallenden Himmelslichter, Sonne, Mond, Planeten und Fixsterne, wurden als Gottheiten betrachtet, die ersten Beiden den Andern natürlich voran. Zwischen diesen Beiden findet insofern eine Rangstreitigkeit statt, als in den heißesten Ländern, in denen die Sonne in ihrer Stärke das Land versengt und somit schadet, sie dem Monde, als dem milden Freunde der Menschen, den Platz des am meisten verehrten Gestirnes hier und da abtreten mußte. Bei der bei Weitem größeren Ueberzahl der Völker nimmt aber die Sonne den ihr gebührenden ersten Rang unter den Erscheinungen ein, welche die Phantasie anregen.
Je mehr der Mensch die Natur verstehen lernte, um so bestimmter mußte er sich sagen, daß ja alles Leben auf der Erde von den Strahlen der Sonne abhängt, und ebenso tief wie wahr lautet deshalb die Inschrift der vielbrüstigen Personification der nährenden Erde im Tempel der ephesischen Diana. „Tiefes Dunkel ist mein Dunkel – zur Sonne blick auf, die allein Leben giebt, strahlend!“ Ihr Kommen und Gehen mußte daher den Menschen der nicht, wie wir, in engen Straßen, sondern mehr in der Natur nach der Natur lebte, mächtig aufregen, er feierte sie in allen Erdtheilen als die vornehmste aller Gottheiten, als die wahre Wohlthäterin und Erhalterin der Erde wie des Menschen, und beging den Tag ihrer Wiedergeburt und Neuerstarkung (25. December) überall als das größte aller Jahresfeste. Und wenn wir aufrichtig sein wollen, so müssen wir sagen, daß nie ein Cultus gerechtfertigter war, als derjenige der Sonne, in deren Strahlen alle Kraft enthalten ist, welche die Erde von außen empfängt, durch die allein das Erdleben seine hohe Stufe erringen konnte und mit deren Verschwinden dieses gesammte Leben einem schleunigen Untergange zueilen würde, wie es jeden Winter theilweise geschieht. Wir können es fast schrittweise verfolgen, wie bei den meisten Völkern die Mitbewerbung anderer Phantasiebeherrscher um den Thron des Weltalls von der Sonne überwunden wird, so bei den Assyrern, Medern und Persern, den alten Aegyptern, Phöniciern und den nördlich wohnenden Indogermanen, den Peruanern und vielen anderen Völkern.
Den letztgenannten galt die Sonne denn auch folgerichtig als Weltschöpferin, und wahrscheinlich ist es in anderen Religionssystemen früher ähnlich gewesen. Allein nachdem nur überhaupt die Idee eines unumschränkten Götterkönigs, nach dem Bilde eines wohlwollenden, aber unbedingten Gehorsam verlangenden und über Leben und Tod gebietenden Häuptlings, aus dem Chaos der Vielgötterei hervorgetreten war – und dies scheint überall erst mit dem Beginne der Eisencultur geschehen zu sein – mußte auch die Sonne ihren Platz einem persönlichen Beherrscher der Götter und Menschen räumen und sich selber mit dem Range eines Symboles desselben begnügen. Wie aus dem ungeordneten Fetischismus der Steinzeit die übersichtlichere Vielgötterei der Bronzezeit, so ging durch fernere Begriffsverfeinerung aus dieser die Idee eines alleinigen und höchsten Gottes hervor, neben welchem die anderen Herrschaften nur noch wie Hofleute oder Fachminister fortbestehen konnten. Diese Thronbesteigung können wir bei den alten Indern, Aegyptern, Griechen, Römern und Germanen sehr gut verfolgen, bei den Chaldäern und Juden scheint die Unterdrückung der Mitbewerber am frühesten und vollständigsten stattgefunden zu haben. Natürlich wird dieses höchste Wesen nunmehr erst zur alleinigen Weltursache, zum Schöpfer, Erhalter und Regierer des Himmels und der Erde, und dem „ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht“.
Aus unbestimmten, oft rohen und grotesken Mythen etwickelt sich ein immer mehr gereinigtes kosmogonisches (Weltentstehungs-) System. Während die älteren Versuche nicht über eine dem thierischen Zeugungsvorgange nachgebildeten Mythus einer Entstehung aus dem Weltei hinauskamen oder die Welt wie einen Kuchen einrühren und fertig backen ließen, auch die erforderliche Materie als ewig und vorhanden betrachteten, schritt die jüdische Lehre zu einer in ihrer durchgreifenden Weise annehmbareren Form voran und ließ die Welt aus Nichts und ausschließlich für den Menschen erschaffen. Die Erde ist als Mittelpunkt der Welt gedacht, Sonne, Mond und Sterne werden ihr als Zeittheilungs- und Beleuchtungskörper beigeordnet. An verschiedenen Schöpfungstagen wird der Luft, dem Wasser und der Erde aufgegeben, Pflanzen und Thiere hervorzubringen, wobei es als eine Unbedachtsamkeit des mosaischen Berichtes bezeichnet werden muß, daß er die Pflanzen, welche mehr als die Thiere des Lichtes bedürfen, vor den Himmelslichtern hervorkeimen läßt. Die Worte, mit denen der mosaische Schöpfungsbericht den Menschen auf die Bühne führt, sind nicht weniger bezeichnend für den Dünkel dieses Volkes, welches sich das auserwählte nannte, als für die anthropomorphische (den Gott vermenschlichende) Natur der Religion überhaupt. Denn nicht nur läßt er mit vollem Rechte die Krone der Schöpfung nach Gottes Ebenbilde schaffen, sondern mit der ausdrücklichen Bestimmung, über die Thiere und Pflanzen zu herrschen. Man glaubt zwischen den Zeilen zu lesen, auch über die anderen Menschen, die sich etwa einfinden könnten. „Aber mußte dieser gottähnliche Adam und seine nacherschaffene Gehülfin nunmehr nicht vollkommen unsterblich und sündlos wie Gott selbst sein?“, so grübelte der im Unterscheiden immer mehr fortgeschrittene Bildner der Schöpfungsmythe weiter, und nicht weniger tiefgehende Zweifel erregten die Unvollkommenheiten des Daseins, die giftige Pflanzen und schädlichen Thiere und vor Allem die [712] Neigung des Menschen zur Sünde. So wenig wie alles dies, konnte er die Erdbeben, Wirbelwinde, Ueberschwemmungen, Seuchen etc. einem allgütigen und allmächtigen Wesen zuschreiben; er findet auch im Monotheismus (Lehre von Einem Gott) keine Beruhigung; logische Nothwendigkeiten treiben ihn zur Annahme einer dem gütigen Lichtwesen und seinen Schöpfungen feindlich gegenüberstehenden Macht der Finsterniß. Die Personification der Letzteren, welche wieder recht auffallend auf die Sonnennatur des Urmonotheismus zurückweist, dieser Teufel also war ein nothwendiger Lückenbüßer, um den Weltschöpfer von dem Vorwurfe zu befreien, auch solche ekle Wesen wie die Schlangen und ähnliches Gewürm, die Fliegen und überhaupt das Böse in der Welt erschaffen zu haben. In ihrer rohesten Gestalt findet sich diese dualistische (zweiheitliche) Weltauffassung, bei welcher der gute Gott für stärker, der böse aber für listiger und gefährlicher gilt, schon bei vielen Naturvölkern, und nicht wenige unter ihnen theilen die Ansicht der Hottentotten, daß man dem „Capitain von Oben“, wie sie die wohlwollende Macht nennen, keine Verehrung und Opfer schulde, weil er aus eigenem Antriebe den Menschen nur Gutes erweise, und dafür doppelte Anstrengungen machen sollte, den „Capitain von Unten“, der stets aufgelegt sei, dem Menschen zu schaden, mit allen Mitteln zu versöhnen.
Die durchgebildeteren Religionsgebäude der Inder, Perser, Aegypter, Juden, Skandinavier etc. faßten diesen Gegensatz schließlich mehr und mehr als die Empörung einer abgefallenen Gottheit auf, die mit dem Herrscher der Welt um den Besitz kämpft und ihm seine eigenen Geschöpfe abwendig zu machen sucht, um sie endlich als Heerschaaren gegen ihn in’s Feld führen zu können. Und so wurde denn unter Mithülfe der Eva gleich bei dem ersten Menschen der Anfang gemacht, und so verlor dieser seine Unschuld, Unsterblichkeit und alle die Vorzüge, welche ihm das unmittelbare Hervorgehen aus der Hand des Schöpfers sicherten. Die Sünde und das Elend kamen damit auf die Welt, ohne daß den Schöpfer ein anderer Vorwurf träfe, als der, den Menschen nicht stark genug gemacht zu haben. Und die alte Ueberlieferung verfährt ganz den neueren Anschauungen gemäß, indem sie diese Neigung zur Sünde alsbald erblich werden ließ. Die ganze Menschheit scheint verloren.
Bei dem Suchen nach einem Auswege führen die Denkgesetze auch hier bei den Indern, Persern, Aegyptern, Juden etc. zu demselben Ergebnisse. Um das Werk des Bösen zu vernichten, sendet Gott seinen eigenen Sohn zum Kampfe aus, läßt ihn dabei leiden, sterben, in die Unterwelt gehen und durch dieses Selbstopfer die Macht des Bösen vernichten. Confutse, Buddah, Osiris, Zoroaster, Mithras, Hercules, Dionysos, Balder, alle diese hochverehrten Namen deuten immer wieder auf den alten Naturmythus zurück, auf den Kampf des Lichtes mit der Finsterniß, bei welchem ersteres in den vom Aequator entfernten Ländern zeitweise mehr oder weniger vollkommen unterliegt, aber Weihnachten wieder neu geboren wird, im Frühlinge seine Auferstehung und im Sommer seinen Sieg feiert. Alle die genannten Sonnenkämpfer gelten zum großen Theile übereinstimmend als lange verkündete Jungfrauensöhne, mehr als einen von ihnen läßt die Mythe von einem durch den bösen Feind veranstalteten allgemeinen Kindermord wunderbar errettet werden; die meisten werden vom Teufel versucht, fallen dann einem Verrathe zum Opfer, erstehen aber neu verherrlicht und fahren zum Himmel. Doch gehören diese oft bis in’s Einzelne übereinstimmenden Messiassagen der sonst verschiedenartigsten Religionssysteme vorzugsweise nur der altweltlichen Cultur an und scheinen daher eine in den übrigen Welttheilen noch nicht erreichte Gipfelstufe des religiösen Processes zu bezeichnen. Das Christenthum, dessen Hauptfeste und Symbole bekanntlich ebenfalls auf den Sonnencultus zurückzuführen sind, nahm den schönsten Anlauf, die religiösen Gefühle des Menschen weiter zu veredeln, scheint aber seine Kraft erschöpft zu haben, denn es ist seit Jahrhunderten auf einem bedenklichen Rückzuge zu der tiefern Stufe der Vielgötterei begriffen und dürfte, wenn den Riesenschritten der letzten Zeit nicht ein wirksamer Damm entgegengesetzt wird, bald wieder bei dem Fetischismus der Steinzeit angekommen sein.
Freiburg im Breisgau. (Mit Abbildungen S. 708 u. 709). Ich
war die ganze Nacht über die Bergstraße entlang von Frankfurt a. M.
nach Freiburg im Breisgau gefahren; herbstliche Nebel lagen dichtgeballt
auf den öden Feldern und machten die dunkle Nacht noch dunkler, noch
undurchdringlicher. „Da drüben liegt Straßburg; am Tage, wenn das
Wetter klar und hell ist, können Sie leicht den Münster sehen,“ sagte
mein Reisegefährte, der mir gegenüber saß und nun in die Finsterniß
hinaus deutete. Ich folgte mit dem Blicke seinem Winke, sah aber vor
meinen Augen nichts als pechschwarze Nacht. Wir wickelten uns auf’s
Neue in Mäntel und Plaids und schliefen weiter. Als wir in Freiburg
ankamen, graute kaum der Morgen und ich fand es sehr erquicklich, im
nahen „Zähringer Hof“ noch in aller Bequemlichkeit ein paar Stunden
der Ruhe zu pflegen. Bald stand ich frisch und munter wieder vor dem
Thore des Gasthofes. Da drüben lagen in blauen Duft gehüllt die
Vogesen, und dazwischen dehnte sich das Rheinthal, wogte der Rhein, jetzt
und für immer Deutschlands Strom und nicht seine Grenze.
Als ich, in die Stadt zu wandern, um die Ecke des Hotels bog, stand ich überrascht still. Ich hatte den ersten Blick auf den Schwarzwald, und wie schön und prächtig lag er da, in tiefer, ganz eigenthümlich blauschwarzer Färbung, wie ich sie noch nie an einem deutschen Walde gesehen hatte und wie sie denn auch sein Name auf’s Beste und Treffendste bezeichnet. Mir wurde bei solchem Anblicke ernst und feierlich zu Muthe, und da tönte denn ganz im rechten Augenblicke von dem herrlichen Münsterthurme, der so kühn wie zierlich in die sonnige Luft ragte, das volle Geläute der Glocken – denn es war Sonntag und durch die Straßen wogte die festtäglich gekleidete Menge.
Wer von der Hauptstraße aus die Gassen und Gäßchen der Stadt durchforscht, findet bald, daß das Krumme und Winkelige auch hier allermeist das charakteristische Element ist, ich meinerseits gestehe gern, daß mir solche krumme und winkelige Straßen mit ihren vorspringenden Erkern, mit ihren alten, kunstvollen eisenbeschlagenen Thoren und mit ihrem geschnitzten altersbraunen Holzwerke lieber und interessanter sind, als gar manche breite Prachtstraße mit hochgethürmten, lang hingestreckten Palästen. Und dazu ergießt sich hier noch durch fast alle Straßen in hundert sorgfältig ausgemauerten Kanälen das klare rasch fließende Wasser der Dreisam, die Luft immer reinigend und erfrischend und am Ende, denke ich mir, nur dem nächtlichen Wanderer im Herbste gefährlich, wenn der Markgräfler Most seine losen Geister entfesselt hat, und nicht allein in den Fässern rumort, sondern auch in den Köpfen.
Nachmittags lag ich im Schatten der alten, prächtigen Linden bei der Loretto-Capelle auf dem Schlierberge. Man hat von der Stadt dorthin kaum eine halbe Stunde zu gehen. Aber die Aussicht von da ist entzückend schön. Schlicht und einfach liegt die Capelle zwischen den Bäumen, und durch die Stämme blickt man hinunter auf die blühende Landschaft und auf die Stadt, aus deren Häuserwirrwarr der Dom wie ein Riese zum Himmel ragt. Seine hoheitsvolle Pracht zu schildern, ist hier nicht meine Absicht. Aber wahrhaftig, man kommt, indem man die malerisch daliegende, aber doch verhältnißmäßig kleine Stadt übersieht, leicht genug zu der Frage: Wer hat diesen Riesen gesetzt zu jenen Zwergen?
Doch wie gesagt, die Aussicht ist überraschend schön und schien es mir gar wohl zu verdienen, daß ich sie für die Leser der Gartenlaube in meinem Malerbuche skizzirte. Die Loretto-Capelle selbst, von welcher aus ich das Bild entwarf, ist zum Gedächtniß eines blutigen Tages und seiner Opfer erbaut. Der österreichische General Merci vertheidigte die Verschanzungen hier gegen den anstürmenden General Turenne. Dieser trieb damals mit dem berühmt gewordenen „Encore mille!“ – noch Tausend! – immer neue Massen gegen ihn in den Kampf. Genau hundert Jahre später – 1744 – stand hier, Freiburg belagernd, Ludwig der Fünfzehnte von Frankreich, als eine Kanonenkugel, vom Schloßberge hierher gesandt, neben ihm einschlug, ohne ihn zu verletzen. Diese Kugel ist über der Capellenthür eingemauert.
Das Verlangen Frankreichs nach der rebenumblühten, fleißigen und gewerbthätigen Stadt ist wohl für immer gestillt, und der schwarzen Feinde im Innern wird die durchaus freisinnige und aufgeklärte Mehrheit der Bevölkerung wohl auch noch Herr werden. Die Gegensätze stehen schroff zu einander. Im Kaufhause, dem Münster gegenüber, haben erst jüngst die heimath- und vaterlandslosen Ultramontanen getagt und Gift und Haß gegen des deutschen Reiches Wiedererstehung gespieen, und auf dem Rottecksplatze steht das Denkmal des großen Freiheitskämpfers, der unerschrocken und muthvoll in erster Reihe für Deutschlands Größe und Wiedergeburt gegen Hof und Adel stritt und focht.
Damals ward Freiburg ein „Centralpunkt des revolutionären Geistes“ gescholten – möge es im Sinne Rotteck’s immer die Ehrenburg der deutschen Freiheit sein!
Aufforderung. Elise Schildche, geb. Herrling, gebürtig aus Schwarznau, Fürstenthum Wittgenstein, Provinz Westfalen, Königreich Preußen, im Jahre 1848–1849 nach Amerika ausgewandert, gab zuletzt Nachricht von New-York im Jahre 1850. Dieselbe wird ersucht, ihren Aufenthalt anzugeben, wie auch Alle, die über Leben und Tod derselben Auskunft geben können, gebeten werden, dies der Mutter der Vermißten, der Frau Louise Herrling, 59 Siegel-Str. Chicago, Ill. gefälligst anzuzeigen, da der Genannten eine bedeutende Erbschaft von ihrem Bruder Fritz Herrling harrt.
- ↑ Vorlage: „geänstigt“
- ↑ Obigen Artikel entnehmen wir einem in den nächsten Wochen bei Gebrüder Bornträger in Berlin unter dem Titel „Werden und Vergehen“ erscheinenden Buche unseres Bewährten Mitarbeiters Carus Sterne. Er bildet den Eingang des „Religionen und Weltanschauungen“ betitelten zwanzigsten Capitels dieses geistvollen Werkes, welches die Hauptergebnisse der neueren auf Natur- und Weltanschauung bezüglichen Forschungen zu einem knappen, aber in sich abgeschlossenen Gesammtbilde zusammenfaßt und dabei einen zugleich natur- und culturgeschichtlichen Weg einschlägt. Der denkende Leser wird dieses Buch freudig begrüßen und mit Enthusiasmus lesen; enthält es doch hochinteressante und durch Form und Inhalt gleich ausgezeichnete Beiträge zur Natur- und Religionsgeschichte, was namentlich von den Capiteln „Die Jugendzeit der Thierwelt“, „Die Entwicklung der Sprache“ und dem oben im Auszuge mitgetheilten Abschnitte gilt.