Die Gartenlaube (1874)/Heft 37
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No. 37. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Signora Biancona schien die rechte Saite berührt zu haben, die bloße Möglichkeit einer solchen Annahme brach Ella’s Widerstand. „Ich werde Sie anhören,“ entgegnete sie rasch. „Aber wo?“
„In der kleinen Veranda zur Rechten der Galerie. Wir sind dort allein; ich werde vorangehen – Sie dürfen mir nur folgen.“
Mit einer kaum merklichen Bewegung neigte Ella das Haupt. Die wenigen Worte waren so rasch und leise gewechselt worden, daß Niemand eine Silbe davon vernommen, Niemand auch nur die Annäherung der beiden Frauen bemerkt hatte, die in jener Minute nur von Fremden umgeben waren; deshalb fiel es auch Keinem auf, als Signora Biancona gleich darauf aus dem Saale verschwand und Ella einige Minuten später diesem Beispiele folgte.
Die mit Statuen und Gemälden geschmückte Galerie neben dem großen Empfangssaale war beinahe leer. Nur wenige der Gäste hatten den kühleren Raum aufgesucht, an dessen Ende eine Glasthür auf eine halb offene Veranda führte, die bei Tage wohl einen weiten Ausblick auf die umliegenden Gärten gestatten mochte, heute Abend aber den Festräumen beigesellt zu sein schien, denn auch sie war mit hohen Blumengewächsen und Blattpflanzen geschmückt und, wenn auch nicht so glänzend wie die Säle, doch hinreichend erleuchtet. Jedenfalls war sie ganz leer, und der abgelegene, halb versteckte Raum, der den wenigsten Gästen bekannt war, bot die Möglichkeit eines ungestörten Gesprächs.
Beatrice befand sich bereits dort, als Ella’s Spitzenkleid über die Schwelle rauschte, aber die junge Frau blieb in unmittelbarer Nähe derselben stehen, ohne auch nur einen einzigen Schritt weiter vorwärts zu thun. Genau mit jener unnahbar stolzen Haltung, die sie bei der ersten Begegnung in der Locanda gezeigt, erwartete sie auch hier den Beginn dieser halb erzwungenen Unterredung. Die Augen der Italienerin hingen mit einem wahrhaft verzehrenden Ausdrucke an der weißen Gestalt, die, vom Lampenlicht hell umflossen, ihr gegenüberstand, und deren Schönheit sie geradezu vernichtend berührte.
„Signora Eleonore Almbach!“ begann sie endlich. „Ich bedaure, Ihnen erklären zu müssen, daß Ihr Incognito bereits verrathen ist. Vorläufig allerdings nur mir, ich glaube aber nicht, daß Sie es auf die Dauer werden behaupten können.“
„Und auf wen würde das fallen?“ fragte Ella ruhig. „Ich schonte nicht mich, als ich mir dieses Incognito auferlegte.“
„Wen denn? Vielleicht Rinaldo?“
„Ich kenne Signor Rinaldo nicht.“
Die Worte klangen in so eisiger Bestimmtheit, daß ein Zweifel an dem, was sie ausdrücken sollten, gar nicht möglich war und Beatrice einen Moment lang davor verstummte. Sie war völlig außer Stande, einen Stolz zu begreifen, der den einmal begangenen Treubruch selbst einem Rinaldo nicht verzieh.
„In der That, auf diese Verleugnung war ich nicht vorbereitet,“ entgegnete sie. „Wenn Rinaldo –“
„Sie haben mich sprechen wollen,“ unterbrach die junge Frau sie, „und ich versprach, Sie anzuhören. Daß mir der Entschluß nicht leicht geworden ist, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu versichern; zum Mindesten erwartete ich nicht, diesen Namen von Ihnen zu vernehmen, und wünsche es auch nicht. Lassen Sie diese Unterredung so kurz wie möglich sein! Was haben Sie mir zu sagen?“
„Vor allen Dingen habe ich Sie zu bitten, daß Sie einen andern Ton für unser Gespräch wählen,“ fuhr Beatrice gereizt auf. „Sie sprechen mit Beatrice Biancona, deren Name Ihnen wohl noch in anderer Weise bekannt ist, als nur durch unsere persönlichen Beziehungen zu einander, und die wohl Haß und Feindschaft von Seiten einer Gegnerin erträgt, nicht aber die Verachtung, die Sie auszudrücken belieben.“
Ella blieb völlig unbewegt dieser Forderung gegenüber. Sie trat etwas seitwärts in den Schutz der hohen Blattgewächse, so daß sie von der Galerie aus nicht gesehen werden konnte, und wandte sich dann wieder zu der Sprechenden.
„Ich habe diese Unterredung nicht gesucht. Sie waren es, Signora, die mich gewissermaßen dazu zwang, also werden Sie es wohl auch ertragen müssen, daß ich den Ton festhalte, der mir geeignet erscheint. Mir steht Ihnen gegenüber kein anderer zu Gebote.“
Ein Blick wilden tödtlichen Hasses schoß aus den Augen Beatricens, aber sie fühlte, daß, wenn sie jetzt ihrer Leidenschaftlichkeit nachgab, ihr dies alle Haltung rauben und der Gegnerin nur einen neuen Triumph bereiten würde. Sie kreuzte deshalb die Arme und erwiderte mit vernichtendem Hohne:
„Sie lassen es mich hart büßen, Signora Almbach, daß ich Siegerin blieb in einem Kampfe, dessen Preis die Liebe Ihres Gatten war.“
„Sie irren,“ versetzte Ella kalt. „Ich kämpfe überhaupt nicht um die Liebe eines Mannes. Das überlasse ich den [588] Frauen, die sich solch einen Preis erst mühsam erstreiten und dann ewig zittern müssen, ihn wieder zu verlieren.“
Die letzten Worte schienen eine wunde Stelle berührt zu haben. Beatrice erblaßte.
„Freilich, Sie hatten ja ein Recht, ihn kraft des Traualtars zu fordern,“ sagte sie, noch immer den früheren Hohn festhaltend. „Leider nur schützt auch dieser Talisman nicht vor jedem Unglücke, zum Beispiel vor dem Verlassenwerden.“
Jetzt war sie es, die schonungslos nach einer Wunde zielte, die sie selbst geschlagen hatte, aber der Pfeil prallte machtlos zurück. Die junge Frau richtete sich hoch und stolz auf.
„Allerdings nicht vor dem Schmerze eines solchen Schicksals, aber doch mindestens vor seiner Schande. Der verlassenen Gattin bleibt die Theilnahme, die Sympathie der ganzen Welt, der verlassenen Geliebten – nur die Verachtung.“
„Nur diese?“ sagte Beatrice dumpf. „Sie irren Signora; es bleibt ihr noch etwas Anderes – die Rache.“
„Soll das eine Drohung gegen mich sein?“ fragte Ella. „Wer Ihre Rache herausfordert, mag sich davor zu schützen suchen. Ich weiß mich frei davon.“
„Gewiß, Sie stammen ja aus dem Norden, wo man die Leidenschaft nicht kennt, wie wir das Wort verstehen,“ stieß die Italienerin hervor. „Bei Euch stehen ja immer und ewig die Vorurtheile, die Pflichten, die Meinung der Welt im Vordergrunde – die Liebe einer Frau kommt erst in zweiter Linie.“
„Allerdings erst in zweiter Linie.“ Ella’s Ton klang jetzt in unverschleierter Verachtung. „In der ersten steht die Ehre der Frau; wir sind gewohnt, sie unbedingt und überall voran zu setzen – ein Vorurtheil freilich, dessen sich Signora Biancona längst entäußert hat.“
Die junge Frau kannte die Gegnerin nicht, welche sie reizte, sonst hätte sie es vielleicht nicht gewagt, den Stolz der tief beleidigten Frau in so furchtbar vernichtender Weise sprechen zu lassen; die Wirkung war eine erschreckende. Es war, als ob sich auf einmal ein Dämon in der Italienerin aufbäumte, als ob ihr ganzes Wesen wirklich „Tod und Verderben sprühte“; so loderten die dunklen Augen auf; ein halb erstickter Ausruf der Wuth entrang sich ihren Lippen, und Alles um sich her vergessend, that sie einige Schritte vorwärts.
Ella wich zurück bei[WS 1] dieser mehr als drohenden Bewegung. „Was soll das, Signora?“ sagte sie fest. „Vielleicht gar ein Attentat? Sie vergessen, wo wir uns befinden. Ich sehe, daß ich Unrecht that, auf diese Unterredung einzugehen; es ist die höchste Zeit, daß wir sie endigen.“
Beatrice schien wieder etwas zur Besinnung zu kommen, wenigstens blieb sie stehen, obgleich der unheimliche Ausdruck nicht aus ihren Augen wich. Die Hand zerknitterte krampfhaft den schwarzen Spitzenschleier, der über ihre Schultern hinfiel; sie bemerkte es nicht, daß dabei eine der rothen Blüthen sich aus ihrem Haar löste und zu Boden fiel.
„Sie sollen diese Worte und diese Stunde bereuen lernen, Signora,“ zischte sie zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. „Sie kennen die Rache nicht? Nun wohl, so kenne ich sie; das werde ich Ihnen zu zeigen wissen – Ihnen und ihm.“ –
Sie rauschte davon und ließ die junge Frau allein zurück, die es nicht über sich vermochte, so unmittelbar nach dieser Scene wieder den Saal zu betreten und den besorgten Fragen Erlau’s Rede zu stehen. Tief aufathmend ließ sie sich auf einen der Sessel nieder und stützte den Kopf in die Hand. Diese wilde Haß- und Rachedrohung erschütterte sie doch, aber sie zeigte ihr auch die Wahrheit durch alle Schleier hindurch. Man haßt nur die siegreiche Gegnerin und rächt nur das Verlorene oder doch bereits verloren Gegebene – es war zu Ende mit der Bezauberung. Aber wem galten jene drohenden Worte? Reinhold? Die junge Frau erblaßte; sie selbst hatte der Drohung kühn und fest Stand gehalten, aber bei diesem Gedanken ging es wie ein Hauch zitternder Angst durch ihre Seele, und wie im halb unbewußten Schmerze die Hand gegen die Brust pressend, flüsterte sie:
„O mein Gott, das kann ja nicht sein. Sie liebt ihn ja.“
„Eleonore!“ sagte eine Stimme in ihrer unmittelbaren Nähe.
Ella schreckte auf; sie erkannte beim ersten Tone die Stimme, noch ehe sie die Gestalt sah, die jenseits der Schwelle in der Thür stand, als wage sie es nicht, diese zu überschreiten. Reinhold schien Muth zu fassen, als er keine abwehrende Bewegung sah, und trat vollends ein.
„Was ist das?“ fragte er unruhig. „Ich finde Dich allein hier in diesem abgelegenen Raume, und soeben sah ich eine Andere von hier kommen und durch die Galerie eilen. Du sprachest –?“
„Signora Biancona,“ ergänzte Ella, als er inne hielt.
„Hat sie Dich beleidigt?“ rief Reinhold aufflammend. „Ich kenne den Blick an ihr, der nichts Gutes bedeutet. Ahnte ich es doch beinahe, als sie so plötzlich aus dem Saale verschwand und auch Du nicht mehr zu erblicken warst. Ich kam zu spät, wie es scheint. Hat sie Dich beleidigt, Ella?“
Die junge Frau erhob sich und machte Miene, sich zu entfernen. „Wenn sie es gethan hätte, so begreifst Du wohl, daß Dein Schutz der letzte wäre, den ich in Anspruch nehmen möchte.“
Sie wollte an ihm vorüber nach dem Ausgange schreiten. Reinhold machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten, aber sein Blick ruhte auf ihr mit so düsterem Vorwurfe, daß sie wie unwillkürlich inne hielt.
„Eleonore,“ sagte er leise, „noch eine Frage, ehe Du gehst, eine einzige. Du warst in meiner Oper – wozu das leugnen? Ich habe Dich ja gesehen, wie Du mich. Was trieb Dich dorthin?“
Ella senkte den Blick, als sei es eine Schuld, die man ihr vorhielt, und eine verrätherische Gluth floß ihr über Stirn und Wangen, als sie zögernd erwiderte:
„Ich wollte den Tondichter Rinaldo auch einmal in seinen Werken kennen lernen.“
„Und nun Du ihn kennen gelernt hast?“
„Willst Du von mir ein Urtheil über Deine neue Schöpfung? Die Welt sagt, es sei ein Meisterwerk.“
„Es war eine Beichte,“ sagte er mit schwerer Betonung. „Ich ahnte freilich nicht, daß Du sie hören würdest, da es aber dennoch geschehen ist – hast Du sie verstanden?“
Die junge Frau schwieg.
„Ich sah Deine Augen nur einen Moment lang,“ fuhr er leidenschaftlicher fort, „aber ich sah doch, daß Thränen darin standen. Hast Du mich verstanden, Ella?“
„Ich habe begriffen, daß der Schöpfer solcher Töne nicht ausdauern konnte in dem engen Kreise meines Elternhauses,“ entgegnete Ella fest, „und daß er vielleicht das Beste für sich erwählte, als er sich losriß und sich hineinstürzte in ein Leben von Gluth und Leidenschaften, wie seine Töne es malen. Du hast Deinem Genius Alles geopfert – ich gebe Dir das Zeugniß, daß dieser Genius des Opfers werth war.“
Die letzten Worte klangen in tiefer Bitterkeit; sie schienen bei Reinhold die gleiche Saite zu berühren.
„Du weißt nicht, wie grausam Du bist,“ sagte er in demselben Tone, „oder vielmehr, Du weißt es nur zu gut, und läßt mich zehnfach büßen für jeden Schmerz, den ich Dir einst zugefügt habe. Freilich, was fragst Du auch danach, ob ich mich emporringe oder untergehe in einem Leben, das die Welt als ein Glück ohne Gleichen preist, und das ich oft, so oft schon, hätte hingeben mögen für eine einzige Stunde der Ruhe und des Friedens! Was kümmert es Dich, ob Dein Gatte, der Vater Deines Kindes sich verzehrt in der wilden Sehnsucht nach Versöhnung mit einer Vergangenheit, die er nie ganz aus seinem Herzen zu reißen vermochte, ob er schließlich verzweifelt an Allem und an sich selber! Er hat sein Schicksal ja verdient; damit ist der Stab über ihn gebrochen und der erhabene Tugendstolz seines Weibes versagt ihm jedes Wort der Versöhnung, versagt ihm sogar den Anblick seines Kindes –“
„Um Gotteswillen, Reinhold, mäßige Dich!“ fiel Ella angstvoll ein. „Wir sind nicht allein hier – wenn ein Fremder uns hörte!“
Er lachte bitter auf. „Nun, dann vernähme er das große Verbrechen, daß der Mann es einmal wagt, zu seiner Frau zu sprechen. Und wenn alle Welt es erfährt, mich kümmert es jetzt nicht mehr, auf wen die Entdeckung, auf wen die Verurtheilung fällt. – Ella, Du bleibst,“ unterbrach er sich, außer sich, als er sah, daß sie sich entfernen wollte. „Einmal muß es herunter [589] von der Brust, was ich mondenlang mit mir herumgetragen habe, und da Du sonst unerreichbar für mich bist, so wirst Du mich hier und jetzt anhören. Du wirst, sage ich.“
Er ergriff ihren Arm, um sie gewaltsam zurückzuhalten; in demselben Augenblicke aber erschien Marchese Tortoni in der Thür und trat fast stürmisch zwischen Beide.
Reinhold ließ den Arm seiner Gattin fahren und wich zurück. Cesario’s Aussehen verrieth ihm, daß dieser wenigstens die letzte Scene mit angesehen haben müsse; mit finsterer Stirn und ernstem Blicke stellte sich der Marchese sofort an die Seite der jungen Frau.
„Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, Signora?“ sagte er sehr entschieden. „Ihr Herr Oheim ist bereits in Sorge wegen Ihrer Abwesenheit. Sie gestatten wohl, daß ich Sie zu ihm begleite.“
Reinhold war bereits Herr seiner Ueberraschung geworden, nicht aber Herr seiner Aufregung. Die Störung in einem solchen Augenblick reizte ihn auf’s Aeußerste, und der Anblick Cesario’s an der Seite seiner Frau raubte ihm vollends die Fassung.
„Ich bitte, daß Sie sich entfernen, Cesario,“ sagte er heftig und gebieterisch, mit jener Ueberlegenheit, die er von jeher über seinen jungen Freund und Bewunderer ausgeübt hatte, aber er vergaß, daß er bei diesem jetzt nicht mehr im Vordergrunde stand. Die Augen des Marchese blitzten vor Entrüstung, als er erwiderte:
„Der Ton Ihrer Bitte ist so seltsam, Rinaldo, wie die Bitte selbst; Sie werden es daher begreiflich finden, wenn ich ihr nicht nachkomme. Ich habe allerdings nicht die deutschen Worte verstanden, die Sie mit Signora Erlau wechselten, aber ich sah doch, daß sie zum Bleiben gezwungen werden sollte, wo sie zu gehen wünschte. Ich fürchte, daß sie des Schutzes bedarf – befehlen Sie über mich, Signora!“
„Sie wollen sie gegen mich schützen?“ rief Reinhold auffahrend. „Ich verbiete Ihnen, sich dieser Dame zu nahen.“
„Sie scheinen zu vergessen, daß es sich hier nicht um Signora Biancona handelt,“ sagte der Marchese schneidend. „Dort mögen Sie ein Recht haben, zu verbieten oder zu erlauben, hier aber –“
„Hier habe ich es mehr als jeder Andere.“
„Sie lügen.“
„Cesario! Das Wort werden Sie mir bezahlen,“ brauste Reinhold auf.
„Wie es Ihnen beliebt,“ gab der Marchese ebenso heftig zurück.
Ella hatte es bisher vergebens versucht, die drohenden, Schlag auf Schlag fallenden Reden der wild erregten Männer zu unterbrechen; man hörte nicht auf sie, aber die letzten Worte, deren Bedeutung sie nur zu gut verstand, zeigten ihr die ganze Gefahr dieses unseligen Zusammentreffens. Rasch entschlossen trat sie dazwischen und rief mit einer Entschiedenheit, die ihr selbst in dieser Minute Gehör erzwang:
„Marchese Tortoni, gehen Sie nicht weiter! Es ist ein Mißverständniß.“
Cesario wandte sich sofort zu ihr. „Verzeihung, Signora! Wir vergaßen Ihre Gegenwart,“ sagte er ruhiger. „Aber Sie übersehen, daß in den Worten Signor Rinaldo’s eine Beleidigung für Sie liegt, die ich nicht gesonnen bin, zu dulden. Ich kann und werde meine Worte nicht zurücknehmen, es sei denn, Sie selbst überzeugten mich, daß er sich im Rechte befindet.“
Ella rang in qualvollster Unentschlossenheit mit sich selber. Reinhold stand stumm und düster; sie sah, daß er jetzt nicht sprechen würde, daß er sie mit diesem Schweigen zwingen wollte, ihn zu verleugnen oder als Gatten anzuerkennen, aber ihn verleugnen, hieß hier das Schlimmste herbeirufen. Die Beleidigung war einmal gefallen, und bei dem Charakter der beiden Männer war ein blutiger Zusammenstoß unvermeidlich, wenn sie nicht zurückgenommen wurde. Der jungen Frau blieb keine Wahl mehr.
„Signor Rinaldo geht zu weit, wenn er jetzt noch Rechte beansprucht, die er einst besaß,“ entgegnete sie endlich. „Eine Beleidigung aber lag in seinen Worten nicht, er sprach – von seiner Gattin.“
Reinhold athmete tief auf – also endlich bekannte sie sich doch dazu, und das vor Cesario. Dieser aber stand wie vom Blitz getroffen. Wie oft er auch schon nach der Lösung des Räthsels gesucht haben mochte, eine solche hatte er nicht erwartet.
„Von seiner Gattin?“ wiederholte er fast betäubt.
„Wir sind schon seit Jahren getrennt,“ sagte Ella tonlos.
Diese Erklärung gab dem Marchese seine ganze Fassung zurück. Er errieth sofort den Grund der Trennung, kannte er doch Beatrice Biancona. Der eine Name machte ihm Alles klar und ließ ihm keinen Zweifel darüber, auf wessen Seite hier die Schuld lag. Der Capitain hatte Recht mit seiner Annahme; die Entdeckung ließ Cesario, anstatt ihn zurückzuschrecken, vielmehr aufflammen in leidenschaftlicher Parteinahme für die geliebte und gekränkte Frau.
„Nun denn, Signora,“ sagte er rasch, „so steht es ja nur bei Ihnen, ob Sie einen Anspruch anerkennen wollen, den Reinhold auf eine Vergangenheit stützt, die nicht mehr existirt, und die er wohl selbst vernichtet hat. Sie allein haben darüber zu entscheiden, ob ich Ihnen noch ferner nahen, ob ich Ihnen auch in Zukunft ein Gefühl weihen darf, von dem ich offen bekenne, daß es mehr ist als nur die kalte Bewunderung eines Fremden, und das Sie eines Tages werden annehmen oder verwerfen müssen.“
Er sprach mit der ganzen Gluth einer lang zurückgehaltenen Empfindung, aber auch mit dem edlen unerschütterlichen Vertrauen eines Mannes, dem das Geliebte über allen Zweifel erhaben ist, und die Sprache war unzweideutig genug; sie drängte unabweisbar zu einer Entscheidung, vor der die junge Frau zurückbebte.
„Ja wohl, Eleonore, Du wirst entscheiden,“ nahm jetzt auch Reinhold das Wort. Die Stimme klang auf einmal unnatürlich ruhig, aber der Blick, der unverwandt an dem Antlitze seiner Gattin hing, mit einem Ausdrucke, als sollte in der nächsten Minute das Urtheil über Leben und Tod von ihren Lippen fallen, zeigte besser, wie es um ihn stand. Eine Secunde lang begegneten sich die Augen der Beiden, und Ella hätte kein Weib sein müssen, hätte sie jetzt nicht gesehen, daß die vollste und vernichtendste Rache in ihrer Hand lag. Ein einziges Ja aus ihrem Munde rächte Alles, was sie je erduldet. Langsam wandte sie sich zu Cesario.
„Marchese Tortoni – ich bitte Sie, davon abzustehen – ich betrachte mich noch als gebunden.“
Eine kurze, inhaltschwere Pause folgte den Worten. Ella sah, wie in den schönen Zügen des jungen Italieners ein tiefer Schmerz mit dem Stolze des Mannes kämpfte, der nicht zeigen wollte, wie tief er getroffen war; sie sah es, wie er sich, ohne ein Wort zu sprechen, vor ihr verneigte und sich zum Gehen wandte; den Blick nach der andern Seite zu richten, dazu fehlte ihr der Muth.
„Cesario!“ rief Reinhold, der wie in aufflammender Reue einen Schritt ihm nach that. „Wir sind Freunde.“
„Wir waren es,“ entgegnete der Marchese kalt. „Sie begreifen doch wohl, Reinhold, daß diese Stunde uns trennt. Meine Beschuldigung gegen Sie muß ich allerdings zurücknehmen; die Erklärung Ihrer Gemahlin spricht Sie frei davon – leben Sie wohl, Signora!“
Er ließ die beiden Gatten allein. Keiner von ihnen sprach während der nächsten Minuten. Ella beugte sich tief über eins der duftenden Blumengewächse, und ein paar Thränen fielen herab auf die breiten glänzenden Blätter. Da streifte ihr Name wie ein zitternder Hauch an ihrem Ohre vorüber – sie schien es nicht zu hören.
„Eleonore!“ wiederholte Reinhold.
Sie hob das Auge zu ihm empor. Noch stand ein tiefer Schmerz in ihrem Antlitz, aber die Stimme klang schon wieder völlig beherrscht.
„Was habe ich denn gesagt? Daß ich nie von der Freiheit Gebrauch machen werde, die Dein Schritt mir gab? Das stand ohnedies fest von Anbeginn. Die Erfahrungen meiner Ehe schützen mich vor jeder zweiten. Ich habe ja mein Kind, und damit den Zweck und das Glück meines Lebens. Einer andern Liebe bedarf ich nicht.“
„Du freilich nicht,“ sagte Reinhold mit zuckender Lippe, „und mein Schicksal ist Dir ja gleichgültig. Du hast von jeher [590] nur Dein Kind geliebt, mich nie. Um seinetwillen konntest Du mit allen Vorurtheilen Deiner Erziehung brechen und eine Andere werden, für Deinen Gatten hast Du das nicht gekonnt.“
„Hat er mir denn je Liebe gegeben, wie ich sie bei meinem Knaben fand?“ fragte Ella mit verschleierter Stimme. „Laß’ das, Reinhold! Du weißt, wer zwischen uns steht und ewig stehen wird.“
„Beatrice? Ich will sie nicht anklagen, obgleich sie mehr Schuld an meiner damaligen Entfernung trug, als Du vielleicht glaubst. Gleichviel, ich war immer Herr meines Willens – warum unterlag ich dem Zauber! Aber wenn ich jetzt seinen Trug erkannt habe und mich davon losreiße –“
„Willst Du sie verlassen, wie Du mich einst verlassen hast?“ unterbrach ihn die junge Frau mit vernichtendem Vorwurfe. „Meinst Du, daß das uns versöhnen würde? Ich habe den Glauben an Dich verloren, Reinhold, und der wird mir nicht wiedergegeben, wenn Du jetzt noch eine Zweite opferst. Ich habe keinen Grund, diese Biancona zu schonen oder zu achten, aber sie liebt Dich; sie hat Dir Alles geopfert, und Du selbst gabst ihr jahrelang ein unbestrittenes Recht auf Deinen Besitz. Wenn Du auch jetzt die selbstgeschmiedete Fessel zerreißen wolltest, uns trennt sie dennoch auf immer. Es ist zu spät; ich kann Dir nicht mehr vertrauen.“
Es klang ein grenzenloses Weh aus den letzten Worten, aber zugleich eine unbeugsame Festigkeit. In der nächsten Minute hatte Ella das Zimmer verlassen. Reinhold war allein.
Es war am Tage, welcher der Festlichkeit folgte, schon gegen Abend, als Capitain Almbach in das Empfangszimmer Reinhold’s trat.
„Ist mein Bruder noch immer nicht sichtbar?“ fragte er den ihm begegnenden Diener.
Dieser zuckte die Achseln und zeigte hinüber nach der geschlossenen Thür des Arbeitszimmers.
„Sie wissen ja, Signor, daß wir nicht stören dürfen; Signor Rinaldo hat sich eingeschlossen.“
„Schon seit heute Morgen,“ murmelte der Capitain. „Das fängt nachgerade an beängstigend zu werden. Ich muß durchaus wissen, was da vorgefallen ist.“
Er ging an die Thür des Arbeitszimmers und pochte in einer Weise, die nicht überhört werden konnte.
„Reinhold, öffne! Ich bin es.“
Von drinnen erfolgte keine Antwort.
„Reinhold, ich habe heute bereits zweimal vergebens Einlaß bei Dir verlangt. Wenn Du jetzt nicht öffnest, so nehme ich an, daß ein Unglück geschehen ist, und sprenge in der nächsten Minute die Thür.“
Diese Drohung schien endlich zu fruchten; man hörte Schritte drinnen im Zimmer. Der Riegel wurde zurückgeschoben, und Reinhold stand vor dem rasch eintretenden Bruder und sagte ungeduldig:
„Wozu die Störung? Kann ich denn nie allein sein?“
„Nie?“ fragte Hugo vorwurfsvoll. „Seit heute Morgen bist Du unzugänglich für Jeden, sogar für mich, und Dein Gesicht zeigt, daß Du jetzt eher alles Andere ertragen kannst als das Alleinsein. Diese unglückliche Soirée gestern! Der Himmel weiß, was da mit Euch Allen vorgegangen ist! Ella war auf einmal aus dem Saale verschwunden, und ich bin überzeugt, Ihr habt Euch gesprochen. Marchese Tortoni, der gleichfalls unsichtbar wurde, kommt mit einer Miene zurück, als habe er soeben sein Todesurtheil vernommen, und verläßt in der nächsten Minute die Gesellschaft. Dich finde ich in der Galerie in einer Aufregung ohne Gleichen, und Donna Beatrice sieht aus wie das jüngste Gericht, als sie in den Wagen steigt. Ich wette darauf, sie allein hat wieder das ganze Unheil angestiftet. Was hast Du mit ihr?“
Reinhold verschränkte die Arme und sah finster zu Boden. „Jetzt nichts mehr – wir sind zu Ende.“
Der Capitain trat in jähem Erstaunen zurück. „Was soll das heißen? Du begleitetest sie ja.“
„Gewiß! Sie wußte das zu ertrotzen, und da kam es denn endlich zur Entscheidung zwischen uns.“
„Du hast mit ihr gebrochen?“ fragte Hugo.
„Ich – nein,“ versetzte Reinhold mit einem bitteren Ausdruck. „Es war mir ja deutlich genug gesagt worden, daß ich keine ‚Zweite‘ opfern dürfe. Beatrice war es, die den Bruch gewaltsam herbeiführte. Warum mußte sie mich auch zu einer Unterredung zwingen, so unmittelbar nachdem mir klar geworden war, was ich um ihretwillen verloren habe. Sie stellte mich zur Rede über mein Denken und Fühlen, und ich gab ihr die Wahrheit, die sie verlangte – schonungslos vielleicht, aber wenn ich grausam war, so hat sie mich zehnfach dazu herausgefordert.“
„Ich kann es mir denken, wie ich die Biancona kenne,“ sagte Hugo halblaut.
„Wie Du sie kennst?“ wiederholte sein Bruder. „Glaube das nicht! Habe ich selbst sie doch erst gestern Abend ganz kennen gelernt. Es war eine Scene – ich sage Dir, Hugo, auch Du mit all Deiner Energie wärest ihr nicht gewachsen gewesen. Man muß selbst etwas vom Dämon in sich haben, um solch einem Weibe Stand zu halten. Die Stunde drückte das Siegel auf unsere Trennung.“
Es bebte ein dumpfer Groll in den Worten, aber ein Aufathmen, eine Erleichterung verriethen sie nicht. Der Capitain schüttelte den Kopf.
„Ich fürchte, die Geschichte ist damit noch keineswegs zu Ende. Diese Beatrice ist keine Frau, die sich in ohnmächtigen Thränen verzehrt. Sei auf Deiner Hut, Reinhold!“
„Sie drohte mir mit ihrer ganzen Rache,“ sagte Reinhold finster. „Und wie ich sie kenne, wird sie das halten. Mag sie doch! Ich zittere nicht vor dem, was ich selbst heraufbeschwor – mit dem Glücke habe ich ja ohnehin abgeschlossen.“
„Und wenn jene Trennung unwiderruflich bleibt, glaubst Du nicht an die Möglichkeit einer Versöhnung mit Ella?“ fragte der Capitain ernst.
„Nein, Hugo, das ist vorbei. Ich weiß, daß sie nicht vergessen kann. In ihrem Herzen spricht auch nicht eine Stimme mehr für mich, wenn sie überhaupt je gesprochen hat. Die Kluft zwischen uns ist zu weit und zu tief; es führt keine Brücke mehr hinüber. Ich habe die letzte Hoffnung aufgegeben.“
Das Gespräch der beiden Brüder wurde in diesem Augenblicke durch Jonas unterbrochen, der rasch eintrat. Reinhold sah unwillig auf, als der Diener seines Bruders sich erlaubte, sein Arbeitszimmer so ohne Weiteres zu betreten, und Hugo hatte bereits einen Verweis auf den Lippen, als ein Blick auf das Gesicht des Matrosen ihn innehalten ließ.
„Was giebt es, Jonas?“ fragte er unruhig. „Bringst Du irgend etwas Besonderes?“
„Herr Capitain!“ – die Stimme des Matrosen hatte ganz und gar ihren sonstigen ruhigen Klang verloren; sie zitterte hörbar – „Ich komme eben aus dem Erlau’schen Hause – Sie wissen ja, daß ich jetzt oft dahin gehe – der alte Herr ist außer sich; die ganze Dienerschaft ist auf den Beinen – die Annunziata weint sich die Augen aus, obgleich sie doch wahrhaftig keine Schuld hat – und die junge Frau Erlau nun erst –“
„Was ist geschehen?“ fuhr Reinhold in ahnender Angst empor. „Ein Unglück?“
„Das Kind ist fort,“ sagte Jonas verzweifelt, „schon seit heute Mittag. Wenn sie es nicht wiederfinden, ich glaube, das geht der Mutter an’s Leben.“
„Wer? Der kleine Reinhold?“ forschte Hugo, während sein Bruder keines Wortes mächtig den Unglücksboten anstarrte. „Wie konnte das geschehen? War er denn nicht unter Aufsicht?“
„Er spielte im Garten, wie gewöhnlich,“ berichtete Jonas, „und die Annunziata war bei ihm. Sie geht nur auf eine Viertelstunde in’s Haus – das kommt öfter vor. Als sie zurückkommt, ist die Gartenthür offen, das Kind fort, keine Spur von ihm zu finden. Sie haben schon die ganze Nachbarschaft aufgeboten, die ganze Umgegend durchsucht, aber Teiche oder Gräben, wo der Kleine verunglücken könnte, giebt es ja nicht in der Nähe, und wenn er fortgelaufen wäre, so ist er ja am Ende groß genug, sich wieder zurecht zu finden. Kein Mensch kann sich die Geschichte erklären.“
Die Blicke der Brüder begegneten sich. In Beider Augen stand derselbe furchtbare Gedanke. In der nächsten Minute schon riß Reinhold, leichenblaß und an allen Gliedern bebend vor Aufregung, seinen Hut vom Tische.
Wenn man in der altehrwürdigen Stadt Augsburg die lange von der hochliegenden Sanct Ulrichskirche nordwärts zum Dome führende Prachtstraße herunter geht, so erblickt man gleich hinter dem schönen Herculesbrunnen zur linken Hand neben dem jetzigen Gasthofe zu den „Drei Mohren“ die lang hingestreckte
Façade eines Gebäudes von colossaler Ausdehnung. Die Außenwände desselben sind mit neueren, der Geschichte der Stadt entnommenen Fresken bedeckt, die, wenn sie auch, was Stilisirung und künstlerische Anordnung anbelangt, mit den in Augsburg in seltenem Reichthume erhalten gebliebenen Hausfresken aus der Renaissanceperiode keinen Vergleich aushalten können, doch von einem edeln Streben und einem tüchtigen Studium Zeugniß geben. Es ist der Palast der Fugger. Noch sieht man deutlich, daß das Gebäude aus zwei früher selbstständigen Häusern zusammengesetzt ist; ehedem bildete der ganze Häusertractus bis hinauf zum Katharinengäßchen ein zusammenhängendes, unter dem Gesammtnamen „die Fuggerhäuser auf dem Weinmarkte“ bekanntes und im Besitze der berühmten Familie befindliches Ganzes, von dem sich dann später, etwa von der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts an, als die Geldmacht und damit der Glanz der Fugger in Niedergang gerieth, ein Theil nach dem andern ablöste und in fremde Hände überging, bis schließlich nur noch der Theil im Besitze der Familie blieb, den man heutzutage mit dem Namen „Fuggerhaus“ zu bezeichnen gewohnt ist. Auf einem alten Kupferstiche von 1634, welcher die Huldigung der Augsburger Bürgerschaft vor dem Schwedenkönige zum Gegenstand hat, sehen wir noch deutlich den einstigen Umfang des Fuggerpalastes; zu ihm gehörte damals noch namentlich der allen Reisenden wohlbekannte Gasthof zu den „Drei Mohren“. Damals bedeckte auch noch reicher architektonischer Zierrath in [592] Form von stattlichen Portalen, Erkern, Thürmchen etc. die Fronte, die sich jetzt ohne alle Gliederung hinstreckt, und Fresken von der Meisterhand des jüngern Burgkmair schmückten die Wände. Von allem dem, wie namentlich auch von der von den Zeitgenossen mit den blendendsten Farben geschilderten Pracht des Innern sind heute nur noch vereinzelte Reste erhalten. Eine ungefähre Darstellung von der versunkenen Herrlichkeit kann sich der Besucher jedoch jetzt noch an zwei Stellen des Fuggerhauses verschaffen: an dem großen Hofe im Innern des Gebäudes und an den jetzt dem Kunstvereine als Ausstellungslocal dienenden Räumlichkeiten.
Beide Oertlichkeiten haben ihre ursprüngliche Gestalt fast unversehrt bis auf unsere Tage herab beibehalten. Der Hof ist mit Arcaden umzogen, welche nach italienischer Weise auf toscanischen Säulen von rothem Marmor ruhen. In der Tiefe der Hinterhalle erheben sich mächtige Marmorsäulen mit getheiltem Schafte, die Capitäle üppig mit Laubwerk und Widderköpfen geschmückt. Um den ganzen Hof ist die Laibung (innere Fläche) der Bögen mit herrlichen grauen Arabesken auf schwärzlich blauem Grunde bedeckt. Ueber den Bögen sieht man gemalte Medaillons, die eine Füllung von rothen Marmorplatten haben. Darüber zieht sich ein arg zerstörter Fries hin mit grau in grau gemalten historischen Scenen, wahrscheinlich Resten jener Wandgemälde, deren Gegenstände durch den gelehrten Conrad Peutinger bestimmt worden waren, und die Jakob Fugger 1516 durch Altorfer ausführen ließ. Welche Pracht in der Blüthezeit des Fugger’schen Geschlechts die inneren Räume ihres Palastes erfüllt hat, davon legen die jetzt dem Kunstvereine überlassenen Räumlichkeiten mit ihren herrlichen Fresken beredtes Zeugniß ab. Die Tradition berichtet, daß hier dereinst die Hausbäder eingerichtet gewesen seien. Bis in die neueste Zeit hatte man jene geistvollen und lieblichen Bilder, welche die Verherrlichung des Fugger’schen Hauses, symbolisirt durch dessen Wappen, zum Gegenstande haben, dem großen Meister Tizian zugeschrieben. Es ist immerhin möglich, daß er die Entwürfe angefertigt und die Arbeit geleitet hat; gemalt hat er die Bilder nicht, sondern, wie dies aus einer versteckten Inschrift hervorgeht, ein anderer Meister seiner Schule, Antonio Ponzano.
Die Geschichte der Fugger von ihren ersten Anfängen an bis zu ihrer höchsten Blüthe hinauf zu verfolgen, gewährt einen eigenthümlichen Reiz. Als sie von einem kleinen Dorfe auf dem Lechfelde nach Augsburg übersiedelten, arbeiteten sie in der bescheidensten Weise, völlig verborgen und unbekannt, zwei Menschenalter hindurch. Jakob, der ältere Fugger, hatte noch ein ganz mäßiges Vermögen, als er starb; seine Wittwe konnte ihren drei Söhnen nur erhalten, was sie besaß. In den bescheidensten Verhältnissen zog sie die Kinder groß; diese lernten aber in solcher Bescheidenheit auch das rechte Maß kennen, welches den bürgerlichen Wohlstand mit Sicherheit begründen lehrt. Katharina hatte noch allen Kindern von der treuen Hausmagd die Firmbinde umbinden lassen, und doch war schon ihr Sohn Jakob in der Lage, mit seinem Reichthume die Kaiserwahl zu entscheiden. Mit seinen Brüdern Ulrich und Georg begründete er den Ruhm des Fugger’schen Namens.
Es war aber nicht allein das Geld, was der Familie den großen Namen machte; nicht weil die ungeheuren Erträgnisse der Bergwerke Ungarns, Istriens und Tirols in dem Hause Jakob Fugger’s zusammenflossen, ertönte die ganze damalige civilisirte Welt von ihrem Ruhme, sondern weil jenes Geld benutzt wurde, der Wissenschaft und Kunst, der Wohlthätigkeit und dem Vaterlande die edelsten Dienste zu erweisen. Jakob Fugger wußte, was er that; sein Geist und Herz drängte ihn dazu, als er, selbst kinderlos, den früh verwaisten Kindern seiner Brüder eine wissenschaftliche Ausbildung zu Theil werden ließ, die Bestrebungen der Gelehrten unterstützte, bei der Erbauung des Chores von Sanct Anna wie bei der Errichtung seines Grabmales alle Künste beschäftigte, für die Armen eine Stadt in der Stadt baute, bei jeder Theuerung seine Kornspeicher öffnete und, als Deutschland in Gefahr war, seine Kaiserkrone an den französischen König zu verlieren, die ungeheuren Summen darlieh, mit welchen Karl der Fünfte die Stimmen der Kurfürsten kaufen mußte.
Man liest gewöhnlich, daß der Erste dieses weltberühmten Geschlechts im Jahre 1370 von dem Dorfe Graben, östlich von Schwabmünchen am Westrande des Lechfeldes gelegen, nach Augsburg eingewandert sei. Es ist dies aber schon zwei Jahre früher geschehen. Es waren zwei Brüder, welche nach Augsburg zogen, Ulrich und Johannes Fugger. Johannes kam damals zuerst allein dahin; erst 1376 kam Ulrich nach. Die Brüder bewohnten von da an gemeinschaftlich ein von der eigentlichen Verkehrsstadt weit abgelegenes Haus. Die Familie hatte sich schon in Graben mit Weben und Färben beschäftigt, denn diese Gewerbe waren in älterer Zeit immer vereinigt; der Name „Fugger“ heißt seiner altdeutschen Bedeutung nach nichts anderes als „Färber“, und eine ununterbrochene Ueberlieferung bezeichnet alle älteren Fugger als Weber. Neben dem Gewerbe hatten sie in Graben einigen Feldbau betrieben, denn es ist bekannt, daß spätere Fugger die Wiesen und Felder, welche das ursprüngliche Eigenthum der Familie gebildet hatten und veräußert worden waren, als die Fugger nach Augsburg übersiedelten, wieder an sich brachten.
Der außerordentliche Aufschwung, welchen, wie die Stadt im Allgemeinen, so auch Handel und Gewerbe, namentlich die Weberei, im vierzehnten Jahrhunderte genommen hatte, nöthigte gleichsam die Fugger, nach Augsburg zu ziehen, wo sie allein mit ihrem Geschäfte Fortschritte machen konnten. Hier war bereits mit Barchent aus Wolle, Flachs und Hanf ein so lebhafter Geschäftsverkehr in’s Leben getreten, daß das Umgeld von den Weberwaaren eines der einträglichsten Gefälle der Stadt bildete. Ein gewinnvoller Handel mit diesen Waaren hatte sich nach allen Ländern Europas ausgedehnt. Die bedeutende politische Macht der Stadt war es allein, welche in jenen unruhigen Zeiten diesem Verkehre die nöthige Sicherheit verschaffte.
Die Heirath mit Clara Widolf verschaffte dem Hans Fugger das Bürgerrecht in Augsburg. Nach dem Tode derselben schritt Hans im Jahre 1383 zur zweiten Ehe mit Elisabeth Gevattermann, welche beinahe zweiundzwanzig Jahre in „Fried und Freud“, wie die Familienchronik berichtet, währte und mit sechs Kindern gesegnet wurde. Vier von diesen starben in jungen Jahren; nur zwei Söhne, Andreas und Jakob, pflanzten das Geschlecht weiter fort.
Andreas, geboren 1406, wurde der Stammvater der Fugger vom Reh. Er trieb zuerst größeren Handel und wurde bereits „der reiche Fugger“ genannt.
Der zweite Sohn, Jakob, geboren 1410, wurde Vorgeher (Zunftmeister) der Barchentweber und der Stammvater der Fugger von der Lilie. Nachdem er 1469 gestorben war, bezog seine Wittwe das Haus am Judenberge (im Herzen der Stadt), das bereits der alte Hans Fugger von einem Gürtler gekauft hatte.
Sein ältester Sohn, Ulrich, geboren 1441, kaufte ein eigenes Haus auf dem Heumarkte. Schon im Jahre 1473, als Kaiser Friedrich sich in Augsburg zum Zuge nach Trier rüstete, um den Herzog Karl von Burgund mit Geldern zu belehnen, begann Ulrich Fugger mit den Fürsten des Hauses Oesterreich die in der Folge zu so enormer Höhe gelangten Geldgeschäfte. Er lieferte dem Kaiser das seidene und wollene Gewand zu dem Zuge und erhielt dafür für sich und seine Brüder das Wappen von der Lilie. 1494 verband er sich mit seinen Brüdern zu einer Handelsgesellschaft mit Specereien, Seide und Wolle nach und aus Italien, Tirol, den Niederlanden, Deutschland, Ungarn und Polen. Er war ein „gar schöner, freundlicher, frommer Herr, sein dickweißes Haar ist ihm fast herrlich gestanden“. In hohem Alter mußte er sich einer Steinoperation unterziehen und starb an den Folgen derselben im Jahre 1510.
Der zweite Sohn Jakob Fugger’s, Georg, geboren 1453, verheirathete sich 1488 mit Regina Imhof. Mit seinem Bruder Ulrich kaufte er die Behausung auf dem Weinmarkte (jetziges Fuggerhaus). Durch seine Söhne Raimund und Anton wurde er der Stammvater aller Fugger von der Lilie, die sich forterhielten.
Der bedeutendste unter den Söhnen des älteren Jakob wurde der gleichnamige jüngste Sohn. Er hatte sich ursprünglich dem geistlichen Stande gewidmet und war später Domherr des Eichstädtischen Stifts Herrieden geworden. Als jedoch vier seiner Brüder in rascher Folge gestorben waren, ließ er sich durch die Bitten des ältesten Bruders Ulrich bewegen, sein ruhiges Gelehrtenleben zu verlassen und wieder zum Geschäfte zurückzukehren. Vorerst wandte er sich nach Venedig, um dort im Fugger’schen [593] Lager seine Lehrjahre zu bestehen. Venedig war damals und noch lange Zeit danach die hohe Schule der süddeutschen Kaufleute. Man mußte in Venedig gewesen sein, wenn man daheim etwas gelten wollte. Dieser Schule und einigen größeren Reisen nach den vornehmsten Plätzen des europäischen Handels verdankte auch Jakob den hohen Grad kaufmännischer Bildung, der ihn befähigte, dem damals schon bedeutenden Handel seines Hauses jene Ausdehnung zu geben, die es seitdem weltberühmt gemacht hat. Im Jahre 1498 verheirathete er sich mit der schönen Sibylla Arzt, blieb jedoch in seiner siebenundzwanzigjährigen Ehe kinderlos. Er brachte den Handel zu einer solchen Höhe, daß er die Geschäfte in Wolle, Seide und Specereien aufgab und sich ausschließlich auf Bergbau und Bankgeschäfte verlegte. Er erwarb den ganzen Kupferkauf in Ungarns Bergwerken um hohes Geld; der jährliche Reinertrag derselben belief sich auf einhundertzehntausend Gulden. In Kärnthen baute er ein Bleiwerk. Daneben brachte er viele Grafschaften, Flecken, Dörfer und Schlösser an sein Haus, insbesondere die mächtigen Herrschaften Kirchheim und Weißenhorn, die ihm als uneingelöste Pfandschaften Kaiser Maximilian’s des Ersten heimgefallen waren.
Bekannt ist dieser Fugger namentlich auch durch seine Bauthätigkeit. Von ihm rührt der Ausbau des Fugger-Palastes in der Maximiliansstraße her; der neue Chor von St. Anna verdankt ihm seine Entstehung. Ein den Ruhm seines Geschlechts lange überdauerndes Andenken sicherte er sich durch die Gründung der „Fuggerei“, jener inmitten der Stadt gelegenen, in sich abgeschlossenen Stadt der Armen, deren Eigenart noch heute die Aufmerksamkeit des reisenden Publicums erregt. Die Gründung dieser eminent wohlthätigen Anstalt wird uns durch eines der großen Frescobilder des Fugger-Hauses in zutreffendster Weise vergegenwärtigt. In der Mitte zeigt Jakob Fugger seinen Neffen den Bauplan; seine Gemahlin theilt Brod unter die Armen aus, die sie umringen. Rührig wird an den Häusern gebaut, die zum Theil schon vollendet sind. Die „Fuggerei“ – wie diese Armenstadt im Volksmunde genannt wird – ist rings von Mauern umfangen, durch welche vier Thore, welche Nachts abgesperrt werden, in das Innere der durchaus sauberen, ja hübschen Colonie führen. Sechs Straßen durchschneiden dieselbe rechtwinkelig. Im Ganzen sind es dreiundfünfzig Häuser mit einhundertsechs Wohnungen, welche den ärmeren Einwohnerclassen der Stadt gegen die kaum nennenswerthe jährliche Miethe von zwei Gulden eingeräumt sind. Es war daher nur ein Act der Dankbarkeit, als die Stadt Augsburg[WS 2] diesem großen Wohlthäter der leidenden Menschheit auf einem der öffentlichen Plätze der Stadt ein ehernes Denkmal errichtete. Seine Zeitgenossen und Nachfolger aber waren des Lobes voll über „seine Magnificenz, durch die er im ganzen Reiche und an allen Höfen in großes Ansehen gekommen, da er nicht, wie etwa Geizwänste pflegen, seinen Reichthum in Kisten verschlossen, sondern Herr, nicht blos Hüter desselben gewesen ist“. Als Kaiser Maximilian sich im Jahre 1508 zum Zuge gegen Venedig rüstete, schossen ihm die Brüder Fugger binnen wenigen Wochen die für damalige Verhältnisse ungeheure Summe von zweihundertvierzigtausend Dukaten vor. Sie wurden dafür von Maximilian in den Adelstand erhoben und mit werthvollen Privilegien begabt.
Die höchste Blüthe erlangte die Familie unter den beiden Neffen und Erben Jakob’s, Raymund und Anton. Die Brüder, in denen nunmehr das gesammte Vermögen des Hauses vereinigt war, bewohnten gemeinsam die Fuggerhäuser auf dem Weinmarkt. Raymund wird uns geschildert als eine „schöne, lange und fast lustige Person, stark von Leib und Gemüth, nit allein ein besonder Liebhaber, sondern ein Vater aller wahrhaften Historien, ein fleißiger Nachfrager aller guten Künste, besonders der Antiquitäten. Von ganzem Herzen und Gemüth ist er sanft, mild und gebreich gegen männiglichen und insonderheit gegen alle Armen gewesen.“ Raymund ist der Stammvater der einen nach ihm benannten Fugger’schen Linie. Ihm wurde in Gemeinschaft mit seinem Bruder jenes berühmte kaiserliche Privilegium ertheilt, von dem Karl der Fünfte selbst sagte, daß kein deutscher Kaiser jemals ein ähnliches ertheilt habe, noch ertheilen werde. Durch dasselbe wurden die Brüder in den erblichen Grafenstand des Reiches erhoben und ihnen für ihre Person und ihre Güter die volle Landeshoheit verliehen. Wie tief verpflichtet ihnen aber auch Karl der Fünfte war, können wir daraus abnehmen, daß Raymund und Anton Fugger es waren, von denen er die Mittel zu seinen Expeditionen gegen Tunis und Algier und zur Unterdrückung des schmalkaldischen Bundes erhielt. Dabei waren jedoch die Fugger viel zu schlaue Geldmänner, als daß sie nicht, wie sie den Kaiser gegen die rebellischen protestantischen Fürsten mit ihrem Golde stützten, als sich ihnen eine gewinnreiche Aussicht eröffnete, auch den Fürsten, vorweg Philipp von Hessen und Johann Friedrich von Sachsen, in ihrer Auflehnung gegen das kaiserliche Oberhaupt mit ihrem Gelde unter die Arme griffen.
In die Zeit Anton’s – Raymund war schon 1536 gestorben – fallen jene uns erhaltenen Schilderungen mehrerer Zeitgenossen über die mehr als fürstliche Pracht des Fugger’schen Haushalts. Schon um 1531 berichtet uns der berühmte Schlettstadter Humanist Beatus Rhenanus, als er auf seinen Reisen auch Augsburg besuchte: „Welch eine Pracht ist nicht in Anton Fugger’s Haus! Es ist an den meisten Orten gewölbt und mit marmornen Säulen unterstützt. Was soll ich von den weitläufigen und zierlichen Zimmern, den Stuben, Sälen und dem Cabinete des Herrn selbst sagen, welches sowohl wegen des vergoldeten Gebälks wie der übrigen Zierrathen und der nicht gemeinen Zierlichkeit seines Bettes das allerschönste ist? Es stößt daran eine dem heiligen Sebastian geweihte Kapelle mit Stühlen, die aus dem kostbarsten Holze sehr künstlich geschnitzt sind. Alles aber zieren vortreffliche Malereien von außen und innen. Raymund Fugger’s Haus ist gleichfalls köstlich und hat auf allen Seiten die angenehmste Aussicht in Gärten. Was erzeuget Italien für Pflanzen, die nicht darin anzutreffen wären! Was findet man darin für Lusthäuser, Blumenbeete, Bäume, Springbrunnen, die mit Erzbildern der Götter geziert sind! Was für ein prächtiges Bad ist in diesem Theil des Hauses! Mir gefielen die königlich französischen Gärten zu Blois und Tours nicht so gut. Nachdem wir in’s Haus hinaufgegangen, beobachteten wir sehr breite Stuben, weitläufige Säle und Zimmer, die mit Kaminen, aber auf sehr zierliche Weise, versehen waren. Alle Thüren gehen aufeinander bis in die Mitte des Hauses, so daß man immer von einem Zimmer in’s andere kommt. Hier sahen wir die trefflichsten Gemälde. Jedoch noch mehr rührten uns, nachdem wir in’s obere Stockwerk gekommen, so viele und große Denkmale des Alterthums, daß ich glaube, man wird in Italien selbst nicht mehrere bei einem Manne finden. In einem Zimmer die ehernen und gegossenen Bilder und die Münzen, im andern die steinernen, einige von colossaler Größe. Man erzählte uns, diese Denkmale des Alterthums seien fast aus allen Theilen der Welt, vornehmlich aus Griechenland und Sicilien, mit großen Kosten zusammengebracht.“
Auch Graf Wolrad von Waldeck, der 1548 auf dem Reichstag zu Augsburg war, weiß gar Manches von dem Glanze der Fuggerhäuser zu berichten. Von Anton Fugger’s Haus sagt er, es könnte eine königliche Wohnung sein. Er rühmt die Kamine aus Marmor, die Vertäfelung der Wände aus verschiedenen Holzarten, die vergoldeten oder goldähnlich gemalten Decken, die bunten Labyrinthe von eingelegter Arbeit auf den Fußböden.
Und als dreißig Jahre später der lüderliche Herzog Heinrich von Liegnitz mit seinem Haushofmeister Hans von Schweinichen in Augsburg war, erschien den Schlesiern der Glanz des Fugger’schen Hauses märchenhaft. Schweinichen erzählt davon in seiner Selbstbiographie: „Es lud Herr Max Fugger (ältester Sohn Anton’s) Seine Fürstliche Gnaden einst zu Gaste. Ein dergleichen Banket ist mir sobald nicht vorgekommen, daß auch der römische Kaiser nicht besser tractiren könnte; es war dabei überschwengliche Pracht. Das Mahl war in einem Saale zugerichtet, in dem man mehr Gold als Farbe sah. Der Boden war von Marmelstein und so glatt, als wenn man auf dem Eise ging. Es war ein Credenztisch aufgeschlagen durch den ganzen Saal, der war mit lauter Trinkgeschirren besetzt und mit merkwürdigen schönen venetianischen Gläsern; er sollte, wie man sagt, weit über eine Tonne Gold werth sein. Ich wartete Seiner Fürstlichen Gnaden beim Trinken auf.
Nun gab Herr Fugger Seiner Fürstlichen Gnaden einen Willkommen, ein künstlich gemachtes Schiff vom schönsten venetianischen Glas; wie ich es vom Schenktisch nehme und über den Saal gehe, gleite ich in meinen neuen Schuhen, falle mitten im Saale auf den Rücken, gieße mir den Wein auf den Hals; das [594] neue rothdamastne Kleid, welches ich anhatte, ging mir ganz zu Schanden, aber auch das schöne Schiff zerbrach in viele Stücken. Obgleich nun bei männiglich ein groß Gelächter war, wurde ich doch berichtet, daß der Herr Fugger unter der Hand gesagt, er wollte lieber hundert Gulden als das Schiff verloren haben. Es geschah aber ohne meine Schuld, denn ich hatte weder gegessen noch getrunken. Als ich aber später einen Rausch bekam, stand ich fester und fiel hernach kein einziges Mal, auch im Tanze nicht. Dabei waren die Herren und wir alle lustig.
Der Herr Fugger führte Seine Fürstlichen Gnaden im Hause spazieren, einem gewaltig großen Hause, so daß der römische Kaiser auf dem Reichstage mit seinem ganzen Hofe darin Raum gehabt hat. Herr Fugger hat in einem Thürmlein Seiner Fürstlichen Gnaden einen Schatz von Ketten, Kleinodien und Edelsteinen gewiesen, auch von seltsamer Münze und Stücken Goldes, die köpfegroß waren, so daß er selbst sagte, er wäre über eine Million Gold werth. Danach schloß er einen Kasten auf; der lag bis zum Rande voll von lauter Ducaten und Kronen. Die gab er auf zweimalhunderttausend Gulden an, welche er dem König von Spanien durch Wechsel übermacht hatte.
Darauf führte er Seine Fürstlichen Gnaden auf dasselbe Thürmlein, welches von der Spitze an bis an die Hälfte hinunter mit lauter guten Thalern gedeckt war. Er sagte, es wären ohngefähr siebenzehntausend Thaler. Dadurch erwies er Seiner Fürstlichen Gnaden große Ehre und daneben auch seine Macht und sein Vermögen. Man sagt, daß der Herr Fugger so viel hätte, ein Kaiserthum zu bezahlen. Er verehrte mir wegen des Falls einen schönen Groschen, der ungefähr neun Gran schwer war. Fürstliche Gnaden versahen sich auch eines guten Geschenks, aber damals bekamen sie nichts als einen guten Rausch. Gerade damals versagte der Fugger einem Grafen seine Tochter, und man erzählte, daß er ihr außer dem Schmuck zweimalhunderttausend Thaler mitgäbe.“
Wir können uns heutzutage kaum mehr eine richtige Vorstellung von dem Reichthume und dem Handel der Fugger im sechszehnten Jahrhundert machen. Auch der größte Maßstab, den wir nach unseren modernen Begriffen zur Vergleichung anlegen würden, würde uns kein zutreffendes Bild geben. Denn die Fugger waren nicht blos die größten Capitalisten, sie galten auch als die mächtigsten Grundbesitzer des damaligen Europa’s. In ihren Händen waren die Bergwerke Tirols, Steiermarks, Kärnthens, Istriens, Ungarns und Spaniens. Welche Schätze mögen sie allein aus dem letztgenannten damals auf der Höhe seiner Blüthe stehenden Lande gezogen haben! Noch heute nennt sich eine Straße Madrid’s nach ihnen, und ein Volkssprüchwort heißt: „rico come un Fucar“ („reich wie ein Fugger“). An allen wichtigen Handelsplätzen hatten sie ihre Factoreien, deren Geschäfte von Vertrauten des Hauses geleitet wurden: in der „goldenen Schreibstube“ des Fugger-Palastes in Augsburg liefen die Fäden wie die Radien eines Kreises im Mittelpunkt zusammen.
Vor mir liegt ein Rechnungsbuch des Handlungshauses vom Jahre 1564, das zwar nur über ausständige und zum künftigen Neujahr fällige Forderungen im Waarenhandel (Tuch, Specereien etc.) berichtet; aber auch hier, in diesem geringfügigsten Geschäftszweige, der nur so nebenher, mehr aus Pietät als des Gewinnes wegen betrieben wurde, gehen die Forderungen bei den einzelnen Factoreien (Wien, Nürnberg, Leipzig, Danzig, Krakau, Antwerpen, London, Lyon, Venedig, Genua) nach Millionen. Nur so verstehen wir, wie jene bekannte Sage sich bilden konnte, welche Anton Fugger – den „Fürsten unter den Kaufleuten“, wie Guicciardini ihn nennt – den Schuldschein Karl’s des Fünften in dem mit Zimmetholz genährten Feuer des Kamins verbrennen läßt. Geschichtlich beglaubigt ist dagegen die gleichfalls bekannte Erzählung, Karl der Fünfte habe, als ihm sein königlicher Wirth von Frankreich die Schätze der Pariser Residenz gezeigt, gegen diesen geäußert: „Alles dies kann ein deutscher Leineweber in Augsburg bezahlen.“
Aber auch die lachendste Blüthe birgt schon den Keim des Verfalls in sich; denn der ist nahe, trotz allen äußeren Glanzes, sobald der höchste Ehrgeiz der Familie nicht mehr ist, freie Bürger einer freien Stadt zu sein. Denken wir daran, wie fortgesetzt und mit welchem Ingrimm Ulrich von Hutten in seinen Gesprächen gegen die Fugger zu Felde zieht! Kirchlich und politisch gehörten sie zur Reactionspartei. Anton war es, der im schmalkaldischen Kriege an der Spitze der Schwachmüthigen stand, der Augsburgs Fürsprecher war, als die Reichsstadt auf seinen und seiner Anhänger Rath, statt Widerstand zu leisten, Begnadigung erflehte, und so ihrer alten Größe, Selbstständigkeit und Herrlichkeit den Stoß, von dem sie sich nie erholt hat, versetzte. – Noch eine Zeit lang werden einzelne Glieder der Familie als hochsinnige Beförderer der Wissenschaft, ja als gründliche Gelehrte gepriesen. Hieronymus Wolf, der berühmte Hellenist, war lange Jahre Bibliothekar des Anton Fugger[WS 3] gewesen, ehe er die Leitung des protestantischen Gymnasiums zu Sanct Anna übernahm. Von den Söhnen Raymund’s war der eine, Johann Jakob, ein noch heute geschätzter Geschichtsschreiber, während der andere, Georg, als einer der vorzüglichsten Mathematiker und Astronomen seiner Zeit galt. Ein dritter Sohn, Ulrich, war der einzige Fugger, welcher sich offen zum Protestantismus bekannte und deshalb – unter dem Vorwande, daß er sein Vermögen mit Gelehrten und Künstlern vergeude – von seinen Brüdern unter Curatel gestellt wurde. Später war er sogar genöthigt, vor den Verfolgungen seiner Familie Schutz bei dem Kurfürsten Friedrich dem Dritten von der Pfalz zu suchen. Auf seinem Todtenbette bestimmte er sein Vermögen zu Unterrichtsstipendien für arme Jünglinge; die kostbare Bibliothek vermachte er der Universität Heidelberg. Einem seiner Neffen, Philipp Eduard (1546 bis 1618), gebührt das zweifelhafte Verdienst, die Jesuiten in seine Vaterstadt eingeführt und ihnen zur Gründung ihres Collegiums bedeutenden Besitz, darunter sogar alte Familienstiftungsgelder im Betrage von dreißigtausend Gulden, zugewendet zu haben. Ein späterer gleichnamiger Fugger verkaufte die alte werthvolle Familienbibliothek für zehntausend Reichsthaler an Kaiser Ferdinand den Dritten, der sie der Wiener Hofbibliothek einverleiben ließ.
Schon in den letzten Jahrzehnten des sechszehnten Jahrhunderts[WS 4] macht sich ein rasches Sinken des alten Flors der Fugger’schen Handlung bemerkbar. Wir dürfen dies freilich nicht einseitig den in Trägheit und Ueppigkeit versunkenen Trägern des berühmten Namens in die Schuhe schieben. Die Zeit war eben auch eine andere geworden. Andere Nationen, vorab die Niederländer und Engländer, waren in der Ausbeutung des Welthandels obenauf gekommen und hatten den deutschen und italienischen Freistaaten nur kümmerliche Brosamen des alten Ueberflusses übrig gelassen. Der dreißigjährige Krieg, wie er unserm nationalen Wohlstande die tödtliche Wunde schlug, vernichtete auch vollends den Wohlstand des Fugger’schen Hauses. Die Fugger, in unzählbare Linien getheilt, verlieren sich von da an unter dem deutschen Landadel und tauchen nur dann und wann im Dienste des Kaiserhofs oder der Kurfürsten von Baiern wieder auf.
Oede waren die Plätze und Straßen der üppigen Reichsstadt geworden: wo sonst das lustige Geräusch der Arbeit aus den Häusern ertönte, hallte jetzt die Gasse nur noch von den Schritten eines einsamen Wanderers. Noch heute, nachdem mehr als zweihundert Jahre in’s Land gegangen sind, kann sich der Fremde dieses Eindrucks des Ausgestorbenen nicht erwehren. Augsburg gilt als eine einsame, verödete Stadt, die nur bei besonderen Gelegenheiten und an vereinzelten Stellen das fröhliche Gewühl eines belebten Ortes zeigt, das einst auf allen Straßen der Stadt bis tief in die Nacht hinein geherrscht hatte. Ganze Quartiere tragen heute noch den Charakter, als ob in ihnen vor vielen Jahren Menschen gewohnt und geschafft hätten, die nun weggezogen oder ausgestorben wären; man athmet schwerer unter dem Alpdruck der Phantasie, die, Jahrhunderte übersteigend, uns von einstiger Lebenslust erzählt, welche die todten Mauern erfüllt hat. Ein ähnliches Gefühl beschleicht uns, wenn wir in dem märchenhaft schönen, stillen und grasbewachsenen Arcadenhof des Fugger-Palastes stehen und beim Anschauen der verblichenen Wandbilder Altorfer’s von 1516 lebhafte Sehnsucht nach der einstigen Herrlichkeit in uns erwachen fühlen. Mit Gewalt reißen wir uns los und treten aus dem verödeten Raume heraus an das volle Sonnenlicht des Tages, wo der schrille Ton eines gegenüberliegenden Fabrikschlotes uns eine neue Bestätigung der alten Wahrheit giebt: „Nur der Lebende hat Recht“.
Das Auge spielt in dem Leben des Menschen eine zu hohe und wichtige Rolle, es ist die ungestörte, ungetrübte Functionsfähigkeit des Sehorgans für das Wohlbefinden und das Glück eines jeden Individuums ein zu nothwendiges, unerläßliches Erforderniß, als daß nicht der Werth und die Wichtigkeit dieser herrlichen, edlen Gabe der Schöpfung zu allen Zeiten und bei allen Völkern unbedingt anerkannt worden wäre. Die Dichter aller Nationen und aller Zeitalter haben diesem Bewußtsein von der Hoheit und Wichtigkeit des Auges für das irdische Glück in den beredtesten und farbenreichsten Worten Ausdruck gegeben; ihre Phantasie hat das Auge mit Eigenschaften und Fähigkeiten geschmückt, die dem nüchternen, kritisirenden Verstande des Gelehrten wie dem Laien doch oft etwas gewagt und kühn, der beflügelten Phantasie eines begeisterten Sängers aber wohl erlaubt und berechtigt erscheinen mögen, wenn es galt, das herrlichste, bedeutsamste Geschenk der gütigen Mutter Natur zu preisen.
Aber nicht blos des Lobes und der Verherrlichung der Dichter kann sich das Auge rühmen, sondern auch die Philosophen aller Schulen haben sich viel mit ihm zu schaffen gemacht; lag es ja doch so nahe und war so verführerisch, dem Auge allerlei Eigenschaften der Seele und des Charakters zuzuschreiben, in ihm die verschiedensten seelischen Zustände wiederzufinden und aus ihm herauszulesen. Es wundert uns daher gar nicht, wenn auch noch heutzutage das Publicum in derartigen Anschauungen befangen ist. Nicht blos der Araber, Italiener und Spanier fürchtet heute noch den „bösen Blick“, sondern auch der kalte, doch wahrlich nicht phantasiereiche Nordländer redet von einem unheimlichen, stechenden Blicke, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, wo und wie derselbe entstehen soll. Wir suchen ihn einfach im Auge, ohne daran zu denken, daß dasselbe in Wahrheit völlig unschuldig daran ist. Man behandelt das Auge eben in dieser Beziehung vielfach ebenso ungerecht wie das Herz; dasselbe soll bald böse, kleinlich, rachsüchtig, bald wieder edel, groß, erhaben sein, und doch ist es in Wahrheit eben nichts Anderes als eine rastlos arbeitende Pumpe, die durch ihre unermüdliche, rhythmische Thätigkeit den belebenden und ernährenden Blutstrom durch die Adern des Körpers treibt. Ebenso unschuldig aber wie das Herz an den niedrigen Eigenschaften des Sterblichen ist auch das Auge. Weder Gutes noch Böses, weder Erhabenes noch Gemeines liegt im Auge selbst, sondern wird ganz mit Unrecht in dasselbe hineingelegt.
Aristoteles und Seneca gehörten zu den Ersten, die in dem Auge einen Ausdruck, einen Abglanz der seelischen Affecte finden wollten.
In ähnlichem Sinne sagt Apulejus, er habe zu Korinth eine Tänzerin die Rolle der Venus spielen sehen; es habe dieselbe nur mit den Augen getanzt. Das ganze Mienenspiel, die Stellung, die Bewegungen der Augen selbst, sowie diejenigen der Lider können dem Gesichte wohl den von Apulejus geschilderten Ausdruck verleihen, aber die Augen allein sicherlich nicht. Der Augapfel an und für sich ist nie und nimmer im Stande, eine Stimmung der Seele zur Anschauung zu bringen. Es kann sich, wie uns die Physiologie und die praktische Augenheilkunde lehren, eine Veränderung in der Form des Augapfels, außer eben in krankhaften Zuständen, nie einstellen. Es bleibt unter physiologischen Verhältnissen der uns sichtbare, zugängliche vordere Abschnitt des Augapfels durchaus unverändert; genaue optometrische Untersuchungen haben nämlich gelehrt, daß die äußere Form des Auges, speciell die Krümmung der Hornhaut, unter normalen Verhältnissen sich nicht ändern könne, weder beim Betrachten kleiner, nahe gerückter Gegenstände, noch beim gedankenlosen Starren in’s Blaue hinein. Die einzige Veränderung, die man am Auge bemerken kann, wäre die Verkleinerung der Pupille, doch ist dies ein unserem Willen völlig entrückter Act, der nur im Interesse der optischen Vorgänge im Auge selbst bei verschieden Blickrichtungen oder beim Einfallen hellen Lichtes in das Auge stattfindet und für den Ausdruck sinnlicher Zustände ohne jede Bedeutung bleibt.
Eine so nebensächliche und untergeordnete Rolle also dem Augapfel selbst in der Darstellung von Gemüthszuständen zugetheilt ist, eine um so wichtigere und bedeutsamere ist den das Auge umgebenden Weichtheilen zugefallen. Ihre Stellung zu dem Sehorgan sowohl, wie zu den anderen Theilen und Organen des Gesichts bildet einen Hauptfactor in der Mimik und Physiognomik. Die Augenbrauen, die Lider, die Größe der Lidspalte und die dadurch bedingte scheinbare Vergrößerung oder Verkleinerung des Auges geben dem Augapfel die verschiedensten Gestaltungen und Formen, und sie eben sind es deshalb, die im Vereine mit den anderen Theilen des Gesichts die seelischen Zustände der Außenwelt andeuten. Man betrachte nur den Ausdruck eines Zornigen, und man wird sich bald klar werden, wie es hier hauptsächlich die weit aufgerissenen Lider und die in die Höhe gezogenen Brauen sind, die den eigenthümlichen, charakteristischen Ausdruck des Zornes in dem Gesicht hervorbringen, während der Augapfel selbst sich auch nicht im Geringsten in seiner Form verändert, sondern nur durch seine schnellen, rollenden Bewegungen den Seelenzustand des Zornigen verräth. Durch die weit geöffnete Lidspalte wird mehr von dem Weiß des Auges, der Lederhaut, sichtbar. Auch die Hornhaut wird freier und ist nur noch wenig von den sie sonst zum Theil deckenden Lidern verhüllt, sodaß der sogenannte Hornhautreflex oder Hornhautspiegel, welcher durch die von der glänzenden, spiegelnden Hornhaut zurückgeworfenen Strahlen erzeugt wird, mehr zur Geltung kommen kann – übrigens zugleich die einzige Rücksicht, in welcher der vulgäre Ausdruck von dem blitzenden, funkelnden Auge des Zornigen seine Berechtigung hat, obgleich das Blitzen des Auges in diesem Falle kein vermehrtes, sondern vielmehr genau dasselbe ist, das uns für gewöhnlich aus dem Auge eines völlig nüchternen, leidenschaftslosen Menschen entgegenstrahlt, aber allerdings durch die weit geöffneten Lider in größerer Ausdehnung sichtbar wird.
Verwandt mit dem Ausdrucke des Zornes ist der Ausdruck der Furcht. Auch hier werden die Lider weit aufgerissen, die Brauen in die Höhe und aneinander gezogen, nur rollt nicht der Augapfel selbst unstät umher, sondern heftet sich fest auf den furchterregenden Gegenstand; daher also der starre, unheimliche Blick des Furchtsamen, Erschreckten. Die Volkssprache hat somit gewiß Recht, wenn sie dem Erschreckten ein gläsernes Auge als charakteristisch für seinen Seelenzustand zuschreibt. Das aufgerissene, auf einen Fleck unverwandt hinstierende Auge hat eben etwas Todtes, Lebloses. Ebenso ist der vermeintliche drohende Blick, oder das strahlende, funkelnde Auge des Muthigen, abgesehen von der Stellung der anderen Gesichtstheile, hauptsächlich durch den erweiterten, in voller Ausdehnung sichtbar gewordenen Hornhautreflex zu erklären. Auch der Ausdruck der Zärtlichkeit, der List, der Geringschätzung, der Verschmitztheit, der Lüsternheit prägt sich im Auge nur durch eine Verengerung der Lidspalte aus, ohne den Augapfel selbst in seiner Gestaltung irgendwie zu beeinträchtigen.
In sehr interessanter Weise hat Duchenne auf experimentalem Wege die Bedeutungslosigkeit des Sehorganes für mimische Zwecke nachgewiesen. Nach ihm gelingt es nämlich mit Leichtigkeit, nur durch Elektrisiren bestimmter Muskelgruppen des Gesichtes, ohne jede Betheiligung des Augapfels selbst, dem Gesichte eines in dem Augenblicke des Experimentes geistig durchaus ruhigen, leidenschaftlosen Individuums den Ausdruck irgend eines seelischen Affectes willkürlich zu verleihen. Es sind in diesem Falle nun doch gewiß nicht die Augen, sondern die elektrisch gereizten Gesichtsmuskeln, die durch ihre Stellung und Lage, sowohl zu einander wie zu dem Augapfel, den beabsichtigten Gesichtsausdruck hervorbringen.
In allerneuester Zeit hat Darwin den Ausdruck der seelischen Zustände durch die verschiedenen Organe des Körpers einer genauen Untersuchung unterworfen, dabei aber auch eine directe Betheiligung des Sehorganes nicht erwähnt. Er spricht wohl von den Lidern, den Brauen, der Größe der Lidspalte, aber an keiner Stelle von einer directen Thätigkeit des Augapfels selbst durch Veränderung seiner Form. Zu ähnlichen Ergebnissen sind übrigens früher schon Bell, Piderit und Gratiolet gelangt.
Der Augapfel ist mithin physiognomisch ein nur äußerst wenig veränderliches Ding und die ihm beigelegte ausdrucksvolle [596] und vielgestaltige Sprache lediglich das mimische Erzeugniß der ihn umgebenden Weichtheile. Unter allen Umständen sind seine Leistungen, wenn man ihm auch nicht alle und jede Betheiligung an der Wirkung absprechen kann, zu unbeträchtlich, um ihm das Beiwort „Spiegel der Seele“ als wirklich verdientes zuertheilen zu dürfen. Es sind doch eigentlich nur die schnelleren oder langsameren Bewegungen, sowie die Stellung, die man dem Augapfel als eignes Verdienst bei dem so lebhaften und sprechenden Mienenspiel des Gesichtes in Rechnung bringen darf. Das so viel gerühmte Feuer des Auges aber bleibt, wie wir gesehen haben, unter allen Umständen völlig dasselbe. Denn der Zornige, der Kühne, der Liebende oder der Sanfte, sie Alle haben, dieselbe Größe der Augen vorausgesetzt, genau den gleich großen Hornhautreflex, welcher nur bei dem Einen durch die weit aufgerissenen Lider deutlicher zu Tage tritt, bei dem Anderen durch die gesenkten Lider halb verhüllt, gedämpft und gemäßigt wird.
Verhüllen wir Beiden das Gesicht und lassen nur die Augen frei, so wird nimmermehr Jemand den Zornigen oder den Sanften nur an den Augen erkennen. Man versuche es nur einmal selbst; man trete unter irgend einem seelischen Affecte, aber mit bis auf die Augen dicht verhülltem Gesicht, vor den Spiegel und studire den Ausdruck der Augen, so genau wie man nur immer wolle: man wird eben nur immer denselben Glanz aus ihnen leuchten sehen, von der Verkörperung jenes Seelenzustandes aber, auch bei sehr lebhafter Phantasie, nicht das Geringste entdecken können. Die Türken sind in dieser Erkenntniß unserer Philosophie schon seit lange überlegen. Ihre Weiber dürfen mit verhülltem Gesicht unbehindert jedem Fremdling begegnen, da sie sehr wohl wissen, daß die Augen allein doch Nichts sagen und also auch keine Verständigung vermitteln können, sondern aus allen Augen dem Neugierigen immer nur derselbe an sich nichtssagende Glanz entgegenblickt, mag unter dem verhüllenden Schleier immerhin das übrige Gesicht gar oft eine recht deutliche, vernehmliche Sprache reden.
Wenn somit die ernste, nüchterne Wissenschaft der Poesie wieder ein Ideal zertrümmern muß, wenn das poetische Wort, daß das Auge ein Spiegel der Seele sei, sich als ganz unhaltbar erweist und nichts weiter ist als eine Frucht der immer regen Phantasie des Dichters: so stimmen wir dennoch dem Dichter gern bei, wenn er die Schönheit des Auges rühmt, und sehen es ihm ebenso gern nach, wenn er seine Gestalten die Augensprache reden läßt, wie wir uns an den übrigen Idealen seiner Einbildungskraft ergötzen.
Allein, wenn sonach die Affecte der Seele, welche sich durch die anderen Theile des Gesichtes so scharf und sprechend markiren können, auf das Auge als solches auch keinen Einfluß auszuüben vermögen, wenn das Feuer und der Glanz des Auges, die, wie wir gesehen haben, nichts weiter sind als Spiegelreflexe der Hornhaut, von jenen Affecten völlig unberührt bleiben, so kann deshalb doch das Auge des Einen glänzender sein als dasjenige des Andern. Sind ja doch die schönen, sprühenden Augen der Andalusierinnen, sowie aller Südländer eben so sprüchwörtlich geworden wie die kalten Augen der Engländerinnen.
Auch wird Jeder wohl schon an sich selbst oft genug erfahren haben, wie dieses oder jenes Auge uns in einem wahrhaft bezaubernden, wunderbaren Glanze, ein anderes uns kalt und theilnahmlos anschaut. Diese Thatsache, weit entfernt, unsere obigen Ansichten über das Auge und sein Verhältniß zur Mimik zu beeinträchtigen oder uns in das ideale Lager der Dichter und Poeten zurückzutreiben, bietet uns im Gegentheil eine neue, schneidige Waffe im Kampfe gegen Idealismus und Phantasie. Denn der Unterschied in dem Glanz und Feuer verschiedener Augenpaare wurzelt einzig und allein in einer rein anatomischen Thatsache. Ein dunkles Auge, ein Auge mit brauner oder braunschwarzer Regenbogenhaut – ganz schwarze giebt es, nebenbei gesagt, nicht – eignet sich für die Bildung eines Reflexes der Lichtstrahlen auf der Hornhaut viel besser als ein Auge mit heller, blauer oder grauer Regenbogenhaut. Es herrscht unter den Hornhautreflexen zweier solcher Augenpaare ungefähr dasselbe Verhältniß wie zwischen den Spiegelbildern eines mit guter oder eines mit schlechter Spiegelfolie belegten Spiegels. Der gut belegte Spiegel wird ein viel lichtreicheres, strahlenderes Bild entwerfen als der mit weniger guter Folie bekleidete. Im Auge vertritt die Farbe der Regenbogenhaut gleichsam das Quecksilber am Spiegel; ein dunkler Hintergrund, also beim Auge eine dunkle Regenbogenhaut, spiegelt stets besser als ein heller. Somit ist der Hornhautspiegel am dunklen Auge lichtreicher und glänzender als am hellen, und wir nennen daher, ohne uns dieser anatomisch-physikalischen Thatsache bewußt zu werden, das dunkler gefärbte Auge der Südländerin glühend, das helle der Nordländerin kalt und wässerig.
Aehnlich erklärt sich auch die Thatsache, daß ein Leichenauge uns ausdruckslos und kalt entgegenstarrt. Durch den Tod wird die Hornhaut in ihrem Gefüge verändert; ihre oberflächlichen Schichten werden gelockert und erweicht, sodaß das von ihr entworfene Spiegelbild seinen früheren Glanz verliert, verwischt und lichtarm erscheint. Das Feuer, das uns aus dem geliebten Auge so oft entgegenstrahlte, ist unter der kalten Hand des Todes verloschen, aber nicht, weil die Seele ihre Hülle verlassen hat, sondern weil die Spiegelbilder der Hornhaut eine Trübung erfahren haben, und weil ihnen das belebende Spiel der Augenlider und Brauen fehlt.
Aus demselben Grunde erscheint uns auch in erblindeten Augen das Feuer und der Glanz derselben so oft erloschen, der Blick kalt und ausdruckslos. Durch die zur Erblindung führenden Krankheiten werden nämlich häufig die Hornhautbilder, deren spiegelnder, glänzender Reflex zerstört und abgeschwächt, indem entweder die Hornhaut selbst oder die Regenbogenhaut durch die Erkrankung derartig verändert werden, daß ihre Fähigkeit, den Glanz und den Lichtreichthum der Reflexe zu erzeugen, respective zu erhöhen, auf immer verloren ist. Außerdem darf man auch nicht vergessen, daß bei totaler Erblindung der Ausdruck des Gesichts, das ganze Mienenspiel zum Theil verloren geht. Denn das Auge ist ja gleichsam das Thor, durch welches die die Seele erregenden und belebenden Eindrücke und Affecte ihren Einzug halten. Ist dieses Thor geschlossen, die Seele von ewigem Dunkel umfangen und von allen sie belebenden Eindrücken fast ganz ausgeschlossen, so wird sich dieser Zustand nur zu bald in der Unthätigkeit des Mienenspiels aussprechen, das Gesicht kalt und theilnahmlos erscheinen, sodaß man also auch in diesem Falle des schon oben erwähnten Irrthums sich schuldig macht, wenn man, anstatt vielmehr die Gesichtsmuskeln, das Auge todt, kalt und ausdruckslos nennt. Der praktische Augenarzt hat leider nur zu oft Gelegenheit, derartige Beobachtungen zu machen. Die Haltung der Augen, die Leerheit der Gesichtszüge geben ihm nicht selten einen Anhaltepunkt zur Erkenntniß der Krankheit. Gar häufig blitzt uns noch aus den Augen des Kranken das alte Feuer entgegen, und doch umnachtet schon ewige Finsterniß den Geist desselben. Die äußeren Theile des Auges, wie Hornhaut etc., sind zwar gesund geblieben, aber vielleicht sind der Sehnerv oder die Netzhaut in der Tiefe des Auges abgestorben. Alsdann leuchtet eben von der gesunden Hornhaut noch der alte Glanz in ungetrübter Helligkeit, aber das Auge ist erblindet, und der Arzt erkennt diese Sachlage nicht selten schon an der Leblosigkeit, der Leerheit der Gesichtszüge.
Nicht aus der Tiefe des Auges dringt also der zündende, strahlende Blick, nicht als Ausfluß des Geistes ist er des Auges eigenes Product, sondern er wird lediglich durch die erborgten Lichtstrahlen der Außenwelt bedingt, ist eine streng physikalische, optische Erscheinung, die nicht dem Auge als solchem eigenthümlich ist, sondern die es mit jedem Spiegel zu theilen hat. Wie jeder Spiegel die auf ihn fallenden Lichtstrahlen als mehr oder minder lichtstarkes Bild zurückwirft, so thut es auch das Auge durch seine Hornhaut und seine Linse. Nur der Wechsel in der Größe, dem Lichtreichthume dieses Reflexes, wie ihn die Bilder durch ihre verschiedenen Stellungen und Haltungen zum Auge bedingen, verleiht dem Feuer des Auges etwas Belebtes und Sprechendes, während dieser Reflex an und für sich ebenso todt und kalt ist wie der von dem Spiegel an der Wand reflectirte Lichtstrahl.
Ich habe in unserer Betrachtung hauptsächlich des Hornhautspiegelbildes gedacht, die beiden von der Krystalllinse entworfenen dagegen fast gänzlich ignorirt, weil ich deren Bedeutung für Mimik und Physiognomik gleich Null erachte. Sie sind nämlich um Vieles lichtschwächer als jenes und werden durch dessen Glanz daher völlig überstrahlt. Mag ihre Bedeutsamkeit für [597] einzelne wissenschaftliche Fragen auch eine sehr hohe sein, für unsere Zwecke hier können wir sie getrost übergehen.
Die Bedeutungslosigkeit des Auges für den Ausdruck seelischer Affecte wird auf das Schlagendste durch die Bildhauerkunst nachgewiesen. Gerade hier kann der Künstler den seelischen Affect nur durch die Stellung der Gesichtsmuskeln, der Lider und Brauen, sowie durch die Haltung der übrigen Körpertheile darstellen; das Auge selbst aber kann von ihm nur gemäß seiner äußeren Form angedeutet werden; der Glanz und das Feuer desselben, in denen man auch heute noch immer irrthümlicher Weise die Zustände der Seele zu erkennen meint, können in keiner Weise durch die plastische Kunst zur Darstellung gebracht werden. Wenn aber der Künstler trotzdem uns in seinen Gebilden alle Zustände des Gemüthes auf das Meisterhafteste verkörpert vorführen kann, so ist damit auf das Zweifelloseste die Stellung angedeutet, welche dem Auge in der Darstellung seelischer Affecte eingeräumt werden kann. Der Kopf der klagenden Niobe bringt den Ausdruck des tiefsten Schmerzes, des bittersten Seelenleidens in wahrhaft classischer Weise zur Anschauung, und doch hat der Künstler das Auge nur als glatte, leicht gewölbte Fläche angedeutet. Fast alle Meister des Alterthums haben in völliger Würdigung und richtiger Beurtheilung aller der mimischen Hülfsmittel, welche die Natur dem Menschen verliehen hat, den Augapfel selbst nur als völlig glatte Fläche gebildet, höchstens nur durch einen ganz seichten Kreis die Pupille angedeutet, aber nie den Versuch gemacht, den Augapfel selbst durch irgend welche eingreifendere Ausarbeitung zum Hauptträger des darzustellenden seelischen Affectes zu stempeln.
Wenn einzelne Künstler der neueren Schule gerade in diesem Punkte von dem Vorbilde der Alten abweichen und den Augapfel, statt ihn als leicht gewölbte, glatte Fläche darzustellen, an Stelle der Hornhaut und Iris mit mehr oder minder ausgesprochenen Vertiefungen und Höckern versehen, so machen sie sich damit einer Effecthascherei schuldig, welche eine so hohe und edle Kunst, wie es die Bildhauerei ist, in keiner Weise bedarf. Nicht allein weicht der Künstler durch eine derartige Nachbildung des Auges von den allgemeinen, soeben durchgesprochenen Gesetzen der Physiognomik ab, welche die größte Bedeutung für die Verkörperung des seelischen Zustandes nicht in das Auge, sondern in die dasselbe umgebenden Weichtheile verlegen, sondern er macht sich auch einer Unwahrheit in der Darstellung selbst schuldig. Kein normales, gesundes Auge zeigt derartige Löcher und Höcker, wie wir sie heutzutage gar nicht selten an den Augen moderner Statuen zu Gesicht bekommen. Der Bildhauer sündigt also durch eine solche Nachbildung des Auges auf’s Schwerste gegen seine Kunst. Es soll uns der bildende Künstler den menschlichen Körper durchgeistigt, als vollendete, ideale Gestalt vorführen, und dies kann ihm nur dann gelingen, wenn er im engen Anschluß an die Natur sein Werk schafft, nicht aber durch willkürliche, der Natur widersprechende Zuthaten dasselbe zu einem reinen Product seiner Laune macht.
Nur ein inniges Studium der Natur befähigt den bildenden Künstler, eine hervorragende Leistung zu schaffen, und ein solches wird ihn zweifellos zu der Ueberzeugung führen, daß das menschliche Auge genau so, wie es die Natur gebildet hat, also als leicht gewölbte glatte Fläche dargestellt werden muß, und in keiner Weise einer andern Darstellung bedarf, um als wirksames Glied dem Kunstwerke eingereiht zu werden.
Deutsche Pietät hat von jeher die Stätten, wo unsere Auserwählten geweilt, mit Hingebung und Andacht gehegt und gepflegt. Eisleben hat sein Luther-, Frankfurt sein Goethe-Haus; Berlin hat eine ganze Reihe von denkwürdigen Heimstätten des Genius aufzuweisen, und in dem classischen Weimar redet jeder Stein von erhabenen Erinnerungen. Alle diese Wiegen geistiger Großthaten haben in der treuen Anhänglichkeit der Nation an ihre Vorkämpfer eine dankbare und liebevolle Beschützerin gefunden, sodaß der denkende Enkel, wenn er sein Vaterland durchpilgert, auf Schritt und Tritt das Schaffen und Streben seiner großen Ahnen durch Merksteine des Ruhmes verewigt findet.
Ein solcher Merkstein, der in der Geschichte deutschen Geisteslebens eine wichtige Station bezeichnet, ist auch das alte Wetzlar im lieblichen Lahnthale. Gab es doch unserm Goethe den Anlaß und die Anregung, die Farben und die Contouren zu derjenigen Dichtung, welche neben seinem, „Torquato Tasso“ wohl am engsten mit seinem persönlichen Leben zusammenhängt und welche seinen Namen zuerst aller Welt verkündete – zu den „Leiden des jungen Werther“.
Ueber Wetzlar und seine Beziehungen zum „Werther“ besitzen wir eingehende Untersuchungen. Die nachstehenden Mittheilungen können daher keinen Anspruch darauf erheben, wesentlich Neues und bisher Unbekanntes über diese Materie zu bringen; sie wollen eben nur eine gedrängte Uebersicht über die Geschichte jenes merkwürdigen Romans und seinen Zusammenhang mit dem ehrwürdigen Wetzlar geben.
„Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen ringsumher eine unaussprechliche Schönheit der Natur,“ sagt Goethe am Schlusse des ersten Werther-Briefes. So ist es in der That. Die alte, aus meistens engen und winkeligen, oft steil ansteigenden Straßen bestehende Reichsstadt zieht sich an dem Abhange des sogenannten Lahnberges hinauf und war vor Zeiten ein schwer zugänglicher Ort, während sie heute dem Verkehre nach allen Seiten hin geöffnet ist. Die Lahn, von heiteren Dörfern und freundlichen Fluren, von rebenbepflanzten Hügeln und waldgekrönten Bergen umsäumt, zieht sich in sanften Schlangenwindungen durch das Thal und leiht der Landschaft Leben und Anmuth, aber die Ruinen der Feste Kalsmunt, welche ehemals der Sitz des kaiserlichen Vogts war, die alten Schlösser Gleiberg und Fetzberg, die Burg Hermannstein und das Bergschloß Hohensolms, sowie das Kloster Altenberg geben der Gegend zugleich den Charakter des Romantischen und Ehrwürdigen.
Es war um Ostern 1772, als der damals dreiundzwanzigjährige Goethe, von Straßburger Eindrücken noch erfüllt, zuerst den Fuß in die Mauern Wetzlars setzte, um sich, dem Willen seines Vaters folgend, beim dortigen Reichskammergericht zum Rechtsanwalte auszubilden. Er nahm in der engen, unfahrbaren Gewandsgasse in einem großen Hause, dem vierten links vom Kornmarkte, seine Wohnung. – Die Einflüsse, aus denen später der Roman „Werther’s Leiden“ hervorging, machten sich sofort bei Goethe’s Eintritt in Wetzlar geltend. Sein intimer Verkehr mit dem gothaischen Legationssecretär Gotter, dem braunschweigischen Hofgerichtsassessor von Goue, dem Grafen von Kielmannsegg und namentlich dem hannoverschen Legationssecretär Kestner lenkten sein geistiges Leben schon in den ersten Monaten seines dortigen Aufenthaltes in die Stimmungssphäre hinüber, welcher der „Werther“ entsproß. Den eigentlichen Anlaß zu der Dichtung aber empfing er bekanntlich durch sein inniges Freundschaftsverhältniß zu der Geliebten Kestner’s, der anmuthigen Charlotte Buff, Tochter des im dortigen „Deutschen Hause“ (unweit der Schmidtgasse) wohnenden Deutsch-Ordens-Amtmanns Heinrich Adam Buff. Charlotte, welche ein Jahr zuvor ihre über Alles geliebte Mutter verloren und seitdem mit rührender Hingabe die Vertretung der Verstorbenen bei ihren neun kleinen Geschwistern übernommen hatte, war damals das Bild einer liebreizenden, echt deutschen Jungfrau. Von ihren inneren Eigenschaften entwirft Kestner selbst in einem Briefe an seinen früheren Hauslehrer folgendes Bild:
„Sie ist mitleidig gegen alle Unglücklichen, gefällig und bereit, Jedermann zu dienen, versöhnlich, gerührt, wenn sie glaubt, Jemand beleidigt zu haben, gutthätig, freundlich und höflich, freudig, wenn Jemand etwas Gutes begegnet, gar nicht neidisch. – Daneben hat sie eine aufgeweckte, lebhafte Seele, geschwinde Begriffe, Gegenwart des Geistes, ist froh und immer vergnügt, und dieses nicht für sich allein, nein, alles, was um sie ist, macht sie vergnügt durch Gespräche, durch lustige Einfälle, durch eine gewisse Laune und Humor. Sie ist das Vergnügen ihrer Eltern und Geschwister, und wenn sie ein finsteres Gesicht darunter bemerkt, so eilt sie, es aufzuklären. Sie ist bei Jedermann beliebt, und es fehlt ihr nicht an Anbetern, worunter, [598] welches sonderbar ist, sich Dumme und Kluge, Ernsthafte und Lustige befinden. Sie ist tugendhaft, fromm und fleißig, geschickt in allen Frauenzimmerarbeiten.“
Goethe lernte Lotte, wie er uns selbst in „Dichtung und Wahrheit“ erzählt, auf einer Fahrt über Land kennen. Es war am 9. Juni, als er in Gesellschaft von Bekannten nach Volpertshausen, einem etwa anderthalb Stunden von Wetzlar entfernten, jenseits des Stoppelberges gelegenen Orte, zu einem dort arrangirten Balle fuhr. Lotte war unter der Gesellschaft. Das leicht entzündliche Gemüth des jungen Dichters fühlte sich von der reinen Weiblichkeit und milden Schönheit des damals neunzehnjährigen Mädchens unwiderstehlich angezogen, und Lotte brachte dem schnell gewonnenen Freunde eine warme und rückhaltlose Bewunderung seines schönen Herzens und reichbegabten Geistes entgegen. So entspann sich denn von jenem Abende in Volpertshausen an zwischen Lotte, Kestner und Goethe eines jener Freundschaftsbündnisse, wie nur die schwärmerische und überschwängliche Gefühlsrichtung des vorigen Jahrhunderts es hervorbringen konnte, ein Bündniß, welches vor dem Forum modernen Empfindens kaum noch Verständniß finden würde. Es berührt in der That sonderbar, wenn wir lesen, daß, während der Bräutigam Kestner durch Gesandtschaftsgeschäfte vielfach in Anspruch genommen war, Goethe der stete Gesellschafter der Braut war, mit der er in der ungebundensten Weise verkehrte; er betrachtete sich als ein Mitglied der Familie Buff, begleitete Lottchen überall hin und war um sie im Hause wie im Garten, auf Spaziergängen wie auf Ausflügen.
Er hatte längst, schon aus Freundschaft zu Kestner, alle Ansprüche auf Lottens Besitz aufgegeben, aber es ist begreiflich, daß es bei fortgesetztem Verkehr mit der Freundin dennoch der Aufbietung seiner ganzen Kraft und aller ihm zu Gebote stehenden Philosophie bedurfte, um seine wachsende Neigung zu ihr zu bezwingen. „Seine Ruhe litt sehr dabei,“ schreibt Kestner; „es gab mancherlei merkwürdige Scenen, wobei Lottchen bei mir gewann, und er mir als Freund auch werther werden mußte. – Meistens dauerte er mich, und es entstanden bei mir innerliche Kämpfe, da ich auf der einen Seite dachte, ich möchte nicht im Stande sein, Lottchen so glücklich zu machen als er; auf der andern aber den Gedanken nicht ausstehen konnte, sie zu verlieren. Letzteres gewann die Oberhand, und an Lottchen habe ich nicht einmal die Ahnung von derartigen Betrachtungen bemerken können.“
In ihrer ganzen Kraft und Tiefe dürfte Goethe seiner lebhaften Neigung zu Lottchen erst gegen das Ende des Julimonates inne geworden sein, wo die Vermählung der Freundin mit Kestner in nahe Aussicht genommen wurde. Immer mehr von den Gefühlen wachsender Leidenschaft für die Braut seines Freundes bewegt, dabei dessen Charakter- und Gemüthseigenschaften immer höher achtend und schätzend, von der sittlichen Haltlosigkeit seines Verhältnisses zu Beiden sich aber täglich klarer überzeugend und sich immer entschiedener und bestimmter als ein gefährliches Element zwischen diesen beiden geliebten Menschen fühlend, entschloß sich Goethe endlich, Wetzlar heimlich zu verlassen, und führte diesen Entschluß in Begleitung seines Freundes, des Herrn von Born, an einem Septembermorgen 1772 aus, nachdem er noch am Abend zuvor im Buff’schen Hause mit Kestner und Lottchen zufällig ein merkwürdiges, in jener Stunde doppelt bezeichnendes Gespräch vom Zustande nach diesem Leben, vom Scheiden und Wiedersehen geführt.
Während nun Goethe in Frankfurt im elterlichen Hause sein leidenschaftlich erregtes Gemüth durch dichterische und wissenschaftliche Arbeiten zu besänftigen suchte und die ersten Anläufe nahm zur poetischen (anfangs dramatischen) Gestaltung seiner Wetzlarer Herzenserlebnisse, überraschte ihn Kestner mit einer Nachricht, welche auf den Plan und die Ausführung des bald darauf in Angriff genommenen „Werther“ von wesentlichem Einflusse war. Kestner machte ihm nämlich, wie bekannt, die erschütternde Mittheilung von dem in der Nacht vom 29. auf den 30. October zu Wetzlar geschehenen Selbstmorde des jungen Jerusalem (er war ein Sohn des als Theolog und Kanzelredner berühmten Abtes Jerusalem zu Riddagshausen bei Braunschweig), eines durch seine philosophischen Arbeiten allgemein geachteten, besonders von Lessing geschätzten jungen Gelehrten, zu dem Goethe seit einer Reihe von Jahren – er hatte ihn wohl schon in Leipzig kennen gelernt – in mehr oder weniger engen Beziehungen gestanden und den er in Wetzlar als Beamten an der braunschweigischen Gesandtschaft wiedergefunden hatte.
Das Motiv zu der That Jerusalem’s ist ohne Frage in erster Linie in seiner unglücklichen Liebe zu der Gattin des pfälzischen Geheimsecretärs von Herdt zu suchen, und aus der Aehnlichkeit der Situation, in welcher sich einerseits Goethe zu dem Kestner’schen Paar, andererseits Jerusalem zu den Herdt’schen Gatten befand, dürfte sich auch die warme Sympathie erklären, welche der junge Dichter den Schicksalen des unglücklichen Jerusalem entgegenbrachte.
Einige Tage vor der That hatte, wie Kestner berichtet, ein Festessen (des Wetzlarer Ritterordens?) stattgefunden, wozu Jeder einen Gast mitbringen durfte. Jerusalem führte den Secretär Herdt in die Gesellschaft ein und zeigte sich bei dieser Gelegenheit außerordentlich munter. Nach dem Essen ging er mit Herdt zu dessen Frau. Dieser ließ, da ihn Gesandtschaftspflichten abriefen, die Zwei beim Kaffee allein.
„Nachdem der Mann wiedergekommen,“ schreibt Kestner an Goethe, „bemerkt er bei seiner Frau eine außerordentliche Ernsthaftigkeit und bei Jerusalem eine Stille, welche beide ihm sonderbar und bedenklich erschienen. Jerusalem geht weg, und die Frau hält sich verbunden, dem Manne zu erzählen, was in seiner Abwesenheit vorgegangen. Jerusalem habe sich vor ihr auf die Kniee geworfen und ihr eine förmliche Liebeserklärung thun wollen. Sie sei natürlicher Weise darüber aufgebracht und hätte ihm viele Vorwürfe gemacht. Sie verlangte nun, daß ihr Mann dem Jerusalem das Haus verbieten solle; denn sie könne und wolle nichts weiter von ihm hören und sehen“
Herdt sendete am andern Morgen einen Brief an Jerusalem, in welchem er ihm den Besuch seines Hauses untersagte und sich weitere Correspondenzen verbat, worauf Jerusalem an Kestner einen Zettel schickte mit den Worten: „Dürfte ich Euer Wohlgeboren wohl zu einer vorhabenden Reise um Ihre Pistolen gehorsamst ersuchen?“ Ahnungslos sendete ihm Kestner die gewünschten Waffen – in der Nacht machte Jerusalem seinem Leben ein Ende.
Ueber die letzten Stunden des Unglücklichen schreibt Kestner weiter an Goethe: „Abends vor neun Uhr kommt er zu Haus, sagt dem Bedienten, es müsse im Ofen noch etwas nachgelegt werden, weil er so bald nicht zu Bette ginge, auch solle er auf morgen früh sechs Uhr Alles zurecht machen, läßt sich auch noch einen Schoppen Wein geben. – Da Jerusalem nun allein war, scheint er Alles zu der schrecklichen Handlung vorbereitet zu haben. – Er hat zwei Briefe, einen an seine Verwandten, den andern an Herdt, geschrieben. Sie haben auf dem Schreibtische gelegen. In dem einen soll er Herdt um Verzeihung gebeten haben, daß er die Ruhe und das Glück seiner Ehe gestört und unter diesem theuren Paare Uneinigkeit gestiftet. Anfangs sei die Neigung gegen seine Frau nur Tugend gewesen; in der Ewigkeit aber hoffe er ihr einen Kuß geben zu dürfen. Der drei Blätter umfassende Brief soll mit den Worten geschlossen haben: ‚Um ein Uhr. In jenem Leben sehen wir uns wieder.‘ – Etwa gegen ein Uhr hat er sich dann über das rechte Auge hinein durch den Kopf geschossen. Man findet die Kugel nirgends. Niemand im Hause hat den Schuß gehört. Er war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Rocke mit gelber Weste. – Morgens vor sechs Uhr geht der Bediente zu seinem Herrn in’s Zimmer, ihn zu wecken; das Licht war ausgebrannt; es war fast dunkel; er sieht Jerusalem auf der Erde liegen, wird die Pistolen und auch Blut gewahr, ruft: ‚Mein Gott, Herr Assessor, was haben Sie angefangen?‘ Er läuft zu Medicis und Wundärzten. Sie kommen; es war aber keine Rettung, weil das Gehirn lädirt, auch herausgetreten gewesen. – Gegen zwölf Uhr starb er. Abends dreiviertel elf Uhr ward er auf dem gewöhnlichen Friedhofe begraben – in der Stille mit zwölf Laternen und einigen Begleitern; Barbiergesellen haben ihn getragen, das Kreuz ward vorausgetragen; kein Geistlicher hat ihn begleitet.“
Diesen Bericht Kestner’s, den wir nur im Auszuge mitgetheilt haben, hat Goethe bekanntlich fast wörtlich mit einigen Hinzufügungen in seinen Roman aufgenommen, in welchem er, wie Jedermann weiß, die Geschichte seiner eigenen Herzenskämpfe mit dem Schicksale Jerusalem’s kunstvoll verwob, während er
[599][600] dem Ganzen den landschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergrund Wetzlars lieh. Nicht die glückliche Bezähmung einer leidenschaftlichen Liebe wollte er schildern, sondern die vernichtende Gewalt eines zügellosen Triebes, welcher das Herz in Fesseln schlägt und einer weichen, aber edlen und reichbegabten Natur den Untergang bereitet; er wollte ein dichterisches Gebilde schaffen, aus dem durch Erregung von Schrecken und Mitleid die Mahnung zu maßvollem Handeln, zu männlicher Selbstbeschränkung zu uns spricht. So mußte denn der Ausgang der Dichtung ein wesentlich anderer sein, als der der Liebe Goethe’s zu Charlotten es war, und hier bot dem Dichter die Geschichte von Jerusalem’s Ende das willkommene Sujet zu einem ebenso geeigneten wie erschütternden Abschlusse des Romans. Unter den Einflüssen der Kestner’schen Mittheilung schrieb Goethe in größter Zurückgezogenheit den „Werther“ binnen etwa vier Wochen in einem Zuge.
Charakteristisch für unseren Poeten dürfte der Umstand sein, daß seine Werther-Dichtung nicht nur unter den Einflüssen und im Hinblick auf seine eigenen Herzensbeziehungen zu Charlotte Buff (seit dem Palmsonntag 1773 Kestner’s Frau) und den Selbstmord Jerusalem’s geschrieben, sondern daß noch ein drittes, bisher weniger beachtetes Moment zur Entstehung des Romans mitgewirkt hat. Dieses finden wir in der nahen Beziehung Goethe’s zu dem Hause des Kaufmanns Brentano in Frankfurt am Main. Letzterer lebte seit dem Januar 1774 mit seiner ihm soeben in Thalehrenbreitstein angetrauten jugendlichen Gemahlin, der schönen Maximiliane Euphrosyne de la Roche, in der genannten Stadt, und Goethe wurde sofort der erklärte Vertraute der ihm schon von früher her bekannten jungen Frau. „Die Max“, wie er seine Freundin nannte, war nicht glücklich. Die nüchterne, mit Käse- und Häringsgeruch untermischte Atmosphäre des Handelshauses war nicht die rechte Lebensluft für die zarte, ästhetisch angehauchte Frau. So erkannte denn unser Dichter, dessen allzu leicht bewegtes Herz der schönen und geistreichen Max gegenüber gewiß nicht geschwiegen, auf’s Neue, wie das Schicksal so oft dem Menschen das Glück vorenthält, zu dem er bestimmt scheint; rief ihm doch der Verkehr mit der Frau Brentano sein Verhältniß zu Charlotte Buff wieder lebhaft vor die Seele, und aus dieser Stimmung, welche zugleich beeinflußt war durch die oben erwähnte Wetzlarer Katastrophe des armen Jerusalem, wurde der lange in Goethe’s Seele lebende „Werther“ im Märzmonate desselben Jahres geboren.
Die Wetzlarer Vorgänge, welche die wunderbare Dichtung hervorriefen, bilden nicht nur den Anlaß zu derselben, sondern auch den größten Theil ihres thatsächlichen Inhalts. Werther’s Seelenkampf bis zu seiner Flucht hat Goethe an sich selbst erfahren, und alle in den späteren Briefen des Romans wiedergegebenen Empfindungen sind in dem tiefinnersten Gemüthe des Dichters entstanden. Mehr noch als die Menschen und Situationen der Dichtung, bei deren Zeichnung Goethe oft von der Wirklichkeit abgewichen, sind aber viele der dargestellten Zustände und Localitäten nach wahren Vorbildern entworfen, wie auch namentlich das in aristokratischen und bureaukratischen Vorurtheilen befangene gesellschaftliche Leben des damaligen Wetzlar sich im „Werther“ klar abspiegelt. – Die so meisterhaft wiedergegebenen landschaftlichen Bilder gleichen bis zur Portraitähnlichkeit der Gegend um die alte Reichsstadt. All die stillen Stätten, an denen Goethe den Werther schwärmen läßt, finden wir in und um Wetzlar wieder: der Garten auf einem Hügel, den der Dichter im ersten Wertherbriefe erwähnt, die Dörfer Atzbach und Garbenheim (Goethe’s Wahlheim), der Jagdhof in Volpertshausen und viele andere Plätze innerhalb und außerhalb der Stadt sind theilweise noch in dem damaligen Zustande erhalten.
Noch heute zeigt man durchreisenden Fremden in Wetzlar das Deutschherrenhaus, wo Lottens Vater und diese selbst gewohnt; durch ein weites Thor tritt man in einen breiten Hof; dem Eingange gegenüber erhebt sich ein hohes Gebäude, zu dem eine steinerne Treppe mit Eisengeländer hinaufführt; Lottens Zimmer in einem Hause links im Hofe ist in den sechsziger Jahren wieder so hergestellt worden, wie es vor hundert Jahren war: die hellgeblümten Gardinen, die große altmodische Kommode, das Arbeitstischchen, das kleine Spinett, Stickereien und Zeichnungen von Lottens Hand, ihre Ohrringe und Nadelbüchse, einige Schriftstücke aus ihrer Feder – welche Erinnerungen rufen diese Gegenstände, an sich theils so unbedeutend, im Geiste des Beschauers wach! Goethe im blauen Frack und der gelben Werther-Weste, Lotte, wie sie sich zum Balle in Volpertshausen schmückt, stehen leibhaftig vor unseren Augen, und mit ihnen die Tage unserer Großeltern, die selige Zeit sentimentaler Briefwechsel und poetischer Stammbücher.
In der Unterstadt, auf dem im Jahre 1859 mit dem Namen Schillerplatz belegten spitzwinkeligen Häuserdreieck, steht, dem ehemaligen Franziskanerkloster gegenüber, ein hohes, schmales Gebäude mit zwei durch drei Stockwerke hinaufführenden Erkern, enger Thür und schmalen Fenstern. Ernst und finster, wie das Geschick, das sich in diesem früher mit Fresco-Bildern geschmückten Hause vollzog, ist auch seine Außenseite. Im ersten Stock desselben erschoß sich Jerusalem.
Eine der interessantesten Erinnerungen an jene Zeit ist aber außer dem Goethe-Hause in der Gewandsgasse der Werther-Brunnen in der Felsengrotte vor dem Wildbacher Thore, von welchem diesem Artikel eine Abbildung beigegeben ist. Alt muß er sein; denn die zwei großen Steinköpfe (links ein Menschen-, rechts ein Löwenkopf), welche über dem Gewölbe, wo das Wasser sich aus drei Röhren ergießt, hervorragen, sind verwittert und moosbewachsen. Sie scheinen dem früheren Mittelalter anzugehören. Die Goethe’sche Beschreibung im dritten Briefe des „Werther“ paßt noch heute auf diesen Brunnen: „Ich weiß nicht,“ heißt es daselbst, „ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir Alles rings umher so paradiesisch macht. Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin, wie Melusine mit ihren Schwestern. Du gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest Dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben herum die Einfassung macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des Ortes, das hat Alles so was Anzügliches, was Schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen denn die Mädchen aus der Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nöthigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie alle, die Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freyen, und wie um die Brunnen und Quellen wohlthätige Geister schweben. O, der muß nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das nicht mitempfinden kann.“ –
Die Begräbnißstätte Jerusalem’s ist nicht mehr aufzufinden; denn die Leiche des Unglücklichen wurde in einer Vertiefung in der Mitte des Friedhofs, der an einer Höhe liegt, beerdigt; zu Ende der siebenziger Jahre aber brachte man nach einem großen Brande eine Menge Schutt in diese Tiefe, wodurch die alten Grabhügel sämmtlich verschüttet wurde.
Verschüttet und vergessen – es wird die Zeit kommen, wo auch an die Werther-Dichtung das Schicksal herantreten wird, das über das Grab Jerusalem’s längst hereingebrochen ist. Wir beklagen es nicht; denn die Geschmacks- und Gefühlsrichtung dieses Jahrhunderts der That ist mit Recht eine wesentlich andere geworden, als die des vorigen es war, wo Empfindelei und Schwärmerei die Mannhaftigkeit und Tüchtigkeit des Charakters nur allzu oft untergruben. Und darum haben „Die Leiden des jungen Werther“, welche so recht der dichterische Ausdruck jener an Sentimentalität krankenden Tage unserer Altväter sind, für uns nicht mehr eine sociale und sittliche, oder gar eine socialrevolutionäre, sondern lediglich eine literar- und culturhistorische Bedeutung. Praktisch hat die heutige Zeit, gottlob, mit dem „Werther“ längst abgeschlossen.
Eine Würdigung dieser Dichtung von ästhetischen und ethischen Gesichtspunkten aus kann an diesem Platze nicht unsere Aufgabe sein. Goethe’s „Werther“ ist viel bewundert, aber auch viel angefeindet worden. Klärend und reinigend, wie ein Gewitter, brach dieser Roman in die schwüle und ungesunde geistige Atmosphäre der letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts hinein, aber ob er durch seine läuternde und mahnende Gewalt das Wohl der Menschheit mehr gefördert hat, als er durch seinen so vielfach mißverstandenen Inhalt das Geschlecht seiner Zeit beunruhigt und in falsche Bahnen geleitet – diese Frage wird, wie bei so vielen Geisteserzeugnissen von sittenreformatorischer Tendenz und excentrischem Gedankengehalte, eine wohl allzeit offene bleiben.
Der Sprachenkampf in Deutschlothringen. In den zu Paris und Lyon gedruckten Bülletins der religiösen Gesellschaften werden Metz und Straßburg nicht unter der Rubrik Deutschland, sondern in der Reihenfolge der französischen Städte erwähnt. Vor wenigen Wochen noch wurden die Gemeinden der Kreise Saarburg und Salzburg (Château-Salins) in kirchlicher Beziehung von Nancy aus verwaltet und durch politische Hirtenbriefe im Interesse Frankreichs bearbeitet. Noch immer ermahnen die französischen Grenzblätter die lothringischen Reichsboten, Metz-la-pucelle im Namen der großen Nation zurückzufordern. „Lothringen,“ meinen die Fetialen der einen und untheilbaren Republik, „ist Fleisch von unserem Fleische und Bein von unserem Beine. Deutschland hat, ein zweiter Shylock, ein Stück aus unserem Herzen weggerissen. Möge es nun, nach so unerwarteten Erfolgen, Metz dahingeben, wie Polykrates seinen Ring, und sich mit dem Elsaß begnügen! In Folge dieser Theilung würde Frankreich das Losungswort eines edlen römischen Kaisers wiederholen können: ‚Nicht ein Strom, sondern Gerechtigkeit soll das Bollwerk unseres Reiches sein.‘“
Dieses salomonische Urtheil suchen unsere Diplomaten durch folgende Bemerkungen zu rechtfertigen: Man habe jetzt in Frankreich eingesehen, daß das Elsaß aller Romanisirung zum Trotze noch immer die Germania prima, das Land der Tribokker, wie es im Metzer Dialecte heißt, geblieben sei. In den ehemaligen Reichsstädten und in den zahlreichen Dörfern der hanauischen, nassauischen und württembergischen Amteien hätte man unter dem Damoklesschwerte der napoleonischen Herrschaft eine unbesiegbare „Schwäche“ für deutsche Sprache und Sitte gezeigt. Für die rheinischen Departemente sei die Annexion eine Emancipation gewesen.
Ganz anders verhält es sich, unseren Chauvinisten zufolge, mit Lothringen. Die Heimath der Jungfrau von Orleans ist nie deutsch gewesen. Jenseits der Zaberner Steige weht französische Luft und herrscht die keltisch-romanische Race. Die katholischen Lothringer haben sich freudig der großen Nation angeschlossen und wiederholen noch heute das Losungswort ihres Landsmanns im wallensteinischen Lager:
Der Lothringer geht mit der großen Fluth,
Wo der leichte Sinn ist und lustiger Muth.
Nach dem Princip der Nationalitäten kann das Elsaß dem deutschen Reiche einverleibt werden, während Lothringen mit der einen und untheilbaren Republik vereinigt werden muß. In Bezug auf diesen punischen Tausch möchten wir an die treffende Antwort erinnern, welche Alexander der Große nach wiederholten Siegen den Abgeordneten des Perserkönigs ertheilte: „Ich begreife nicht, wie es Darius einfallen konnte, mir als Vergleichsobjecte Provinzen anzubieten, die bereits mein Eigenthum sind.“ Die Urkunden der Bibliothek in Metz stellen die Thatsache fest, daß schon zu Karl’s des Großen Zeiten Metz und die umliegenden Landstriche von Deutschen bevölkert waren. Die Leibeigenen, welche im Jahre 745 die Weinberge des Benedictinerklosters Gorze im Schweiße ihres Angesichts bebauten, hießen Harduin und sein Weib, Erlofried und sein Weib Ragaulinde, Erluf und sein Weib, Wendelbert und sein Weib nebst deren Töchtern Amelberge, Rigoborta und Emiranda. Der Bischof Chrodegang von Metz gab demselben Kloster eine Meierei „ad Castellum“, (nun Chazelle) gelegen, und als Namen des Meiers und seiner Frau werden genannt: „Adelfried und Wandelberge“. Jede Silbe dieser Namen trägt den deutschen Ursprung an der Stirn. Später freilich überwucherte das romanische Platt die fränkische Sprache, und man schrieb in den mittelalterlichen Chroniken „soulte la communalteit de la cité de Metz“. Während das deutsche Wesen zur Zeit der Völkerwanderung im Saarthale wie ein Strom vordrang, schien sich dort oben auf der lothringischen Hochebene und in den Engpässen der Vogesen die Springfluth allmählich zu stauen und den wälschen Widerstand nicht weiter überwinden zu können. Wir finden im strengkatholischen Lothringen weder die volksthümlichen Theologen, noch die patriotischen Dichter, welche im Elsaß ein volles Jahrtausend hindurch gegen das Vordringen der wälschen Sprache und Herrschaft ankämpften.
Trotz des wallonischen Dialects war Metz stolz auf den Ruhm, das westliche Horn des Reiches und eines der vier Bollwerke Deutschlands zu heißen. Während die lothringischen Bischöfe sich als Vasallen der Könige Frankreichs geberdeten, vereinigten sich die Bürger der Reichsstädte Metz und Straßburg, um das „Westreich“ gegen die „Schinder“ und „Armengecken“ zu vertheidigen.
Mit Recht behauptet Schiller in den Memoiren des Marschalls von Vieilleville, „daß die Einwohner von Metz voll Verzweiflung waren, weil sie das französische Joch nicht wieder abschütteln konnten“. Noch im Jahre 1556 schrieb Vieilleville an König Heinrich den Zweiten, Metz müsse durch eine Citadelle eingeschüchtert werden, weil die Mehrzahl der Bewohner durch und durch deutsch gesinnt sei. Die eigentlichen Zwingburgen Lothringens waren die Jesuitenklöster, welche der staatskluge Cardinal von Guise mit geschäftiger Hand zu errichten wußte. Nur in den protestantischen Grafschaften erhielt sich die deutsche Sprache und Sitte, hier aber mit solcher Zähigkeit, daß die durch flüchtige Hugenotten gebildeten Colonien in verhältnißmäßig kurzer Zeit germanisirt wurden. Es ist interessant, in den Registern der reformirten Pfarreien nachzusehen, wie die französischen Familiennamen Toussaint in Tussing, Hautmont in Haumann, Volion in Wolljung verwandelt wurden.
Wie sehr das deutsche Sprachbewußtsein unserem Volksstamme abhanden gekommen, zeigen wunderliche Ausdrücke, wie „Murwolf“ (statt Maulwurf), „wir bin“, „das Platz“, „die Näser“ (statt Nasen), „verliebt und niederträchtig“ (statt liebenswürdig und leutselig). Wo die deutsche Sprache aus den Volksschulen verdrängt und in gesellschaftlichen Kreisen wie das arme Aschenbrödel behandelt wurde, drangen die fremdartigen Elemente massenhaft in den deutschen Sprachkörper ein. Nur mit Hülfe des Französischen gelang es mir, gewisse Ausdrücke, wie „paveien“, „Spingel“ (statt Busennadel) etc., zu verstehen. Am linken Saarufer wurde die babylonische Sprachverwirrung so groß, daß unsere „Grafschafter“ sprüchwörtlich sagten, dort sei die Welt mit Brettern zugenagelt.
In den strengkatholischen Ortschaften wurde es der Verwaltung leicht, Land und Leuten den Stempel der französischen Herrschaft aufzudrücken. Auf dem Prokrustesbette unserer Chauvinisten wurden Namen von urdeutschem Klang und Inhalt verstümmelt, und so verwandelten sich die allemannischen Endungen „lingen“ in „lange“, „heim“ in „nom“, „hausen“ in „house“, „dorf“ in „stroff“, „gemünd“ in „guemines“. Die Endung „weier“ läßt sich noch deutlich in „Riquevir“ erkennen, verschwindet aber allmählich in „Aubure“ (Altweier) und „Voyer“. In derselben Abstufung wurde das Wort Brücke in La Broque, Bréchaumont und Pontigny verwandelt. Manche Ortsnamen erinnern uns nur noch durch ihren charakteristischen Beinamen an ihren deutschen Ursprung, wie z. B. Audun-le-Tische (Deutsch-Altheim), Meix-le-Tige, Allemand-Rombach. Das in den französischen Kriegsbülletins so oft verstümmelte Wort Reichshoffen suchten sich die lothringischen Beamten durch die geläufigere Wendung Réchicourt mundrecht zu machen. Auf dieselbe Weise entstanden eine Bretagne (Bretten) und eine Basse-Suisse (Niedersulzbach) auf deutschem Sprachgebiete.
Häufig findet man in „Wälschlothringen“ deutschklingende Familiennamen mit französischer Endung, wie z. B. „Stourme“. Im Steinthale sprach ich mit Frauen, welche Heureuse Blum, Charité Häffely, Sincère Scheidegger hießen. Unter dem Einflusse des romanischen Platt und des französischen Schulunterrichtes war ihnen die deutsche Sprache abhanden gekommen, doch fielen mir Ausdrücke, wie „le férobé“ (Feierabend) und „Cela schmeck bien“, auf. In der Grafschaft Dachsburg nennt man ein merkwürdiges Götzenbild „le petit man“. In der Umgegend van Lixheim entstand ein Kauderwälsch, das mich lebhaft an die Sabirsprache in den Seestädten Algeriens erinnerte. Dort konnte man Ausdrücke, wie „lader les Bohnestecken“, aber auch den Schmerzensruf der protestantischen Prediger hören: „Die Kinder redeten zur Hälfte asdodisch, zur Hälfte die Sprache Canaans.“
Noch im Jahre 1853 konnte der Bürgermeister der Gemeinde Devant-les-ponts bei Metz an der Quelle Bonne-Fontaine eine Bekanntmachung in deutscher Sprache anheften lassen. Soweit gingen damals noch die Vorposten des Deutschthums. Unter der napoleonischen Herrschaft wurde die deutsche Sprache rücksichtslos, trotz des passiven Widerstandes der protestantischen Geistlichen, zurückgedrängt. Deutlich sah man die dunkle Wolke am Horizonte, und in Folge dieser Ahnung entstand ein Wettlauf zwischen beiden Nationen, um zu erfahren, ob die Franzosen mit ihrer Gleichmacherei, ob die Deutschen mit ihrer Einheit früher zu Ende kommen würden. Die deutsch-alsatischen Schriftsteller, die man als Prediger in der Wüste belächelte, verglichen mit Recht die Romanisirung des Sprachgebietes mit jener Kürbisstaude, welche sich zwar in einer Nacht üppig entfaltete, aber schon den Keim des Verderbens in sich trug.
Der Landstrich zwischen der Saar und der Mosel trägt offenbar den germanischen Typus, weniger vielleicht im Schnitte der Gesichter als in der Stattlichkeit der strammen Gestalten und im deutschen Charakter der Wohnungen. Es war keineswegs ein Zufall, daß Lothringens Bischöfe von der Metropole Trier, wie seine weltlichen Fürsten vom deutschen Kaiser abhängig waren. Rings von Bergen umgürtet, durch die Ardennen vom Seinegebiete, durch das Plateau von Langres vom Saônethale getrennt, öffnet sich die lothringische Hochebene nur nach Deutschland zum Unterrheine hin. Nach Wedell’s historischem Atlas hat Elsaß-Lothringen gegen Frankreich fast genau dieselben Grenzen wie im Mittelalter, sodaß die vorwiegend deutschen Diöcesen Straßburg, Basel, Metz und Trier von den romanischen Bisthümern und zugleich die deutschnamigen Kreise Moselgau, Saargau, Bliesgau, Albegau, Saalgau, Sundgau von den wälschen Bezirken Birodunum, Vabrentis, Scarvona etc. getrennt waren.
Als die deutschen Occupationstruppen aus Frankreich zurückkehrten, bemerkten einige Nachzügler auf der Straße nach Gravelotte neben dem neuen gelben Grenzsteine Nr. 567, der nach Frankreich ein „F“, nach Deutschland ein „D“ trägt, noch einen alten geschwärzten Grenzstein, der auf der westlichen Seite die Inschrift „TERRE DE FRANCE“ zeigt. Die deutschen Krieger hatten an diesem historisch gewordenen Punkte nicht blos die neue, sondern auch die uralte Grenze überschritten.
Wehmüthig betrachteten wir einst auf der Rheinbrücke bei Kehl die bescheidene Inschrift „BADEN“, neben welcher sich das volltönende Wort „FRANCE“ erhob. Ein Straßburger Professor aber wiederholte die begeisterten Worte, die der Dichter Lenz vor einem Jahrhunderte im Kreise seiner elsässischen Sanggenossen ausgerufen: „Unser Land leidet keine Naturalisation. Der Deutsche wird an der Küste des Kaffernlandes so gut wie in Diderot’s Insel der Glückseligkeit ein Deutscher bleiben, und der Franzose ein Franzos’.“ Mit gedämpfter Stimme erinnerte er uns an die griechischen Ortsnamen, die in der Geschichte des gelobten Landes vorkommen und die zur Zeit Muhammed’s, beim Erwachen des echt asiatischen Geistes, wie mit eisernen Besen hinweggefegt wurden. Auf ähnliche Weise, meinte er, würden einst die französischen Namen und Inschriften im Rhein- und Moselthale verschwinden. Wir aber blickten hoffnungsvoll hinüber zu den Stammesgenossen jenseits des Rheins und des Wasgaus und wiederholten die Worte des vaterländischen Dichters:
Ob uns der Strom, ob uns die Berge scheiden,
Und jedes Volk sich für sich selbst regiert –
So sind wir eines Stammes doch und Bluts.
Der Beitrag zum Volksaberglauben in Nr. 33 der Gartenlaube veranlaßt mich, Ihnen über denselben Gegenstand Einiges zu schreiben, und zwar aus der östlichsten Provinz des großen deutschen Vaterlandes. Zum größten Theile werden die in gedachtem Beitrage erwähnten Gebräuche [602] auch hier sehr streng von abergläubischen Leuten beobachtet. Ueberhaupt findet man gerade in unserer Provinz die Sitten und Gebräuche, wie sie über ganz Deutschland zerstreut zu finden sind, auf engem Raume wieder. Ostpreußen ist gleichsam in dieser Beziehung „Deutschland in gedrängter Darstellung“. Sind doch unsere Väter aus allen Gauen des großen Vaterlandes eingewandert.
Neben den dort genannten auf Aberglauben beruhenden Gebräuchen begleiten noch andere das hiesige Volk von der Wiege bis zur Bahre. Ist z. B. ein Kind am Donnerstage geboren, so darf es nicht Sonntags getauft werden, sonst sieht es Geister. So lange aber ein Kind ungetauft ist, muß Nachts Licht in der Stube gebrannt werden, damit nicht die Zwerge kommen und es vertauschen (Sollte dies nicht erfunden sein, um die Eltern anzutreiben, ihre Kinder so früh wie möglich zur Taufe zu bringen?) Wird das Kind zur Taufe gebracht, so versäumt die sorgsame Großmutter nicht, demselben ein Geldstück, in ein mit „Gottes Wort“ bedrucktes Papier gewickelt, zuzustecken. Wehe aber dem kleinen Erdenbürger, wenn der Wagen durch irgend ein Hinderniß auf dem Wege zur Taufe zum Stehen gebracht wird! Sein Weg durch’s Leben ist dann mit vielen Hindernissen verbunden. Ein böses Omen ist auch derselbe Fall, wenn er dem zur Trauung fahrenden Brautpaare passirt. Soll das junge Paar keinen Mangel im Eheleben haben, so muß die Braut zur Trauung Salz, Brod und Geld mitnehmen.
Ist bei einem Mädchen die zweite Zehe länger als die große, so ist sie sicher, einst über ihren Mann zu herrschen, ist sie aber nicht schon so durch die Natur bevorzugt, so sucht sie die Herrschaft auf dem Wege der List zu erlangen; sie bekniet den Rockschooß des Bräutigams bei der Trauung. Eine reformirte Braut ist in dieser Hinsicht schlimmer berathen.
Während so das schöne Geschlecht alle Mittel anwendet, um die Herrschaft über den Mann zu erlangen, verkündet es ein großes Unglück, wenn ein Huhn sich erkühnt, die Stelle des Hahnes zu vertreten, und zu krähen beginnt. Gewöhnlich ist’s um das Leben solchen Thieres geschehen. Das Beil trennt schnell den mit Herrschergedanken erfüllten Kopf von dem zur Demuth bestimmten Körper. Oft wird auch hierbei noch das Schicksal angerufen. Man mißt mit dem Huhne die Diele der Stube von der Außenwand bis zur Thürschwelle. Trifft beim Messen der Kopf auf die Schwelle, so ist freilich der Tod erfordert, trifft der Schwanz dorthin, so wird nur dieser erbarmungslos abgehauen, und das drohende Unglück ist abgewendet.
Begegnet man beim Ausfahren einer weiblichen Person, so ist die Reise mit Unglück verbunden, wenn man nicht sofort umwendet und erst um den Brunnen fährt. Heult aber der Hund des Nachts, so ist sicher, daß bald Jemand in der Familie des Besitzers oder im Orte stirbt.
Die Schemel, worauf der Sarg gestanden, müssen, sobald der Sarg emporgehoben ist, um hinausgetragen zu werden, sofort umgeworfen werden, wenn nicht bald wieder eine Leiche auf denselben stehen soll. Geht der Leichenzug vom Kirchhofe, so deutet man aus der letzten Person, ob ein Kind oder ein Erwachsenes zunächst sterben wird. Stirbt Jemand im Dorfe in den „Zwölften“, so giebt’s zwölf Leichen in dem Jahre. Jede Blume, die, vom Grabe gepflückt, nach Hause getragen wird, holt der Todte des Nachts als sein Eigenthum zurück.
Die syrischen Schwammfischereien. Es ist ein altes Wort, daß sich der Culturgrad eines Landes nach seinem Verbrauch von Seife bestimmen lasse. Auch der Verbrauch von Schwämmen könnte als Bildungsmesser betrachtet werden. In der That erreicht er in den europäischen Culturländern eine bedeutende Höhe. England allein führt alljährlich für zwei und eine halbe Million Schwämme ein. Sie kommen aus Griechenland, Syrien und den westindischen Inseln. Bekanntlich ist der Schwamm ein Pflanzenthier, das sich in der Nähe der Küsten auf felsigem Boden ansiedelt. Für die besten Schwämme gelten die syrischen, die man bei Tripolis, Ruad, Latakia und Batrun gewinnt. Bei Tripolis und Batrun findet man die besten, aber die Fischerboote besuchen alle Theile der Küste vom Berge Carmel im Süden bis Alexandretta im Norden. Der Gesammtwerth der Schwämme, welche die syrische Küste liefert, steigt in guten Jahren auf eine halbe Million Mark. Der Ertrag nimmt übrigens ab, da man zu viel gefischt hat. Gegenwärtig sind längs der syrischen Küste immer noch zweihundertfünfzig bis dreihundert Boote mit einer Mannschaft von fünfzehnhundert Köpfen thätig. Meistens sind es gewöhnliche Fischernachen mit einem Deck, das über drei Viertheile des Fahrzeuges weggeht, und mit einem kleinen Maste, der ein gewöhnliches Eversegel trägt. Ein solches Boot ist zwanzig bis dreißig Fuß lang und mit vier bis fünf Leuten bemannt, von denen einer die ganze Schiffsarbeit besorgt, während die Uebrigen Taucher sind. Die Fischerei wird vom Juni bis Mitte October betrieben. Lohn wird nicht bezahlt; die Leute erhalten einen Antheil vom Gewinn, und ein guter Taucher kann es bis auf achthundert Mark bringen. Schon als Knabe beginnt er sein Gewerbe und betreibt es bis zum vierzigsten Jahre. Schaden an ihrer Gesundheit scheinen die Taucher nicht zu nehmen, und wenn sie so früh aufhören, so liegt der Grund blos darin, daß ein Vierzigjähriger mit seinen jüngeren und kräftigeren Genossen nicht concurriren kann. Die Zeit, die ein syrischer Taucher unter dem Wasser zu verleben im Stande ist, hängt natürlich von Alter, Uebung und Körperbeschaffenheit ab. Sechszig Secunden gelten für eine hohe Leistung, und selten sind die Taucher, die achtzig Secunden unter dem Wasser aushalten. An der Küste hört man freilich von Solchen, die erst nach zehn Minuten wieder emporkommen. Der Taucher geht auf folgende Art zu Werke. Nachdem er sich vollständig entkleidet hat, bindet er sich ein offenes Netz, das seine Beute aufzunehmen bestimmt ist, um die Hüften, umfaßt mit beiden Händen einen länglichen weißen Stein, an dem ein Seil befestigt ist, und stürzt sich in’s Meer. Hat er den Grund erreicht, so läßt er den Stein zu seinen Füßen niedergleiten, hält sich am Seile mit der einen Hand fest und reißt mit der andern alle Schwämme ab, zu denen er gelangen kann. Durch Rucke am Seile giebt er das Zeichen, daß er nicht länger unten aushalten kann, und wird heraufgezogen.
In früheren Jahren stellten sich an der syrischen Küste viele Taucher vom griechischen Archipel ein. Jetzt kommen von dort blos noch fünf bis sechs Boote, da die große Gewandtheit der syrischen Taucher und ihre genauere Kenntniß der Küste eine Concurrenz sehr erschweren. In den Handel werden drei Classen von Schwämmen gebracht: feine, weiße Toilettenschwämme von Glockenform, große röthliche Badeschwämme (sogenannte Venetianer) und grobe rothe Schwämme, die zum Abwaschen von Fenstern, Thüren u. s. w. dienen. Etwa ein Drittel aller Schwämme wird von französischen Agenten aufgekauft, welche die syrische Küste alljährlich bereisen. Die türkische Regierung läßt sich den zehnten Theil des Ertrages der Fischereien als Steuer bezahlen.
Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes. Auf diesen in Nr. 34 unseres Blattes abgedruckten Artikel erhalten wir von allen Seiten anerkennende Briefe und wahrhaft enthusiastische Zustimmungen, deren Empfang wir hiermit dankend bestätigen, da wir unmöglich jede einzelne Zuschrift beantworten können. Verschiedene Zeitungen haben uns gleichzeitig um die Erlaubniß des Nachdrucks ersucht, die wir im Interesse der guten Sache auch gern gegeben. Wie sehr übrigens der Artikel einen wunden Fleck unseres so sehr gerühmten Humanitätsjahrhunderts getroffen hat, mögen nachfolgende zwei Thatsachen beweisen. Einer der Redacteure (aus Württemberg), der sich an uns wegen des Nachdrucks gewandt hatte, schreibt dabei:
„Wenn ich Ihnen, geehrter Herr, zum Schluß noch eine Thatsache aus unserm benachbarten Oberamtsbezirk X. mittheile, so werden Sie mit mir begreifen, daß Ihr Artikel ein Wort zur rechten Zeit war. Ein Fleischer, der Kälber auf seinem Wagen hatte, kam Abends in ein Wirthshaus und verlangte gebackene Kalbsfüße zum Nachtessen. Auf die Antwort des Wirths, daß es keine gebe, ging das Scheusal zu seinem Wagen hinaus und kehrte gleich darauf mit zwei Kalbsfüßen zurück, die er – es ist fast unglaublich, daß solche Rohheit noch vorkommen kann – einem der lebendigen Kälber abgeschnitten hatte, um sich solche backen zu lassen.“
Aus Liebertwolkwitz, in der Nähe von Leipzig, wird weiter berichtet: „Wir müssen leider über einen Act bestialischer Rohheit Mittheilung machen. Am vorigen Sonntag wurden von der hiesigen Gensdarmerie zwei Fleischergesellen, Friedrich Hennicker von hier und Gustav Kühn aus Holzhausen, verhaftet, weil sie beim Transport das ihnen übergebene Schlachtvieh wahrhaft entsetzlich mißhandelt hatten. Sie schlugen auf dem Wege von Klinga und Steinberg mehrere Kühe mit ihren Stöcken blutig, und als darauf die Thiere wegen Ermattung nicht weiter konnten, haben sie dürres Gras den Kühen unter die Schwänze gebunden und angezündet, einer andern einen mit Eisenspitzen versehenen Stock weit hinein in den Leib getrieben. Sämmtliches Schlachtvieh hat man sofort nach seinem Eintreffen hier tödten müssen, um den Eintritt des Brandes zu verhüten. Die Missethäter befinden sich hinter Schloß und Riegel und gehen hoffentlich exemplarischer Bestrafung entgegen.“
Abermals Fürst Pückler-Muskau. Zu der Notiz über die Bestattungsweise des Fürsten Pückler-Muskau im Briefkasten unserer Nr. 34 geht uns eine Berichtigung des Herrn Dr. Richter in Cottbus zu, der wir Folgendes entnehmen:
„Ich bin seit einigen zwanzig Jahren Arzt beim Fürsten gewesen und habe somit vielfach Gelegenheit gehabt, mit ihm das Thema über Leichenverbrennung zu besprechen. Nach seinem (am 4. Februar 1871 Abends elf dreiviertel Uhr eingetretenen) Tode fand sich in seinen Papieren folgende Anordnung vor: ‚Mein Körper soll nach meinem Tode secirt, das Herz herausgenommen und in eine Urne gethan und sodann der Leichnam verbrannt werden (chemisch?). Der Doctor Richter, Doctor Liersch und Doctor Malin sollen dies vornehmen.‘
Am zweiten Tage nach erfolgtem Tode vollzogen wir die Obduction, die, beiläufig bemerkt, gar keine Resultate irgend eines kranken Organs darbot; vielmehr waren sämmtliche Organe ganz intact, sodaß wir nur Marasmus als Todesursache bezeichnen konnten.
Da wir nicht sicher waren, ob die Verbrennung des Leichnams auf einem Scheiterhaufen statthaft wäre, begab sich der hiesige Kreisgerichtsdirector Sturm als Testamentsvollstrecker nach Berlin zum Minister von Mühler, um die Einwilligung einzuholen. Dieser sprach sich dahin aus, daß kein Grund vorhanden wäre, die Verbrennung zu verbieten.
Dies mitgebrachte Resultat brachte uns Aerzte in Verlegenheit, da wir – offen gestanden – nicht recht wußten, wie die Procedur vor sich gehen sollte. Wir nahmen also unsere Zuflucht zu der Parenthese: chemisch? und halfen uns auf folgende Weise: Das herausgenommene Herz wurde in ein Glasgefäß, angefüllt mit Schweflesäure, gethan und dies wiederum in eine kupferne Urne, die verlöthet wurde und nach dem Willen des Fürsten auf den Sarg zu stehen kommen sollte. Die drei Höhlen des Leichnams wurden, nach Art der Wiener Aetzpasta, mit Kali hydricum und Calx usta ausgefüllt, sowie dieser selbst mit dieser Mischung über und über dick bedeckt. Der Leichnam lag bereits in einem Zinksarge. Dies ist die wahrheitsgetreue Schilderung des Vorganges.“
Zur Beachtung. Von Berlin aus wird zur Zeit ein blau gefärbtes krystallinisches Pulver in den Handel gebracht, welches zur Rectification des Petroleums dienen soll. Kleine Quantitäten (eine Messerspitze voll) des betreffenden Pulvers sollen in die Petroleumreservoire der Verkäufer gebracht werden. Dadurch soll die Leuchtkraft des Oeles erhöht, die Explosion desselben verhindert, das Rauchen der Flamme beseitigt und das Berußen und Zerspringen der Cylinder aufgehoben werden. Das Pulver ist in kleinen Dosen in blaues Papier verpackt, kostet pro Dosis zehn Groschen und ist nach einer Untersuchung von Dr. A. Hosäus in Helmstedt nichts weiter als mit Ultramarin blau gefärbtes Kochsalz. Der Werth eines solchen Pulvers beträgt einen bis zwei Pfennige; sein Nutzen ist ganz illusorisch. –
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: b i
- ↑ Hierzu Berichtigung in Heft 42, S. 686
- ↑ Richtig wäre: des Johann Jakob Fugger.
- ↑ Vorlage: Jahrhunders