Die Gartenlaube (1875)/Heft 27
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No. 27. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
Schür’, Bartel, schür’!
In vierzehn Tagen ist’s an Dir.
Schön und segensreich lag der August über dem dunkelgrünen Fluthbecken und den ansteigenden Gestaden des Ammersees. Ueberall, auf den dem Walde abgerungenen Höhen wie in der tiefen feuchten Ebene, wo sie zum Fruchtlande umgeschaffen wurden, war die Ernte im vollsten Gange: die hochgeladenen Garbenwagen schwankten zu den Dörfern und Einödhöfen durch Felder und Raine in den Schluchtwegen hinan, in deren Gebüschen schon der Wildhopfen seine Trollen angehängt hatte, während die Zaunrübe mit ihren Blüthendolden und die Brombeere mit ihren Stachelranken über Hasel und Schlehe hinaus an den Buchen und Vogelbeerbäumen emporkletterten, welche sich einzeln über das niedere Gesträuch erhoben. In den Grasgärten dahinter fing schon die reifende Kirsche in den runden Wipfeln zu glühen an, und an niedrigeren Stämmen zog die schwellende Last blau überhauchter Pflaumen die Aeste zum Rasenhange herunter, welchen die Halme des neuen Wuchses mit dem zweiten jungen Grün des Jahres zu überkleiden begannen. Darüber hinaus und durch das Gezitter der Bäume und Aeste flammte, weithin ausgegossen, der See – über ihm aber und über dem grünen Rahmen seiner Gestade ruhte, in Duft gehüllt und dennoch klar, die riesige Kette des Gebirges, wie ein ernster erhebender Gedanke über einem schönen Angesichte.
Auf einer Anhöhe, vor einem kleinen Buchenwalde, der den Gipfel zugleich schützend und schmückend bekränzte, lag ein schöner Bauernhof, mitten auf eine ansehnliche Wiesenfläche wie auf einen großen grünen Teppich hingestellt; eine Menge von Obstbäumen schob und drängte sich um ihn zusammen, und vor dem Hause stand eine mächtige Linde so nahe, daß sie mit den Spitzen ihrer Zweige das Dach erreichte, als ob sie es so recht in ihren Schutz nehmen oder sich vertraulich darauf stützen wolle. Das Haus, obwohl ganz einfach und nach Art und Brauch der Gegend gebaut, hatte doch durch Umfang und Lage ein etwas herrisches oder städtisches Gepräge, so daß es, weithin sichtbar, überall seltener unter seinem rechten Namen als „Uttingerhof“ bekannt war, als unter der stattlicheren Bezeichnung des „Schlösselbauers“. Der Ueberblick des Sees sowie des Gebirges und des sich dazwischen schiebenden flachen, an Wald und Sumpf reichen Vorlandes war nirgends so weitreichend und umfassend, und wenn der Ammersee damals – es mögen nun bald vierzig Jahre sein – auch noch weniger besucht und bekannt war, als jetzt, ging doch wohl Keiner, den sein Weg zum Schlösselbauern führte, ohne anzuhalten daran vorüber, und wer zu seiner Lust dahin gekommen war, setzte den Wanderstab gewiß nicht eher wieder weiter, als bis er Rundschau gehalten und einen Imbiß eingenommen auf dem Vorplatze, der sogenannten Gräd des gastlichen Hauses. Mit Ziegelplatten gepflastert, von einem zierlichen Geländer umrahmt und bedeckt von dem darüber befindlichen Laubengange des Hauses, zog sich dieselbe breit und behaglich gleich einer südlichen Veranda an der ganzen Vorderseite des Hauses hin. Breite Steinstufen führten davon auf den mit blankem Kiese bestreuten Vorplatz des Hofes herab und seitwärts zu den Wirthschaftsgebäuden, deren Aussehen und Inhalt auf den ersten Blick zeigte, daß daselbst nicht blos der Wohlstand, sondern auch ein wohlanständiger kluger Sinn waltete, der es verstand, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.
Unweit dieses Bauernhofes, auf einer etwas tieferen Stelle hielt ein Reiter sein Pferd an und wandte es, um sich der Aussicht zu erfreuen – eine etwas wunderliche Erscheinung, sowohl was den Reiter wie was das Pferd betraf. Der Reiter war ein unansehnliches, vor Alter zusammengeschrumpftes Männchen, das Pferd ein tadellos gewachsenes Thier in voller Kraft und Frische der Jugend. Es schüttelte den schlanken Hals und scharrte ungeduldig mit dem Vorderfuße, indeß der stattliche Schweif ihm die eigenen Lenden peitschte – gleichwohl gehorchte es der Leitung des Reiters so bereitwillig, daß schon daraus sich erkennen ließ, daß das Männlein aus den Zeiten seiner Jugend diese Kunst wohl bewahrt herübergebracht haben mußte. In Einem Punkte stimmten Beide überein – das war der ungewohnte und eigenthümliche Schmuck, womit Beide geziert waren. An der Stirn des Pferdes saß eine Rose von rothem Seidenbande; Mähne und Schweif waren mit Schnüren und Troddeln von gleicher Farbe durchflochten, und die Bezäumung um die breite Brust mit einem Kranze aus lebendigen Blumen umwunden; der Reiter hatte mächtige bebänderte Blumenbüschel an Hut und Brust stecken, und an einer Schnur hing ihm über die Schulter ein alterthümlicher, aus irgend einer Rüstkammer entnommener Säbel herab, ebenfalls reich mit Bändern und Fransen geziert. Er sah etwas abenteuerlich aus, und das Einzige, was zu dem Schmucke und dem stattlichen Pferde [446] stimmte, war das Gesicht des Alten, das in seiner lebensfrischen Heiterkeit nichts davon zu wissen schien, daß auf dem Scheitel über ihm schon lange der Schnee jenes Winters lastete, den kein Frühling wieder zu schmelzen vermag.
Es war der Hochzeitlader der Gegend – ein Mann, der als ein jüngerer Sohn seines Hauses den Feldzug nach Rußland mitgemacht, aber nichts zurückgebracht hatte als erfrorene Zehen, ein unscheinbares Kreuzlein aus Kanonenmetall und seine Erinnerungen, die um nichts in der Welt ihm feil gewesen wären. Mit der Bauernarbeit war es bald nicht mehr recht von der Hand gegangen; darum hatte er zu einem leichteren Gewerbe gegriffen und war Musikant geworden. Es kam ihm dabei sehr zu gut, daß er in seiner Bubenzeit das Kuhhorn zu blasen verstand; ein Hautboist, der mit ihm nach Tobolsk in die Gefangenschaft geschleppt worden, hatte die Fähigkeit an ihm entdeckt und ihn zum Trompeter ausgebildet. Als auch das Trompetenblasen nicht mehr gehen wollte, weil mit den Zähnen der Ansatz verschwand; übernahm der Trompeten-Franzel das Geschäft eines Hochzeitladers, zu dem ihn Alle für vollkommen befähigt erkannten, denn der Hochzeitlader muß ein Mann von aufgewecktem Sinne und nie versiechender Lustigkeit sein, und mit den anderen Denkzeichen hatte der Reiter aus Sibirien seinen fröhlichen Sinn ganz und unverfroren zurückgebracht. Er war deshalb überall beliebt, und wo er einsprach, empfingen ihn meist lachende Gesichter und ein freundlicher Handschlag; wußte er doch vom Kriege und seiner Gefangenschaft, von den fremden Leuten und Ländern, vom Bonaparte und den anderen Potentaten, die er gesehen, allerlei Merkwürdiges zu erzählen, was immer gut lautete, wenn man es auch schon oft gehört hatte. Außerdem war er ein lebendiges wanderndes Liederbuch; es gab kein „Gesang“, das in der Gegend jemals beliebt gewesen, das er nicht neben der Singweise kannte, wenn es noch so viele „Gesätzel“ hatte, und von den vielzeiligen Lust- und Trutzreimen, die Schnaderhüpfel genannt werden, war er so vollgepfropft, daß er bei jedem Anlaß irgend einen zur Gelegenheit passenden vorzubringen wußte.
Eine andere, nicht minder seltene Kenntniß verschaffte ihm vieles Ansehen und manche nicht unbelohnte Anfrage, war ihm aber auch vielfach zur Quelle des einzigen Aergers geworden, der seinen heiteren Lebensabend umwölkte. Durch lange Beobachtung und ein treffliches Gedächtniß hatte er sich alle sogenannten Bauernregeln zu eigen gemacht, welche der hundertjährige Kalender enthält und in denen das Landvolk damals, wie noch jetzt, die unfehlbaren Anhaltspunkte erkannte, nach denen im Hause gewaltet und in der Wirthschaft geschaltet werden muß, damit sie gedeihen; mit diesen war er jederzeit schlagfertig zur Hand, gerade diese Schlagfertigkeit aber war die Veranlassung, daß ihm einige übermüthige Bursche den Spott- oder Spitznamen „das Wettermann’l“ gaben, der ihm fortan trotz alles Abwehrens und Schüttelns wie eine Klette anklebte und ihn verfolgte, gleich einem spöttischen Widerhall.
Der Hochzeitlader hatte sich endlich satt gesehen. Er wandte sein Rößlein und ließ es langsam und sorglich den etwas steil und steinig ansteigenden Hohlpfad zum Schlösselbauernhofe hinantraben; war es doch nicht sein Eigenthum, und es würde ihn in bösen Ruf gebracht haben, wenn dem schönen Thiere auf seinem Umritte etwas zugestoßen wäre. Es war nämlich Brauch, daß der Bräutigam, zu dessen Hochzeit eingeladen werden sollte, dem Hochzeitlader das beste Pferd aus seinem Stalle gab; aus der Trefflichkeit desselben und dem Reichthum seines Schmuckes konnte sogleich und voraus die Wichtigkeit und Bedeutung der Hochzeit so wie die Wohlhabenheit des Brautpaares entnommen werden.
„Schau, da komm’ ich einmal gerade recht,“ brummte der Hochzeitlader vor sich hin, als er den Hof selbst erreicht hatte, „da ist das Schweizerwägerl des Bauern schon aus dem Schupfen herausgeschoben. Er wird wahrscheinlich auch nach Diessen hinauffahren zum Markte; wenn ich mich ein Bissel versäumt hätte, hätt’ ich ihn nicht mehr getroffen, jetzt aber ist er gewiß zu Haus und kann mir nicht auskommen. Richtig, da steht er ja schon auf der Gräd’,“ setzte er mit sichtbarem Vergnügen hinzu, „und hat schon das ganze Sonntagsgewand an …“
Er zog die Zügel des Pferdes an, daß es, den Kopf erhebend, mit zierlich tänzelnden Füßen sich den Stufen näherte, wo er grüßend den Hut zog und mit freudiger Miene gewahrte, wie sehr er willkommen war, denn der Mann auf der Gräd schien ihm zuzunicken und mit dem Arme zu winken. Er hatte wohl Ursache sich dieses Entgegenkommens zu freuen, denn in der Regel wollte die Sitte, daß der Gast, welcher zur Hochzeit geladen werden sollte, sich nicht gleich finden ließ und wohl gern, um die Sache anziehender zu machen, aus dem Hause entfloh, oder sich darin versteckte, dem Hochzeitlader die angenehme Mühe bereitend, alle Winkel und Behältnisse, vom Speicher bis zum riesigen Krautfaß durchsuchen und den flüchtigen Schäker mit ungeheurem Jubel und Spaß entdecken zu müssen.
Auf dem Schlösselhofe schien ihm diesmal die Mühe erspart; mit lauter Stimme begann er daher seinen Ladespruch, ohne das Mädchen zu beachten, das, einen Melkkübel voll Milch auf der Schulter tragend, um die Hausecke gekommen war und, an derselben stehen bleibend, dem Beginnen des Alten mit Verwunderung und einer Miene zusah, in welcher die Fröhlichkeit jeden Augenblick in lautes Lachen auszubrechen drohte.
Das Mädchen wäre wohl der Beachtung werth gewesen – mit ihr hatte sich das anmuthige Bild, welches der Schlösselhof bot, erst vollendet und abgeschlossen – der schönen leblosen Natur hatte ein schönes Menschenleben gefehlt, und dies konnte kaum in anmuthigerer Gestalt erscheinen als in dieser. Groß und kräftig gebaut, hatte das Mädchen doch nicht das mindeste Plumpe oder Schwerfällige an sich, und die Art, wie sie mit dem vollen luftgebräunten Arme den Milcheimer auf der Schulter hielt, während der andere sich gefällig auf die schwellende Hüfte stützte, hätte vielleicht manchen Bildner zur Nachahmung begeistert oder an ein schönes Muster aus alten Zeiten erinnert.
Diese Erinnerung wäre auch nicht gestört worden, weder durch den schlanken Hals, auf dem sich das Oval des Kopfes wiegte, noch durch die reichen, in Zöpfen und Knoten um denselben geschlungenen lichtbraunen Haarflechten. Minder vielleicht hätte einem solchen Beobachter das Angesicht selber entsprochen: es hatte ein für einen Mädchenkopf vielleicht zu starkes Gepräge der Entschiedenheit, doch leuchteten in ihm ein Paar blaue Augen voll so milder Güte, daß ihr Glanz ausreichte, die strengeren Linien der Stirn und Nase vergessen zu machen. Es war deutliche Schrift in diesen Zügen – ein harter eigenwilliger Sinn, aber ein weiches hingebendes Herz. Das Gewand, das sie trug, war das bäuerliche der Gegend, aber es war nicht viel davon zu gewahren; eine breite Vor- und Rückschürze von grobem Zwilch war darüber gebunden. Offenbar war die Trägerin zum Ausgange bereit und hatte, um den Anzug zu schonen, dieselbe bei der wirthschaftlichen Arbeit übergeworfen, die ihre häusliche Sorgfalt keiner Andern überlassen wollte.
Der Hochzeitlader begann – ein frischer Windzug jagte ihm das weiße Haar auf dem entblößten Kopfe durch einander, und der Mann auf der Gräd winkte lebhaft mit dem Arm.
„Gelobt sei der Herr und benedeit!
Er behüt’ und segne zu aller Zeit
Dieses christliche Haus bei Nacht und Tag
Vor wildem Feuer und Hagelschlag,
Vor Krieg und Pest und vor Hungersnoth,
Das ist mein Gruß und –“
Der Alte brach ab und wandte sich erzürnt um; das Mädchen hatte seine Lustigkeit nicht länger zu bewältigen vermocht – sie lachte hell und herzlich auf, daß sie den schwankenden Milcheimer von der Schulter nehmen und auf das Geländer stellen mußte.
„Was ist denn das für ein neuer Brauch,“ rief er unwillig, „daß man den Hochzeitlader in seinem Spruch unterbricht und noch gar auslacht?“
„Aber so schau Dich nur einmal recht um, Du blinder Six!“ antwortete noch immer lachend das Mädchen. „Mit wem red’st Du denn? Wem hast Du denn Deinen Spruch sagen wollen? Es ist ja gar kein Mensch da, und das dort ist dem Schlösselbauern sein Sonntagsgewand, das ich aufgehängt hab’ zum Auslüften, weil er heut nach Diessen fahren will, auf den Markt …“
War dem Alten schon die Unterbrechung zuwider gewesen, so war die Aufklärung vollends nicht geeignet, seinen Unmuth zu verscheuchen; war doch seine abnehmende Sehkraft die einzige Schwäche, die ihn manchmal empfindlich an seine Jahre mahnte und die er daher auf’s Sorgfältigste zu verbergen bemüht war. Daß er nun einen solchen Verstoß gemacht, das aufgehangene [447] Gewand des Bauern für diesen selbst und das Windwehen der Aermel für Winke anzusehen, war ihm im höchsten Grade ärgerlich: der Vorfall konnte durch die Zeugin desselben nur zu bald unter die Leute kommen und ihn auf lange Zeit zum Zielpunkte des allgemeinen Gespöttes machen. Es war daher erklärlich, wenn der Ton seiner Erwiderung noch unwirscher klang, als der erste Anruf geklungen hatte.
„Das ist auch was Rechtes, daß Du einen alten Mann so anlaufen lassest,“ rief er. „Für was stehst Du denn da und schaust, anstatt daß Du mir zurufst und mir aus dem Traum hilfst? Ws ist denn der Schlösselbauer, und wer bist denn Du, Du übermüthige Dingin? Die Oberdirn’ vermuthlich, weil Du vom Melken kommst?“
„Siehst Du das doch?“ erwiderte noch immer lachend das Mädchen, und ihr Lachen klang, gegen das Brummen des Alten, wie das helle Geschwätz nestbauender Schwalben gegen das schwermüthige Gurgeln eines einsamen Tauberichs. „Hast Du meinen Melkkübel nicht für den Taubenschlag angeschaut oder mich selber für einen Spatzenschrecker? Kannst es eben schon errathen haben, daß ich die Oberdirn’ bin, brauchst Dich aber nicht zu sorgen deswegen, altes Wettermann’l; ich werd’ die Geschicht’ Niemandem erzählen, und da kommt auch schon der Schlösselbauer aus dem Haus. Kannst Deinen Spruch gleich von vorn anfangen.“
Lachend verschwand sie hinter dem Hause, auf der Schwelle aber erschien der Herr desselben, eine echte kernhafte Bauerngestalt mit einem Angesichte, in welchem sich Klugheit und Gutmüthigkeit vermischten. Er überhob den Alten, der, um nicht einen neuen Irrthum zu begehen, ihn vorsichtig betrachtete, alles Zweifels und rief ihm zuerst seinen Gruß entgegen.
„Du bist da, Hochzeitlader?“ rief er lustig. „Jetzt freut mich mein Leben, daß ich so eingangen und Dir so in die Hände gelaufen bin. Wenn ich Dich hätt’ kommen sehen, hätt’ ich mich versteckt, daß Du gewiß eine gute Weil zu suchen gehabt hättest, aber weil es einmal so ist, so schieß’ los, mach’ Deinen Spruch, und dann steig’ ab, bind’ Dein Rößl an und setz’ Dich zu mir auf die Gräd, damit ich Dir die gehörige Ehr’ anthu! Hast ja ein wahres Prachtfüchsel unter Dir … mit einer weißen Bläss’ auf der Stirn und vier weißen Füßen, als wenn es seidene Strümpf’ anhätte. Was gilt es, das Schweißfüchsel? Ist es feil um dreißig Karlin?“
Der Hochzeitlader war viel zu sehr von dem Ernste und der Wichtigkeit seines Amtes durchdrungen, als daß er sich herabgelassen hätte, auf solche unwürdige und fremdartige Nebendinge einzugehen – er ließ den Schweißfuchs seine Künste machen, nahm den Hut ab und begann abermals seinen Spruch, aber auch der Schlösselbauer wußte zu leben. Er fuhr in die Aermel seines Rockes, der schon einmal seine Rolle so glücklich gespielt hatte, nahm den Hut von der Stange und trat dem Boten entgegen, um die Ladung mit aller Würde eines Großbauern in Empfang zu nehmen.
Sie galt der Hochzeit des Zacharias Weindl, eines der reichsten Bauerssöhne aus dem Nachbardorfe, der die nicht minder wohlhabende ehr- und tugendsame Jungfrau Mechtild Brunnerin vom jenseitigen Seegestade heimzuführen gedachte, ein schönes Müllerkind, das überdies zu den reichsten und gesittetsten der ganzen Gegend gehörte. Es sollte daher eine sogenannte große Hochzeit geben, bei der Alles, was irgend Namen und Gewicht in der Gegend hatte, zugegen sein mußte, natürlich auch die Verwandten und fernsten Verschwägerten, deren Ausbleiben eine nicht leicht zu sühnende Beleidigung gewesen wäre. Die Hochzeit versprach aber auch an sich selbst viele Neugierige herbeizulocken, denn es war lange im Lande kund geworden, daß das neue Paar nicht, wie meistens der Fall, von Rücksichten der Zweckmäßigkeit und kluger Berechnung zusammen geführt war, sondern mit einer Zärtlichkeit und Liebe aneinander hing, welche kaum in verfeinerten städtischen Verhältnissen, gewiß aber nicht unter den schlichten Bauersleuten der Gegend bis dahin ein Beispiel gehabt. Es war nicht zu verwundern, daß die ungewohnte Zärtlichkeit des Verhältnisses den gesunden Augen des Volkes Blößen bot, so daß dem Paare, wo es in der Ueberschwenglichkeit seines Glückes sich zeigte, die Mücken des Witzes um die Ohren summten und wohl auch der Spott den Wespenstachel an ihm übte.
Der Ladespruch war diesmal ohne Unterbrechung vor sich gegangen, das Brautpaar mit dem Beispiele Adam’s und Eva’s entschuldigt, daß es in den Stand der heiligen Ehe zu treten entschlossen war, der ehrenfeste und tugendsame Herr Vetter Uttinger vom Schlösselbauernhof nach Gebühr in die Kirche und zum Mahle geladen, auch das Mahlgeld bestimmt und zu guter Letzt die Gesundheit ausgebracht worden für den „Uttinger und das ganze Uttinger’sche Haus“. Der Begrüßte hinwieder spielte seine Rolle nicht minder gut; wie die Sitte forderte, stellte er sich zuerst über alle Maßen verwundert an, daß ihm eine so außerordentliche Ehre widerfahren, die er sich gar nicht erklären und daher auch nicht annehmen könne. Endlich auf dringendes Zureden des Laders mußte er sich doch dazu entschließen und that es unter dem geschickten Vorwande, daß er sich einer weit entfernten Verwandtschaft besann, welche ihm erlaubte, ohne Aufdringlichkeit bei einer so seltenen Feierlichkeit zu erscheinen. Damit war das Ceremoniell des Geschäfts erledigt, und der Alte folgte der Einladung des Bauers, auf der Gräd mit ihm den Willkomm zu genießen: einen Imbiß, an dessen Reichlichkeit und schneller Bereitung wie an einem Gradmesser zu erkennen war, in welcher Achtung das Brautpaar stand.
An Beidem war kein Mangel auf dem Schlösselbauernhofe.
Die Milchträgerin war während des Gesprächs wiedergekommen, hatte den Klapptisch herunter gelassen und auf dem schneeweißen darüber gebreiteten, rothgeränderten Tuche eine Schüssel mit einladendem Selchfleische nebst einer Flasche Kirschgeist aufgestellt, beides Erzeugnisse der eigenen Wirthschaft und der Stolz des Hauses. Das Salzfaß stand daneben und auch der angeschnittene Brodlaib, in welchem das Messer steckte, mangelte nicht, die altgewohnten Zeichen, daß der Gast willkommen sei und im Frieden des Hauses stehe. Der Bauer ergriff die gefüllten Stengelgläser und ging dem Alten damit entgegen; sie stießen an und saßen zu beiden Seiten des Klapptisches nieder – das Mädchen lehnte in der Thür und sah der Begrüßung zu.
„So wollen wir halt Gesundheit trinken auf das Brautpaar,“ sagte der Bauer, das Glas wieder erhebend, „und wollen ihm wünschen, daß es die silberne und gar die goldene Hochzeit erlebt und bei einander aushält wie am ersten Tage. …“
„No, no,“ lachte der Alte, „ein bissel was wird sich schon herunter handeln lassen in der langen Zeit, aber sie werden wohl auskommen, sind ja verliebt in einander wie ein Paar Maikatzeln.“
„Ich versteh’ zwar nichts davon,“ unterbrach ihn das Mädchen, indem sie sich noch bequemer an das Thürgerüst lehnte und dem Alten, der sich, das Glas in der Hand, überrascht nach ihr umwandte, mit verstellter Ernsthaftigkeit in’s Gesicht sah, „aber Du als Wettermacher wirst wohl wissen, wie das ist. Ich für meinen Theil, ich hab’ einmal eine Wetterregel gehört – die hat geheißen:
‚Was kommt oft geschwind und dauert selten?
Die große Lieb’ und die große Kälten.‘“
Der Hochzeitslader hatte sein Glas vor Verwunderung wieder niedergestellt und sah bald auf die Dirne, die sich so unberufen in’s Gespräch mischte, bald auf den Bauer, wie fragend, ob er solche Keckheit dulde.
„Wirst aber wohl Recht haben,“ fuhr das Mädchen fort, „sie werden schon auskommen, sollen ja in einander hineinschauen wie in einen Spiegel. Ist es wahr, daß er neulich beim Kornschneiden, weil er sie über’m Graben hat stehen sehen, zu ihr hingelaufen ist und hat vor lauter Schauen das Brückel übersehen und ist in den Graben hineingeplumpst wie ein Mehlsack? Ist das wahr, Wettermann’l?“
„Du hast eigene Brauch’ in Deinem Haus’, Schlösselbauer,“ sagte der Hochzeitslader, „gefallt Dir das so besonders, wenn die Ehhalten (das Gesinde) überall so dreinreden?“
„Ehhalten?“ fragte der Bauer verwundert. „Von wem redst denn?“
„Von wem sonst, als von der Dirn’, die dort in der Thür lehnt, als wenn sie hingeheirathet hätt’ – von Deiner geschnappigen Oberdirn’ …“ entgegnete der Hochzeitlader etwas gereizt.
Jetzt war die Reihe zu lachen an den Bauern gekommen. [448] „Meine Oberdirn’? Das meine Oberdirn’?“ rief er, trotz der finsteren Miene des Alten, „jetzt freut mich mein Leben. Das ist ja …“
„Ich seh’ schon,“ sagte das Mädchen dazwischen tretend, „ich seh’ schon – ich muß Dir wohl selber aus dem Traum helfen; sei nicht harb, wenn ich Dich ein wenig geföppelt habe. Ich bin nit die Oberdirn’ – ich bin die Tochter vom Haus, die Schlösselbauern Kuni, die Dir recht schön ‚Grüß Gott!‘ sagt. Gieb mir eine Patschhand und trage mir’s nicht nach, was wir mit einander gewörtelt haben!“
Vergnügt schlug der Alte in die dargebotene Rechte ein, aber er fand nicht gleich Worte, seiner Ueberraschung und seinem Staunen über die schöne Entwickelung des Mädchens Ausdruck zu geben, das er seit Jahren nicht wieder gesehen, weil ihn sein Weg nie auf den einsamen Schlösselhof geführt hatte. Das Bild war daher in seiner Erinnerung so gut wie erloschen.
„Ja, bist Du’s wirklich, Kuni?“ rief er dann. „Ist es denn möglich, daß man sich so verwachsen kann in ein paar Jahrl’n? Wie ich Dich zuletzt gesehn habe, da bist noch ein kleines Bäumel gewesen, nur so ein Staudenwerk, über das man noch so hinüberschaut, und jetzt stehst vor mir da kerzengerade und weiß und roth über und über, wie ein Apfelbaum in der Blüh. Nichts ist mehr da von dem Dirnl’, das so verzagt und bleich herumgegangen ist – nichts als die guten blauen Augen, und drum nehm’ ich Deine Patschhand an und sage mit freudigem Gemüth: ‚Grüß Dich Gott!‘“
„Grüß Dich Gott auch noch einmal!“ entgegnete Kuni lachend, indem sie sich den Männern gegenüber auf der Bank niederließ. „Also nichts mehr für ungut! Mußt Dir halt denken, daß man gern lacht in der Jugend, und Du glaubst es nicht, wie spaßig das ausgesehen hat, wie Du vor der Gräd da gestanden bist und hast so ernsthaft in den Rock hinein geredt …“ Sie fing über der Erinnerung wieder zu lachen an und war kaum im Stande, vor Gekicher dem fragenden Vater das Vorgefallene zu erzählen; sie that es aber mit solcher Lustigkeit, daß auch der Zuhörer davon ergriffen wurde. Sie schilderte lebhaft, wie der Wind von Zeit zu Zeit einen Aermel aufgehoben und wie der Reiter dann allemal mit dem Kopf genickt habe, weil er gemeint, der Rock winke ihm. Der Vater schlug vor Vergnügen auf den Tisch und lachte, daß ihm die Augen übergingen, und rief einmal über’s andere: „Jetzt freut mich mein Leben. Die Narrethei hätt’ ich auch mit ansehen mögen.“ Zuletzt mußte auch der Hochzeitlader einstimmen, und das Kleeblatt lachte so laut und einmüthig zusammen, daß aus der Linde ein erschrockener Spatzenschwarm aufrauschte und der Stallbub, der eben dem Schweißfuchs ein Bündel Heu vorgeworfen, verwundert nach der Gräd hinauf sah und sich seine Gedanken machte, worüber doch der Bauer so lachen könne, der sonst immer auf den Heuboden hinauf gehe, wenn ihn das Lachen ankomme.
„Du bist ja ein Kernmädel geworden, Kuni,“ rief der Hochzeitlader nach einer Weile. „Und wie Du Dich sauber ausgewachsen hast! Es ist nur gut, daß Du da heroben in der Einöde hausest, sonst thätst Du am See auf und ab den Buben allen die Köpf’ verdrehen.“
„Meinst nicht,“ rief Kuni, „daß nachher mancher Kopf erst auf seinen rechten Fleck kommen thät?“
„Bist so scharf?“ fragte der Alte rasch entgegen. „Oder hast Dir gewiß schon Einen ausgesucht. Nur heraus mit der Farb’ – der Hochzeitlader ist schier wie der Beichtvater – heraus mit dem Namen, und ich zäum’ den Schweißfuchsen gar nicht ab und mach’ gleich meinen Ritt für Dich; dem Bauer wird’s recht sein, denk’ ich.“
„Jede Stund’!“ rief dieser. „Es ist zwar allemal eine harte Sach’ um’s Ein-Heirathen. Wenn ein Mädel hinausheirathet und Bäuerin wird auf einem fremden Hofe, das ist bald abgemacht, aber wenn man keinen Buben und nur so ein einziges geschupftes (thörichtes) Mädel hat, wie ich, da braucht’s wohl Ueberlegen, bis man einen fremden Burschen als Herrn und Schwiegersohn hereinsetzt in seine schöne Sach’, aber ich thät mir doch gar nichts daraus machen. Mir ist’s alle ’Bot recht, wenn sie sich einen Mann aussucht, aber sie will ja nichts davon hören. Es sind schon ein paar richtige Hochzeiter dagewesen, denen sie ganz gut gefallen hat …“
„Ich – oder der Schlösselbauernhof,“ sagte Kuni gelassen, „aber laß das gut sein, Vater! Mußt mich nicht drücken und drängen. Ich bin jung, Vater, und Du bist auch noch in den guten Jahren. Wir können alle Zwei noch warten, mein’ ich.“
„Das hast schon oft gesagt,“ erwiderte der Bauer, „aber über dem Warten geht die schönste Zeit dahin, und eh’ Du Dich recht umgeschaut hast –“
„Werd’ ich unter’s alte Eisen gehören?“ unterbrach sie ihn lachend. „Kann schon sein, aber dann wird’s mir wohl so aufgesetzt sein in meinem Planeten, oder, wenn’s durchaus geheirathet sein muß, nehm’ ich halt auch einen Alten – weißt, so einen Uebertragenen, der froh ist, wenn er den Hof kriegt, und das alte Eisen als Dreingab’ dazu.“
Der Hochzeitlader war verstummt und sah das Mädchen unverwandt mit steigendem Wohlgefallen an; eine solche Vereinigung von Liebenswürdigkeit und gemüthlicher Heiterkeit war ihm noch nicht vorgekommen, der Vater aber schüttelte den Kopf und brummte halblaut vor sich: „Ja ja, es ist alleweil’ der alte Umgang – da freut mich mein Leben.“
„Und dann ist’s das nicht allein,“ fuhr Kuni fort, indem sie zu dem Vater trat und ihm die Hand auf die Schulter legte. „Ich weiß wohl, daß es Brauch und einmal so eingerichtet ist in der Welt, daß wir Weiberleut’ heirathen sollen, aber es bleibt halt doch immer eine ernsthafte Sach’, bis man so für’s ganze Leben Ja sagt. Und wenn man auch nicht in einen Graben zu fallen braucht vor lauter blinder Lieb’, so mein’ ich doch, ein Bissel was müßt’ sich doch unter’m Brustfleck rühren, wenn man Dem begegnet, der Einem beschaffen ist. Ich bin noch keinem solchen begegnet, und so denk’ ich, wird’s das Gescheidteste sein, wenn ich noch eine Weil’ still voran geh’ und warte, bis das etwa geschieht.“
„Wie ich halt’ sag’,“ rief der Hochzeitlader und klatschte vor Vergnügen in die Hände, „Du bist eine grundgescheidte Person, Kuni, kannst alle Tag’ eingeben um’s Professor werden. So ist’s recht, daß Du Dich nicht übereilst und Dich nicht verbandelt hast, damit Du frei bist, wenn einmal der Rechte kommt, bei dem es Dir unter’m Mieder zu krabbeln anfangt. Ich kenn’ ihn, den Rechten, und will meiner Lebtag’ nimmer auf’s Hochzeitsbitten geh’n, wenn er Dir auch nicht gefallt. Wenn Du mir einen schönen Kuppelpelz versprichst, sag’ ich Dir seinen Namen und mach’ die Sach’ in Richtigkeit. ‚Schür’, Bartel, schür!‘ sagt der Laurentius zum Bartholomä. ‚In vierzehn Tagen ist’s an Dir –‘ Auf die Hochzeit, zu der ich heut’ einlad’, kommst noch als Gast und als Kranzeljungfer, und zwei Wochen darauf soll Deine eigene sein.“
„Jetzt freut mich mein Leben,“ sagte der Bauer. „Du tragst die Hochzeiter wohl so zum Aussuchen im Sacke mit Dir herum? Wer wär’ denn nachher das Prachtmuster von einem Schwiegersohne? Nur heraus mit dem Namen! Am Kuppelpelze soll’s nicht fehlen.“
Kuni hörte mit eigenthümlichem Lächeln zu; es war ihr gleichgültig, welcher Name auch genannt werden würde, und doch war sie neugierig, denselben zu hören. Sie weigerte sich nicht, als der Alte nochmals die Gläser füllte und sie aufforderte, mit ihm anzustoßen. „Der künftige Hochzeiter!“ rief er, „er soll leben!“
„Er soll leben!“ lachte Kuni. „Warum soll ich ihn nicht leben lassen? Das bissel Leben ist ihm nicht zu gut, aber er muß doch schon ein bissel schadhaft sein, weil Du so lange brauchst, bis Du ihn aus der Baumwolle heraus wickelst …“
„Aha, kannst es schon nicht mehr erwarten? Ich wundere mich eigentlich, daß Ihr nicht selber darauf verfallt. Es ist doch gewiß kein zweiter Bursche wie der am ganzen See, und Ihr müßt ihn ja ganz gut kennen …“
„Wer wär’ denn das?“ fragte der Bauer voll Erwartung; Kuni sagte nichts, aber ihr Blick zeigte, wie sehr auch sie auf den verlangten Namen gespannt war. Das Glas schwankte in ihrer Hand.
„Der Sylvest’ ist es,“ sagte der Alte, „der Sohn von Eurem Nachbar, dem Buchmair; er ist ja keine zweitausend Schritt’ von Euch weg. Wie habt Ihr nur auf den vergessen können? Ich mein’ doch …“
Er sprach seinen Satz nicht aus, denn im nämlichen Augenblicke flog das Glas aus Kuni’s Hand auf die Ziegelplatten der Gräd, daß es klirrend in Splitter ging, vor ihm aber stand
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das Mädchen, völlig verändert, daß er sie kaum wieder zu erkennen vermochte: sie schien größer geworden zu sein, so stolz hatte sie sich aufgerichtet; das Lächeln war aus dem zorngerötheten Antlitze entflohen, und die erst so freundlichen blauen Augen loderten von unheimlichem Feuer. Der Arm, der das Glas weggeschleudert, war noch hoch erhoben, daß der Alte sich unwillkürlich davor niederbückte.
„Das Glas hat eigentlich nur einen einzigen Fehler,“ seufzte unser Freund, ein alter Junggesell, als wir an einem nachwinterlichen Märztage zu Dreien hinter der zwei Meter hohen Spiegelscheibe einer behaglich warmen Conditorei saßen und wohlgeschützt dem Unwetter und Schneetreiben auf der Straße zuschauen konnten, „den großen Fehler, daß es so spröde ist wie die jungen Mädchen, und diese Unart nicht einmal, wie diese doch zuweilen thun sollen, im Alter ablegt. Denkt Euch, gestern ist einer von meinen schönen, prächtigen, alten Humpen –“
„Den Weg alles Glases in den Müllkasten gewandert,“ ergänzte sein Nachbar, der Oberlehrer, als er sah, daß dem Liebhaber um sein schönstes Stück die Augen feucht wurden, „nun, Sie werden gehört haben, daß man diese Unart auch dem Glase künftig abgewöhnen wird und daß es mit den schönen Sprüchwörtern: ‚Glück und Glas‘ – ‚Wer in einem Glashause sitzt‘ und wie sie sonst noch heißen mögen, Matthäi am Letzten steht.“
„Ich habe es gelesen, glaube aber nicht daran,“ sagte der Liebhaber mißmuthig.
„Ich sehe keine Veranlassung zum Zweifel,“ erwiderte der Schulmeister, „und übrigens ist das durchaus keine neue, sondern eine ganz alte Entdeckung, die man bereits in den ersten Jahrzehnten unserer Zeitrechnuung gemacht hat. Plinius erzählt im vorletzten Buche seiner Naturgeschichte, daß zur Zeit des Kaisers Tiberius ein römischer Künstler erfunden habe, biegsames Glas zu machen, daß man aber seine Werkstätte zerstört habe, damit einem so fehlerfreien und vollkommenen Material gegenüber nicht Gold, Silber und Kupfer ihren Werth verlieren möchten. Petronius, der Vertraute Nero’s, berichtet, daß der Künstler mit einer aus feinem neuen Glase gefertigten Vase vor dem Kaiser (Tiberius) erschienen sei, um sie ihm als Geschenk zu bieten, und daß er sie in dem Augenblicke, wo dieser sie habe fassen wollen, auf den Estrich geworfen habe. Der Kaiser sei äußerst erschreckt zurückgetreten, als der Künstler die Vase aufgehoben und ihm gezeigt, daß sie nur eine kleine Beule davongetragen, welche er mit einem in seinen Gürtel mitgebrachten Hämmerchen sogleich wieder beseitigt habe. Der Künstler, fügt Petronius hinzu, glaubte den Olymp sich ihm öffnen zu sehen, als der Kaiser ihn frug, ob noch ein Anderer um das Geheimniß, solches Glas zu machen, wisse, aber als er dies verneinte, ließ er ihn enthaupten, unter dem Vorwande, daß eine solche Kunst schädlich sei, weil sie das Gold entwerthen würde. Der wahre Grund, meine ich, könnte wohl nur gewesen sein, daß Tiberius der Einzige sein wollte, welcher ein solches Gefäß besäße, nach Dio Cassius wäre es aber vielmehr Mißtrauen und Furcht gegen einen so geschickten Menschen gewesen, welche den Kaiser zu dieser schändlichen That veranlaßt hätten. Nach dieser dritten Lesart hätte der Kaiser den Künstler früher, als er einen gesunkenen Säulengang in Rom mit bewunderungswürdigem Geschick gehoben, reich beschenkt, aber aus Rom, wo er so erfindungsreiche Künstler nicht haben wollte, verbannt. Allein dieser, welcher den Beweggrund der Ungnade nicht recht eingesehen haben mußte, sei wieder vor dem Kaiser erschienen und habe ein vor seinen Augen am Boden zerschmettertes Glasgefäß mit den Händen wieder zusammengefügt, um durch diese Kunstfertigkeit die Huld des Tyrannen wieder zu gewinnen. Der Kaiser aber konnte hierin nur den Beweis finden, daß der Mann wirklich gefährlich sei, und ließ ihn tödten. Es scheint mir zweifellos, daß den Erzählungen eine Thatsache zu Grunde liegen muß.“
„Wenn die Sache sich so verhält,“ nahm unser Junggesell, das Wort, „so bin ich noch fester von der alten, wie von der neuen Erfindung überzeugt, denn in Glaskünsteleien waren die Alten uns in der That weit überlegen. Im Alterthume wurden aber solche Künsteleien auch bezahlt. Gewiß haben die Alten nicht so schöne Spiegelscheiben gemacht, wie die, hinter der wir hier sitzen, weil die Witterung im Süden weniger dazu nöthigte, aber man leistete in anderer Beziehung Staunenswürdiges, goß Glassäulen für Tempelhallen, und in dem berühmten Theater des Aedilen Scaurus war ein Stockwerk ganz aus Glas gebaut. Was meinen Sie dazu,“ wandte er sich an mich, „sollte man es nicht durch eine besondere chemische Mischung dahin bringen, Glas so elastisch und biegsam wie Glimmer und Marienglas zu machen?“
„Ich halte die Angaben für gar nicht so unglaublich,“ entgegnete ich, „denn am Ende beweisen ja doch die Schmuckfedern, Blumen, Quasten und Perrücken, welche man aus gesponnenem Glase anfertigt, wie sehr elastisch dieses Material sein kann.“
„Ganz recht,“ warf der Kunstfreund ein, „aber diese Glasfäden sind trotz ihrer Dünnheit keineswegs vollkommen elastisch und brechen sehr leicht, wenn man sie stark zusammenbiegt.“
„Gerade wie auch die Damascener Stahlklingen zuletzt brechen, während der gar nicht elastische Zinnstab zwar ‚schreit‘ wenn man ihn biegt, aber nicht bricht,“ erwiderte ich. Auch macht man jetzt Gespinnste aus Glasfäden, die vollkommen weich und nur zerreißbar, aber nicht zerbrechlich sind. Man erzeugt das Glasgespinnst, wie Sie wohl wissen werden, indem man ein Stäbchen von gefärbtem oder ungefärbtem Glase in einer Gebläselampe anschmilzt, die Spitze wie Siegellack zu einem Faden auszieht und diesen auf die Umfangsrinne eines großen Spinnrades bringt, welches so schnell, wie nur immer möglich, gedreht wird. Es spult sich dort ein endloser, so lange der Stab in der Flamme bleibt, beinahe niemals reißender Faden auf. Ein österreichischer Glaskünstler, Julius von Brunfaut, fand vor einer Reihe von Jahren, daß eine besondere Glassorte hierbei nicht den gewöhnlichen, starren, haarartigen Glasfaden gab, sondern ein unendlich feineres Gespinnst, welches, von dem Rande des Spinnrades entfernt, sich sofort auf etwa den fünften Theil seiner Länge zusammenkräuselt und mit der hohen Weichheit loser Seide den höchsten Atlasglanz verbindet, so daß aus dunkelgelbem Glase eine Wolle gewonnen werden kann, welche diejenige des goldenen Vließes Jason’s täuschender nachahmt, als es je die Phantasie eines Dichters sich in ihren Träumen ausgemalt hätte. Aus solchen Glasfäden, die den Spinnenfaden unendlich an Feinheit übertreffen, habe ich auf der Wiener Weltausstellung Gewebe gesehen, gegen welche die sogenannte „gesponnene Luft“ der Indier, d. h. ihre feinsten Shawls, als recht grobe irdische Fabrikate erschienen. Im Märchen wird von schimmernden Feenkleidern erzählt, die in einer Nußschale Platz hatten. J. von Brunfaut hat aus feiner Glaswolle Gewebe von einer ähnlichen ätherischen Feinheit fertigen lassen, z. B. Brautschleier von drittehalb Ellen im Geviert, die in einer wallnußgroßen Kapsel Platz haben und durch einfaches Anblasen in ihrem ganzen märchenhaften Schimmer entfaltet werden. Er hat aus diesem nicht nur elastischen, sondern geradezu weichen Material Garnituren, Stickereien, eine Art Astrachan und Plüsch, Stoffe von ebenso unvergänglicher wie unvergleichlicher Farbenpracht herstellen können. Warum sollte eine veränderte Glasmischung nicht auch zur Fabrikation biegsamer Geräthe dienen können?“
Als ich dies kaum ausgesprochen hatte, sahen wir einen fremden Herrn, der seit einigen Minuten am Nachbartische Platz genommen und unserem Gespräche zugehört hatte, in seine Tasche fassen und uns ein Uhrglas vor die Füße werfen, so daß es lebhaft klingend in die Höhe sprang, ohne indessen zu zerbrechen. Das Erstaunen des Kaiser Tiberius kann nicht viel größer gewesen sein als das unserige, obwohl es nicht der Sache galt, an die wir ja bereits glaubten, sondern dem unvermutheten Zusammentreffen.
„Sie sind gänzlich im Irrthum,“ sagte der Fremde, indem er das Schälchen noch einige Mal etliche Fuß hoch auf die Marmorplatte des Tisches niederfallen ließ und es mir dann reichte. „Sie sind gänzlich im Irrthum, wenn Sie glauben, daß die Festigkeit des Glases, welches, wie Sie sehen, äußerlich nicht von anderem Glase zu unterscheiden ist, von einer besonderen Mischung der Glasmasse herrühre; sie ist vielmehr durch eine nachträgliche Härtung hervorgerufen. Es ist übrigens kein französisches Hartglas, das Sie hier sehen, sondern Berliner Fabrikat.“ Auf unsere Bitte, Genaueres mitzutheilen schützte er indessen ein dem Erfinder gegebenes Versprechen zur Geheimhaltung der Sache vor, und überließ uns, nachdem er sein Getränk schnell genossen, unserer Ueberraschung. Unterstützt von meinen beiden Freunden, habe ich die inzwischen über das Hartglas in die Oeffentlichkeit gekommenen Nachrichten gesammelt, um sie dem Leser, wie folgt, im Zusammenhange darzubieten.
[451] Im Anschlusse an die Nachrichten der Alten über das unzerbrechliche Glas hat man bereits im alchemistischen Zeitalter Versuche angestellt, das Verfahren des Ermordeten wieder zu finden. Allein diese Bemühungen waren so erfolglos, daß man nach und nach zu der Meinung gelangte, jener Becher, der seinem Erfinder das Leben kostete, sei gar nicht aus Glas, sondern aus einem anderen Materiale gefertigt gewesen, wobei man namentlich an Chlorsilber – den weißen käseartigen, sehr lichtempfindlichen Niederschlag, welchen Salzwasser in Silberauflösungen hervorbringt – dachte, weil dasselbe geschmolzen eine glasige, hornartig biegsame Masse (Hornsilber) bildet.
Man kann sagen, daß das gewöhnliche Verfahren der Glasfabrikation eine frühere Entdeckung des nunmehr wieder aufgefundenen Verfahrens verhindern mußte. Wenn man irgend einen fertig geblasenen Glasgegenstand an der freien Luft abkühlen läßt, so erkalten die äußersten Oberflächenschichten des Glases, gegenüber den durch das schlechte Wärmeleitungsvermögen geschützten inneren, so schnell, daß eine gewisse Spannung zwischen ihnen entsteht, welche zur Folge hat, daß die geringste plötzliche Temperaturveränderung das Glas (wegen der ungleichen Ausdehnung oder Zusammenziehung seiner Schichten) zum Springen bringt. Ein schlecht gekühltes Glasgefäß kann springen, wenn es auf dem Tische steht und der Luftzug eines geöffneten Fensters auf dasselbe eindringt. Diese hochgradige Empfindlichkeit schlecht gekühlten Glases wird nun bekanntlich dadurch vermindert, daß man die fertigen Gegenstände glühend heiß in einen sogenannten Kühlofen bringt, der seinen Namen davon hat, daß die Luft in demselben nicht kühl ist, sondern außerordentlich heiß, damit die Oberfläche nicht so sehr viel schneller als die innere Glasmasse abgekühlt werde. Man hätte nun denken können, daß durch ein noch langsameres Abkühlen auch der Rest der Glassprödigkeit zu beseitigen sein möchte, und der berühmte Naturforscher Réaumur hat um’s Jahr 1727 dahingehende Versuche angestellt. Allein es zeigte sich, daß sehr langsam abgekühlte Glasmasse mit der Sprödigkeit auch die Durchsichtigkeit einbüßt, indem durch Ausscheidung unzähliger kleiner Krystallchen eine Art Milchglas (Réaumur’sches Porecellan) entsteht.
Der französische Ingenieur Alfred de la Bastie auf Schloß Richmond bei Pont d’Ain ging deshalb bei seinen in jüngster Zeit angestellten Versuchen, die Sprödigkeit des Glases zu besiegen, in umgekehrter Richtung auf sein Ziel los. Er erinnerte sich der höchst merkwürdigen Eigenschaften der sogenannten Glasthränen, welche in der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts in Holland entdeckt wurden und damals so viel Aufsehen erregten, daß sie in England nach einem Prinzen, der sie als Reisemerkwürdigkeit mitbrachte, Prinz Rubertustropfen genannt wurden. Diejenigen unserer Leser, welche einmal eine Glashütte besucht haben, werden diese kleinen Wunder wohl aus eigener Anschauung kennen. Denn dort stellt sich den Besuchern in der Regel ein angehender Glasmacherjunge mit einem Topfe Wasser vor, in welches er von seinem Vater einige große Tropfen flüssiges Glas hineingießen läßt. Dieselben sinken wie leuchtende Sternschnuppen unter, indem sie einen langen Glasfaden hinter sich herziehen, und im finstern Winkel sieht man die äußerlich erstarrte Glasmasse noch eine Weile in rother Gluth unter dem Wasser fortleuchten, was eben beweist, wie sehr viel langsamer die geschützteren inneren Schichten erkalten. Wenn sie endlich kalt geworden sind, holt der trinkgeldlustige Kleine die langgeschwänzten Tropfen aus dem Wasser hervor und zeigt den Herrschaften, daß man auf den dicken Theil dieser birnenförmigen, in einen langen Stil verlängerten, mehr als schlecht gekühlten Glaskörper mit dem Hammer schlagen kann, ohne daß sie zerspringen. Dann werden die Besucher aufgefordert, den dünnen elastischen Glasfaden, in welchen sich die Thräne verjüngt, abzubrechen. Es giebt eine kleine Explosion, fast als wenn man einen Knallbonbon zerreißt, und der durchsichtige Glaskörper verwandelt sich in eine Staubwolke, deren Theilchen so gewaltsam auseinander geschleudert werden, daß eine wassergefüllte Weinflasche, in welche man den Tropfen hängt, während man außen die Schwanzspitze abbricht, dadurch gesprengt wird. Ganz ähnlich verhalten sich die sogenannten Bologneser Fläschchen, kleine, dickwandige Glaskölbchen, die in Folge einer ebenso plötzlichen Kühlung außen so hart werden, daß man darauf hämmern kann, während ein spitziges Steinchen, welches man durch die Mündung hineinfallen läßt, das Zerstäuben herbeiführt. Dieses explosionsartige Zerspringen sehr plötzlich gekühlter Gläser rührt allem Anscheine nach davon her, daß eine sehr elastische, gar nicht spröde äußere Schicht zwiebelschalenartig sich einschließende innere Schichten von sehr ungleicher Spannung gefangen hält, die dann die kleinste Gelegenheit, um frei zu werden, benützen, so daß das Zerfallen auch eintritt, wenn man den Schwanz, in welchem die Schichten am dichtesten sich folgen, bis zu der birnförmigen Verjüngung in Flußspathsäure auflöst. Uns interessirt hier vorzüglich nur die ausnehmende Härte der äußeren Schicht dieser Glasthränen und Bologneser Fläschchen, denn von ihr scheint der Entdecker des elastischen Glases bei seiner Erfindung ausgegangen zu sein.
Ein gleicher Weg war freilich nicht durchführbar. Wenn man gewöhnliches Hohlglas glühend heiß in kaltes Wasser taucht, so bedeckt es sich mit einem Netzwerk sehr feiner Sprünge, die durch Neuerwärmen unschädlich gemacht und durch Weiterblasen geöffnet werden können, um so das vorhin erwähnte Eisglas zu erzeugen, so genannt, weil die Oberfläche solcher Gefäße einer im Aufthauen begriffenen Schnee- oder Eismasse gleicht. Herr Alfred de la Bastie fiel nun auf die Idee, das glühende Glas nicht in einer ganz kalten, sondern in einer ziemlich heißen Flüssigkeit abzuschrecken, um so das Entstehen der Sprünge zu verhüten und doch eine plötzliche Verdichtung der so viel heißeren Glasoberfläche hervorzubringen. Er wendete deshalb geschmolzene, zwei- bis vierhundert Grad heiße Fettmassen (Paraffin, Harz, Wachs, Oel etc.) an und gelangte nach längeren Versuchen zu einem vollkommenen Erfolge. Er construirte besondere Doppelöfen, in deren einer Hälfte das fertige Glas von Neuem bis zum Weichwerden erhitzt werden kann, um, sobald dieses geschehen ist, auf einer schiefen Ebene sofort in das auf der andern Seite befindliche glühende Bad geschoben werden zu können, in welchem letzteren Drahtnetze und andere Vorrichtungen angebracht sind, um Beschädigungen beim Hineinsinken zu verhüten. Um Scheibenglas auf ähnliche Weise zu behandeln, waren natürlich besondere Vorrichtungen erforderlich. Nachdem das Glas in dieser Flüssigkeit plötzlich ein gut Theil abgekühlt ist, verliert es den Rest der Wärme langsam und ist hierdurch so hart geworden, daß es wirklich einiger Anstrengungen bedarf, um so behandelte Glasgegenstände zu zertrümmern. Solche Glasgefäße zerspringen nicht nur nicht, wenn man sie aus der Hand auf den Boden fallen läßt, sondern sie vertragen auch plötzlichen Temperaturwechsel sehr gut, so daß man sie ohne Bedenken in Küche und Laboratorium wie Blechgefäße benützen kann.
Natürlich bemühte sich der Erfinder alsbald, seine Erfindung durch Patente in den verschiedenen Ländern zu sichern, und in Bourg bildete sich im Herbste 1874 eine Actiengesellschaft, um das neue Verfahren im Großen auszubeuten. Als gegen Ende des vergangenen Jahres die ersten Nachrichten über die Erfindung zu uns drangen, frug der Verein der Glasindustriellen Deutschlands bei dem Erfinder an, ob er ihm gegen eine zu vereinbarende Abfindungssumme das genaue Verfahren mittheilen wolle. Wie der jüngere Dumas für die Erlaubniß zur Aufführung eines seiner Scandalstücke Elsaß-Lothringen verlagte, so soll de la Bastie die Summe von vierzig Millionen Franken verlangt haben, das heißt einen Franken Steuer auf jeden Kopf in Deutschland. Er hat sich damit auf die empfindlichste Weise geschädigt, denn der Verein brach seine Verhandlungen ab und erhielt wenige Wochen später, von dem Dresdener Ingenieur Pieper, das Recept zum „Vulcanglase“ für 300,000 Mark. Gleich auf die erste Nachricht hin und lange bevor an Ausfertigung der Patente gedacht werden konnte, war das Verfahren nämlich von einer Anzahl deutscher Glastechniker „nacherfunden“ worden, so, außer von dem Genannten, von F. M. Stahl in Berlin, R. Meusel in Geiersthal, Th. Lubisch und B. Niederer in Andreashütte bei Bunzlau und Andern.
Als die Achillesferse der französischen Erfindung erscheint die Anwendung sehr brennbarer Stoffe zur Härtung des im glühenden Zustande einzutauchenden Glases und die erforderliche Bauanlage, um den Gefahren dieser Arbeit zu begegnen. In der That soll die neu erbaute Fabrik des Herrn de la Bastie, Zeitungsnachrichten zufolge, schon bei den ersten im Großen angestellten Versuche niedergebrannt sein. Es ist kein Zweifel, [452] daß diese Schwierigkeiten durch andere Härtungsverfahren aus dem Wege zu räumen sein werden. Wir wissen nicht, ob man dabei bereits an die Anwendung leichtflüssiger Metallgemische, die man für alle Temperaturen zwischen achtzig und vierhundert Grad schmelzend erhalten kann, gedacht hat.
In dieser Beziehung scheinen die deutschen Fabrikanten dem Franzosen bereits völlig den Vorsprung abgewonnen zu haben. Namentlich soll sich das auf anderen Grundlagen beruhende Verfahren von Richard Mensel in Geiersthal bei Wallendorf in Thüringen durch seine Gefahrlosigkeit und die Leichtigkeit, mit der es ohne kostspielige Umbauten in jeder Glashütte auszuführen ist, auszeichnen. Derselbe hat unter anderen Dingen nach seinem Verfahren Flaschen von gewöhnlicher Wandstärke und aus dem gewöhnlichen Materiale hergestellt, die einen Druck von dreißig Atmosphären, mehr als das Doppelte, was eine gute Flasche sonst aushielt, ertrugen. Der Champagner, den das Springen so vieler Flaschen bei der Fabrikation am meisten vertheuert, hätte demnächst Aussicht, billiger zu werden. Von demselben Erfinder hergestellte Lampencylinder konnten, nachdem man sie durch Aufschrauben der Gasflamme glühend gemacht hatte, ohne Gefahr des Zerspringens mit nassen Tüchern berührt werden. Es scheint, daß dieses deutsche Verfahren, welches in Baiern bereits patentirt ist, die meiste Aussicht hat, im Großen ausgeführt zu werden, und der beste Beweis für seine Vorzüge dürfte dadurch geliefert worden sein, daß die société céramique zu Paris und andere französische Fabrikanten, nachdem sie sich von der praktischen Unausführbarkeit des la Bastie’schen Verfahrens überzeugt haben, mit unserem Landsmanne in Unterhandlungen getreten sind, und daß in Frankreich bereits deutsches Hartglas fabricirt wird. Mensel hat in Pantin bei Paris, in der Fabrik des Herrn Vidie, wie authentische Berichte aus Frankreich sich ausdrücken, Beweise geliefert, daß seiner Erfindung der Preis gebührt.
Prof. A. Bauer in Wien stellte durch Versuche fest, daß bei der Härtung die Dichtigkeit des Glases, welche zwischen 2,429 bis 2,438 schwankt, auf 2,460 bis 2,468 steigt, so daß also die Theilchen desselben, namentlich an der Oberfläche, einander mehr genähert sein müssen, wodurch die Härtezunahme bedingt sein mag. Diese Oberflächenschicht ist dabei so hart geworden, daß sie sich viel schwerer mit dem Diamanten ritzen läßt, als gewöhnliches Glas, was die Bearbeitung erschweren muß. Wird es schließlich mit Gewalt entzweigeschlagen, so zerfällt de la Bastie’s Glas, ähnlich den Glasthränen, in einen unfühlbaren Staub, so daß ein bombardirtes Glashaus in Wolken, aber nicht in Splitter verwandelt werden würde, und Fräulein Ungeschickt in der Küche kann diesem Stoffe gegenüber nicht mehr sagen, eine Caraffe sei entzweigegangen, sondern sie sei entzweigeduftet. Uebrigens sollen nicht alle Sorten des gehärteten Glases diese Eigenschaft des Verstäubens theilen, sondern zum Theil im gegebenen Falle zerbrechen wie anderes Glas.
Die Tragweite der Erfindung leuchtet ein, auch wenn die Anwendung des gehärteten Glases sich, theils der Erhöhung des Preises, theils der schwierigen Bearbeitung wegen, weder auf die billigsten noch auf die theuersten Gegenstände (gewöhnliche Bierflaschen etc. einerseits und geschliffene Waare andererseits) erstrecken sollte. Hagelsichere Glashäuser und Fensterscheiben, unverwüstliche Lampencylinder und Kochgeschirre, Tischgeräthe für Kinder und Erwachsene, Reiseflaschen und Gläser, Cassetten und Negativplatten für Photographen, Glasstereoskopen und Glasgemälde, Uhrgläser und Tischglocken, sowie hundert andere Dinge, die man sonst gar nicht aus Glas machte, werden nunmehr aus diesem Materiale gefertigt werden (z. B. Tafelgeschirr aus gehärtetem Milchglas statt Porcellan). Die Quelle gar manchen häuslichen Aergers wird verstopft sein, wenn die Dienstmädchen nicht mehr im heimlichen Bunde mit den Glaswaarenhändlern zu stehen scheinen werden, und so ist die neue Erfindung recht eigentlich eine Erfindung des Friedens.
„Grillen sind oft böse Gäste,
Böse Gäste sind oft ‚Grillen‘.“
Ja, das muß wahr sein. Sehr böse Gäste sind oft „Grillen“. Alle Theaterbesucher wissen es, und die Meisten von ihnen wissen auch, daß es nur eine „Grille“ giebt – Friederike Goßmann. Das Verschen, das diesen Zeilen vorangestellt wurde, ist eine Liebenswürdigkeit, die ich dem Stammbuche der Künstlerin entnommen habe, aus dem hier noch Mehreres mitgetheilt werden soll. Stammbücher pflegen freilich im Allgemeinen keine sehr anregende Lectüre zu bilden, wenigstens für einen Zweiten und Dritten nicht. Der Besitzer eines solchen mag sich allerdings durch dasselbe leicht in angenehme Träume, in selige Erinnerungen einspinnen lassen, was aber fängt ein bei Seite Stehender an mit den zarten, lyrischen, immer höchst persönlichen Gefühlsergüssen eines „ewig getreuen Freundes“ oder einer auf noch längere Zeit hinaus getreuen Freundin? Die intimen Beziehungen, welchen der Stammbuchbesitzer mit liebevollster Hingebung im Geiste wieder nachgehen kann, sind ihm fremd, kurz ihm fehlt der feste, greifbare Grund, an welchen, und sei er noch so klein, sich die schimmernden Krystalle einer wehmüthigen oder freudigen Erinnerung ansetzen könnten. Das gilt von den Stammbüchern gewöhnlicher Sterblicher. Anders stellt sich die Sache, wenn ein nicht gewöhnliches Menschenkind sich von nicht gewöhnlichen Menschen Dinge in’s Album schreiben läßt, die ebenfalls nicht gewöhnlich sind. Dann wird man ein solches Büchlein gern in die Hand nehmen, um sich durch die auf die verschiedenen Blätter hingeworfenen Züge das Charakterbild des interessanten Eigenthümers, sowie das seiner interessanten Freunde zu vervollständigen. Darnm glaube ich, daß die Leser der „Gartenlaube“ eine kleine Blumenlese aus dem Stammbuche von Friederike Goßmann freundlich aufnehmen werden. Das Buch zeigt uns die liebenswürdige Künstlerin in einer neuen reizvollen Beleuchtung, im intimen Verhältnisse zu ihren Freunden und Kunstgenossen, die wieder, zum großen Theile ebenfalls von aller Welt gekannt und verehrt, sich durch ihre Poesien in harm- und absichtsloser Weise selbst charakterisiren. Daß wir in diesen Blättern auch eine Reihe von bisher ungedruckten Gedichten von Manchem unserer namhaftesten Poeten finden, wird uns ihr Interesse sicher nicht schmälern.
Friedrich Bodenstedt hat der Künstlerin folgende Zeilen gewidmet:
„Gern seh’ ich Dich, nicht ganz so gern die Stücke,
Worin Du spielst mit wohlverdientem Glücke,
Trotz Schwesterneid und Recensententücke.
Wohl ist es, schön, auch Nied’res zu verklären,
Doch Deine Kunst weist Dich in höhere Sphären,
Soll, der Dich schmückt, der Ruhm sich lang bewähren.“
Heinrich Kruse, damals „nur“ Chef-Redacteur der „Kölnischen Zeitung“ und noch nicht dramatischer Dichter, kann als eifriger Verehrer seiner Freundin kein „Aber“ und kein „Doch“ gelten lassen, wenn es auch nur entfernt dazu dienen sollte, ein ihr gespendetes Lob einzuschränken. Er polemisirt auf der nächsten Seite in einem Gedichte „An meinen Freund Friedrich Bodenstedt“ gegen die citirten Verse, wie folgt:
„O Freund, so wolle doch nicht schelten!
Nein, laß’ uns unser Grillchen gelten!
Ist’ ihre Schuld, daß Classiker noch nicht
Ein Wesen, das ihr gleicht, verherrlicht im Gedicht?
Und siehst Du duftige Maiglöckchen stehn,
Verlangst Du Rosen d’ran zu seh’n?“
Als wahrer Freund muß aber Heinrich Kruse auch ein selbstständiges Verschen liefern;
„Bei Dir ist Ein’s, Friederike, streitig nur:
Verdankst Du mehr der Kunst, mehr der Natur?
Doch sei es Marmor oder Meißelschlag,
Anmuthig strahlst Du, wie der junge Tag,
Und stehest Du als Grillchen kauend da,
Speisest Du Brod, doch wir Ambrosia.“
Ueber das Eine, was bei Friederiken nur streitig ist, hilft sich O. Banck durch folgenden Spruch hinweg:
„Ein einzig Kunstsystem bleibt ewig neu:
Natürlichkeit und auch Genie dabei.“
[453] Dr. Julius Pabst schreibt ihr in Dresden in’s Buch:
„Bleib’, was Du bist, ein Spiegel der Natur!“
Dasselbe verlangt auf der nächsten Seite eine Freundin, vielleicht etwas mehr noch, indem sie beschwörend sagt:
„Ich bitte Dich, bleibe ledig, denn nur dann kannst Du bleiben, was Du bist.“
Ich fühle, daß sich in mir ein kleiner Bosheitsteufel regt auf diese vielleicht empirisch begründete Bitte der Freundin; ich heiße ihn schweigen und denke, daß es am besten sein wird, wenn ich überhaupt nicht viel mitrede in so berühmter Gesellschaft. Uebrigens sei nebenbei bemerkt, daß Friederike auch als Gräfin Prokesch-Osten geblieben ist, was sie war.
Ein sehr ernstes Gesicht muß Emanuel Geibel gemacht haben, als er folgende Strophe schrieb:
„Bleib’ Deinem Stern getreu, so wirst Du stets
Unüberwindlich sein! Doch hüte Dich,
Des Blutes Wallung, die im Auge Dir
Wie Strahlen schwirrt, für Deinen Stern zu halten.“
Da apostrophirt der alte Bauernfeld, der trotz seiner zahllosen Lustspiele doch von Zeit zu Zeit recht ingrimmig und mürrisch sein kann, seine kleine Freundin doch etwas munterer:
„Der neckische Kobold, das Nixlein fein
Sollen, heißt’s, ohne Herze, fühllos sein;
Ganz anders sich’s an Dir erweist:
Kobold mit Seele, Gemüth und Geist.“
Recht sinnige und herzliche Worte finden wir auch von dem nunmehr zur Ruhe gegangenen Wiener Dichter und Recensenten Arnold Hirsch:
„Selbst staub’ge Pergamente kann ich lieben,
Die einst ein Dichtergenius vollgeschrieben.
Denn aus dem Staube sind oft helle Funken
Mir zündend in die eig’ne Brust gesunken.
Und fühl’ ich so – wie liebt’ ich Dich dann nicht?
Du funkensprühend – lebendes Gedicht!“
Friedrich Halm schreibt:
„Ich will! Das Wort ist mächtig!
Ich soll! Das Wort wiegt schwer!
Das zweite spricht der Diener,
Das erste sprach der Herr!
Laß beide Eins Dir werden
Im Herzen ohne Groll;
Es giebt kein Glück auf Erden,
Als wollen, was man soll.“
Nach soviel Versen erklärt Hackländer: „Was vermag ich in schlichter Prosa gegen all diese wohlgereimten Schmeichelworte? Ihnen einmal tüchtig die Wahrheit sagen: daß ich die liebenswürdige Künstlerin, wie es alle Welt thut, liebe und verehre und daß sie mir unvergeßlich sein wird.“
Gar lustig tummelt sich in dem Buche das muntere Theatervölkchen. „Ach! hätte ich doch auch, gleich Dir, Dein einnehmendes Wesen!“ seufzt da ein Komiker, indem er auf ausverkaufte Häuser und geräumtes Orchester hinweist. Ein anderer liebenswürdiger College, Victor Moritz, schreibt: „‚Mit hunderttausend solchen Straßenjungen erobere ich die Welt.‘ (General Morin im ‚Taugenichts‘). Nein! gefehlt! hier muß es heißen: ‚Ein Straßenjunge eroberte sich die ganze Welt,‘ und der heißt: Friederike Goßmann. –
Leider muß ich sehen – gehst Du!
Lieber wäre mir es – bliebst Du!
Darum, wenn die Wahrheit ich soll schreiben,
So dächt’ ich: Du ließest das Gehen – bleiben!“
Das Ideal aller „Taugenichtse“, die hochbetagte Déjazet, schrieb eine Coupletstrophe in’s Buch:
„Venez un jour, venez chez nous,
Boire avec moi l’vin à quatre sous.
Nous sommes frères! il faut chez nous
Boire ensemble l’vin à quatre sous!“
Auf dieses „Nous sommes frères“ ist Friederike nicht wenig stolz, nicht weniger, aber auf das folgende von ihrer berühmten Lehrmeisterin beschriebene Blättchen: „Wenn die Götter dem Menschen Reichthum schenken, bedarf es des unechten Flitters nicht, womit die Armuth sich gern schmückt, um ihren Mangel zu verbergen. Du hast den Reichthum; Talent und Genie sind wie echtes Gold und reine Perlen. Verschmähe den Tand, den falschen Schmuck, zeige stets Deinen Werth und verwende ihn für das Edle! – Deine treue Mutter Constanze Dahn. – Felix Dahn schreibt kurz und bündig dazu: „Wahre Schönheit ist nur schöne Wahrheit.“
Die dritte Mutter Friederikens, Charlotte Birchpfeiffer, hat ein längeres Citat aus „Rubens in Madrid“ in’s Buch eingetragen; dazu fügt sie noch die kurzen innigen Worte: „Gott erhalte Dein Glück und Deine Liebe Deiner treuen ‚Mammi‘.“
Die „alte treue Haizinger“, die herzliebste Veteranin des Wiener Burgtheaters, hat einen Vers auf das „Kind“ gemacht:
„Talent! Talent! Du oft verbrauchtes Wort,
Was hörte Alles ich Talent schon nennen!
So wird es heißen fort und fort,
Als Menschen in’s Theater rennen.
Ich nenn’ Talent, was packt, erfreut und zündet,
Nur Eig’nes giebt, durch Eig’nes sich verkündet,
Du hast Talent! Du wardst dazu geboren,
Von Tausenden zur Mimin auserkoren.“
Und die Haizinger des Berliner königlichen Schauspielhauses versteigt sich gar zu folgendem
„Recept.
Gieb’ dem pfiffigsten der Köpfchen
Ein halb düst’res Augenpaar,
Das auch lächeln kann und schmollen,
Ohne g’rad’ coquett zu sein.
Setze dann ein keckes Näschen
In’s Gesichtchen so pikant,
Die Figur, halb Kind, halb Mädchen, –
Sehr gracieuse, zierlich, fein. –
Mische dann dem Ganzen wieder
Anmuth bei, Naivetät –
Nimm ein Quentchen Knabensinn auch
Noch dazu und rasches Blut –
Und Du hast dann das Persönchen,
Grille, Kobold, Räthsel, Schalk,
Das besiegt sogar die Starken,
Glättet manche ernste Stirn,
Selbst die Frauen sich gewinnet –,
Wenn sie nicht zu neidisch sind. –
Probatum est!
Amalie Haizinger’s Tochter, die vielgefeierte Gräfin Louise Schönfeld-Neumann, hat Nachstehendes in’s Buch hineingeschwäbelt:
„E guter Humor is a Medicament,
Un’ könnt’ mer’n wie en Syrup verschreibe,
Die Doctor thäte viel mit vertreibe
Un’ ’s Wasserkurire hätt’ en End’. (Kobell.)
Drum is mir for Dich, Du klee Weibche, net bang’,
Bei Dir hot er wahrlich zu G’vatter gestande,
Er führt Jung’ un’ Alte in Deine Bande
Un’ bleibt Dir aach treu Dein Lebelang.
Du hascht in der Jugend viel Glück schon erfahre,
Was soll mer Dir wünsche, die Jedermann liebt? –
Halt! Eens: Gott mög’ Dich vor Sorge bewahre,
Damit Dein Humor sich net e’mol trübt!
Wo auch Friederike Goßmann hinkam, wußte sie nicht nur durch ihre Kunst ihre Umgebung zu bezaubern, sie verstand es auch überall, Sympathien für ihre Person zu erwecken. Es sind gar oft überschwängliche Worte der Zuneigung, die ihre Kunstgenossen und -Genossinnen in das Buch niedergelegt haben. Die sonst reproducirenden Künstler werden hier zu producirenden, indem sie Gesänge auf das Glückskind dichten, dem sogar – unglaublich zu sagen – alle Collegen von Herzen gut sind. Die glänzendsten Namen des Burg-Theaters stehen hier unter schwärmerischen Huldigungen für die kleine Grille. Karl La Roche singt:
„Der Frühling naht und bringt uns Sonnenschein
Und grüne Waldespracht. Die warme Luft
Durchziehet würzig süßer Blumenduft,
Und Freude zieht in alle Herzen ein.
Nur nicht in uns’re, denn in dieser Zeit,
Wo jeder Vogel sonst sein Nestchen sucht,
Begiebt sich uns’re Schwalbe auf die Flucht
Und ziehet fort von uns, weit! ach wie weit! –
Und ohne Vogelsang kein Frühlingsglück,
D’rum zwingst Du uns, die an der Scholle kleben,
Den Vorzug vor dem Lenz dem Herbst zu geben,
Denn Du kehrst ja im Herbst zu uns zurück!“
A. Sonnenthal läßt sich nicht spotten; er beginnt als Hamlet, um zuletzt doch als rechter Liebhaber loszulegen:
„Ideale – oder Wahrheit?
Giebst sie beide zart vereint!
Ideal ist Dir Geliebter,
Die Natur Dein treuer Freund.
Glückliche! die den Geliebten
und den Freund im Leben fand;
Hochgepriesen – wer als Künstler
Mit der Kunst Natur verband!“
„O Natur, Natur, wie unwiderstehlich bist Du!“
[454] Ruhigere Spruchweisheit entwickelt Christine Hebbel:
„Stelle Dich, wie Du auch willst, nicht wirst Du die Feinde vermeiden,
Aber wie Thetis den Sohn, kannst Du Dich fei’n für den Streit:
Mache so ganz Dich zum Träger des Guten, des Wahren und Schönen,
Daß man die Götter verletzt, wenn man Dich selber bekämpft.“
Hebbel, der nun folgt, ist längst verstummt – auch sein Nachbar im Buche, der edle Anschütz, hat sich schon in ewiges Schweigen gehüllt. Mit zitternder Hand schrieb er seiner Freundin noch folgende Zeilen:
„Nicht steuernd nach der Mod’ unstetem Winde,
Verfolgt der echte Künstler seine Bahn.
Nicht was der laute Markt bewirft mit Kränzen,
Ihn lockt ein Höheres zu schön’rem Ziel;
Der Gaukler mag durch grelle Täuschung glänzen,
Die wahre Kunst bleibt Wahrheit auch im Spiel.“
Fritz Beckmann ist der gemüthvolle, humorreiche Schalk bis an sein Lebensende geblieben. Sein nachstehender Abschied von seinem Nesthäkchen ist wahrscheinlich sein poetischer Schwanensang:
„Wie oft ich Dir ein Vater war,
Ist hundertfach zu lesen,
Auch bin ich, weiß es Gott, ’s ist wahr,
Oft Onkel, Vormund Dir gewesen,
Und richtig, ja, da fällt mir ein,
Sogar Dein Mann schon könnt’ ich sein.
Einfalt vom Lande heißt das Stück;
Der Autor bracht’ mich um das Glück.
Bin treu an Deiner Seit’ geblieben,
Als sie uns auf den Spielberg trieben,
Auch oft vereint wir Angst empfanden,
Wenn wir im Schloß vorm Kaiser standen.
Wir haben Vieles durchgemacht,
Vereint gezittert und gelacht,
Hab’s immer gut mit Dir gemeint
Als Reisemarschall und als Freund. –
Jetzt ziehst Du fort, verläßt den Vater.
Den Onkel, Vormund, Freund und Rather,
Glaubst Du denn, Kind, daß das nicht packt?
Doch aufgelöst ist Dein Contract,
Du gehst, besiehst Dir nun die Welt,
Verdienst dabei viel Ruhm und Geld. –
Wenn ich nicht irre, spricht ein Weiser:
‚Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser.‘
So will als Vater ich für’s Leben
Dir meinen besten Segen geben,
Der auf Dich wirkt mit solcher Kraft,
Daß er Dir eine ganze Stadt verschafft.
Und sollt’ Dich einst damit der Himmel lohnen,
So laß mich stets in Goßmannshausen wohnen.
Erwirb ’ne Million Dir, und sonst nix,
Behalt’ die Grille, bleib’ ein Kind des Glücks!“
Das „Kind“ hat auch recht ausgelassen lustig sein können, wie aus einem Poem Mizel Kierschner’s (jetzt Frau Hofschauspielerin Liedtke in Berlin) zu entnehmen ist:
„Wie ich jetzt so vor diesem Buche sitze,
Da zieht durch mein Gedächtniß jene Zeit,
Die ich verlebt mit meiner süßen Fritze –
Ich gäb’ sie nicht – selbst um die Seligkeit!!
Durch Deinen Geist gewann Gestalt und Leben
Der Unsinn selbst, den oft wir ausgeheckt –“
Doch weiter! Es wollen noch so manche zu Wort kommen – hören wir E. Th. L’Arronge:
„Daß man mit allen Göttern dich vergleicht,
Hat Alt und Jung schon oft gelesen,
Und daß Du fabelhaft und unerreicht,
Ein überirdisch, himmlisch Wesen,
Ein Engel, Phänomen, auf Taille und auf Ehr’!
Schwört täglich tausendmal Civil und Militär.
Doch sieh, wenn ein Theaterdirector
Besingt, wie ich, die schönen gold’nen Zeiten,
Wo Du berauscht ihm Herz und Aug’ und Ohr,
So zählt das zu den größten Seltenheiten!
Ich sprach bei Gästen wohl: ‚das Geld, es floß man so,‘
Bei Dir reicht das nicht aus, ich ruf’: ‚es Goß man so?‘“
In Lapidarschrift hat Theodor Döring das Shakespeare’sche Wort hingesetzt: „Was sind Schwüre gegen das Feuer unseres Blutes!“ – George Hiltl feiert die Gefeierte in einem sehr stimmungsvollen Gedichte. Irene Hiltl braucht ein treffendes Wort aus den „Journalisten“: „Sie ist eine Art Irrwisch; sie ist ein klein wenig Teufel, und vom Kopfe bis zur Zehe ist sie eine kleine Schelmin.“ Alexander Köckert läßt den Landry sprechen: „Du bist nicht nur, wie die Andern, von außen – Du bist von innen heraus schön, Du, so klug, so brav und tapfer.“
In Citaten sprechen sich weiter aus Holtei, Laube, Karl Koberstein, Julie Rettich, Marie Seebach, ferner Karl Treumann, das Ehepaar Gubillon, Otto Lehfeld, Anton Ascher. Aus einigen schlichten Zeilen Karl Rettich’s erfahren wir, daß er Friederikens Beistand war, als sie gegen die Bitte der oben citirten Freundin sich doch vermählte.
Zu allerletzt hat sich die „fesche Pepi“ von Wien, Josephine Gallmeyer, eingeschrieben. Ihre „G’stanzeln“ sind zu hübsch, als daß sie nicht auch noch ihren Platz hier finden sollten:
„I wollt i könnt’ schreiben so zierli und fein,
Wie’s die Andern hab’n ’than in das Büchel hinein;
Do’ will ich’s vermeiden die Classiker z’berauben,
Und mir selbst will’s net g’lingen, auf Ehr’! kannst mir’s glauben,
D’rum sei mir net bös, wann’s so einfach da steht,
Wie i Di so lieb hab’ und förmli anbet’.
Du herzlieber Schatz, mit die Aeugerln die lieb’n,
Bleib’ wieder beim Theater, thu’ uns net mehr betrüb’n;
A Gräfin sein, i glaub’s wohl, is ja recht schön,
Aber schau’ nur, dem Theater thust gar so abgeh’n.
Gräfinnen, mein Gott, wie viele sein da –
Aber a Goßmann, a zweite – giebt’s ö no? Oh na!“
Eine für beide Theile gleich charakteristische Nachschrift ist den ehrlichen, schmucklosen und ungeschminkten Worten beigefügt; sie lautet: „Sehen Sie, hochverehrte Collegin, so haben Sie mich bezaubert, daß ich Sie in Versen besinge, ich, die Vertreterin der prosaischesten Prosa. Sie sind mir doch nicht böse? Hochdeutsch kann ich nicht, aber mein Österreichisch kommt vom Herzen.“
Friederike Goßmann besitzt an ihrem Stammbuche eine beneidenswerthe Autographensammlung; wie kommt ein Anderer zu einer solchen? Er sei für die deutsche Kunst ein Himmelsgestirn mit einem Hofe, der ihm gemacht wird von seiner ganzen Zeitgenossenschaft; – dann geht’s ganz leicht.
Elf Uhr Vormittags.
Wir befinden uns Ecke der Burg- und Neuen Friedrichstraße, vor dem Tempel des Gottes Mercur oder der Göttin Fortuna – wie man will. Die Börsenleute selber nennen das mächtige, prächtige Haus etwas unehrerbietig den Palast der Prinzessin Mumpitz. Noch sind die dreizehn Thüren (eine ominöse Zahl!), welche in das Vestibül führen, geschlossen, aber schon kauern und lungern davor Zeitungsjungen, Apfelsinenmädchen, Dienstmänner etc. Die von dorischen Säulen getragene Vorhalle füllt sich alsbald mit Börsenleuten, welche sofort an’s Geschäft gehen.
Schon um 11 Uhr beginnt hier draußen die Vorbörse. Sie wird officiell nicht anerkannt; man legt ihr blos einen Privat-Charakter bei, aber sie kümmert sich nicht darum; sie hat trotzdem ihre volle Bedeutung. Schon hier wird eifrig gehandelt, schon hier Cours auf Cours gemacht; schon hier treffen telegraphische Depeschen von der Wiener Vorbörse ein; schon hier entscheidet sich häufig, ob die Börse „fest“ oder „matt“, „animirt“ oder „lustlos“ wird, ob eine „Hausse“ oder eine „Baisse“ heranzieht, oder gar der Teufel los ist, d. h. eine „Panique“ droht, welche die Course procentweise stürzen läßt.
Die Herren, welche so früh versammelt sind, gehören der Coulisse an. Es sind im engern Sinne die Speculanten der Börse. Sie handeln nicht per Comptant: Zug um Zug und Geld gegen Waare, sondern sie machen lauter Zeitgeschäfte, die erst später, nach Tagen oder Wochen, regulirt werden. Sie [455] kaufen und verkaufen ohne Geld, nur auf Credit; sie verkaufen Papiere, die sie gar nicht haben, und sie kaufen Effecten die sie nie abzunehmen gedenken.
Die Coulisse zerfällt in zwei Lager, in die Hausse- und in die Baisse-Partei. Jene speculirt auf das Steigen, diese, auch Contremine genannt, auf das Fallen der Papiere. Die Zeitgeschäfte sind von so mannigfacher Art wie die Thiere in der Arche Noah’s. Wir könnten Bogen darüber schreiben und der nicht eingeweihte Leser würde uns doch nicht verstehen. Die berühmten Mysterien zu Eleusis waren gar nichts dagegen.
Zehn Minuten vor Zwölf.
Die Thüren werden geöffnet. Die „Vorbörse“ löst sich auf. Von allen Seiten strömen die Jünger Mercur’s herbei. Sie kommen zu Fuß und zu Wagen, in Droschken zweiter und erster Classe, auch in eigenen, oft kostbaren Equipagen mit galonnirten Kutschern und Bedienten. Es kommen die „jungen Leute“ (Commis), die Boten und Ausläufer; es kommen die Makler, Agenten und Banquiers; es kommen die „Häuser“ und die „großen Häuser“.
Alles drängt und fluthet in das Vestibül, wo ein Portier und zwei Controleure Wache halten, drei stattliche Figuren in schmucker Uniform und, wie alle Bedienstete und Unterbeamten, christlich-germanischer Abkunft. Links geht es zur Fonds- oder Geldbörse, rechts zur Producten- oder Waarenbörse. Hier ist der Zuspruch verhältnißmäßig schwach, dort stark und massenhaft. Eine mächtige Thür, in Form eines mit grünem Tuche ausgeschlagenen Drehkreuzes, das man geschickt und behutsam benutzen muß, bildet den Zugang. Bei jeder Umdrehung werden wohl ein viertelhundert Personen befördert, und zwar im Geschwindschritte. Trotzdem schlüpft so leicht Keiner durch. Der Controleur kennt Jeden, und wen er nicht kennt, den hält er an, fragt nach der „Karte“ oder nach dem „Hause“ und führt den Unberechtigten höflich am Kragen wieder hinaus.
Wir sind nicht Mitglied der Kaufmannschaft, haben keine Eintrittskarte gelöst; also steigen wir auf die Galerie, wo der Zugang ohne Weiteres für Jedermann, auch für Damen, freisteht. Unten, im Börsensaale selber, werden, mit Ausnahme der Heben am Büffet, nur Männer gelitten.
Wir befinden uns in dem größten geschlossenen Raume Berlins. Der Börsensaal ist beispielsweise dreimal so groß, wie der früher viel bewunderte Königssaal bei Kroll. Er faßt über 5000 Personen. Er ist großartig und prächtig, vielleicht etwas zu reich geschmückt. Polirte, aus einem Stück bestehende Säulen von schlesischem Granit, 128 an der Zahl, tragen, in zwei Reihen über einandergestellt, eine umlaufende Galerie. Die 65 Fuß hohe gewölbte Decke ist ebenso wie der getäfelte Fußboden von kunstreicher Arbeit. Eine offene Arcade, über welche eine nach beiden Seiten hin sichtbare Uhr mit doppeltem Zifferblatte angebracht ist, theilt den Saal in zwei Hälften: die nördliche gehört der Geld-, die südliche der Getreide-Börse, und beide sind von den Sitzreihen der Handelsfirmen durchzogen.
Zwölf Uhr.
Der Saal ist gefüllt. Die officielle „Börse“ hat begonnen. Wir blicken auf ein Meer von Köpfen, theils voll von meist dunkeln, blanken oder wolligen Locken theils gelichtet und kahl und erglänzend wie silberner Mondschein. Unten sind Tausende von Lippen in Bewegung. Man spricht; man ruft; man schreit – aber wir verstehen kein Wort. Nur ein Murren, ein Murmeln klingt herauf und schlägt gegen die Wände und schlägt bis zur Decke. Was ist dagegen das Gemurmel, welches wir neulich beim Gastspiele der Meininger im „Fiesco“ hörten, das künstliche Gemurmel des aufgeregten Volks? Ein schwaches fragwürdiges Summen. Hier dagegen haben wir Natur und Kraft; hier redet Israel in begeisterten Zungen, in den unnachahmlichen eigenartigen Kehlhauchen und Gaumenlauten. Es rauscht wie der Wald vor dem ausbrechenden Gewitter; es braust wie die See nach dem Sturme.
Wir schauen hinab und suchen nach einem bekannten Gesicht. Plötzlich entdecken wir Herrn Cohn und der Zufall will’s, daß er auch uns bemerkt. Er grüßt und nickt; er lächelt und winkt, und wir eilen hinab. Es leben in Berlin circa 500 mehr oder weniger ausgewachsene Männer, die sich Cohn oder Kohn schreiben, aber fast alle mosaischen Glaubens sind und fast alle für den Handel schwärmen. Gut die Hälfte der Cohn’s geht täglich an die Börse, und zu diesen gehört auch unser Freund Cohn. Seinen Vornamen nennen wir nicht, denn wir wissen ihn nicht. Herr Cohn ist „corporirt“, das heißt Mitglied der Kaufmannschaft. Er hat das Recht, Fremde einzuführen; er erwartet uns am Drehkreuz, reicht uns seinen Arm, und wir spazieren durch die geräumige Garderobe, wo leider seit dem „Krach“ häufig Regenschirme, Hüte und Paletots verschwinden, in den Börsensaal.
Der Eintritt ist nur von den Seiten. Die beiden Längswände sind von je dreizehn Thüren durchbrochen, welche mit den Thüren des Vestibüls correspondiren. Die nach der Vorhalle hin werden nie geöffnet, weil sonst die ganze Börse vor Zug auffliegen würde, wohl aber die gegenüberliegenden, welche in einen Säulenhof führen, wo man im Sommer Luft schöpft.
Die Börse ist lange nicht mehr so besucht, wie in den Jahren 1871 bis 1873. Trotzdem herrscht noch immer Gedränge, staut und stopft sich zuweilen die Menge, und wir müssen uns dann mit Armen und Schultern Bahn brechen. Täglich melden die Zeitungen eine größere und größere „Geschäftsstille“, die „kaum noch überboten werden könnte“. Aber dem Fremden wird das Leben und Treiben heute noch imponiren. Mindestens neun Zehntel der Anwesenden stammen aus dem gelobten Lande. „An den hohen jüdischen Festtagen“, wie es in den Berichten heißt, ist die Börse leer und verödet.
Auf erhöhten Plätzen, umgeben von Schranken, sitzen die Makler, welche die Geschäfte zwischen Käufer und Verkäufer vermitteln. Sie erhalten ihre Aufträge vor und während der Börse von den Banquiers oder von den Speculanten, verkehren also nicht mit dem Publicum selber, und fertigen über die abgeschlossenen Geschäfte Schlußzettel, Schlußnoten oder bloße Notizen aus. Banquiers oder Speculanten handeln aber auch, ohne Makler, direct mit einander. Es giebt amtliche angestellte oder vereidete Makler und unvereidete oder Pfuschmakler. Zwischen Beiden besteht kein besonderer Unterschied, auch vermitteln die Pfuschmakler nicht selten mehr Geschäfte als die vereideten Makler. An der Fondsbörse bilden allein die Makler mit ihren Gehülfen ein Corps von mehreren Hundert Personen, während die Zahl der anderen Besucher: Banquiers mit ihren Commis, Speculanten, Private etc. durchschnittlich wohl über 2000 beträgt.
An einer Maklerbarre werden Staatspapiere, Pfand- und Rentenbriefe, Wechsel und Geldsorten, Hypotheken-Certificate und Lotterie-Anleihen gehandelt, an der andern Eisenbahnpapiere, an der dritten Bank-, an der vierten Industrie- und Versicherungs-Actien. Ist das Geschäft lebhaft, so sind die Maklerschranken wie vollgepfropft, und jede Barre ist von einem drei- bis zehnfachen Gürtel umlagert. Auf den Fußspitzen stehend und sich fast die Hälse ausrenkend, wirft man sich Fragen und Antworten zu, handelt man über die Köpfe von sechs Vordermännern hinweg: Köln-Mindner oder Rheinische Eisenbahn-Actien, Darmstädter Bank und Meininger Credit, Harpener Bergbau und Bochumer Gußstahl. Die Gesammtzahl der Papiere, welche an der Berliner Börse Cours haben, ist auch gegen 2000.
Die Banquiers erhalten von ihren Kunden eine Provision, welche 1/8 bis 1/4 Procent vom Nennwerthe der gekauften oder verkauften Effecten beträgt. Die Makler erhalten von den Banquiers und Speculanten eine Courtage, vom Käufer wie Verkäufer gewöhnlich 1/2, also zusammen 1 pro Mille. Erscheint namentlich die letztere Gebühr nur klein, so haben doch verschiedene Makler, als das Geschäft noch blühte, durchschnittlich mehrere Hundert Thaler Courtage an einem Tage eingestrichen, woraus man entnehmen kann, wie riesig der Umsatz gewesen ist. Selbst heute giebt es noch Makler, welche durch Vermittelung von Zeitgeschäften eine tägliche Einnahme von circa 50 Thalern erzielen. Viele ihrer Collegen dagegen, besonders die, welche in Industriesachen handeln, machen gegenwärtig sehr schlechte Geschäfte.
Trotz der „miserabeln Zeiten“, trotz der „drückenden Geschäftsstille“ herrscht in einem Theile des Saales, in der südwestlichen Ecke, stets arges Gedränge und wildes Getümmel. Es ist das Lombarden-Viertel; es ist das Reich der Coulisse und der Pfuschmakler. Hier werden nur Zeitgeschäfte gemacht;
[456][457] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [458] hier werden nur Spielpapiere zu festen Coursen gehandelt. Im Vergleiche mit diesem Schauspiele ist das sonstige Treiben der Börse still und matt zu nennen. Hier wird eine Schlacht geschlagen; hier tobt ein Kampf wie einst vor Troja, mit lautem Rufen im Streite. Man stürzt hin und her; man springt auf die Sitze; man steht einander fast auf den Köpfen. „Wer kauft Credit?“ „Wer hat Credit?“ „Ich nehme Franzosen mit 61/4.“ „Ich gebe Lombarden mit 21/2.“ (Der Kürze wegen werden im Laufe des Geschäfts blos die Einer und Bruchtheile gerufen, während man die Zehner und Hunderte als bekannt voraussetzt.) „Wie steht Credit?“ „Was gelten Lombarden?“ „Ich brauche Credit bis 75/8 – So schallt es wild durch einander, wild und ununterbrochen. Die Rufer im Streite, welche, das Notizbuch und den Bleistift in der Hand, wie besessen hin- und herspringen, sind die Pfuschmakler, und ihr Dienst ist wirklich anstrengend. Die Meisten leiden an ewiger Heiserkeit; Einige sehen bedenklich schlagflüssig aus; Manche verlieren binnen ein paar Jahren völlig die Stimme und müssen dann nothgedrungen ihren Abschied nehmen.
„Rumänier (Rumänische Eisenbahn-Actien) zu 331/2,“ ruft ein dünnes Männchen mit schriller Stimme und plappert es in einemfort, ohne den Athem anzuhalten. Mit 331/2 bietet er Rumänier aus. Herr Cohn, der sich noch immer an unserer Seite befindet, macht plötzlich gegen das Männchen eine Wendung und spricht: „50,000 (Thaler) von Ihnen.“ Nun brauchte der Andere blos zu antworten: „An Sie!“ und das Geschäft wäre rechtsgültig abgeschlossen. Aber nein, er blickt Herrn Cohn nur grinsend in’s Gesicht und versetzt mit demselben breiten Grinsen: „Reden Sie doch keinen Stuß!“ Herr Cohn lächelt gleichfalls, murmelt mit offenbarem Wohlwollen: „Alter Spitzbube!“ und geht weiter. Das Männchen aber nimmt seinen Ruf wieder auf, und Herr Cohn erklärt uns dieses Räthsel, indem er bemerkt: „Der Alte braucht selber Rumänier, darum schreit er sie herunter.“ – „Credit! Ich kaufe Credit!! Ich nehme 50 (Stück) Credit mit 71/2!!!“ brüllt ein großer Mann, ebenso schön anzusehen wie Thersites, und mit einem ebenso melodischen Organ ausgerüstet. „Ich gebe sie franco (ohne) Courtage,“ bemerkt ein modischer Jüngling. „Mit! Sonst verdiene ich nichts,“ brummt Thersites. „Franco!“ wiederholt der Modische. Thersites besinnt sich noch einen Augenblick, dann kritzelt er in sein Taschenbuch, spricht „Gemacht!“ und stürzt sich wieder in die Schlacht.
Unter der Coulisse ist jedes Alter, vom Milchbart bis zum Greise, vertreten, und sie rekrutirt sich aus den verschiedensten Ständen. Hier ist Mancher, der „seinen Beruf verfehlt hat“, manche „catilinarische Existenz“. Viele sind noch Neulinge, Andere erfahrene bemooste Häupter. Die gewöhnlichen Coulissiers beschränken sich in ihren Abschlüssen auf mäßige Summen und spielen thatsächlich um das tägliche Brod. Die da selbstständig vorgehen und größere Operationen unternehmen, heißen Faiseurs, aber augenblicklich fehlt es an solchen sehr. Dort sitzt ein Kerlchen, gelb wie eine Quitte, mit klugen stechenden Augen. Der Mann sitzt wie ein bevorrechteter Stammgast unmittelbar vor dem Makler, dem er fortwährend Aufträge ertheilt und den er fast allein beschäftigt. Seine Glaubensgenossen, die Baissiers, sehen mit Bewunderung zu ihm nicht hinauf, dazu ist er zu klein – aber doch hinunter, und richten sich nach ihm, wie die Heerde nach dem Leithammel. Herr Levi – so heißt er, wenn wir nicht irren, – verkauft ein 50 Stück Credit und ein 100 Stück Lombarden nach dem andern. Aber er verkauft nicht blos; er kauft auch wieder; er kauft fast ebenso oft – „um sich zu decken“, wie es in der Börsensprache heißt. Der Cours steigt und fällt wie die Meereswogen. Herr Levi hat sich „gedeckt“ und „fixt“ von Neuem frisch darauf los. Er glaubt an die Baisse, und in diesem Glauben scheint sich auch der allergrößte Theil der Börse zu befinden.
Die Mehrzahl der Jobber, wie die bloßen Spieler genannt werden, hält nicht lange Stich, sondern verschwindet etwa binnen Jahres-, ja häufig schon nach Monatsfrist, und sie werden nur dann vermißt, wenn sie, was sich nicht zu selten trifft, die Differenzen schuldig geblieben sind. Wie man behauptet, sollen die Haussiers besser als die Baissiers oder Fixer gedeihen, aber – genauer besehen – spinnen die Jobber überhaupt keine Seide. Sie bereichern nur die Banquiers und die Makler, und die kleinen Speculanten werden fast regelmäßig von den großen aufgefressen.
Allerdings gelten die Zeit- oder Differenzgeschäfte nicht für ganz reinlich und zweifelsohne. Sie werden nicht im amtlichen Theile des Courszettels, sondern in einem Nachtrage notirt, und hauptsächlich durch Pfuschmakler vermittelt. Dessen ungeachtet beherrschen sie die ganze Börse, geben täglich Stimmung und Haltung derselben an, setzen Hausse oder Baisse auch für alle übrigen Papiere in Scene.
Ein Uhr.
Das Geschäft hat seine Höhe erreicht. Durch das Gewühl und Gedränge winden sich fortwährend die Boten des in einem Nebenzimmer befindlichen Telegraphenbureaus, und alsbald ist der Fußboden mit Couverts bedeckt. Der Empfänger wagt das Telegramm nur ein Viertel auseinanderzufalten und liest es dicht vor dem Gesicht, damit ein Nachbar rechts oder links nicht etwa hineingucke. Will Einer dem Anderen etwas allein sagen, so packt er ihn beim Kopfe und flüstert ihm in’s Ohr. In gleicher Weise verkehren auch die Ausläufer und die „jungen Leute“ mit ihren Chefs, denen sie Meldungen abstatten, oder von denen sie Befehle erhalten. Die „Häuser“ und die „großen Häuser“ sitzen in stolzer Zurückgezogenheit auf ihren Plätzen, tauschen dann und wann eine Bemerkung aus, beobachten ruhig und winken ihre Angestellten heran, denen sie zuweilen nur ein Wort sagen oder mit den Augen ein Zeichen machen, worauf gewöhnlich irgendwo eine Bewegung entsteht, gewisse Effecten in „Posten“ (großen Summen) gekauft oder verkauft werden, bald so heimlich wie möglich, bald mit absichtlichem Geräusch.
In der Ecke neben dem Büffet, am sogenannten Moritzplatz, werden die „Schundpapiere“, z. B. federleichte Eisenbahnen wie Rhein-Nahe, Lüttich-Limburg, Schweizer Union Tamines-Landen, auf Zeit, oder eigentlich „auf Stunde“ gehandelt. Hier hat eine armselige Sorte von Pfuschmaklern Posto gefaßt, die von Stunde zu Stunde um eine Kleinigkeit speculiren, die sich untereinander 1 bis 2 Thaler abnehmen, und bei einem Verluste von 5 Thalern „ausbleiben“.
Während die Beamten, denen „die Erhaltung und Handhabung der äußeren Ruhe, der Ordnung und des Anstandes obliegt“, fernab von dem lärmenden Treiben ein verstohlenes Mittagsschläfchen halten, belegen sich im „Lombardenviertel“ ein paar erhitzte Jobber mit den schwersten Ehrenkränkungen und gehen wohl auch zu Maulschellen über. Im „Lombardenviertel“ herrscht allgemeine Redefreiheit; Verbal- und Realinjurien werden als selbstverständlich gegeben und empfangen; sie kommen zu häufig vor, als daß man deswegen klagen, als daß man deshalb sich beleidigt fühlen sollte. – Von Zeit zu Zeit gehen die „Berichterstatter der Presse“ durch den Saal, um über den Stand der Geschäfte Erkundigungen einzuziehen.
Zwei Uhr.
Die Börse ist officiell zu Ende. Die „Häuser“ und die „großen Häuser“ haben sich schon vorher entfernt, jetzt leert sich allmählich der Saal. Die vereideten Makler ziehen sich zurück, um die Course festzustellen. Jeder Makler handelt nur in bestimmten Effecten, und jedes Papier wird von zwei, drei und mehr Maklern gehandelt, welche den Cours gemeinschaftlich machen, indem sie die erhaltenen Aufträge zu An- und Verkäufen gegen einander abwägen.
Unter Vergleichung der verschiedenen unlimitirten, limitirten und festen Aufträgen einerseits, des vorhandenen Materials und beziehentlich der vorhandenen Käufer andererseits, ermitteln die Makler gemeinschaftlich für jedes Papier den sogenannten Mittelcours, welcher nun für die limitirten wie für die unlimitirten (aber nicht für die festen) Ordres zur Ausführung kommt und der auch in den amtlichen Courszettel aufgenommen wird. Selbstverständlich fällt der Cours, je mehr Waare am Markte ist, und er steigt, wenn die Käufer überwiegen. Nach Rückkehr der Makler werden die festgestellten Mittelcourse an den verschiedenen Schranken ausgehängt und von den Reportern der Zeitungen abgeschrieben. Inzwischen geht der Handel im „Lombardenviertel“ mit ungeschwächten Kräften fort.
[459] Halb Drei.
Es werden die letzten Speculationscourse notirt. Der Portier läutet die Börse förmlich aus. Er treibt mit der Glocke die Jobber vor sich her, und hinter ihm dringen Weiber mit Besen und Schaufeln ein, um den Saal zu reinigen.
Während der Gründerzeit währte die Börse bis 3 Uhr, und die Mittelcourse wurden erst um 2½, ja um 2¾ veröffentlicht, was den Herren Berichterstattern der Presse häufig Anlaß zu Klagen gab, denn der Courszettel konnte nur mit Mühe und Noth noch in die Abendzeitung aufgenommen werden.
Herr Franz Otto Schellenberg in Ebersbach bei Glauchau ist Einer der wenigen aus dem Schiffbruche des Hamburger Postdampfers „Schiller“ am 7. Mai dieses Jahres geretteten Passagiere; ihm verdanken wir die nachstehende Schilderung seiner Reise, des Schiffes und des Unglücks.
„Am 27. April Nachmittags drei Uhr verließ ich unter dem Jubel meiner Freunde den Landungsplatz in Hoboken, um zur Reise in die deutsche Heimath den ‚Schiller‘ zu besteigen. Wir fuhren langsam den North-River herab und gelangten gegen sechs Uhr nach Sandy Hook. Da das Schiff wegen seiner starken Belastung zu tief ging, um die bekannte Barre des New-Yorker Hafens bei dem niedrigen Wasser zu passiren, so mußte Anker geworfen und die Hochfluth des nächsten Vormittags abgewartet werden; gegen zehn Uhr wurden die Anker gehoben, und bei einer leichten Brise dampfte das stolze Fahrzeug in die hohe See.
Wir hatten, der Jahreszeit angemessen, eine rauhe Fahrt. Das Schiff lief sehr gut; war es doch nach Bau, Ausrüstung, Maschinerie und Equipage ein Postdampfer erster Classe. Durchschnittlich legten wir über dreihundert Meilen per Tag zurück. – Weniger erfreulich waren mir andere Wahrnehmungen; namentlich wandte ich den Rettungsapparaten meine Aufmerksamkeit zu und kam zu der – leider später bewahrheiteten – Ansicht, daß die sechs großen Boote in einem Falle der Noth kaum würden benutzt werden können. Die Krahne, an welchen sie hingen, waren jedenfalls seit dem Baue des Schiffes nicht gedreht worden und darum so eingerostet, daß ihre Handhabung fast unmöglich sein mußte, auch wenn nicht außerdem noch die Taue, welche durch einen Flaschenzug laufen müssen, um die Boote zu halten und niederzulassen, so dick mit Farbe überschmiert gewesen wären, daß sie nicht in den Kloben gehen konnten. Bei zwei kleinen Booten, welche vom Capitain und von den Matrosen häufig im Hafen gebraucht worden waren, fand sich Alles in bester Ordnung.
Dieselbe dicke Farbenschmiererei machte die Kanone unbrauchbar; hier war der Hahn, der, durch die Schnur angezogen, das Zündhütchen zu treffen und dadurch den Schuß zu entladen hat, so fest mit Farbe verklebt, daß ich ihn mit aller Gewalt weder auf- noch zubringen konnte. Auf welche Weise dennoch die Nothschüsse möglich gemacht wurden, habe ich leider bald genug zu erzählen.
Ich bin schon viel zur See gewesen, aber noch immer habe ich gesehen, daß bei ruhiger Fahrt die Boote herabgelassen und die Kanonen abgeschossen, also beide probirt wurden, um ihrer Brauchbarkeit jederzeit sicher zu sein. Diese Vorsichtsmaßregeln wurden auf dem ‚Schiller‘ nicht angewendet.
Vom 6. bis zum 7. Mai hatten wir dreihundertfünfundvierzig Meilen zurückgelegt. Der 7. Mai war ein sehr nebeliger Tag; nur zwischen ein und zwei Uhr Mittags brach die Sonne durch, und in dieser Zeit stellte der Capitain Beobachtungen an.
Gegen Abend befanden sich sehr viele Passagiere auf dem Verdeck, denn es war uns gesagt worden, wir würden gegen zwölf Uhr Land sehen. Ich für meine Person wollte lieber auf diesen Anblick verzichten, als aufbleiben; ich hatte den ganzen Tag auf dem Verdecke zugebracht und war sehr müde. Dennoch bat ich einen Freund, mich, wenn das Land wirklich in Sicht sei, zu wecken, denn nach so langem Schaukeln auf den Wogen freut man sich doch, den Blick wieder auf etwas Festes zu richten.
Auf dem Wege nach meinem Zimmer war ich am Steuerhause vorbeigegangen, um nach der Uhr zu sehen. Es war genau neun Uhr fünfundvierzig Minuten. Ich war eben im Begriffe, mich auszukleiden, als ich durch ein Gerassel aufgeschreckt wurde, welches ich anfangs für das Geräusch beim Herablassen der Ankerkette hielt. Aber doch sogleich Gefahr ahnend, eilte ich wieder dem Verdecke zu. Auf der Treppe verspürte ich mehrere kräftige Stöße des Schiffes, und nach meinem ersten Schritte oben erfolgte der letzte und heftigste Stoß: wir saßen fest. Ich glaube, das Schiff ist mehrere Hundert Fuß weit über Felszacken hingefahren, was das Rasseln und Stoßen verursachte, bis es beim letzten Stoße an einen hohen Felsen anrannte, welcher nun an der linken Seite desselben mehrere Fuß hoch über das Wasser aufragte. Gleich darauf ertönte die Dampfpfeife, und ich hörte, wie der Dampf abgelassen wurde.
Die Verwirrung war im Augenblicke sehr groß, denn Alles, was eben munter war, stürmte auf das Verdeck, und Andere, die sich daselbst befunden hatten, eilten zu den Zimmern und Kajüten hinab, um die Ihrigen zu wecken und zu retten. Ich stand in der Nähe der Brücke, als die Feuerleute aus ihren Räumen heraufkamen und meldeten, daß unten das Schiff schon voll Wasser sei. Da mein Zimmer vor der zweiten Kajüte, eine Treppe über dem Zwischendecke, lag, so stieg ich eiligst noch einmal hinab, um einen Rock anzuziehen. So rasch dies geschah, so sah ich doch, als ich wieder aus meinem Zimmer herauskam, das Zwischendeck schon voll Wasser. Ich glaube, daß viele Personen, welche bereits im Schlafe lagen, dort jetzt schon ihren Tod gefunden hatten, und wenn dies geschah, dann sind sie von den vielen Unglücklichen als die Glücklichsten zu preisen – gegenüber den furchtbaren Todesschrecken der Anderen, deren Zeuge ich bald werden sollte.
Beim Heraustreten aus meinem Zimmer fiel mir ein, daß da, wo die erste Treppe zum Zwischendeck führt, an der Decke sich ein Gefach befindet, in welchem die Rettungsgürtel (life preservers, Lebensretter, Schwimmgürtel) aufbewahrt wurden. Vergebens versuchte ich dasselbe zu öffnen. Auch hier waren durch öfteres Ueberstreichen mit Farbe nicht nur die Ritzen, sondern auch die Charniere der Thür so verklebt, daß mir und meinen herzugekommenen Freunden nichts Anderes übrig blieb, als das gewaltsame Erbrechen der Thür. Während nun diese Gürtel vertheilt wurden, kehrte ich mit dem von mir behaltenen in mein Zimmer zurück. Ich hatte nämlich beim Umbinden desselben überlegt, daß der Rock mich im Schwimmen hindern werde; deshalb zog ich diesen wieder aus und hing die Decken meines Bettes um die Schultern. Als ich so ausgerüstet wieder auf das Verdeck kam, lachten mich meine Freunde über meinen Aufzug aus, so sicher fühlte man sich wieder in diesem Augenblicke.
Während wir nämlich vor dem Rettungsgürtel-Gefache beschäftigt waren, hatten die Officiere und der Capitain Thomas alles Mögliche aufgeboten, um die Passagiere zu überreden, daß „der Unfall nichts zu bedeuten habe“, sondern daß das Schiff ruhig bis zum Morgen hier liegen bleibe und dann Alles an das nahe Land gebracht werde. Ob überzeugt oder nicht, die Mehrzahl der Passagiere kehrte in die beiden Kajüten zurück, viele hatten sie noch gar nicht verlassen, weil dort, wo bis jetzt noch kein Wasser eingedrungen, allerdings auch von Gefahr nicht viel zu sehen war. Dennoch soll, wie ich gehört zu haben glaube, wenigstens die zweite Kajüte von außen verschlossen worden sein.
Mit einigen jungen Männern, welche ebenfalls keinen Glauben an die verheißene Sicherheit hatten, war ich auf dem Verdeck geblieben. Hier sahen wir, wie ein Officier mit mehreren Matrosen auf dem Vorderdeck die Anker löste; sie brauchten nur wenige Fuß Kette, um Grund zu finden. Es mochte etwa zehn Uhr geworden sein. Von da bis halb zwölf Uhr, also volle anderthalb Stunden, lagen wir ganz ruhig. In dieser langen Zeit hätten alle bis dahin noch Lebenden in die sechs großen, sehr tüchtigen Boote gerettet werden können, wenn dieselben benutzbar gewesen wären und wenn man überhaupt zu rechter Zeit Anstalt dazu getroffen hätte. Jedenfalls würden sie ebenso [460] sicher, als später die beiden kleinen Boote, mit einem großen Theil der Mannschaft das Land erreicht haben.
Erst als nun, bei eintretender Fluth, einzelne kleine Wellen über Deck kamen, brachten der Capitain und einige Matrosen die Kanone auf das Vordertheil des Schiffes. Ich stand dabei, als das Stück geladen und das Zündhütchen aufgesetzt wurde; wie ich voraus wußte, war das Entladen des Schusses nicht möglich, der Hahn rührte sich nicht. Da sprang einer meiner Freunde, welcher bei der Artillerie gedient hatte, Wilhelm Koch aus Hannover, bei, und weil dieser sofort erkannte, daß mit dem verwahrlosten Geschütz so nichts anzufangen sei, holte er von der rechten Seite der Brücke, wo Raketen und andere Feuersignale abgebrannt wurden, eine Rakete herbei, entzündete sie und löste mit ihr den Schuß. Auf diese Weise feuerte er etwa sechs oder sieben Mal. Ich glaube nicht, daß es den Matrosen gelungen wäre, ohne seine Hülfe auch nur einen einzigen Schuß abzufeuern.
Während derselben Zeit, also erst nachdem die Fluth ihre Wirkung auf das Schiff begonnen hatte, wurden die größten Anstrengungen gemacht, die großen Boote herabzulassen. Warum dies nicht gelang, habe ich bereits gesagt. – Es war jetzt ungefähr halb ein Uhr. Die Wellen kamen öfter und immer stärker über Deck, und die Verwirrung wuchs mit jedem Augenblicke, denn um diese Zeit mag es gewesen sein, wo die in die zweite Kajüte Eingesperrten die Thür sprengten und auf das Verdeck stürmten. Jetzt machten die Passagiere selbst den Versuch, die Boote herabzulassen, und es entstand um dieselben ein furchtbares Gedränge. Da feuerte der Capitain drei Revolverschüsse über die Köpfe ab, um die Menge von den Booten zurückzuhalten und sie in die Kajüten zurückzutreiben. Eine große Anzahl der Passagiere begab sich wirklich wieder dorthin. Diejenigen, welche auf dem Deck blieben, mußten sich größtenteils in das Steuerhaus und Kartenzimmer zurückziehen; mich und einige meiner Freunde wies man in einen kleinen Behälter neben dem Steuerhause, in welchem Eimer, Taue und dergleichen aufbewahrt wurden. Mit jeder Minute wuchs die Wucht der Wellen und mit ihr die Erschütterung des Schiffs.
Da brach das Unglück in seiner furchtbaren Gewalt herein und forderte der Tod gleich ein Massenopfer. In zwei der großen Boote, die, weil sie wenigstens sechs Fuß über dem Decke schwebten, den Wellen noch nicht immer ausgesetzt waren, hatten sich soviel Passagiere geflüchtet, als sie nur fassen konnten. Da, mit einem Wogenschlage, stürzt der hintere Schornstein um und mitten auf das eine der Boote. Das Jammergeschrei war herzergreifend. Aber während man den Gedanken an so viele mit einem Schlage verlorene Menschenleben noch nicht recht fassen konnte, riß am anderen Boote das eine der Taue, und alle Insassen stürzten in’s Meer und wurden von den Wogen spurlos fortgeschwemmt.
Mit dieser Katastrophe hatte alles Abschließen der Passagiere ein Ende; von jetzt an hieß es nur noch: Rette sich, wer kann! – Auch ich verließ mein Zwangsversteck und suchte einen Platz auf der Officiersbrücke zu gewinnen, auf welcher schon eine große Anzahl Männer, Frauen und Kinder zusammengedrängt standen. Von hier aus bemerkte ich, daß mehrere Personen, darunter der erste und vierte Officier, sich zu den Masten hinauf gearbeitet hatten. Sofort suchte ich ihrem Beispiele zu folgen. Ich brach mir durch die Wellen, die längst des Verdecks Herr waren, Bahn zu dem Vordermaste und erfaßte glücklich die Strickleiter. Kaum hatte ich die ersten Stufen auf derselben erklommen, so kam eine furchtbare Welle und spülte Alle, neben welchen ich wenige Augenblicke zuvor auf der Brücke gestanden hatte, all die Männer, Frauen und Kinder, in’s Meer.
Die Fluth wuchs noch immer; jeder kommende Augenblick sendete verheerendere Wellen gegen das Schiff. Schon waren mehrere Männer an meiner Seite von den Wogen fortgerissen, und doch konnte ich auf der Leiter nicht höher kommen, denn an ihr hing bis oben Mensch an Mensch. Endlich erfaßte ich ein vom Maste herabhängendes Tau, das der Wind umher warf, schwang mich mit Hülfe desselben zu der Kette hin, welche am Maste hinausläuft, und erreichte durch Klettern den Mastkorb.
Nachdem ich aus der entsetzlichen Aufregung wieder zum Gebrauche meiner Sinne gekommen war, sah ich die ganze grauenvolle Scene mit all ihren einzelnen gräßlichen Bildern unter mir. Und wenn ich hundert Jahre alt werde, einzelne dieser Bilder werden immer vor meinen Augen stehen. Da klammerten vier Frauen, mit ihren Kindern auf den Armen, sich an eine Bank fest; mit übermenschlicher Kraft kämpften sie gegen die sie überströmenden Wellen, und markerschütternd drang ihr Hülfe- und Weheschrei herauf, so oft die Welle wieder eines von ihnen fortgerissen hatte. Gewiß eine halbe Stunde dauerte dieser Todeskampf, bis eine mitleidigere Woge den Rest mit sich nahm. – Fast noch entsetzlicher war der Nothschrei eines Mannes, der mit einem Beine unter die Ankerkette gekommen war und, von den Wellen hin- und hergerissen und überfluthet, sich nicht selbst aus seiner verlorenen Lage befreien konnte. Niemand, der nicht sofort in die See geschwemmt sein wollte, konnte ihm helfen. So ward sein Schreien zum Jammern, bis er, nach einer halben Stunde, auch still geworden war.
Das Schiff war nun wie ausgestorben. Alle, welche des Capitains Weisung in die Kajüten gefolgt waren, hatten längst ihr nasses Grab gefunden. Der Capitain selbst stand zu dieser Zeit auf der Brücke, neben ihm der Quartiermeister und unweit von Beiden an der Ecke ein Mann, den ich nicht genau erkennen konnte. Welle um Welle stürmte über sie hin, und dennoch hielt die Todesangst sie am Geländer fest. Schon waren dem Capitain die Beinkleider vom Leibe gerissen, und immer noch tauchten nach jedem Wogengange die drei Männer wieder auf. Endlich traf den Quartiermeister das Abschiedsloos. Von einer Welle gepackt, verlor er den Standpunkt, rang zwar mit den Wogen so glücklich und schwamm so gut, daß er sich zur Brücke zurückarbeitete, aber in demselben Augenblicke, wo er festen Fuß fassen und sich aufrichten wollte, kam eine zweite Welle und schleuderte ihn in’s Meer.
Gleich darauf wurde der Capitain vom Geländer losgerissen. Es gelang ihm wohl, ein Tau zu erfassen, das, wenn ich nicht irre, von einem Maste zum andern läuft; an diesem hing er bald in der Luft, bald von den Wogen überfluthet, aber nicht lange: noch ein Wogenschlag und auch er war verschwunden, und mit ihm zugleich der dritte und letzte Mann auf der Brücke. Jetzt war in der Tiefe Alles todt; das einzige Leben des Schiffes war nur noch an und bei den Masten zu finden.
Eine Stunde – und welche Stunde! – mochte mir so vergangen sein, da bemerkten wir zwischen Himmel und Meer Schwebenden ein Licht, welches immer größer zu werden oder sich uns zu nähern schien. Allen ging da neue Lebenshoffnung auf; Alle glaubten ein herannahendes Schiff zu sehen. Es war Täuschung. Wir sahen nur den Leuchtthurm von Bishop’s Rock. – Da stand ich nun, den einen Fuß auf dem Mastkorb, den andern auf dem schiefliegenden Mast, jeden Augenblick vom Tode bedroht, denn die Wellen schlugen so hoch, daß ich oft den Halt der Füße verlor und, mich an dem Tau festhaltend, wie eine Fahne in der Luft schwebte. Es gehörte das Anspannen aller Geisteskraft dazu, keinen Augenblick den Körper zu vergessen, und ein eiserner Wille, die heranschleichende Schwäche zu besiegen. Die Ermattung forderte schon viele Opfer; fast jede mächtigere Woge riß einen oder mehrere der an den Strickleitern Festgeklammerten mit fort. Dieses Loos traf jetzt auch den „Obersteward“ des Schiffes, der sich, wie es mir schien, mit seiner Frau zusammengebunden hatte.
Endlich graute der Morgen. Da lag der Leuchtthurm vor uns und rings um uns her ragten die Klippen aus dem Wasser hervor. Wohl glaubten wir jetzt die Rettung uns wieder näher, aber auch die Todesgefahr wuchs von Minute zu Minute: die Masten legten sich immer mehr auf die Seite, und mit dem Falle derselben war unser Todesurtheil besiegelt. Vom Deck war längst nichts mehr zu sehen, seit zwei Uhr stand die See fünfzehn Fuß hoch darüber.
Da ertönte plötzlich ein furchtbarer Angstschrei: der hintere Mast war gefallen und mit allein, was sich an ihm gerettet hatte, augenblicklich untergegangen. – Und darnach wieder tiefste schauerlichste Ruhe – und wieder neue Hoffnung! Zwei kleine Fahrzeuge kommen heran, Fischerboote von den Scilly-Inseln, zu denen auch unsere Strandungsklippen gehören. Nur Minuten vorher das Unglück des Hintermastes und der Weheruf, – und Keiner der noch Uebriggebliebenen kann sich’s versagen, jetzt in den Freudenruf einzustimmen, der zu den Fischerbooten hinübergesendet wurde. Und doch war auch diese Hoffnung vergeblich [461] gewesen. Die beiden Schiffchen kamen gar nicht in unsere Nähe; von den mit dem Hintermast in See Gestürzten mußten noch Manche sich durch Schwimmen und Schwimmgürtel über dem Wasser erhalten haben; mit diesen füllten die Fischer ihre kleinen Boote und waren bald unserm Gesichtskreis wieder entschwunden.
Jetzt kam’s auch an mich. Ein starker Windstoß, welcher sich in die gelösten Segel legte, trieb plötzlich unsern Mast nach der Seite, ich verlor den Halt und stürzte in die See. Ich muß sehr tief unter Wasser gewesen sein, denn es dauerte geraume Zeit, bis ich wieder an die Oberfläche kam. In demselben Augenblick sah ich noch die Spitze unseres Mastes im Meer verschwinden. Es mochte sieben Uhr des Morgens sein.
Rings um mich her kämpfte noch eine große Anzahl meiner Leidensgefährten mit dem Elemente um das Leben – Jedes für sich. Aber ehe ich mich’s versah, hatte eine Welle mich weit von ihnen hinweggetragen. Mein Rettungsgürtel bewährte sich als vortrefflich, aber wenn er mich auch über Wasser erhielt, so konnte ich doch, so oft die Wellen über mir zusammenschlugen, den Athem nicht lange genug anhalten, bis der Kopf wieder frei war. Während ich so herumtrieb, stieß ich an einen andern Leidensgefährten, aber der war schon todt. Dennoch erfaßte ich ihn und hielt mich an ihm fest. Wohin ist die Scheu des Lebenden in der Todesnoth! Wohl eine halbe Stunde schwamm ich mit dem Leichnam herum und ließ ihn erst los, als ich Aussicht hatte, einen besseren Stützpunkt zu finden. Ein Matrose kam mit einem Thür- oder Fensterrahmen dahergeschwommen, als ich aber ebenfalls Gebrauch davon machen wollte, verwehrte er mir dies, weil das Holzstück nicht stark genug für zwei Mann sei.
Beim Abwenden von diesem vergeblichen Versuche sah ich vor mir ein langes Brett schwimmen, erreichte und erfaßte es, legte meine todtmüden Arme auf dasselbe und ließ die Wellen mit mir spielen. Aber auch dies blieb nicht lange gefahrlos: die Ruhe durfte nicht den Schein der Leblosigkeit annehmen, wenn sie nicht die Gier der Raubvogel auf sich ziehen wollte. Ich gerieth in wirkliche Furcht vor diesen großen Seevögeln, die häßlich kreischend und pfeifend so nahe an mich heran und an mir vorüberflogen, daß ich den Wind von ihrem Flügelschlage im Gesichte fühlen konnte. Mein Geschrei bei ihrer Annäherung verscheuchte sie wohl, aber schon nach kurzer Zeit kehrten sie immer wieder zurück.
Die Schwäche erreichte endlich auch bei mir ihr höchstes Maß. Zuerst fühlte ich meine Beine, leblos werden; ich versuchte sie aneinander zu reiben, aber das konnte ich nicht mehr. Dann kam die Kraftlosigkeit auch in die Arme; ich mußte sie vom Brette herablassen. Und nun verließ mich die Besinnung.
Als ich wieder zu mir kam, trugen zwei Männer mich eine Straße entlang. Es waren zwei Fischer, die mich in ihr Boot gehoben hatten. Ich befand mich auf St. Mary, der größten der Scilly-Inseln, wo alle Ueberlebende dieser ‚Schiller‘-Fahrt die beste Pflege gefunden haben.“
Hiermit schließt unser Schellenberg. Seine Erzählung trägt durchaus den Stempel der Wahrheit; es ist deshalb von Wichtigkeit, daß sie in mehreren von der Hamburger „Rheder-Presse“ bestrittenen Dingen genau mit dem Berichte des Herrn Ludwig Niederer in Ellwangen übereinstimmt. Namentlich hat auch unser Gewährsmann sich überzeugt von der Verwahrlosung der großen Boote und der Kanone; er fügt noch hinzu, daß mit der beliebten Ueberschmierung, die diesen bis zur Unbrauchbarmachung zu Theil geworden, auch die Thür zu einem Rettungsgürtel-Behälter nicht verschont geblieben sei. Auch er giebt an, und zwar ziemlich uhrgenau, daß anderthalb Stunden lang das Schiff ruhig lag, keine Welle auf das Deck schlug, folglich auch die See verhältnißmäßig ruhig war, daß aber diese Zeit nicht zur Rettung so vieler Menschenleben benutzt wurde. Ebenso berichtet Herr Niederer, daß zu den einzigen praktikablen zwei kleinen Booten sich die Mannschaft „rücksichtslos vorgedrängt“ habe. Da uns noch keine Widerlegung der Angaben des Herrn Niederer vor Augen gekommen ist, sie aber zur Vervollständigung des Unglücksbildes wesentlich gehören, so theilen wir sie mit, ohne jedoch die Vertretung derselben zu übernehmen und natürlich zu jeder Berichtigung von kompetenter Seite bereit. Das ist auch der Fall mit dem, was er von Hamburg erzählt. Dort machte er, als einer der so wenigen geretteten Passagiere des Schiffs, noch die Erfahrung, daß die Schiffahrtsgesellschaft ihm eine Unterstützung versagte, weil er gegen ihr Interesse gesprochen habe; Herr Niederer verlangte jedoch nur das Fahrgeld von Hamburg nach München zurück, das er in New-York vorausbezahlt hatte.
Einem deutschen Correspondenten in London hat sich noch eine andere sehr ernste Betrachtung aufgedrängt. Er sagt: „Der ‚Schiller‘ hatte sicherlich die besten Admiralitätskarten des Canals an Bord; das Fahrwasser um die Retarrier-Felsengruppe (die Klippenreihe bei den Scilly-Inseln, auf welcher der Dampfer auffuhr) beträgt bis auf anderthalb Meilen von derselben siebenundvierzig Faden (à sechs Fuß); von dieser Entfernung ab verringert
[462] sich dasselbe langsam nach und nach bis auf zweiundzwanzig Faden, und bis auf vierzehn Faden östlich, wo das Schiff auffuhr. Das Auswerfen des Senkbleies hätte mit absoluter Gewißheit den Capitain belehren müssen, daß er sich außerhalb seines Courses befinde und dem Felsen zusteuere. Die Nothwendigkeit, das Senkblei bei undurchdringlichem Nebel und in solcher Nähe der Küste auszuwerfen, leuchtet wohl Jedermann ein und braucht nicht erst näher erörtert zu werden. Doch darüber herrscht Zweifel; einige Passagiere behaupten, dies sei geschehen, andere wissen nichts davon.“
Auch dieser Zweifel ist gehoben, und leider lautet die Zeitungsnotiz darüber so; „Die Aussage des ersten Officiers des Dampfers ,Schiller’, Heinrich Hillers, der jüngst in London vor dem Board of Trade (Handelsgericht) vernommen wurde, wirft ein böses Licht auf die Leiter dieses verunglückten Schiffes. Dieser Mann gestand, daß das Senkblei weder an dem Abende, als das Schiff auffuhr, noch am Tage vorher ausgeworfen worden sei.“
Wenn das Kind ertrunken ist, deckt man den Brunnen zu. Aber wenn man ihn nur zudeckt! Wir sind bereits daran gewöhnt, alle Besserungen auf solchen Gebieten voller Mängel vom Reiche zu erwarten; möge nach der entsetzlichen Schiller-Katastrophe diese Erwartung nicht getäuscht werden!
„Karl Wilhelm vor zwanzig Jahren“ – unter diesem Titel brachte die „Gartenlaube“ in Nr. 36 des Jahrgangs 1870 dem beneideten Tondichter der „Wacht am Rhein“ eine gebührende Huldigung. Diese verdient er noch nach zwanzig, nach hundert und mehr Jahren, wird doch auch das Schneckenburger’sche Lied, welchem er die volksthümlichste und siegreichste aller Melodien verlieh, ebenso wenig untergehen, wie das Andenken an den beispiellosen Krieg und Sieg des bewehrten deutschen Volkes über den gallischen und galligen Größenwahnsinn.
Damals lebte der Tondichter noch, mußte aber bald darauf drei Jahre lang elend und langsam sterben – Zeuge seiner letzten Leiden war die Stadt Crefeld – nur gelang es ihm noch, sich zum Sterben in seine architektonisch und volkssittlich eigenthümliche Vaterstadt Schmalkalden zu begeben, wo er am Nachmittage des 26. August 1873 starb.
Das deutsche Volk vergißt seine theuren Todten nicht: ein Nationaldenkmal zum Andenken des Componisten der „Wacht am Rhein“ wird sich auf dem Grabe desselben in Schmalkalden erheben. Zur Unterstützung dieses Planes ist außer den direkten Sammlungen eine Gesammtausgabe seiner Tondichtungen veranstaltet worden; dieselbe besteht aus: „Zweiundsiebenzig Liedern und Gesängen für eine Singstimme“, „Zweiundsechszig Liedern für die heranwachsende Jugend“ (beide bei Breitkopf und Härtel in Leipzig) und „Siebenzig Quartetten für Männerstimmen“ (bei M. Schloß in Köln) und giebt somit ein vollständiges Bild von Wilhelm’s Schaffen.
Eine Aufforderung zur Unterstützung dieses Unternehmens von Wilhelm Büchner in Crefeld, die bis jetzt noch nicht den gewünschten Erfolg hatte, wird neuerdings von seinen Mitbürgern, dem Herrn Seyffart in Crefeld, seinem Bruder, dem preußischen Abgeordneten, und anderen Männern erneuert und dem deutschen Volke zur Beachtung empfohlen. Als Wilhelm’s schon 1854 componirtes Lied von Max Schneckenburger 1870 wie ein hunderttausendstimmiger Völkerchoral durch die Welt brauste, da hieß es: Wer ist Karl Wilhelm? Wo ist er? Antwort: Er verweilt alternd, einsam, vergrämt, unheilbar krank, amtlos und dürftig in einer kleinen, alten Stadt des Thüringer Waldes. Da ging ein rührender Zug der Dankbarkeit durch alles Volk, und Briefe und Ehrengaben flossen ihm reichlich zu. Er läßt den Sturm über sich ergehen, und die fünfzehnhundert Thaler, die ihm zugeflossen waren, schließt er ungezählt in sein Schubfach, ohne sich je zu einer Empfangsbescheinigung zu verstehen. Er dankt für keines der ihm zugeflossenen Geschenke, sondern bleibt stumm und verdrießlich, ein gebrochener Mann, schwer krank an Leib und Seele, in einem Winkel des Thüringer Waldes sitzen. Auch läßt er sich nur mit Widerwillen in einem wahren Triumphzuge endlich nach Berlin schleppen. Hier soll er die musikalische und instrumentale Aufführung im Circus Renz am 20. November 1870 selbst leiten. Halbtodt vor Aufregung, wird er endlich in den Sturm von Huldigungen hineingezogen.
Uebersättigt und todtmüde, suchte er am Rheine auf dem Schauplatze seiner früheren fünfundzwanzigjährigen Thätigkeit, in Crefeld, Erholung und Ruhe. Hier war schon im August 1870 ein Aufruf zu Beiträgen für Erheiterung seines Lebensabends ergangen. Die betreffende Summe sollte nach seinem Tode als Wilhelm-Stiftung für Unterstützung junger, im deutschen Geiste schaffender Tonkünstler verwendet werden. Nach beendigtem Kriege begann der auch durch auswärtige Mitglieder verstärkte Hauptausschuß seine Thätigkeit. Karl Wilhelm, in Thüringen wieder von einem Schlaganfalle betroffen, erhielt am 23. Juni 1871 folgendes Schreiben des Reichskanzlers: „Sie haben durch die Composition von Max Schneckenburger’s Gedicht ‚Die Wacht am Rhein‘ dem deutschen Volke ein Lied gegeben, welches mit der Geschichte des eben beendigten großen Krieges untrennbar verwachsen ist. Entstanden in einer Zeit, wo die deutschen Rheinlande, ähnlich wie vor einem Jahre, von Frankreich bedroht erschienen, hat die ‚Wacht am Rhein‘ ein Menschenalter später, als die Drohung sich verwirklichte, in der begeisterten Entschlossenheit, mit welcher unser Volk den ihm aufgedrungenen Kampf aufgenommen und bestanden hat, ihren vollen Anklang gefunden. Ihr Verdienst ist es, unserer letzten großen Erhebung die Volksweise geboten zu haben, welche daheim, wie im Felde, dem nationalen Gemeingefühl zum Ausdruck gedient hat. Ich folge mit Vergnügen einer mir von dem geschäftsführenden Ausschuß des deutschen Sängerbundes gewordenen Anregung, indem ich der Anerkennung, welche Ihnen von allen Seiten zu Theils geworden ist, auch dadurch Ausdruck gebe, daß ich Sie bitte, die Summe von eintausend Thalern aus dem Dispositionsfonds des Reichskanzleramtes anzunehmen. Ich hoffe, daß es nur möglich sein wird, Ihnen alljährlich den gleichen Betrag anbieten zu können.“
Die letzte Verheißung ward auch erfüllt, aber schon drei Jahre später hatte sich die Gruft über Karl Wilhelm’s Leben und Leiden geschlossen. Die Wilhelmstiftung konnte nun nicht mehr für ihn sorgen, hätte aber vielleicht für junge, im deutschen Geiste schaffende Tonkünstler verwirklicht und ausgestattet werden können!
Das deutsche Voll aber wird Wilhelm’s Andenken ehren; es wird die drei Sammlungen seiner Tondichtungen möglichst in seinen Familienliedertafeln und Gesangvereinen einführen und cultiviren, um so zur Herstellung eines Monuments aus dem Grabe Wilhelm’s zu Schmalkalden beizutragen. Eine Summe dafür ist schon vorhanden. Viele edle Männer und Frauen werden sie gewiß gern durch besondere Beiträge rascher zu vervollständigen suchen und sind deshalb gebeten, sich zu diesem Zweck an Herrn E. Seyffart in Crefeld zu wenden.
Wir bringen unseren Lesern hierbei eine Abbildung des von dem Bildhauer Heinrich Walger in Berlin entworfenen und von dem Comité in Aussicht genommenen Modells. Auf einem Postamente erhebt sich die Gestalt der Germania, einen Lorbeerkranz reichend. Auf der Vorderseite des Postaments befindet sich die Widmung:
dem Sänger der Wacht am Rhein,
geb. 5. Sept. 1815, gest. 26. Aug. 1873.
Auf der Rückseite sehen wir unter der Jahreszahl 1870 den Gedenkspruch:
Lieb Vaterland, magst ruhig sein:
Treu wie die Wacht am Rhein in großer Zeit,
Steht fest das Volk, geeint in Ewigkeit.
[463] An der rechten Seitenfläche in einem Epheukranze liest man:
(Dichtung der „Wacht am Rhein“) und an der linken Seitenfläche in einem Eichenkranze:
(Composition der Melodie.) Endlich ist der obere Absatz an dem Sockel der Germania von dem Künstler dazu bestimmt, den Schwanengesang Wilhelm’s, „Deutschlands Siegesdank“, gedichtet von Emil Rittershaus, mit Tonsatz für vier Männerstimmen, des Componisten erfolgreichstes Schaffen repräsentirend, darauf anzubringen. Die Textworte und zwar Vers 5 desselben – rund um das Denkmal herumlaufend – lauten:
Nun danket dir, o Herr der Welt, das Land Germania,
Im Frieden wie im blut’gen Feld sei du uns nah!
Daß nimmer uns ein Streit entzwei’, führ’ uns an deiner Hand.
Erhalte einig, groß und frei das Vaterland!
Es ist dies der Gesang, welcher, im November 1870 in Crefeld componirt, zuerst in Nr. 11 der Gartenlaube beim Friedenschlusse 1871 veröffentlicht wurde, der in echt deutscher Weise den Gefühlen von Fürst und Volk über die herrlichen Siege und den errungenen Frieden im Danke gegen den Herrn der Welt Ausdruck verleiht.
Außer der Liebe zu seinen Bergen durchflammte Wilhelm’s ganzes Denken, Empfinden und tönendes Dichten die lebendigste Vaterlandsliebe. Die erste Zeile eines seiner herrlichsten Männerlieder lautet: „Das ganze Herz dem Vaterland.“ Dies war sein Herz, mit welchem er der schweren, wuchtigen Wehrkraft des deutschen Volkes die siegreichen Schwingen verlieh, welche auch der meisterhaftesten und genialsten Kriegskunst und Strategie ohne diese Hülfe des Wortes und Tones niemals wachsen werden.
Der blinde Stimmführer und sein Weib. Jedem Besucher des britischen Parlamentsgebäudes in London, der üblichermaßen von der Thür der sogenannten Fremdengalerie aus zusieht, wie die Mitglieder des Unterhauses der Reihe nach durch das Hauptportal eintreten, wird zweifelsohne ein hochgewachsener, blondhaariger Mann besonders in’s Auge fallen, der, offenbar blind, von einer noch jugendlichen kleinen Dame mit leuchtenden Augen und blühenden Wangen hereingeführt wird. An der Thür des Saales trennt sich das junge Weib von seinem Schützling mit ersichtlichem Widerstreben; denn die britische Verfassung ginge ja zu Grunde, wenn ein weibliches Wesen in das Unterhaus einzudringen sich erkühnte, nachdem der Parlamentscaplan das unerläßliche Eröffnungsgebet gesprochen hat. Nicht einmal bis zu seinem Platze darf die treue Frau den blinden Gatten geleiten; sie muß ihn vielmehr der Führung eines jungen Mannes überlassen, der am Eingange bereits des Blinden harrt. Noch einen langen liebevollen Blick sendet sie dem seinem Sitze Zuschreitenden nach, dann wendet sie sich, um leichten Fußes die Treppe zu der unter dem Dache des Hauses angebrachten Damenloge emporzusteigen, die man füglich als Käfig bezeichnen sollte. Aber freundlich grüßt Alles die sorgsame Hüterin, kennt und verehrt doch Jedermann das merkwürdige Paar. Selbst die im Hause postirten Schutzleute verneigen sich tief, wenn die Zwei vorüber wandeln; das im Corridor versammelte Publicum macht ihnen ehrerbietig Raum, und sogar Mr. White, der gestrenge Cerberus, der die Pforte des politischen Allerheiligsten bewacht, nickt ihnen einen freundlichen Gruß zu.
Und fragt der Fremde, wer die so allgemein Gekannten und, wie es scheint, allgemein Geliebten sind, so berichtet ihm allewelt: „Professor Fawcett und Frau“. Niemand wird den Ersteren betrachten können, ohne auf seinem Antlitze das Gepräge von Intelligenz, Muth und Offenheit zu erblicken. Er ist von ungewöhnlicher Größe, mehr als sechs Fuß hoch, sehr blond, und sein lichtes Haar, sein heller Teint, seine glatten bartlosen Wangen verleihen ihm fast das Aussehen eines kaum den Knabenjahren entwachsenen Jünglings. Seine Züge sind zugleich bedeutend und regelmäßig, beinahe schön zu nennen, und ihr Ausdruck ist im höchsten Grade einnehmend. Selten trübt auch nur eine leise Wolke die über seine Physiognomie gebreitete Heiterkeit, sein Lächeln aber hat etwas überaus Gewinnendes, ja Hinreißendes.
Wohl noch niemals und nirgends ist es einem Blinden gelungen, sich zu einer so hohen staatlichen Geltung aufzuschwingen, ein so einflußreicher politischer Parteiführer zu werden, wie Professor Fawcett, der, obwohl noch nicht vierzig Jahre alt, der angesehenste der sogenannten unabhängigen Liberalen des englischen Unterhauses ist. Vom ersten Augenblicke an, wo er seinen Sitz im Parlamente einnahm, wußte er – eine ganz unerhörte Erscheinung – die Aufmerksamkeit des gesammten Hauses zu fesseln. Er besitzt eine helle, volltönende Stimme, spricht mit seltener Geläufigkeit, ohne den salbungsvollen Universitätston, dem wir im englischen Parlamente so häufig begegnen, und meidet alle banalen Attitüden und wohlfeilen oratorischen Kunststückchen. Feind jedweder Ausflüchte und Spitzfindigkeiten, giebt er immer nur seine wahre Ueberzeugung kund und kommt ohne Weiteres zur Sache. Zu Zeiten beredt, ist er stets interessant, ein unerschrockener Vertheidiger des Rechts wider das Unrecht, ohne Rücksicht auf die etwa daraus entstehenden Folgen. Er und drei seiner vertrauten Freunde, Sir Charles Dilke, P. A. Taylor und Auberon Herbert, gelten als die vier „Unversöhnlichen“ des Unterhauses, das heißt als Männer, die sich nie zu Concessionen bereit finden lassen, welche ihrer inneren Ueberzeugung zuwiderlaufen.
Henry Fawcett ist der Sohn eines englischen Gutsbesitzers und studirte in Cambridge als Insasse des wesentlich von künftigen Juristen frequentirten Colleges Trinity Hall, wo er sich im Jahre 1856 die höchsten mathematischen Ehren errang. Hierauf wandte er sich der Themis zu und wurde 1862 im Mittleren Tempel (Middle Temple), zum Advocaten ernannt, das traurige Ereigniß jedoch, das ihm das Licht seiner Augen raubte, setzte seiner rechtsamtlichen Laufbahn ein schnelles Ziel. Während der Herbstferien auf dem heimathlichen Landsitze ging er eines Tages mit seinem Vater auf die Jagd. Als der letztere über eine Hecke kletterte, entlud sich sein Gewehr, und ein Theil des Schusses traf den Sohn in’s Gesicht und zerstörte ihm beide Augen, ohne ihn sonst zu verletzen oder zu entstellen. Wie man sich denken kann, war der Vater trostlos ob des Unheils, das er wider seinen Willen über den geliebten Sohn gebracht hatte, dessen Aussichten jetzt mit Einem Schlage vernichtet zu sein schienen, und man fürchtete, daß er das Unglück nicht überleben würde. Der Sohn aber richtete den Gebeugten wieder auf; tagelang saß der blinde junge Mann bei dem der Verzweiflung nahen Vater und versicherte ihn, der Unfall werde ihm die Laufbahn, die sie Beide erhofften, in keiner Weise beeinträchtigen. „Das Unglück,“ sagte er, „ist ja erst gekommen, nachdem ich auf der Universität den Grund zu meiner Bildung gelegt habe, und glücklicher Weise besitzen wir dir Mittel, mir zur Erreichung meiner Zwecke den Beistand anderer Augen zu verschaffen. Freue Dich mit mir darüber, daß im Uebrigen meine Gesundheit noch so gut ist wie zuvor und mein Geist und meine natürliche Heiterkeit nicht im Mindesten gelitten haben.“
Die Hoffnungen, die er damit seinem Vater einzuflößen suchte, haben sich verwirklicht. Nachdem er längere Zeit Fellow (Mitglied) seines Colleges war, ist der Blinde jetzt Professor der Staatswissenschaften in Cambridge und hat sich in seiner Disciplin einen Namen gemacht, der von keinem seiner mitlebenden Landsleute übertroffen wird. Der verstorbene John Stuart Mill, sicher ein Mann, dessen maßgebendes Urtheil Niemand in Abrede stellen wird, hielt den jungen Professor für einen der denkendsten Köpfe Englands und zählte zu seinen engsten Freunden. Fawcett’s „Handbuch der Staatswissenschaften“ erlebt fast alljährlich neue Auflagen und ist sowohl in Oxford wie in Cambridge in den meisten Colleges eingeführt.
„Als ich Cambridge zum ersten Male besuchte,“ erzählt ein amerikanischer Gelehrter, dessen Mittheilungen in einer transatlantischen Zeitschrift wir in unserer kurzen Darstellung folgen, „war Fawcett noch Fellow am Trinity Hall, allein schon so gut wie Professor. Ich hatte das Glück, der Gastfreundschaft in seiner reizenden Wohnung genießen zu dürfen, und die in seiner Gesellschaft verbrachten Abende wurden zu wirklichen ambrosischen Nächten. Nach dem Mittagsessen pflegten sich viele der Lehrer und Schüler bei ihm einzufinden; Cigarren wurden angesteckt, und dann ging es an ein Debattiren über die verschiedenartigsten philosophischen und politischen Fragen, die uns ganz vergessen ließen, daß mittlerweile schon der Morgen zu tagen begann. Fawcett ist zum Parteiführer geboren; er weiß seine Gedanken der Anschauungsweise Anderer anzupassen und zugänglich zu machen. Sein Humor ist wahrhaft originell, seine Einbildungskraft reich und schöpferisch, unerschöpflich aber das Repertoire seiner Anekdoten, durch die er seiner an sich bewundernswerthen Unterhaltungsgabe einen eigenthümlichen Reiz verleiht.
Seit seiner Verheiratung lebt er meist in London, was indeß seinen Einfluß in Cambridge nicht geschmälert hat; denn so oft er während der Wintersaison dahin zurückkehrt, um nach englischer Weise eine gewisse Anzahl von Vorlesungen abzuhalten, worin die amtliche Verpflichtung seiner Professur besteht, wird er jedesmal mit einem Festmahl gefeiert, an dem die gesammte Universität sich zu betheiligen pflegt. Jene köstlichen Abende in Trinity Hall, von denen ich erzählte, nehmen dann wieder ihren Anfang. Welche werthvolle Hülfe seine Gattin ihm auch bei seinen wissenschaftlichen Bestrebungen leistet, das hat er selbst mit dem Ausdrucke innigsten Dankes in der Vorrede zur neuesten Auflage seines Handbuchs anerkannt; seine Frau ist es gewesen, die allein die Revision des umfänglichen Buches besorgt hat, mit einer Genauigkeit, die manchen Gelehrten und Corrector beschämt, wie sie ihm namentlich auch bei den zahlreichen literarischen Arbeiten zur Hand gegangen ist, in denen er seine Stimme hinsichtlich der gegenwärtig so vielfach ventilirten Frage der Frauenemancipation abgegeben hat. In der That sind die Beiden unzertrennlich; wer in England von Henry Fawcett, dem gelehrten Universitätsprofessor und politischen Stimmführer spricht, der vergißt sicher nicht, auch seiner Frau zu erwähnen, ohne die sich der allverehrte Mann niemals öffentlich zeigt, und allgemein und herzlich ist die Bewunderung, die man der treuen Pflegerin und unermüdlichen Gehülfin und Gefährtin des blinden Parlamentsmitgliedes zollt. ‚Der Blinde und sein Weib!‘ so geht es in andachtsvollem Flüstern durch die Volksmenge, wenn das Paar die Schwelle des Unterhauses überschreitet.“
Das Buchstabirfieber. Gewiß eine der seltsamsten Vergnügungen, von echt amerikanischer Erfindung ist das Buchstabirfieber, wenn es, wie gegenwärtig, auf eine so übertriebene Weise in Anwendung gebracht wird.
Drama, Concert, Oper und alle sonstigen unter den Amerikanern fashionablen Vergnügungen sehen sich vernachlässigt, eben durch – das Buchstabirvergnügen. Aber worin besteht dasselbe? In nichts Anderem, [464] als im Wetteifer, verschiedene schwer auszusprechende und richtig orthographisch zu schreibende Wörter schnell und recht zu buchstabiren, während das Publicum sich über die Fehler und Böcke der Buchstabirenden köstlich amüsirt. An dieser Posse nehmen höhere und Subalternbeamte, Geistliche, Lehrer und Lehrerinnen, Journalisten, Schriftsetzer und Andere theil, bei deren Beruf die Orthographie etwas zu bedeuten hat.
Bei einem solchen Wettkampfe am Regierungssitze zu Washington, der unter dem pompösen Namen „National Spelling Match“ (Nationaler Buchstabir-Wettstreit) vor sich ging, präsidirte der Staatssecretär, und verschiedene höhere Beamte und Staatsmänner (?) fungirten als Beisitzer.
Da ward einer gewissen Miß das Wort „Alchymy“ aufgegeben zu buchstabiren. Sie buchstabirte „Alchemy“, und einer der Schiedsrichter entschied, daß dies nicht richtig sei. Die Buchstabirerin wurde aber von ihren Kolleginnen eifrigst aufgefordert, zu „apelliren“. Die beiden Autoritäten „Webster’s“ und Worcester’s“ (Wörterbücher) wurden nachgeschlagen, und beide entschieden für die Miß. Dann ging ein langer Streit zwischen einigen Herren über das Wörtchen c-y-s-t (Sackgeschwulst) vor sich, wobei es sich fragte, ob es so oder s-y-s-t buchstabirt werden müsse. Der Streit über diesen wichtigen Punkt war hitzig, doch endlich einigten sich die Kämpfer dahin, die Autoritäten entscheiden zu lassen. Als aus denselben aber sich ergab, daß sowohl Worcester, wie Webster die Leseart c-y-s-t hatte, da entstand im Publicum zu Gunsten des Siegers ein endloser Applaus.
Dann bekam eine Dame das Wort „Britannia“ zu buchstabieren. Sie that es mit zwei n und der Schiedsrichter meinte, ein n wäre zu viel. Die Buchstabirerin entschuldigte sich damit, daß Sie mit dem Worte das Metall, nicht das Land gemeint habe. Aber der ebenfalls bei dem Streite betheiligte Bibliothekar des Congresses meinte, daß beide Wörter gleich geschrieben würden. Unterdessen hatte Einer in den Webster geguckt, und zwei n gefunden, was unter dem Publicum eine große Sensation erregte, die bis auf’s Aeußerste stieg, als sich herausstellte, daß auch Worcester damit übereinstimmte. Einer der Herren gab dann einer schönen Dame das Wort „Papillote“ auf. Die Dame aber wußte gar nicht, was mit diesem Worte gemeint wäre, jedenfalls aber habe sie die Sache, die ihr erklärt wurde, nie unter dieser Benennung kennen gelernt. Der Aufgeber vertheidigte seine Aufgabe und meinte „er halte es für ein gutes Wort.“ Allein die Autoritäten wußten nichts von dessen Existenz. Die Dame lächelte ob ihres Sieges; ihr Gegner aber ließ sie nicht so leicht los und gab ihr auf „pannier“ (Brodkorb) zu buchstabiren, Wenn Sie könne. „Ja wohl, mein Herr,“ antwortete sie, buchstabirte p-a- doppel n-i-e-r. „Correct,“ entgegnete ihr Widerpart, und unter großem Applause kehrte die Siegerin zu ihrem Sitze zurück.
Später wetteiferten ein Schriftsetzer und ein Schulmädchen mit einander. „Immer heißer und heißer wurden sie; die Funken flogen von ihrem Stahle; beide waren würdige Kämpfer,“ schrieben die Berichterstatter. Ob ihm der Athem ausging, oder die glänzenden Augen seiner schönen Gegnerin ihn verwirrten, der Schriftsetzer scheiterte an dem verhängnißvollen Worte „meretricious“ (verführerisch), seiner Gegnerin mit dem Seufzer das Feld lassen: „Ich gehe unter, aber glückselig!“ Denn auf sein Ansuchen durfte er der Siegerin den Preis, eine goldene Medaille, überreichen.
Diese kleinen Proben mögen zur Charakterisirung des amerikanischen Vergnügens genügen. Vielleicht wirft der Umstand einiges Licht auf diese sonderbare Liebhaberei, daß das Buchstabiren besonders in den amerikanischen Schulen über alles Maß betrieben wird. Ja, ist die Schulzeit vorüber, so wird diese Beschäftigung auch noch privatim fortgesetzt. Der Amerikaner buchstabirt durch’s ganze Leben, und die Buchstabirfieber sind eben nur Massenentladungen dieser landläufigen Gewohnheit.
Ein originelles Bittgesuch an den Fürsten Blücher, aus dem Jahre 1815.
General, Herr General vorwärts Excellenz!
Liebwerthester Herr Blücher!
Verzeihen Sie, Exellenz, liebwerthester Herr Blücher, General vorwärts, daß ich als unzeitige Geburt es wage, an Sie zu schreiben, aber ich kann mir nicht helfen, es ist wegen meinen Traugott; ich bitte Sie um alles in der Welt, liebster Herr Blücher, Exellenz General vorwärts, was ist das für eine infame Confusion mit dem Feldpostamt, ich habe meinen Traugott, bey den Garde Jägern, er kennt Ewr Exellenz vorwärts genau und gut, schon zwey mahl Zulage geschickt, aber er hat nichts bekommen.
Ich bitte Ewr Exellenz demüthigst, corrigiren Sie die Kerls doch einmahl, aber nach alter Preuß. Manier; Sie verstehen schon, wie ichs meine, das wird gewiß helfen, denn es ist um die Schwernoth zu kriegen, wenn man den Kindern, die fürs Vaterland streiten, was schickt, und sie nichts bekommen.
Ewr Exellenz werden den Kerls doch wohl ein Donnerwetter aus den Hals schicken, deshalb habe ich es Ihnen geschrieben, denn ich weiß schon, daß mit dem alten nicht viel zu spaßen ist. Ewr Exellenz unüberwindlicher Feldmarschall, General vorwärts genannt, liebwerthester HErr Blücher, ich verbleibe Ihr unterthänigster,
zu Schweidenitz 1815.
NB. Wenn Sie meinen Traugott sehen, so bitte ich Ihn unbeschwert zu grüßen, aber schenken Sie ihm nichts, denn ich habe ihn immer zur Ordnung angehalten. Na, adjeu.“
Das Original dieses Bittgesuchs befindet sich im Besitze des Gastwirths Kühnbaum („Deutsches Haus“) in Garz an der Oder. Der Großonkel des etc. Kühnbaum war Adjutant des Fürsten Blücher, und auf diese Weise ist der Brief in der Familie vererbt worden.
Hermann Grieben, unsern Lesern durch die beiden Gedichte „Herman Grijn’s Kampf mit dem Löwen“ (Nr. 26, 1874) und „Die Geschichte von der Schwiegermutter“ (Nr. 40, 1874) bekannt, sendet dem Herausgeber unseres Blattes seine jüngst erschienenen „Gesammelten Gedichte“ (Heilbronn, Henniger) mit folgender poetischer Zuschrift:
Hochgeschätzter Herr! Sie haben
Ihren Lesern in der Welt
Neulich ein’ge kleine Gaben
Meiner Muse vorgestellt.
Mit „gesammelten Gedichten“
Komm ich heut’ und möcht’ an Sie
Die bescheid’ne Bitte richten,
Doch zu prüfen, ob und wie
Sie – gleichviel als Saft der Traube
Oder als gegohrner Wein –
Wohl der Welt der „Gartenlaube“
Dürften zu empfehlen sein.
Es sei uns gestattet, unsere Leser durch nachstehende versificirte Antwort auf die anmuthige Gedichtsammlung aufmerksam zu machen:
Wer schon längst der „Gartenlaube“
Sich so frisch und keck empfahl,
Findet willige, nicht taube
Ohren heut’ und allemal.
Haben wir doch froh empfunden,
Wie von Deiner „Burschenzeit“
Bis zu Deinen „Vagabunden“
Lied und Lust Dein treu Geleit.
Glaubt’s bei Allen, die da lieben
Frische Kost und frischen Wein,
Wird der Dichter Hermann Grieben
Jederzeit willkommen sein.
Berichtigung. In Nr. 24 der Gartenlaube, in dem Aufsatze: „Conrad Deubler’s Alpenhäuschen“, wolle man zur Steuer der Wahrheit folgendes berichtigen. Das Maximum der Strafe in dem erwähnten Processe betrug acht Jahre; die dabei betheiligte Frau wurde zu fünf Jahren verurtheilt, von denen sie zwei verbüßte. Alles übrige bezüglich der Strafen Mitgetheilte ist leider nur zu wahr.
W. Fr. in New-York. Als das geeignetste Institut zur musikalischen Ausbildung Ihres Freundes können wir Ihnen allerdings mit gutem Gewissen das „Leipziger Conservatorium“ empfehlen. Wenden Sie sich zu diesem Zwecke an Herrn Capellmeister Reinecke! Das Honorar beträgt, so viel wir erfahren, jährlich hundert Thaler, außerdem dürfte der junge Mann für Logis und Kost dreihundert, für Flügelmiethe und Noten-Abonnement fünfzig und für sonstige Ausgaben noch hundertfünfundzwanzig Thaler, im Ganzen also fünf- bis sechshundert Thaler aufzuwenden haben.
Dr. –a–, Verfasser des Artikels „Ein Wahnsinn in der Kinderstube“, ersuchen wir um Angabe seiner augenblicklichen Adresse, da wir ihm bezüglich des erwähnten Beitrages und eingegangener Anfragen interessante Mittheilung zu machen haben.
E. N. in Cottbus. Erhalten, aber nicht zu verwenden.
gingen in Markbeträgen wieder nachfolgende Gaben ein: Einer, der Ruge vor dreiundzwanzig Jahren in Manchester gehört 75. –; Ludwig Trapp in London 25. –; B. R. in Marienburg in dankbarer Erinnerung. –; durch Schichtmeister Neugebauer in Oels von B. B., E. B., M. O., Dr. R., R. A., D. Th., O. D., W. B., R. R. 33. –; Rosenberg 9. –; Bürgermeister Schneider in Zerbst 15. –; Angelo Cavellero de Milan 15. –; Louis Andrae in Köln 18,34[WS 1]. –; T. W: aus Würzburg 30. –; H. Simon in Culmbach 20. –; Kirchner in Leipzig 15. –; Dr. Herm. Schmid in München, durch Redacteur Klee in Freising 12. –; Professor Dr. Mor. Fleischer in Dresden 50. –; Stadtrath Advocat Heubner in Zwickau 20. –; A. F. in Berlin 3. 5;– Paul Apfelstedt in Frankfurt 3. –; Wilhelm Kautschifsch 2 fl. 5 W.; Dr. Theodor Landgraff in Heidelberg 100. –; aus Leipzig: ein zurückgewiesenes Geschenk 150. –.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ vergl.: Kleiner Briefkasten, Heft 37