Die Gartenlaube (1874)/Heft 38
[603]
No. 38. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
„Ich werde mir die Aufklärung schaffen,“ rief Reinhold aus. „Weiß ich doch, wo ich sie zu suchen habe. Geh’ Du voran zu Ella, Hugo! Ich komme nach – vielleicht schon mit dem Kinde.“
Der besonnenere Capitain ergriff rasch seinen Arm.
„Reinhold, ich bitte Dich, keine Uebereilung! Noch kennen wir die näheren Umstände nicht. Das Kind kann sich in der That verirrt und, da es kein Italienisch spricht, sich noch nicht wieder zurückgefunden haben. Vielleicht wird es jetzt schon der Mutter wieder zugeführt. Was willst Du thun?“
„Meinen Sohn zurückfordern,“ brach Reinhold mit furchtbarer Wildheit aus. „Das also war die Rache, die diese Furie sich ausgedacht hat. Ella und mich, uns Beide wollte sie mit einem einzigen tödtlichen Streich treffen, aber ich werde sie zu erreichen wissen. Laß’ mich, Hugo! Ich muß zu Beatricen.“
„Das nützt nichts,“ rief der Capitain, den der Ausdruck im Gesichte des Bruders erschreckte, und der sich vergeblich bemühte, ihn zurückzuhalten. „Wenn Dein Argwohn begründet ist, so wird sie ihre Rolle auch zu behaupten wissen. Du reizest sie nur noch mehr. Wir müssen andere Maßregeln ergreifen.“
Reinhold riß sich gewaltsam los. „Laß’ mich! Wenn irgend Einer, so erzwinge ich von ihr die Herausgabe meines Kindes, und erzwinge ich nichts – nun, so giebt es ein Unglück.“
Er stürmte fort. Die Wohnung Beatricens lag ziemlich weit von der seinigen entfernt; dennoch legte er den Weg dahin in kaum einer Viertelstunde zurück. Sonst bedurfte er hier keiner Anmeldung; vor ihm sprangen alle Thüren auf; war man doch gewohnt, ihn auch hier als Gebieter zu betrachten. Heute versicherte der Diener, welcher ihm öffnete, sehr entschieden, Signora sei für Niemand zu sprechen, auch für Signor Rinaldo nicht, sie sei heftig erkrankt und habe streng verboten –
Reinhold ließ den Mann nicht ausreden. Er stieß ihn bei Seite, eilte durch das Vorzimmer und riß die Thür nach dem Salon auf. Dieser war leer, ebenso das daneben liegende Boudoir; die Thüren der übrigen Gemächer standen weit offen – nirgends die Gesuchte, nirgends eine Spur von ihr; sie hatte augenscheinlich die Wohnung verlassen.
Reinhold sah, daß er bereits zu spät kam, und in dem vernichtenden Bewußtsein dieser Entdeckung fühlte er doch dunkel, daß die Flucht Beatricens ihm ein Verbrechen erspart habe. In seiner jetzigen Stimmung wäre er der Räuberin seines Kindes gegenüber zu Allem fähig gewesen. Sich mit Aufbietung all seiner Willenskraft zur Ruhe zwingend, kehrte er zu dem Diener zurück, der es nicht gewagt hatte, ihm zu folgen, und eingeschüchtert und ungewiß im Vorzimmer stand.
„Signora ist also fort. Seit wann?“
Der Diener zögerte mit der Antwort. Das Gesicht des Fragenden schien ihm nichts Gutes zu verheißen.
„Marco, Sie werden mir antworten! Sie sehen, daß ich mich nicht durch den Vorwand zurückhalten ließ, mit dem Sie mich auf Befehl Signora’s zu täuschen versuchten. Noch einmal, seit wann ist sie fort und wohin ist sie?“
Marco war augenscheinlich nicht in das Geheimniß eingeweiht, denn er war auf diese Frage durchaus nicht vorbereitet. Dagegen mochte er einen Theil der Scene belauscht haben, die gestern Abend zwischen seiner Herrin und Signor Rinaldo stattgefunden hatte, und erklärte sich damit den heutigen Auftritt in seiner Weise. Dem heftigen Charakter Beatricens sah es ganz ähnlich, daß sie jetzt auf einige Tage die Stadt verließ, wäre es auch nur, um dadurch die erneuten Aufführungen der Oper Rinaldo’s unmöglich zu machen, und daß dieser vor Zorn darüber außer sich gerieth, ließ sich leicht begreifen. Es war ja nicht das erste Zerwürfniß zwischen den Beiden, und alle Zwistigkeiten zwischen ihnen hatten bisher noch jedesmal mit einer Versöhnung geendigt. In der Voraussicht einer solchen Versöhnung war der Diener klug genug, es mit der doch stets herrschenden Partei nicht zu verderben, und so berichtete er denn, Signora habe bereits heute Morgen in aller Frühe die Wohnung mit dem gemessenen Befehle verlassen, sie jeder Nachfrage gegenüber für krank auszugeben. Sie sei in ihrem eigenen Wagen fortgefahren; weiter wisse auch er nichts.
„Und wohin fuhr sie?“ fragte Reinhold athemlos. „Haben Sie nicht gehört, welche Adresse dem Kutscher zugerufen wurde?“
„Ich glaube – die Wohnung des Maestro Gianelli.“
„Gianelli! Also auch der ist im Complot. Nun, vielleicht ist er noch zu erreichen. Marco, sobald Signora wieder eintrifft oder auch nur irgend eine Nachricht von ihr, melden Sie es mir sofort! Sofort! Ich wiege Ihnen jedes Wort mit Gold auf. Vergessen Sie das nicht!“
Mit diesem dem Diener wie im Fluge zugeworfenen Befehle eilte Reinhold fort. Marco sah ihm ganz bestürzt nach. Die heutige Scene spielte sich doch viel stürmischer ab als all die vorhergehenden bei ähnlichen Gelegenheiten, und die Aufregung Signor Rinaldo’s überstieg auch alles bisher Dagewesene. Was war denn nur vorgefallen? Der Maestro konnte Signora [604] Biancona doch unmöglich entführt haben? Es sah wirklich beinahe so aus. –
In der Wohnung des Consul Erlau herrschte begreiflicher Weise die grenzenloseste Verwirrung und Aufregung. Capitain Almbach, der unverzüglich dorthin geeilt war, nahm sich zwar sofort mit größter Energie und Umsicht der noch im vollen Gange befindlichen Nachforschungen an, aber auch er vermochte nichts zu erreichen. Vorläufig stand nur die eine Thatsache fest, daß das Kind spurlos verschwunden war und blieb. Ob es freiwillig den Garten verlassen, ob es hinausgelockt worden war, darüber fehlte jede Vermuthung. Niemand hatte etwas ungewöhnliches bemerkt, Niemand den Kleinen vermißt bis zu dem Augenblicke, wo Annunziata zurückkehrte, um ihn zu holen. Die arme kleine Italienerin löste sich fast in Thränen auf, und doch war sie völlig unschuldig an dem Vorfalle, denn ihre junge Herrin selbst hatte sie in das Haus gerufen. Der Knabe war ja alt genug, um nicht einer unausgesetzten Aufsicht zu bedürfen, und er spielte oft genug allein in dem völlig abgeschlossenen Raume. Noch hatte Hugo es nicht gewagt, dem Verdachte Worte zu leihen, den er mit seinem Bruder theilte und der mit jeder Minute lebendiger in ihm wurde. Er hatte nur leise auf die Möglichkeit eines Raubes hingedeutet und war dabei dem vollsten Unglauben begegnet. Räuber in der Mitte der Stadt, im vornehmsten Theile derselben – unmöglich! Weit eher war ein Unglück anzunehmen. Man machte sich nochmals, trotz der hereinbrechenden Dunkelheit, an die Untersuchung der Nachbargärten und der sonstigen Umgebung.
Inzwischen bemühte sich Erlau vergeblich, seine Pflegetochter zu beruhigen und ihr all die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten auszumalen, die immer noch einen glücklichen Ausgang hoffen ließen; Ella hörte ihn nicht. Stumm und todtenblaß, ohne eine einzige Thräne zu vergießen, saß sie jetzt an seiner Seite, nachdem sie sich stundenlang an den fruchtlosen Nachforschungen betheiligt, sie zum Theile sogar selbst geleitet hatte. Obgleich Hugo ihr gegenüber mit keiner Silbe auf jene Möglichkeit hingedeutet hatte, nahmen die Gedanken der jungen Frau doch die gleiche Richtung, und je unerklärlicher das Verschwinden ihres Kindes blieb, desto unabweisbarer drängte sich auch ihr die Erinnerung an das gestrige Zusammentreffen auf, die Erinnerung an den wilden Haß und die glühende Rachedrohung Beatricens, und klar und immer klarer rang sich in ihr die Ahnung empor, daß es sich hier nicht um einen Zufall oder ein Unglück, daß es sich um ein Verbrechen handele.
Da kam ein Wagen im vollsten Jagen die Straße herauf und hielt vor dem Hause. Ella, die bei jedem Geräusche zusammenschreckte, in jedem Kommenden einen Boten sah, der Nachricht brachte, flog an das Fenster; sie sah ihren Gatten aussteigen und in das Haus treten. Wenige Minuten darauf stand er vor ihr.
„Reinhold, wo ist unser Kind?“
Es war ein Aufschrei der Todesangst und Verzweiflung, aber auch ein Vorwurf, wie er vernichtender nicht gedacht werden konnte. Von ihm verlangte sie das Kind zurück; trug er doch allein die wahre Schuld, daß es der Mutter entrissen wurde.
„Wo ist unser Kind?“ wiederholte sie mit einem vergeblichen Versuche, in seinem Gesichte die Antwort zu lesen.
„In den Händen Beatricens,“ entgegnete Reinhold fest. „Ich kam zu spät, es ihr zu entreißen; sie hat sich bereits mit ihrem Raube geflüchtet, aber die Spur wenigstens habe ich. Gianelli verrieth sie mir; der Schurke war Mitwisser, wenn er nicht gar Helfershelfer war, aber er sah wohl, daß es mir Ernst war mit der Drohung, ihn niederzustoßen, wenn er mir den Weg nicht nenne, den sie mit dem Kinde eingeschlagen. Sie sind in’s Gebirge geflohen in der Richtung nach A. hin. Ich folge ihnen sofort. Es ist kein Augenblick zu verlieren. Nur die Nachricht wollte ich Dir bringen, Ella. Leb’ wohl!“
Erlau, der erschreckt zugehört hatte, wollte jetzt mit Fragen und Rathschlägen dazwischen treten, aber Ella ließ ihm keine Zeit dazu. Die Gewißheit, so furchtbar sie war, gab ihr den ganzen Muth zurück; sie stand bereits an der Seite ihres Gatten.
„Reinhold, nimm mich mit!“ bat sie entschlossen.
Er machte eine abwehrende Bewegung. „Unmöglich, Eleonore! Das wird eine Jagd auf Leben und Tod und, wenn ich das Ziel erreiche, vielleicht noch ein Kampf auf Leben und Tod. Da ist kein Platz für Dich; das muß ich allein durchfechten. Entweder bringe ich Dir Deinen Sohn zurück, oder Du siehst mich zum letzten Male. Sei ruhig! Die Möglichkeit der Rettung liegt ja jetzt in den Händen des Vaters.“
„Und die Mutter soll inzwischen hier verzweifeln?“ fragte die junge Frau leidenschaftlich. „Nimm mich mit! Ich bin nicht schwach, Du weißt es – von mir hast Du keine Thränen und Ohnmachten zu fürchten, wo es Thaten gilt, und ich ertrage Alles, nur nicht die furchtbare Ungewißheit und Unthätigkeit, nur nicht das angstvolle Harren auf eine Nachricht, die tagelang ausbleiben kann. Ich begleite Dich.“
„Eleonore, um Gotteswillen!“ fiel Erlau entsetzt ein, „Welch eine Idee! Das würde Dir den Tod geben.“
Reinhold sah seine Frau einige Secunden lang schweigend an, als wolle er prüfen, wie weit ihre Kraft gehe.
„Kannst Du in zehn Minuten fertig sein?“ fragte er rasch. „Der Wagen wartet unten.“
„In der Hälfte dieser Zeit.“
Sie eilte in das Nebenzimmer; der Consul wollte nochmals verbieten, bitten, beschwören, aber Reinhold schnitt ihm das Wort ab.
„Lassen Sie sie gewähren, wie ich es thue!“ sagte er energisch. „Wir können jetzt nicht der kalten Ueberlegung Raum geben. – Ich sehe meinen Bruder nicht hier, und mir fehlt die Zeit, ihn aufzusuchen. Sagen Sie ihm, was geschehen ist, was ich entdeckt habe. Er soll hier unverzüglich die nöthigen Schritte thun, um uns die Hülfe zu sichern, die wir vielleicht brauchen, und uns dann folgen. Wir nehmen für’s erste den directen Weg nach A. Dort wird Hugo weitere Nachrichten von uns finden.“
Er wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, nach der Thür, wo Ella bereits in Hut und Mantel erschien. Die junge Frau warf sich mit einem kurzen, stürmischen Abschiedsgruße an die Brust ihres Pflegevaters, dessen Protest nicht gehört wurde, dann folgte sie ihrem Gatten. Erlau sah vom Fenster aus, wie Reinhold sie in den Wagen hob, ihr dann nachfolgte und den Schlag zuwarf, wie der Wagen mit Beiden im vollsten Galopp davonbrauste – das war zu viel für die noch immer angegriffenen Nerven des alten Herrn, zumal nach der Angst und Aufregung der letzten Stunden; fast betäubt sank er in einen Lehnstuhl.
Kaum zehn Minuten später trat Hugo ein; er hatte von einem der Diener bereits die plötzliche Ankunft seines Bruders und dessen ebenso plötzliche Abreise mit Ella erfahren; auf seine hastigen Fragen erst kam Erlau wieder etwas zu sich. Er war außer sich über den Entschluß seiner Pflegetochter, noch mehr aber über die Eigenmächtigkeit ihres Gatten, der sie so ohne Weiteres mit sich genommen hatte. Ankunft, Erklärung, Abreise, das Alles war ja wie im Sturmwinde geschehen; diese Handlungsweise glich einer förmlichen Entführung. Und was sollte die junge Frau auf einer solchen Reise? Was konnte da Alles vorfallen, was geschehen, wenn sie nun wirklich diese entsetzliche Italienerin erreichten? Der Consul war bei dem Gedanken an all die Möglichkeiten, denen sein Liebling ausgesetzt war, nahe daran, zu verzweifeln.
Hugo hörte schweigend den Bericht mit an, ohne besonderes Erstaunen oder Entsetzen zu verrathen. Er schien so etwas erwartet zu haben, und als Erlau geendigt hatte, legte er beschwichtigend die Hand auf dessen Arm und sagte ruhig, aber doch mit einem leichten Beben der Stimme:
„Lassen Sie es gut sein, Herr Consul! Die Eltern sind jetzt auf der Spur ihres Kindes; da werden sie hoffentlich den Kleinen finden und – sich auch.“
Die steilen Windungen der Bergstraße hinauf, die durch das Gebirge nach A. führte, bewegte sich ein Wagen. Er kam trotz der vier kräftigen Pferde und der ermunternden Zurufe des Führers nur langsam vorwärts. Es war hier eine der schlimmsten Stellen des ganzen Gebirges. Die Insassen des Wagens, ein Herr und eine Dame, waren ausgestiegen und hatten einen Fußpfad eingeschlagen, der den Weg fast um die Hälfte abkürzte, sie standen bereits oben auf der Höhe, während das Gefährt sich noch in ziemlicher Entfernung von derselben befand.
[605] „Erhole Dich, Ella!“ sagte der Herr, indem er die Dame in den Schatten der Felswand geleitete. „Die Anstrengung war zu groß für Dich; warum bestandest Du auch darauf, den Wagen zu verlassen?!“
Die junge Frau hielt den starren trostlosen Blick noch immer auf die Bergstraße gerichtet, die sich von der andern Seite in das Thal hinabsenkte, und deren Windungen man zum Theil übersehen konnte.
„Wir waren doch immerhin eine Viertelstunde eher auf der Höhe,“ entgegnete sie matt. „Ich wollte den Weg überblicken, vielleicht schon – den Wagen entdecken.“
Reinhold’s Blick verfolgte dieselbe Richtung, in der gleichwohl nichts zu entdecken war als zwei Männergestalten, dem Anscheine nach Landleute, die, rüstig berganwärts steigend, bald in den Biegungen der Straße verschwanden, bald wieder darin auftauchten.
„So nahe können wir ihnen wohl noch nicht sein,“ sagte er beruhigend, „obgleich wir seit gestern Abend fast geflogen sind. Du siehst wenigstens, daß wir der rechten Spur folgen. Beatrice ist überall gesehen worden und das Kind an ihrer Seite. Wir müssen sie einholen.“
„Und wenn es geschieht – was dann?“ fragte Ella tonlos. „Unser Knabe ist ja schutzlos in ihren Händen. Gott weiß, welche Pläne sie mit ihm verfolgt.“
Reinhold schüttelte den Kopf. „Pläne? Beatrice handelt nie nach Plan oder Berechnung. Der Impuls des Augenblicks allein entscheidet bei ihr Alles. Der Gedanke an die Rache ist in ihr aufgeblitzt, und blitzschnell hat sie ihn auch vollführt, blitzschnell sich mit ihrem Raube geflüchtet. Wohin? Zu welchem Zwecke? Das ist ihr vielleicht selbst nicht einmal klar, und danach fragt sie auch im Augenblicke nicht. Sie hat Dich und mich bis in’s innerste Herz treffen wollen, und das ist ihr gelungen; weiter wollte sie ja nichts.“
Er sprach mit tiefer Bitterkeit, aber doch mit vollster Bestimmtheit. Sie standen Beide allein auf der Höhe des Passes; der Wagen befand sich noch tief unter ihnen und verschwand soeben in der letzten Biegung des Weges. Das Gebirge hatte hier einen schroffen, wilden Charakter; fast nackt stiegen die starren Felsen empor, bald in mächtigen Gruppen, bald wild zerklüftet und zerrissen. Nur die Aloë wurzelte in den Spalten des gelbgrauen Gesteins, und hin und wieder verstreute ein Feigenbaum seinen dürftigen Schatten. Drüben an der andern Seite des Thales hing in schwindelnder Höhe ein Gemäuer an der Bergwand, ein Schloß oder Kloster, grau wie das Gestein selbst und in der Entfernung kaum von diesem zu unterscheiden. Weiter niederwärts hatte sich am Rande einer Schlucht ein Bergstädtchen eingenistet, das, auf und in den Fels hineingebaut, fast einen Theil desselben zu bilden schien, und dessen ödes verfallenes Aussehen mit der Einsamkeit ringsum harmonirte. Tief unten wälzte sich der breite reißende Strom hin, fast die ganze Weite des Thales einnehmend, sodaß kaum Raum genug für die Straße an seiner Seite blieb. Ueber der ganzen Umgebung aber lag das heiße Sonnenlicht eines südlichen Herbsttages, der an Gluth dem nordischen Hochsommertage nicht das Geringste nachgiebt; obgleich die Sonne längst ihre Mittagshöhe verlassen hatte, flimmerte es doch noch heiß in der Luft; grell und scharf beleuchtet hob sich jeder einzelne Gegenstand, fast schmerzend für das Auge, hervor, und das erhitzte Gestein brannte förmlich unter den sengenden Strahlen, denen es unaufhörlich ausgesetzt war.
„Es wäre eine Thorheit, dem Wagen auch nur noch einen Schritt vorauszugehen,“ sagte Reinhold. „Bei der Fahrt bergabwärts überholt er uns in den nächsten Minuten. Wir haben ja jetzt den vollen Ueberblick.“
Ella widersprach nicht; ihr Antlitz trug deutlich genug den Ausdruck der höchsten körperlichen und geistigen Erschöpfung. Diese zwanzigstündige ruhelose Fahrt und dazu die Todesangst im Innern, die immer erneute qualvolle Aufregung, wenn die gesuchte Spur jetzt auftauchte, jetzt wieder verschwand – das war zu viel für das Herz einer Mutter und die Kraft einer Frau. Sie ließ sich auf ein Felsstück nieder, lehnte stumm den Kopf an die Bergwand und schloß die Augen.
Ihr Gatte stand neben ihr und blickte schweigend nieder auf das schöne blasse Antlitz, das in seiner tödtlichen Erschöpfung fast beängstigend erschien. Die scharfen Kanten des Gesteins gruben sich tief in die weiße Stirn und ließen rothe Ränder dort zurück. Reinhold schob langsam seinen Arm zwischen den Fels und die blonden Flechten der jungen Frau; sie schien es nicht zu fühlen, und ermuthigt dadurch, legte er den Arm vollends um sie und versuchte, ihr an seiner Schulter eine bessere Stütze zu geben.
Jetzt zuckte Ella leise zusammen und schlug das Auge auf; sie machte eine Bewegung, als wolle sie sich ihm entziehen, aber sein Blick entwaffnete sie, dieser Blick, der mit so schmerzlicher angstvoller Zärtlichkeit auf ihr ruhte; sie sah, er zitterte in diesem Augenblicke nicht weniger um sie, als er um sein Kind zitterte. Sie ließ den Kopf wieder zurücksinken und verharrte regungslos in seinen Armen.
Er beugte sich tief über sie. „Ich fürchte, Eleonore,“ sagte er gepreßt, „Du hast Deiner Kraft allzu viel zugetraut; Du brichst zusammen.“
Ella schüttelte verneinend das Haupt. „Wenn ich meinen Knaben wieder habe, dann vielleicht. Eher nicht.“
„Du wirst ihn zurückerhalten,“ sagte Reinhold energisch. „Wie? um welchen Preis? – das weiß ich freilich noch nicht, aber ich weiß, wie Beatrice zu meistern ist, wenn der Dämon sich in ihr regt. Habe ich ihr doch oft genug gegenübergestanden in Stunden, wo vielleicht jeder Andere vor ihr gezittert hätte, und habe meinen Willen zu erzwingen gewußt. Noch einmal, zum letzten Male werde ich das versuchen, und sollten sie und ich die Opfer werden.“
„Du glaubst an eine Gefahr, auch für Dich?“ Es klang wie bebende Angst aus der Stimme der jungen Frau.
„Nicht, wenn ich ihr allein gegenübertrete, nur wenn Du ihr nahst. Versprich mir, daß Du auf der letzten Station zurückbleiben, daß Du Dich nicht zeigen willst, wenn wir sie erreichen! Bedenke, sie hat in dem Kinde einen Schild gegen jeden Angriff, jede Gewalt unsererseits, und es steht Alles auf dem Spiele, wenn sie Dich an meiner Seite erblickt.“
„Haßt sie mich denn so sehr?“ fragte Ella befremdet. „Ich reizte sie, das ist wahr, aber Du warst es doch, der sie am tiefsten beleidigte.“
„Ich?“ wiederholte Reinhold. „Du kennst Beatrice nicht. Wenn ich jetzt vor sie hinträte als Reuiger, als Zurückkehrender, so wäre es vorbei mit ihrem Haß und ihrer Rache. Ein einziger Schwur, daß ich und mein Weib getrennt sind und es bleiben, daß ich jeden Gedanken an Wiedervereinigung aufgebe, und sie giebt Dir das Kind zurück, ohne Kampf, ohne Widerstand. Wenn ich das könnte, wäre die Gefahr zu Ende.“
Ella’s Auge suchte den Boden; sie wagte es nicht, aufzublicken, als sie kaum hörbar fragte: „Und kannst Du denn das nicht?“
Sein Auge flammte auf; er ließ den Arm von ihrer Schulter herabsinken und trat zurück.
„Nein, Eleonore, das kann ich nicht, und das werde ich nicht, denn es wäre Meineid. So wenig ich je zurückkehre in die Bande, von denen ich längst fühlte, daß sie mich entwürdigten, ehe ich Dich wiedersah, so wenig gebe ich eine Hoffnung auf, die mir mehr ist als das Leben. O, weiche doch nicht so weit vor mir zurück! Ich weiß ja, daß ich Dir nicht mit einer Empfindung nahen darf, zu der ich das Recht verwirkt habe, aber mein Fühlen kannst Du mir doch nicht vorschreiben, und wenn Du bisher nicht sahest, nicht sehen wolltest, so muß der glühende Haß Beatricens gegen Dich, und nur gegen Dich allein, Dir doch zeigen, wie sehr Du – gerächt bist.“
Die junge Frau machte eine heftig abwehrende Bewegung. „O mein Gott, wie kannst Du in dieser Stunde –“
„Es ist vielleicht die einzige, wo Du mich nicht zurückstößt,“ unterbrach sie Reinhold. „Darf ich in der Stunde, wo wir Beide um das Leben unseres Kindes zittern, seiner Mutter nicht sagen, was sie mir geworden ist? Schon damals, als ich den Boden Italiens betrat, lag es auf mir wie eine Ahnung dessen, was ich verloren hatte; ich konnte der neu errungenen Freiheit, der endlich erreichten Künstlerlaufbahn nicht froh werden, und je reicher und glänzender sich mein Leben nach außen gestaltete, je tiefer regte sich das Heimweh nach einer Heimath, die ich doch nie besessen hatte. Du kennst es freilich nicht, dieses dumpfe Weh, das nicht schweigen will mitten im Rausche der Leidenschaft, im Jubel des Triumphes und in der [606] stolzesten Befriedigung des Schaffens, das in der Einsamkeit zu einer Qual wird, der man entfliehen muß, und wäre es auch um den Preis der wildesten Betäubung. Ich glaubte, es sei allein das Sehnen nach meinem Kinde, da sah ich das Kind wieder, sah Dich – und da wußte ich, was dieses Sehnen gewollt hatte, da begann die Sühne für Alles, was ich an Dir verschuldet.“
Er sprach ruhig, ohne Vorwurf und ohne Bitterkeit, aber die Worte schienen darum nur um so mächtiger auf Ella zu wirken; sie hatte sich erhoben, als wolle sie diesem Tone und diesem Blicke entfliehen, und vermochte es doch nicht.
„Laß mich, Reinhold!“ bat sie beinahe flehend. „Ich kann jetzt nichts Anderes denken und fühlen als nur die Gefahr meines Kindes. Wenn ich den Knaben gerettet in meinen Armen habe, dann –“
„Nun, dann –“ fragte er in athemloser Spannung.
„– habe ich vielleicht nicht mehr den Muth, seinem Vater wehe zu thun,“ ergänzte die junge Frau, während ein Thränenstrom aus ihren Augen stürzte.
Reinhold sagte kein Wort weiter, aber er schloß ihre Hand so fest in die seinige, als wolle er sie nie wieder loslassen. In derselben Minute erschien auch der Wagen auf der Höhe, und der Führer hielt an, um sich und den ermüdeten Thieren einige Ruhe zu gönnen.
Fast gleichzeitig kamen von der andern Seite her die beiden Landleute, die schon vorhin auf der Straße sichtbar gewesen waren. Sie musterten neugierig die schöne blasse Dame und den fremden, vornehm aussehenden Herrn, der jetzt an sie herantrat und fragte, woher sie kämen. Sie nannten eine Ortschaft, die einige Stunden entfernt, am Ausgange des Thales lag.
„Habt Ihr keinen Wagen gesehen?“ forschte Reinhold.
„Gewiß, Signor. Einen Reisewagen wie den Eurigen, aber er hatte nur zwei Pferde. Ihr habt deren vier.“
„Habt Ihr die Insassen gesehen?“ fiel Ella mit bebender Stimme ein. „Wir suchen eine Dame mit einem Kinde.“
„Mit einem kleinen Knaben – ganz recht, Signora. Sie ist Euch aber schon eine ganze Strecke weit voraus. Ihr müßt scharf zufahren, wenn Ihr sie einholen wollt,“ sagte der ältere der beiden Männer und trat zugleich erschrocken näher, denn es sah aus, als wolle die Dame zusammensinken bei der Nachricht; in demselben Augenblick aber schlang auch schon ihr Begleiter den Arm um sie und hielt sie aufrecht.
„Muth, Eleonore! Wir stehen vor der Entscheidung; jetzt gilt es.“
Er hob sie in den Wagen und sprang selbst nach. Die wenigen Worte, die er dem Kutscher zurief, mußten wohl ein ganz ungewöhnliches Versprechen enthalten, denn dieser schwang wie rasend seine Peitsche über die Pferde, und fort ging es, den Flüchtigen nach.
Diese hatten in der That schon einen ziemlichen Vorsprung gewonnen, und auch ihr Wagen fuhr in scharfem Trabe. Beatrice befand sich allein darin mit dem kleinen Reinhold, der, ermüdet vom Weinen und von der ruhelosen, anstrengenden Fahrt, eingeschlafen war. Das blonde Lockenköpfchen schmiegte sich tief in die Polster; die Händchen hielten instinctmäßig die Seitenlehnen umklammert, als suchten sie eine Stütze gegen das ununterbrochene Stoßen und Rütteln auf dem unebenen Wege. Das Kind schlummerte tief und fest, aber Beatrice beachtete es kaum in diesem Augenblick. Sie befand sich in jenem Zustande geistiger Ueberreizung, der auch der wildesten Leidenschaftlichkeit Halt gebietet. Es lag auf ihr wie ein schwerer dumpfer Traum, aus dem nur Eins mit furchtbarer Deutlichkeit hervortrat, die Erinnerung an jene Stunde, wo Rinaldo sich von ihr lossagte, wo er sie den Fluch und das Unglück seines Lebens genannt und ihr mit stolzem Trotz bekannt hatte, daß seine Liebe einzig seiner Gattin angehöre. Diese Worte bohrten sich immer wieder wie mit einem glühenden Stachel in das Herz der Italienerin. Was sie auch gethan, wie sie gefehlt haben mochte, diesen einen Mann hatte sie mit der ganzen Gluth ihrer Seele geliebt, diesem einen war sie unverbrüchlich treu gewesen; sie hatte seine Liebe als ein Recht betrachtet, das keine Macht der Welt ihr zu entreißen vermochte, und nun verlor sie es an die Frau, die sie unter Allen am letzten gefürchtet hätte, an sein Weib. Sein Weib und sein Kind! Das war ja von jeher der dunkle Schatten gewesen, der diesem Glücke drohte, und der jetzt, aus der fernen Vergangenheit hervortretend, Leben und Gestalt gewann, um es zu vernichten.
Beatrice hatte die Beiden gehaßt, noch ehe sie dieselben kannte; wußte sie doch am besten, welchen Platz sie noch immer in Reinhold’s Erinnerung behaupteten, hatte sie es doch oft genug vergebens versucht, ihn davon loszureißen Es mußte doch wohl etwas sein an der einst verhöhnten Macht der geheiligten Ehe; sie siegte schließlich doch über die schöne geniale Biancona, über die hochgefeierte Künstlerin und ließ sie jetzt selbst die ganze Qual des Verlassenwerdens durchkosten, die sie einst so gleichgültig über eine Andere verhängt hatte, ohne danach zu fragen, ob das Herz dieser Andern brach unter dem unverdienten Schicksal. Die scheinbar zerrissene Fessel hatte den Flüchtling ja nie ganz losgelassen; jetzt umwand sie ihn auf’s Neue, und Beatrice fühlte mit verzweiflungsvoller Gewißheit, daß sie nie den Platz in seinem Herzen besessen hatte, den jetzt seine Gattin einnahm.
Das Stelldichein.
Von Hermann Oelschläger.
Der Tag erlischt, der Tag verglüht
Und sinkt in’s Reich der Träume;
Der Sonne letzter Strahl versprüht
Ueber dem Wipfel der Bäume.
Zum Aerger mir und Leide,
Nur dorten zwischen den Büschen rauscht
Es wie von Sammt und Seide.
Von Sammt und Seide! Und der Sand
Die schönsten Füßchen sind’s im Land,
Die je den Weg hier schritten –
So heimlich und verstohl’ner Weis’,
Als hätt’ die Liebe Schwingen,
Und Schloß und Riegel springen.
Und Herz an Herz und Mund an Mund –
Was soll ich weiter sagen!
Ihr wißt ja, wie zu solcher Stund’
Wenn uns der Liebsten Lockenpracht
Umwallt in duft’gen Ringen
Und wenn ihr schönes Auge lacht
Bei all den süßen Dingen.
Ich sag’ es ihr zum Preise;
Wie leuchtet aus dem dunklen Sammt
Ihr Arm, der blüthenweiße!
Wie gar so wonniglich versteht
Hoch oben durch die Bäume geht
Ein tiefgeheimes Rauschen.
Der letzte Kuß! Da klirrt das Thor,
Der Riegel fällt; kein Bitten
Lausch’ ich den lieben Schritten.
Sie sind verhallt, die Seligkeit
Verscheucht von Gram und Sorgen –
Bis morgen, ach, wie lange Zeit,
Das Gute kann nur durch Kampf zur Geltung gelangen. In unserer schnelllebigen Zeit sind sechs Monate ein langer Zeitraum, und fast erfüllte es mich mit Bedauern, daß er verstrich, ohne daß Jemand auf dem Kampfplatze erschienen wäre, um gegen die Feuerbestattung aufzutreten. Alle Stimmen, die ich las oder hörte, waren für die neue Forderung. So erfreulich es ist, im Sinne der Mehrheit gesprochen zu haben, so ist es doch fast erdrückend, wenn von keiner Seite Gegenrede erschallt. Endlich sind einige Gegner aufgetaucht. Wir wollen ihnen antworten. Die Herren „Gegner“ haben es uns so leicht gemacht, daß wir sie zum Theil mit ihren eigenen Waffen schlagen können. Wir haben uns vergeblich nach besseren Mannen umgesehen, von denen wir gern Lehre um Lehre getauscht hätten. Wir müssen uns eben begnügen.
Um hübsch Ordnung und Reihenfolge zu halten, wollen wir zunächst die Feinde der Feuerbestattung in’s Auge fassen, dann die Einwände der (jetzigen) Freunde beantworten und darauf uns zu denjenigen Gegnern wenden, welche wir als künftige Freunde betrachten.
1) Die Feinde. Der Herold hat zum Kampf geblasen und gespornt und gewappnet stürmt unser werther Herr College, Herr „Medicinalrath“ Mohr in Bonn, auf den Kampfplatz, um „Gründe der exacten (!) Naturwissenschaft gegen die Leichenverbrennung“ vorzubringen.
„Man kann die Leuchte der Wahrheit nicht durch das Gedränge tragen,“ sagt Lichtenberg, „ohne einige Perrücken zu versengen.“ Das scheint Herr Mohr in Bonn empfunden zu haben, und er zetert Mordio. Das Ergebniß seiner Darlegung ist: die Leichenverbrennung ist a) „unnütz“, b) „ein Raub an der Erde“, c) „unnatürlich“ und d) „sehr kostspielig“. Diese vier Qualitäten seiner Gegnerschaft wollen wir nun einzeln betrachten.
Also: a) die Leichenverbrennung ist „unnütz“. Hier giebt zuerst Herr Mohr zu, daß der Bewegung für die Leichenverbrennung die menschenfreundliche Absicht zu Grunde liege, den Nachtheil zu entfernen, welchen die verwesenden Leiber den Lebenden bringen. Hierbei widerfahren ihm folgende zwei kleine lustige Sätze, welche wir wortgetreu wiedergeben:
„Die Alten verbrannten ihre Leichen auf einem Holzstoße. Später wurde der Scheiterhaufen auch auf lebende Menschen angewendet, aber auch dadurch konnte man die Verbreitung giftiger Ansteckungsstoffe nicht verhindern.“
Wann und wo wurde der Scheiterhaufen auf lebende Menschen „angewendet“? Antwort: Im Mittelalter unter dem Einflusse der Inquisition gegen Ketzer. Wenn man „auch dadurch“ die Verbreitung „giftiger Ansteckungsstoffe“ nicht hindern konnte, worin bestanden dann diese giftigen Ansteckungsstoffe? Antwort: In Verbreitung der Wahrheit und in Vernunft. – Das sind also Ansteckungsstoffe, vor denen man sich hüten muß – lehrt uns Herr Medicinalrath Mohr.
Später spricht er auch von anderen Ansteckungsstoffen und wagt die kühne Behauptung, daß „die Ansteckung der Cholera, der Pocken, des Scharlachs, der Diphtheritis, des Typhus ‚nur von Lebenden zu Lebenden‘“ geschehe. Was soll man darauf erwidern? Sind die Arbeiten unserer bedeutendsten Aerzte und Hygieiniker vor Herrn Mohr Nichts? Weiß er denn nicht, daß jedes Lehrbuch der Pathologie oder der Hygieine ihn eines Andern belehren kann? Dann ist nur zu wünschen, daß der Herr „Medicinalrath“ Mohr sich an irgend einen „Candidaten der Medicin“ in Bonn wende, damit ihn dieser über den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft belehre. Für uns und unsere Leser ist der Raum der Gartenlaube hierfür zu kostbar.
b) „Ein Raub an der Erde“ soll es sein, wenn die Todten nicht begraben, sondern verbrannt werden. Heiliger Liebig, hilf! Es handelt sich um „Raubbau“.
Und worin besteht der „Raub“? Das Ammoniak wird zerstört. Ammoniak ist aber (nach Mohr) die höchste Leckerei der Pflanzen; Leichenverbrennung, Schießpulver und Eisenbahnen verdienen gleichmäßig einen Kreuzzug, weil sie die Bildung des Ammoniak hindern. Die Leichenverbrennung setzt der Ammoniakverschwendung die Krone auf, und nun muß die Natur zu Grunde gehen. „Wo solch ein Köpfchen keinen Ausweg sieht, stellt es sich gleich das Ende vor.“ Zum Glück steht es nicht so schlimm. Herr Mohr, der Mann der „exacten“ Naturwissenschaft, führt nicht den Nachweis, daß das aus den begrabenen Leichen entstehende Ammoniak auch wirklich den Pflanzen zu Gute komme, Im Gegentheile, er führt Gründe an, weshalb dies nicht geschehe. Er sagt:
„Endlich ist die Beerdigung sowohl das natürlichste, als auch das sicherste Miitel, alle Effluvien (Ausströmungen) zurückzuhalten.“
Also: durch die Beerdigung werden sicher „alle Effluvien“ zurückgehalten; das Ammoniak gehört zu den „Effluvien“ der Leichen; folglich wird auch das Ammoniak zurückgehalten, – folglich ist es für die Pflanzen sehr gleichgültig, ob die Leichen verbrannt oder begraben werden. Im letzteren Falle wird das Ammoniak „zurückgehalten“, und es kommt den Pflanzen nicht zu Gute, im ersteren Falle wird es chemisch verändert und kommt ebenfalls den Pflanzen nicht zu Gute. – Jedermann wird zugeben, daß es den Pflanzen sehr gleichgültig sein kann, was mit dem Ammoniak geschieht, wenn es ihnen doch nicht zu Gute kommt.
Aber die Pflanzen erhalten ja überhaupt das Ammoniak nicht aus den Leichen der Begrabenen. Dieses könnte höchstens den Pflanzen des Friedhofes zu Theil werden. Woher erhalten es die übrigen, viel, viel zahlreicheren Pflanzen? Die zahllose kleine Thierwelt, welche unbegraben verwest, die stickstoffhaltigen Theile der abgestorbenen Pflanzen sind (wie Jedermann weiß) die eigentlichen Quellen des Ammoniak für die grüne Vegetation. Nur Herrn Mohr beliebt es für seinen Zweck, eine andere Quelle anzunehmen. Gesetzt aber, die Pflanzen erlitten im „Ammoniak“ einen Verlust, so erhalten sie dafür Ersatz in einem andern, ihnen kaum minder wichtigen Nährstoffe: in der „Kohlensäure“. Auch dies beweisen wir aus des Herrn Mohr eigenen Worten, welcher sagt:
„Die Kohlensäure findet wieder ihre Verwendung in der Pflanze, und diese Erzeugung ist ein dauernder Raub an der Erde.“
c) Allein die Verbrennung ist „unnatürlich“, denn: „diese beiden Ergebnisse der Cultur, das Schießpulver und die geruchlose Leichenverbrennung, liegen nicht im Plane der Natur, und sie hat kein Mittel, den dadurch bewirkten Verlust zu ersetzen.“
„Liegen nicht im Plane der Natur“! Herr Medicinalrath Mohr ist ein Eingeweihter. Er kennt den Plan der Natur. Wir dachten, es handelte sich (nach der Ueberschrift) um „exacte Naturwissenschaft“. Statt dessen taucht ein Stück längst vergessener Naturphilosophie auf und belehrt uns über den teleologischen „Plan“ der Natur. Der Naturphilosoph Mohr kennt auch die Schätze und Subsidien der Natur ganz genau; er weiß, daß die Natur „keine Hülfsmittel“ dagegen hat. – Arme Natur! Wir Uebrigen haben Dich bisher für reich an Hülfsmitteln gehalten. Aber Herr Mohr weiß das besser. – Weiter ist nichts zu erwidern.
Endlich d) „die Leichenverbrennung ist sehr kostspielig“. – Gegen diesen Einwand führe ich einfach die Thatsache an, daß die Kosten für Verbrennung der Weichtheile und Knochen eines menschlichen Leichnams nach dem von mir erwählten und empfohlenen System etwa drei Mark betragen. Man vergleiche damit die Kosten des „Begrabens“ und man urtheile, ob der Einwand stichhaltig ist oder nicht.
Die Gründe der „exacten“ Naturwissenschaft sind erst noch zu hören. Bis jetzt wurden, wie man sieht, keine derselben vernommen. –
Ein anderer Gegner, Professor J. P. Lange in Bonn, hat nicht die Kühnheit, die „exacte Naturwissenschaft“ als Schild vorzuhalten. Er scheint vielmehr zur theologischen Facultät zu gehören, und wir haben daher keinen Grund, ihm die Unkenntniß der Naturwissenschaften und des Verbrennungsverfahrens vorzuwerfen. Er kennt z. B. nicht die Kennzeichen des eingetretenen Todes, und alle von ihm in dieser Beziehung gegen die „Physiologie“ gerichteten Worte sind ohne jede Begründung. – Ebenso ist es unbegründet, wenn er glaubt, die Leichen, welche zu anatomischen Uebungen und Lehrvorträgen gedient haben, könnten nicht verbrannt [609] werden, da die einzelnen Leichentheile ebenso verbrannt werden können, wie die einzelnen Theile eines Holzscheites und das ungetheilte Scheit.
„Wie oft sieht sich die Criminaljustiz veranlaßt, Leichen wieder ausgraben zu lassen!“ Ja, „wie oft“? Gar nicht oft, sondern äußerst, äußerst selten. Ein seit Jahrzehnten amtirender Bürgermeister einer der größten Städte hat mir unlängst versichert, daß von den vielen Hunderttausenden von Leichen, die während seiner Amtszeit begraben wurden, auch nicht eine einzige zu Justizzwecken ausgegraben wurde. Fast von jeder Stadt, wo ich mich danach erkundigt habe – oder wo Herr Lange die Güte haben wird, sich zu erkundigen – ist Gleiches zu erfahren. Wenn also den Lebenden dadurch Nachtheil entsteht, aus welchen Gründen sollen wir um etwa möglicher Ausgrabungen willen ein altes, unrichtiges System beibehalten und ein neues, richtigeres verwerfen? „Pereat mundus et fiat justitia.“
„Die traditionelle Sitte“, – „die Symbolik“ – und „der Kirchhof“ – laufen durch Feuerbestattung Gefahr. Das mag sein. Mögen Andere es entscheiden! Ich kämpfe auf diesem Gebiete nicht, denn hier bin ich nicht zu Hause. Mir gilt nur das Eine: der Gewinn für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen. Ist dieser Gewinn vorhanden (und er ist es nach meiner festen, innigen Ueberzeugung), dann gebe ich „Tradition“, „Symbolik“ und „Kirchhof“ um seinetwillen auf.
„Pietät gegen das geweihte Menschenbild“. Wenn Sie, Herr Professor J. P. Lange in Bonn, jemals einen „faulenden“ und einen „verbrennenden“ Leichnam gesehen hätten, so würden Sie nicht von „Pietät“ im Interesse des Begrabens reden. Ich habe Beides gesehen. Ich habe den Begrabenen als ekles Zerrbild der Menschengestalt gesehen – ich habe den Leib sich irdisch verklärend und im Glühen unmerklich dahinschwindend gesehen. Ich habe in einem Falle Abscheu, im andern Bewunderung empfunden. Sie aber – lernen Sie doch von der Naturwissenschaft die Scheu vor Unwahrem!
„Die Leichenverbrennung als Luftvergiftung“ predigt uns Herr Lange zum Schluß. Auch hier führt er einen Kampf mit Windmühlen. „Die gewöhnliche Verbrennung“ soll „Flamme, Rauch und Asche“ geben. Das giebt nicht die gewöhnliche, sondern die unvollkommene Verbrennung. Bei der Feuerbestattung ist der Apparat aber für vollkommene Verbrennung eingerichtet. Kein Wölkchen Rauch entsteigt der Esse. Kein „Geruch brennender Knochen und Gebeine“ konnte bei den mehrmals wiederholten Versuchen wahrgenommen werden. Es handelt sich eben nicht um trockene Destillation, sondern um vollständige Verbrennung, bei welcher unter Erscheinung einer weißen Flamme der Leichnam sich in Wasser, Kohlensäure und Stickstoff auflöst. Die Lange’sche Phantasmagorie, daß man künftig unsere Abgeschiedenen „in den Nebeln der blauen Berge wieder zum Vorschein kommen sehen“ könne – ist also ein geistiges Nebelbild unseres geehrten Herrn Gegners. –
In Bonn, in der reizvoll am grünen Ufer des deutschen Stromes gelegenen Stadt, lehrten einst Männer wie Helmholtz, Max Schulze, Ritschl. Von diesen wäre sicher kein Angriff gegen die „Feuerbestattung“ gekommen. Und wäre er, – so wäre uns ihnen gegenüber die Abwehr nicht so leicht gemacht worden, sondern wir hätten dankend Neues und Wahres entgegennehmen können. –
2) Wenden wir uns nun zu den Freunden. Diese haben es uns minder leicht gemacht, denn sie haben herausgegriffen, was vielleicht Vielen auf dem Herzen lag.
Die Freunde der „Feuerbestattung“ haben Anstoß daran genommen, daß unsere Abbildung in Nr. 19 der „Gartenlaube“ von diesem Jahre den „Sarg“ als Hülle des Todten zeige. „Wenn wir mit dem Sarge verbrannt werden sollen,“ schreibt uns Einer derselben, „so ist die alte Holzvergeudung auch bei dem neuen Verfahren beibehalten, und die Hinterbliebenen haben die Asche nicht frei von fremden Bestandtheilen.“
Da sieht man wieder die leidige Gewohnheit des Regiertwerdens! Muß denn jede Einzelnheit vorher bestimmt und vorgeschrieben werden? Kann denn nicht einmal in Sachen des bürgerlichen Lebens ein wenig „Selbstregierung“ Raum gewinnen? – Auf die Anfrage: ob mit oder ohne Sarg verbrannt werden solle, haben wir nur die eine Antwort: Mache das Jeder, wie er will! Der Raum ist groß genug, um den Sarg aufzunehmen. Richtiger aber ist es gewiß, die Bestattung ohne denselben auszuführen. Man kann die mit Linnen bekleidete Leiche auf ein Brett legen, über welches der unten offene Sarg gedeckt wird. So wird der Todte zur Feuergruft gebracht und mit dem Sarge herabgelassen. Vor dem Verbrennungsraume hebt man den Sarg ab und bringt die Leiche nur auf dem Brette liegend in den Bestattungsraum. –
Ein Anderer klagt, daß die „Poesie des Grabhügels“ verloren gehe. Die Frauen lieben es, ihrem Schmerze am Grabhügel nachzuhängen; der treue Sohn ehre die Begräbnißstätte seiner Eltern und Großeltern durch Blumenschmuck. Das sei bei der Feuerbestattung unmöglich.
Weshalb ist es denn unmöglich? „Verbrennen“ und „Begraben“ sind nur die Arten der Bestattung mit Hülfe des Feuers oder der Fäulniß. Der Grabhügel aber bezeichnet die Stelle, wo die Reste des mit Fäulniß Bestatteten aufbewahrt werden. Weshalb kann man denn die Reste eines mit Feuer Bestatteten nicht ganz in gleicher Weise aufbewahren? Wo liegt die Unmöglichkeit? Die „Asche“ hat nur den Vorzug, daß sie die Erde nicht mit Fäulnißgift durchsetzt und den Lebenden schädlich wird, wie die „Leiche“; aber begraben kann sie werden, genau wie diese, und mit einem Hügel kann sie überdeckt werden, genau wie diese, und Blumenschmuck kann sie erhalten, genau wie diese. Wer also am Alten hängt und die „Poesie des Grabhügels“ nicht missen will, der kann die Urne mit der Asche in der Erde unter einem Hügel beisetzen, statt in einem Columbarium (Urnenhaus).
Aber auch die Poesie des Columbariums hat ihre Rechte. Im stillen Fache des hochgewölbten Raumes ruht die Asche; die weiße Marmortafel kündet mit goldenen Schriftzügen Namen und alles Andere, was sonst der Grabstein kündet; Kränze und Palmenwedel zeigen der Hinterbliebenen treues Erinnern; Ruhebänke nehmen die Besucher auf, welche in der Nähe der theuren Reste sich des früheren Glückes lebhafter erinnern wollen; das einer Kirche ähnliche Columbarium ladet zu ernster Betrachtung ein, verleiht weihevolle Stimmung, gebietet Ehrfurcht vor den Geschiedenen. Liegt etwa hierin keine Poesie? Ist dieser Besuch beim verlorenen Freunde nicht ein würdigerer, als wenn man jetzt auf dem offenen Felde des angeblichen und sogenannten „Friedhofes“ unfreiwilliger Zeuge des Streites zwischen den „Gießweibern“ und dem Wächter oder den Todtengräbern wird, während Geräusch und Wagengerassel der Stadt zu uns dringen? Wo ist mehr Friede, mehr Ruhe, mehr Würde? Sicher und gewiß im stillen „Urnenhause“. Aber das Neue erschreckt. Es geht den meisten Personen wie jener alten Dame, welche behauptete, die Eau de Cologne röche nicht mehr so gut, seit sie nicht mehr in den langen schmalen Flaschen verkauft wird, an die sie seit ihrer Kindheit gewöhnt war. Der Mensch ist befangen von dem, was er bisher kannte, „und die Gewohnheit nennt er seine Amme“. Ist die Macht der Gewohnheit erst einmal überwunden, dann wird die Poesie des Columbariums Jedem einleuchten. –
„Aber das kostspielige Grabgeleit mit Nachfahrkutschen hört doch nicht auf,“ wendete ein Freund mit Bedauern ein. – Auch dies ist eine Sache der Selbstregierung und hat mit der Feuerbestattung wenig zu thun. Man kann das unnütze und theure Schaugepränge ja sehr leicht beseitigen, wenn man die Gelegenheit zum Schauen beseitigt. Bringt man die Leiche, wie von Vernunft und Gesundheitspflege geboten wird, zeitig aus dem Trauerhause in einfachster Weise nach der „Leichenhalle“ auf dem Kirchhofe und läßt dort die Freunde des Todten sich zur Bestattung treffen, so ist jedes unnütze Schaugepränge vermieden. Es wäre sehr wünschenswerth, daß diese Einrichtung mit der Feuerbestattung vereinigt eingeführt würde. Gewiß könnte in der Leichenhalle der Prediger, oder wer sonst am Grabe spricht, weit gesammelter reden, als wenn er durch langen Leichenzug unwillkürlich zerstreut worden ist. Die Zuhörer brächten dann den Worten eine weihevollere Stimmung entgegen. Die Ursachen zum Erkranken fielen weg, welche bei Reden am offenen Grabe (wie sie in Leipzig zur Zeit noch üblich) so oft schon Verderben brachten. Es liegt in der Hand jedes Einzelnen, daß dabei kein unnöthiges Schaugepränge den Ernst der Handlung zur Modethorheit herabwürdige. –
3) Zum Schlusse noch ein Wort an die künftigen Freunde der Feuerbestattung.
[610] Wir verstehen darunter die Theologen. Von ihnen kommt der eigentliche Widerstand, was wir ganz begreiflich finden. Die Theologie arbeitet wesentlich nach der Richtung des Gemüthes hin, während die Anregung zur Feuerbestattung vom Verstande ausging. Das Gemüth haftet am Alten, Hergebrachten, an dem durch Gewohnheit lieb Gewordenen. Der Verstand fragt zunächst nach dem Nutzen, nach dem greifbaren Vortheile und Gewinne. Wie oft haben nicht beide Richtungen im Laufe der Zeiten sich bekämpft! Die Geschichte lehrt jedoch, daß meist der Verstand schließlich die Oberhand behielt. Zuweilen mittelst schnöder Waffengewalt, häufiger durch den Erfolg, durch die Thatsachen. Letzteres wird auch bei der „Feuerbestattung“ der Fall sein. Sobald die Herren Theologen sich überzeugen werden, daß die Feuerbestattung ein wirklicher Fortschritt im Interesse der Menschheit, der Humanität, der Pietät, der Gesundheitspflege ist, daß durch die Feuerbestattung alljährlich Gesundheit und Leben vieler Hunderte und Tausende behütet und bewahrt wird, ebenso bald wird sie auch ihr Pflichtgefühl nöthigen, die Neigung für alte Gewohnheit zu bekämpfen und für den neuen Gebrauch zu wirken. Sie werden ihn einführen und weihen helfen. Das müßte ja ein elender Baalspfaffe und kein christlicher Prediger sein, der, obgleich er die wohlthätigen Folgen der Feuerbestattung erkannt hat, gegen dieselbe ankämpfte.
Nein, ich habe besseres Zutrauen zu unseren Theologen. Sie müssen die Freunde der Feuerbestattung werden. Sie „müssen“? Weshalb? Weil, wie Lessing sagt, der Mensch das thun muß, was er für gut und recht erkannt hat.
Ich kann es mir übrigens wohl denken, daß ein großer Theil der praktischen Theologen von vornherein gegen die Feuerbestattung mit sehr ungünstigem Vorurtheile gestimmt ist. Die Zeitläufe sind ganz danach. Die „Taufe“ wird durch das Civilstandregister zu einer bloßen Form; die „Schule“, welche bisher (in Folge der Entwickelung unserer Schulen aus der mittelalterlichen Mönchsschule) eine ganz unbestrittene Domaine der Geistlichen war, soll confessionslos werden; die „Trauung“ wird durch die Civilehe in das Belieben der Einzelnen gestellt. Nun kommt auch noch eine Aenderung beim „Begräbnisse“! Kein Wunder, daß gar Viele unter den Herren Theologen sich dadurch unheimlich berührt fühlen.
Am deutlichsten fanden wir dies ausgeprägt in einem Aufsatze der „Allgemeinen Nachrichten der Brüdergemeinde“, welcher im „Württemberger Kirchen- und Schulblatte“ (1874, Nr. 23) des abermaligen Abdruckes werth gehalten wird. Der (ungenannte) Verfasser erkennt die Vortheile der Leichenverbrennung an, ist aber trotzdem gegen das Verfahren; zwar habe es mit Glauben oder Unglauben gar nichts zu thun, sondern sei „an sich etwas religiös ganz Gleichgültiges“, allein heutzutage müsse man gegen Alles „Stellung nehmen“, und da sei die Leichenverbrennung als ein „Symptom unserer radicalen Zeitströmung“ und „als eine in mehrfachem Sinne pietätslose Emancipation von einer specifisch christlichen Sitte zu beurtheilen“. Dies heißt in einfachen Worten: Die Leichenverbrennung geht mich zwar nichts an, sie ist auch nützlich und nicht unreligiös; da sie aber etwas Neues ist und möglicher Weise unser Ansehen beeinträchtigen könnte, so müssen wir Priester sie verurtheilen.
Ehe Leute von dem Schlage, wie der Herr Verfasser dieses Aufsatzes, zu Freunden werden, muß natürlich eine allgemeine Anerkennung schon vorausgegangen sein. Dann versteht sich die ihrige von selbst. Bis dahin aber helfen Vernunftgründe nicht, sondern sie sagen mit dem Patriarchen des Nathan: „Thut nichts, der Jude wird verbrannt“ – oder in diesem Falle „begraben“.
Indessen, es giebt auch wieder Starrsinnige, welche dem Neuen nicht deshalb feindlich bleiben, weil es „neu“ ist. Ich will von den Gegnern, welche ich für vorurtheilslos genug erachte, um künftige Freunde des Verfassers zu werden, nur Einen herausgreifen.
Im Juli dieses Jahres erwähnte der Hofprediger Dr. Rüling in Dresden in einer Predigt der Feuerbestattung und fand sie wenig ansprechend, weil sie eine Nachahmung des Heidenthums sei. Freilich wäre zu entgegnen, daß die Verbesserung nicht mehr noch minder „heidnisch“ sei als das Osterfest, die Pfingsten u. s. w. Ferner ist unser „Christbaum“ einfach eine Nachahmung heidnischen Gebrauches; der „Knecht Ruprecht“ vertritt den Jul-Klapp der alten Heiden. Sogar das christliche Kreuz war schon vor Jahrtausenden bei den Heiden ein religiöses Symbol. Und der Grabhügel unserer Grabstätten – ist er etwa kein heidnischer Gebrauch? Wenn wir nicht mehr das Heidenthum nachahmen wollen, dürfen wir nicht mehr mit Messer und Löffel essen, nicht mehr Stiefel und Beinkleider, noch Ringe oder Mäntel tragen. Mit Ausnahme der Stahlfedern und der Streichhölzchen wird wenig übrig bleiben von unseren täglichen Lebensbedürfnissen, das nicht eine „Nachahmung des Heidenthums“ wäre.
Daß ferner beim Verbrennen die Menschenhände einen „unberufenen Eingriff in den von Gott geordneten langsamen Proceß der Auflösung des menschlichen Leibes“ ausführen, bestreite ich so lange, bis mir nachgewiesen wird, daß „Gott“ eine „langsame“ Auflösung „angeordnet“ habe. Das sind zwei Punkte, deren Nachweis doch etwas schwer fallen dürfte. Wir wollen nur einen derselben herausgreifen. – Was heißt denn „langsame“ Auflösung? Ist sie in Indien langsam, wo die Leiche binnen drei Tagen jauchig zerfließt? Oder bei den Huancha, wo der todte Leib an sandigen Südhängen ausdörrt und sich für Jahrzehnte dann erhält? Oder in den Kalkgrüften zu Bonn, Prag, Wien, wo die modernden Leiber in Jahrhunderten sich wenig verändert haben? Oder in dem nördlichen Sibirien, wo nach Jahrtausenden im Eise noch Fleisch, Haar und Speisereste der mikroskopischen Untersuchung zugänglich sind? Ist es dieser „Langsamkeit“ gegenüber gestattet, die Leichen in lockere Erde zu betten, wo sie schneller verwesen? Oder ist es Pflicht der Christen, die Leichen in Thon, Moor und Kalkgruben unterzubringen? Und wenn dies nicht – wenn sogar die lockere Erde gestattet ist – aus welchen Gründen dann die noch schnellere Verwesung im Feuer verpönen? Wo liegt die christliche Grenze der „Langsamkeit“?
Die „Kränkung des menschlichen Zartgefühles“ kann bei der Verbrennung nur für denjenigen vorhanden sein, der die bereits erwähnten sehr wenig mit dem „Zartgefühle“ zu vereinbarenden Einwirkungen der Fäulniß nicht kennt, und auch die „völlige Umwälzung unserer kirchlichen Sprache“ zeigt sich bei näherer Betrachtung als nicht vorhanden.
„Wie sie so sanft ruh’n, alle die Seligen!“ kann kein Wahrheitsliebender heute mit gutem Gewissen aussprechen. Sie ruhen ja nicht sanft, wenigstens nicht auf lange Zeit, sondern erwarten in ihrem Miethgrabe nur die Stunde, in welcher sie wiederum höchst unsanft herausgeworfen werden, um dem Nachfolger Platz zu machen. – Ein „Gottesacker“ ist auch das Columbarium; denn hier handelt es sich nur um einen bildlichen Ausdruck. Dem „Schooße der Erde“ kann man auch die Urne anvertrauen.
Aber wenn dies Alles auch nicht wäre, der Gewinn des Besseren und Vernünftigen muß den Sieg davontragen über die Vorliebe für althergebrachten Sprachgebrauch, oder – man klammert sich an das Alte an, weil es „alt“ ist, und verneint das Neue, weil es „neu“ ist. Das wird kein Besonnener wollen, und deshalb sehen wir in einem solchen Gegner einen künftigen Freund.
Im südöstlichen Theile Pennsylvaniens, in einer Gegend, wo man von dem riesenhaften Aufschwunge der Vereinigten Staaten wenig oder gar nichts merkt, liegt das Städtchen Westchester. Es sah vor vielen Jahren nicht anders aus als heute; seine Einwohnerzahl nimmt weder zu noch ab, und nach Verlauf von fünfzig oder hundert Jahren wird dieselbe kaum größer sein als jetzt. In manchen der östlichen Staaten, von denen sich der Strom der Einwanderung abgelenkt und den westlicher gelegenen zugewendet, findet man gar häufig kleinere Städte, die in einen traumhaften Schlummer versenkt zu sein scheinen. Im Winter
[611] liegen sie halb im Schnee und halb im Schmutz vergraben, im Sommer aber hängt der einförmig blaue Himmel wie eine bleierne Decke darüber, und die Sonne sendet ihre sengenden Strahlen auf die weißgetünchten Holzwände der Häuser nieder. Und weißgetüncht ist in solchem Neste Alles, jede Wand, jeder Pfahl, jede Planke, ja selbst die Stämme der Bäume. In den schlecht oder gar nicht gepflasterten Straßen herrscht wenig Leben, und nur am Sonntage, wenn die unvermeidlichen vier oder sechs Kirchen, die auch die kleinste Stadt aufzuweisen hat, ihre Glocken ertönen lassen und die schläfrigen Bewohner schlaftrunken nach den Gotteshäusern gehen, um bei den Worten des Predigers nur noch schläfriger zu werden, sieht man Menschen in größerer Anzahl durch die Straßen wandeln. Fremde kommen nach diesen Orten nur bei besonderen Gelegenheiten und Ereignissen, da von Anziehungspunkten und Sehenswürdigkeiten dort keine Rede sein kann.
Solch eine besondere Gelegenheit mußte auch am 28. October 1873 für Westchester hereingebrochen sein, denn Hunderte von Fremden strömten am Morgen jenes Tages von allen Seiten und Richtungen in das Städtchen. Uebrigens schien dieses Ereigniß keinem der Ortsbewohner besonders aufzufallen, denn Jeder vermochte sich dasselbe zu erklären. Sollte doch an dem genannten Tage der Proceß gegen den berüchtigten William E. Udderzook begannen, welcher der Ermordung seines Schwagers Winfield Scott Goß angeklagt war, und wer die Geschichte dieses Verbrechens kannte, das vor wenigen Monaten so große Sensation in den östlichen Staaten der Union wachgerufen, verwunderte sich nicht über das zahlreiche Erscheinen der Fremden an dem Orte, in dessen Gerichtsgebäude der Mörder den Anfang seines Processes erwartete.
Bevor wir aber in das Gebäude treten, wo ein neuer Act in einem blutigen Drama beginnen soll, wird es Zeit, den Leser mit der Geschichte dieses Verbrechens bekannt zu machen.
An der York-Road, einer von Baltimore sich abzweigenden Landstraße, stand noch vor wenigen Jahren ein hölzernes Häuschen. Es sah recht unscheinbar und armselig aus, und selbst die äußere Erscheinung mehrerer nahe gelegenen Negerhütten stach noch vortheilhaft von der des Häuschens ab. In dem letzteren lebte ein Mann, Namens Winfield Scott Goß, der sich den Ruf eines Sonderlings erworben hatte. Er besaß eine junge, schöne Frau, die in einer der fashionablen Straßen Baltimores wohnte, und obgleich er diese häufig aufsuchte, so hielt er sich doch selten lange bei ihr auf. Während des größten Theiles seiner Zeit hockte er einsam in seiner baufälligen Hütte, ohne daß man eigentlich erfuhr, was er dort trieb und weshalb er sich von aller Welt zurückzog. Fragte man ihn, womit er sich beschäftige, so entgegnete er, daß er in seinem Laboratorium (anders nannte er seine Hütte nie) experimentire, um ein Substitut für „India Rubber“, auf welches er später ein Patent zu erlangen wünsche, herzustellen. Am Abende des 2. Februars 1872 brannte das Häuschen nieder, und kurz darauf fand man unter den Brandtrümmern die bis zur Unkenntlichkeit entstellten Ueberreste eines menschlichen Wesens. Da ausreichende Beweise vorlagen, daß Goß sich kurz vor dem Brande in dem Hause befunden, und zwei Männer, ein Deutscher, Namens Engel, und ein Schwager des angeblich Verunglückten, ein gewisser William E. Udderzook, aussagten, daß sie Goß kurz vor dem Brande verlassen, so nahm die bei der Leichenschau fungirende Jury keinen Anstand, den Wahrspruch abzugeben, daß Goß bei dem Brande um’s Leben gekommen sei.
Einige Tage lebte dieses Ereigniß im Munde der Baltimorer Bevölkerung fort, dann wurde es vergessen und der Name des Sonderlings nur im Kreise seiner Bekannten vielleicht dann und wann noch einmal erwähnt. Plötzlich aber ward die Aufmerksamkeit des Publicums auf’s Neue auf diesen Vorfall gelenkt, und derselbe gewann mit einem Male ein größeres Interesse. Nachdem nämlich mehrere Monate nach dem Feuer an der York-Road verstrichen waren, stellte sich heraus, daß Goß Policen zum Betrage von fünfundzwanzigtausend Dollars in vier Lebensversicherungs-Gesellschaften besaß. Als jedoch seine Gattin ihre Rechte geltend machte und den vollen Werth der Policen beanspruchte, verweigerten die Assecuranz-Compagnien die Zahlung und zwar auf den Grund hin, daß Betrug im Spiele sei. Die Compagnien stellten sogar die Behauptung auf, daß Goß noch lebe und in Gemeinschaft mit seinem Schwager Udderzook eine Leiche in dem Hause versteckt und dasselbe angezündet habe, während Alexander Campbell Goß, ein Bruder des angeblich Verbrannten, den Letzteren mit einem in der Nachbarschaft bereit gehaltenen Fuhrwerk in Sicherheit gebracht habe.
Im Mai 1873 wurde Frau Goß vor dem Bundesbezirksgerichte in Baltimore klagbar, um die Assecuranzsumme zu bekommen. Die vorgeblichen Ueberreste von Goß wurden nochmals ärztlich geprüft, aber die Leiche war dermaßen entstellt, daß von einer Identfication keine Rede sein konnte. Nur die Zähne waren noch erhalten; diese aber sahen sehr schlecht aus und stimmten durchaus nicht mit dem prächtigen Gebisse überein, welches Jeder, der den sonderbaren Menschen gekannt, an demselben bewundert hatte.
Auf diesen Umstand stützte sich hauptsächlich die Vertheidigung, unterließ es aber, Frau Goß mit irgend einer Absicht des Betruges in Verbindung zu bringen. Ihr Betragen bei der ersten Besichtigung der Leiche, kurz nach dem Brande, war geeignet, jeden Verdacht von ihr abzulenken; sie hatte sich damals auf die entseelten Ueberreste geworfen und ihren Schmerz in einer Weise geäußert, die nach dem Urtheile aller Augenzeugen jeder Verstellung fremd war. Und doch mußte jeder Unbefangene sich die Frage stellen, was Goß und seine Complicen dabei gewinnen konnten, wenn Frau Goß nicht zu dem Complot gehörte. Das Ende des Processes war übrigens, daß das Gericht einen Urtheilsspruch zu Gunsten der Frau Goß abgab. Die Assecuranz-Compagnien beantragten einen neuen Proceß und blieben inzwischen im Besitze des Geldes.
Am 11. Juli desselben Jahres wurden in einem einsamen Gehölze zwischen Cochranville und Penningtonville, zwei kleinen Orten in Chester-County, Pennsylvanien, die schrecklich verstümmelten Ueberreste eines Mannes gefunden und zwar auf eine seltsame Weise. Ein Farmer fuhr auf dem Newporter Landwege von seiner Farm nach Cochranville, und als er an dem erwähnten Gehölze vorbeikam, wurde seine Aufmerksamkeit durch mehrere Bussarde und Aasgeier erregt, die über einem gewissen Punkte des Waldes hin- und herflogen. Als er von Cochranville zurückkehrte, sah er die Vögel noch über derselben Stelle schweben. Er verließ sein Fuhrwerk, ging in das Gehölz und fand den Leichnam. Die Arme und Beine waren von dem Rumpfe getrennt und das Gesicht so entstellt, daß es kaum zu erkennen war. Der Mörder, dessen Opfer auf diese Weise gefunden wurde, mußte ein besonderes Interesse daran gehabt haben, das prächtige, weiße Gebiß des Leichnams zu zerstören, denn mehrere Zähne waren aus den Kiefern gebrochen, und zwar konnte dies erst geschehen sein, nachdem der Unglückliche bereits sein Leben ausgehaucht.
Man stellte Nachforschungen an, wer der Todte sei, woher er gekommen und von wessen Händen er gefallen. Diese Nachforschungen brachten folgende Thatsachen an’s Licht. Am 30. Juni kamen zwei Männer nach Jennerville in Pennsylvanien und übernachteten in dem dortigen Hôtel. Der Eine dieser Beiden war Udderzook, der Andere angeblich ein reisender Agent aus Kentucky oder Tennessee. Der Letztere machte den Eindruck eines höchst sonderbaren Menschen; scheu wich er jeder Begegnung mit anderen Personen aus, fortwährend schien er sich in gedrückter Stimmung zu befinden. Am seltsamsten aber war sein Benehmen gegenüber seinem Begleiter. Wenn er denselben anschaute, so konnte man kaum sagen, ob der Blick Vertrauen oder Furcht ausdrückte. Vielleicht war es ein Gemisch von beidem, was in diesen Blicken lag. Am Morgen nach der Ankunft in Jennerville begab Udderzook sich nach Penningtonville und miethete daselbst ein Gefährt, mit dem er Nachmittags nach dem ersteren Orte zurückkehrte. Abends zwischen sechs und sieben Uhr stieg er mit dem Agenten in das kleine Fuhrwerk und verließ das Hôtel. Gegen Mitternacht langte er wieder in Penningtonville an und lieferte das Gefährt ab. Er saß zu dieser Zeit allein in dem Wagen, welcher Spuren rücksichtslosen Gebrauches aufwies. Das Wachstuch des Fußbodens war zerrissen; an den Sitzen befanden sich große Blutflecken, und zwei Decken, die der Wagenverleiher ihm am Nachmittage mitgegeben, fehlten gänzlich. Kaum waren diese Thatsachen bekannt geworden, als sich der Verdacht des Mordes auf Udderzook richtete und man zu dessen Verhaftung schritt. Er wurde in Baltimore, wo er mit seiner Frau und [612] seinen Kindern wohnte, festgenommen und nach Westchester, dem Hauptorte des Countys, in dem der Mord begangen wurde, gebracht und im dortigen Gefängnisse eingekerkert. Mittlerweile wurde über den aufgefundenen Todten eine Leichenschau abgehalten, und die Untersuchung stellte fest, daß der Ermordete kein reisender Agent, sondern der angeblich bei dem Brande an der York-Road um’s Leben gekommene Winfield Scott Goß war.
Kehren wir jetzt nach Westchester zurück und folgen den Fremden, die soeben den Weg nach dem Gerichtsgebäude eingeschlagen haben. Unter diesen sind besonders die Agenten der bei diesem Processe in so hohem Grade interessirten Versicherungsgesellschaften vertreten, aber auch die Berichterstatter der New-Yorker, Philadelphier und Baltimorer Zeitungen hatten sich in bedeutender Anzahl eingefunden. War doch dieser Proceß mit seinen dunklen Geheimnissen ein prächtiges Thema für die Blätter, die ihre Spalten so gern mit jenen Sensationsberichten füllen, welche von der Masse des Volks mit wahrem Heißhunger verschlungen werden.
Endlich sind wir in den Gerichtssaal eingetreten. Der für die Zuhörer bestimmte Raum ist bereits bis auf den letzten Platz gefüllt, aber wir wissen uns durch die Menge hindurchzudrängen und nehmen Platz an dem für die Berichterstatter der Presse reservirten Tische. Oberrichter Butler hat seinen Sitz auf der Richterbank bereits eingenommen, während der Bezirksanwalt Wanger und Herr Wm. Hayne, welche die Anklagebehörde vertreten, sowie die Herren W. Mac Veagh und J. Perdue, die Vertheidiger des Angeklagten, in einem leisen Gespräche begriffen sind, von dessen Inhalte kein Wort an unser Ohr dringt. Präcise zehn Uhr öffnet sich eine kleine Thür, die unseren Blicken bis dahin entgangen, und William E. Udderzook, der Angeklagte, tritt aus derselben heraus und wird von dem Sheriff nach der Anklagebank geführt. Es ist ein großer, starkgebauter Mann mit gesunder Gesichtsfarbe, scharf markirten Zügen, dunkelrothem Haar, kleinen grauen, etwas zurückstehenden Augen, langer Nase, großem Munde, hoher Stirn und langem Schnurr- und Kinnbarte von röthlicher Farbe.
Kaum hat Udderzook sich auf die Anklagebank niedergelassen, als sich allmählich eine seltsame Gruppe um ihn bildet. Eine alte schwächliche Frau kommt dahergewankt, wirft einen nicht zu beschreibenden Blick auf das Gesicht des Angeklagten und setzt sich darauf zu demselben. Es ist seine Mutter, die laut erklärt, sie will bis zum letzten Augenblicke bei ihrem Sohne ausharren. Jetzt naht sich dem Angeklagten eine zweite Gestalt, seine Gattin; diese trägt ein acht Monate altes Kind auf dem Arme und führt ihr Erstgeborenes, ein kleines Mädchen, an der Hand. In ihrem Gesichte malt sich der Ausdruck der schrecklichsten und folterndsten Angst um das Schicksal dessen, dem sie einst angetraut wurde. Während das kleine Mädchen auf das Knie des Vaters klettert, tritt eine dritte Person in dessen Nähe; es ist seine und auch zugleich die Schwiegermutter des Opfers, die Mutter seiner Frau und die Mutter jener leidend, aber dadurch nur noch um so interessanter aussehenden Dame, die soeben eingetreten und in einiger Entfernung von der obigen Gruppe Platz genommen, diese zuletzt Angekommene ist keine Andere als Frau Goß, die Wittwe des Ermordeten. Sie hat die Reise von Baltimore nach Westchester angetreten, um als Entlastungszeugin für Udderzook zu erscheinen.
Nachdem die Jury eingeschworen worden und die Anwälte ihre Eröffnungsansprachen gehalten, begann das Zeugenverhör, welches neun Tage währte und die seltsamsten Enthüllungen ergab. In den wenigen Monaten, die zwischen der Festnahme Udderzook’s und dem Beginne des Processes lagen, waren die Versicherungsagenten ununterbrochen thätig gewesen, um die Spur aufzufinden, welcher Goß nach dem Brande seines Hauses an der York-Road gefolgt war und die ihn endlich nach dem einsamen Gehölze geführt, wo er unter den Händen eines Mörders sein Leben endete. Es war ihnen auch gelungen, diese Spur aufzufinden, und aus den Aussagen der von den Agenten aufgesuchten und nach Westchester gebrachten Zeugen erhellte Folgendes.
Winfield Scott Goß und Udderzook hatten schon lange Zeit die Absicht gehegt, in den Besitz der Summen zu gelangen, für welche das Leben des Ersteren versichert war. Um dieses zu bewerkstelligen, verschaffte Udderzook sich in einem New-Yorker Spitale einen Leichnam und ließ denselben, in einer Kiste verpackt, nach Baltimore kommen, wo er ihn nach dem sogenannten Laboratorium brachte. Dieser Leichnam mußte Goß’ Stelle vertreten und wurde unter den Brandtrümmern gefunden, während Goß, sobald die ersten Flammen aus dem Dache des Hauses emporstiegen, sich auf und davon machte und mit dem nächsten Bahnzuge von Baltimore nach Wilmington in Delaware fuhr. Dort hielt er sich mehrere Tage auf und nahm den Namen A. C. Wilson an. Später empfing sein Bruder Alexander Campbell Goß einen Brief von ihm, welcher in Saratoga im Staate New-York geschrieben war. Von Saratoga wandte sich Goß nach Canada und von dort über Michigan nach Memphis in Tennessee; alsdann reiste er über Baltimore nach Cooperstown in Pennsylvanien. Auf seiner Durchreise durch Baltimore war er kühn genug, in einem dortigen Hôtel abzusteigen und seinen Namen als A. C. Wilson im Fremdenbuche einzutragen.
Während dieser Irrfahrten stand er, wie mehrere aufgefundene Briefe nachweisen, mit seinem Bruder und Udderzook in fortwährendem Briefwechsel. Die Letzteren mußten ihm die Gelder liefern, welche er zu seinen Reisen und für seinen Lebensunterhalt brauchte. Schickten sie ihm nicht genügende Summen, so drohte er, das ganze Netz ihrer Pläne zu zerstören, und die beiden Verschworenen in Baltimore hatten wohl Ursache zu fürchten, daß er seine Drohung wahr machen werde, denn Beide wußten recht gut, daß er nicht zu den Männern gehörte, auf die man unter allen Umständen bauen kann. In Cooperstown, einem kleinen stillen Orte, der so recht als Versteck für Jemanden geeignet war, welcher die Augen der Welt zu meiden hatte, hielt Goß sich mehrere Monate auf und begab sich im November desselben Jahres nach Newark in New-Jersey, wo er bis zum Juni 1873 verblieb. Dann suchte er Jennerville auf, traf dort mit Udderzook zusammen und fand in des Letzteren Händen seinen Tod.
Diese und viele andere seltsame Enthüllungen förderte das Zeugenverhör zu Tage, und als dasselbe sein Ende erreicht, war Jeder überzeugt, daß Udderzook für diese Welt verloren sei. Freilich machte der Vertheidiger, Herr Mac Veagh, in seinem Schlußplaidoyer noch gewaltige Anstrengungen, seinen Clienten zu retten, und seine Worte blieben auch nicht ohne Eindruck auf die Geschworenen. Er verwies die Jury auf Diejenigen, welche dem Angeklagten als Gegner gegenüber ständen. Derselbe habe mit reichen Corporationen, einer Presse, die ihre Spalten mit Sensationsgeschichten zu füllen wünsche, und einem vom Vorurtheil befangenen Publicum zu kämpfen. Höchst ungerecht und tadelnswerth sei namentlich das Verfahren der Lebensversicherungsgesellschaften. Durch ein derartiges Handeln reicher Corporationen gewinne der Tod nur einen neuen Schrecken, indem Jeder die Befürchtung hegen müsse, daß seine Familie nach seinem Ableben den größten Entbehrungen ausgesetzt sei, falls es einer Compagnie belieben sollte, die Auszahlung des Geldes zu verweigern. Verstand Herr Mac Veagh aber auch für den Augenblick einen tiefen Eindruck auf die Geschworenen zu machen und in den Herzen dieser Männer ein Gefühl für Udderzook wachzurufen, so schwand dieses Gefühl doch bald, nachdem sich die Jury zur Berathung zurückgezogen und sich überzeugt hatte, daß die Beweise von der Schuld Udderzook’s klar und unumstößlich seien. Trotzdem hielten sich die Geschworenen drei volle Tage in ihrem Berathungszimmer auf, bevor sie dem Oberrichter die Anzeige machten, daß sie sich geeinigt. Der Gerichtshof wurde sofort zusammenberufen und der Angeklagte in den Saal geführt. Wenige Minuten später traten die Mitglieder der Jury ein und gaben ihren Wahrspruch ab. Derselbe lautete: Schuldig des Mordes im ersten Grade.
Udderzook bekundete, als ihm diese Worte zu Ohren drangen, nicht die geringste Erregung; er starrte nur, ohne mit den Augen zu zucken auf die Geschworenen, als diese der Reihe nach den Wahrspruch bejahten. So ruhig war er auch während des ganzen Processes geblieben. Sein Verhalten war das eines Mannes, welcher versteht, seine Gefühle zu verbergen und sich in einer Weise zu beherrschen, die Nichts von dem verräth, was im Innern vorgeht. Nur solch ein Mann war im Stande, seinen Freund, Gefährten, Schwager und Mitwisser zu ermorden und den Leichnam mit kaltem Blute in die Erde zu verscharren. Keine Muskel zuckte in dem Antlitz des Mörders, als ein Zeuge nach dem andern auf dem Zeugenstand erschien und neue überwältigende [613] und vernichtende Aussagen laut werden ließ. Und als er, nachdem er den Wahrspruch der Jury vernommen, in seine einsame Gefängnißzelle zurückgeführt wurde und seine Frau ihm jammernd um den Hals fiel, auch da blieb er vollkommen gefaßt und ruhig.
So schloß wieder ein Act in diesem schauerlichen Drama. Der letzte steht noch bevor – es ist der Augenblick, wo der Galgen seine Arbeit zu verrichten und der Mörder diese Welt zu verlassen hat.
Und wenn der Leser fragt: „Was geschieht mit Alexander Campbell Goß, dem Dritten unter den Verschworenen?“ – so können wir darauf nur entgegnen, daß die Lebensversicherungsgesellschaften demnächst einen Proceß wegen beabsichtigten Betruges gegen ihn einleiten werden. Das Resultat dieses Processes müssen wir vorläufig noch abwarten.
Und Frau Goß, die Wittwe des Ermordeten? Sie lebt nach wie vor in ihrem elegant eingerichteten Hause. Ob sie um das Complot der Verschworenen gewußt hat oder nicht – wir wollen und können nicht darüber entscheiden; aber Eins bleibt gewiß: wäre sie ein Weib gewesen, welches ihren Mann von ganzer Seele geliebt, so wäre sie während des Processes in Westchester nicht als Entlastungszeugin für den Mörder ihres Gatten, sondern als furchtbare Anklägerin gegen denselben aufgetreten.
Der Keim zu den oben erzählten Verbrechen ist auch in diesem Falle, wie ist so vielen anderen, nur in den trostlosen Zuständen des amerikanischen Familienlebens zu suchen. Die Liebe zwischen Mann und Weib muß dem Gelddurste weichen; die Frau umgiebt sich mit Pracht und Glanz, und der Mann jagt nach dem Dollar. Daß diese Jagd zuweilen zu entsetzlichen Verbrechen und Gräuelthaten führt, davon liefert das oben erzählte Beispiel den besten Beweis.
„In unserer Zeit des rastlosen Strebens, wo täglich neue Entdeckungen den Kreis des Wissens erweitern und auf allen Zweigen menschlicher Erkenntniß weitersprossende Wahrheiten reifen, muß es vor Allem als dringendste Pflicht erachtet werden, den Planeten, den wir bewohnen, seiner ganzen Ausdehnung nach kennen zu lernen und in unserem eigenen Erdenhaus keine unbetretenen, also unbekannten Strecken übrig zu lassen.“
Das sind die einleitenden Worte des ersten Aufrufes, welchen der Vorstand der Berliner „Gesellschaft für Erdkunde“ zu Anfang des vorigen Jahres in die Oeffentlichkeit brachte.
Die Geographie bildet ein einigendes Band für alle diejenigen Naturwissenschaften, die der vergleichenden Methode in ihren Studien folgen und das Beobachtungsmaterial aus verschiedenen Theilen der Erde zu entnehmen haben. Die von der Geographie eingeleiteten Entdeckungsreisen kommen oftmals weniger ihr selbst als den verwandten Wissenschaften, dem Handel und schließlich der Menschheit zu Gute. So konnte es denn auch nicht fehlen, daß so friedliche und nützliche Unternehmungen, wie die Gründung der „Afrikanischen Gesellschaft“, in allen Schichten der Gesellschaft die wärmsten Förderer und Freunde fanden.
Im April 1872 traten die Delegirten der geographischen Gesellschaften von Berlin, Dresden, Leipzig, Hamburg, Halle, Frankfurt am Main und München zur Gründung der oben genannten Gesellschaft zusammen. Nachdem man sich über das Ziel, über die Mittel und Wege zur Erreichung desselben geeinigt hatte, constituirte sich die Gesellschaft. Das Patronat übernahmen Ihre königlichen Hoheiten der Großherzog von Sachsen-Weimar, der Kronprinz von Sachsen, welcher auch später als König Albert dem Unternehmen seine Theilnahme nicht entzogen hat, und Prinz Adalbert von Preußen, der inzwischen durch den Tod abberufen und an dessen Stelle Se. königl. Hoh. Prinz Friedrich Karl von Preußen eintrat, sowie der Senat von Bremen und Hamburg.
Die Aufgabe, welche sich die Gesellschaft zu lösen vorgesteckt hat, ist zunächst die wissenschaftliche Erforschung der noch unbekannten Gebiete Central-Afrikas. Diese Aufgabe in Angriff zu nehmen, schien durch die Umstände geboten. Es wurde beschlossen, den Westen Afrikas zum Ausgangspunkt zu nehmen, um von dort her die neuerdings vorzugsweise im Osten geförderten Entdeckungen zu ergänzen, und als geeignetste Localität erwies sich die noch nie von einem wissenschaftlichen Reisenden besuchte Loangoküste. Hier zeigte sich zugleich die beste Gelegenheit für Begründung einer Station, um zweierlei Zwecke zu erreichen, einmal nämlich, um der in das Innere abzusendenden Expedition einen festen Standpunkt zu geben, und dann, um den mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigten Gelehrten einen bequemen Aufenthaltsort zu gewähren.
Da die Zwecke der Gesellschaft zunächst rein wissenschaftlicher Natur sind, so fand man in den vorbereitenden Schritten zu dem Unternehmen ein sehr freundliches Entgegenkommen von Seiten der holländischen „afrikanischen Landesvereinigung“, welche ihren Sitz zu Rotterdam hat. Es traten so günstige Umstände zusammen, daß man ohne Zaudern zur Anwendung einer Expedition schreiten konnte.
Als Führer der Expedition fand sich glücklicher Weise, wie wir jetzt schon mit Genugthuung sagen können, eine vortrefflich geeignete Persönlichkeit, Herr Dr. Paul Güßfeldt aus Berlin. Güßfeldt ist sowohl durch seine gediegene wissenschaftliche Bildung, wie durch seine vorzüglichen Charaktereigenschaften, die ihm schon während des Krieges gegen Frankreich, welchen er als Officier mit Auszeichnung mitmachte, die Liebe seiner Cameraden und Untergebenen erwarben, ganz zu solcher Führerschaft geeignet.
Wohin aber sollte die Expedition sich wenden? Von Norden und Osten aus ist die Erforschung Afrikas von Deutschen wiederholt in Angriff genommen worden, niemals aber von der Westküste aus. Die Westküste wurde zwar von dem bekannten Professor Bastian im Jahre 1857 besucht, doch galt es damals nur, von der Küste bis Ambassi (S. Salvador) vorzudringen, was unserm berühmten Forscher auch gelang und bei welcher Gelegenheit er damals die Wahrnehmung machen mußte, daß die Sclavenhändler Jeden, der es nur wagen wollte, in das Innere vorzudringen, getödtet haben würden. Der Sclavenhandel dauerte bis zum Beginne der sechsziger Jahre fort, mußte aber endlich als nicht mehr gewinnbringend aufgegeben werden. Die bis dahin dem Sclavenhandel ergebenen Portugiesen mußten sich nun dem legitimen Handel zuwenden. Sie bildeten unter sich eine „Compania dos Mercantes del Norte“, die indeß nicht von langer Lebensdauer war. Die Holländer, welche neben den Portugiesen und Engländern unter dem vierten bis sechsten Grade südlicher Breite nördlich vom Congo-(Zaïre-)Flusse und an der Loangoküste zerstreute Factoreien besaßen, übernahmen sämmtliche Factoreien der liquidirenden „Compania“ und stellten die bisherigen Eigenthümer als ihre Agenten an, während der eigentliche Handel in sehr geschickter Weise von Rotterdam aus organisirt wurde.
So hatten sich in dem Zeitraume von siebenzehn Jahren, wo Bastian zuerst diese Küste besuchte, die Verhältnisse vollständig geändert, und Bastian durfte, auf umfangreiche Studien, welche er über diese Küste angestellt hatte, fußend, sich der Hoffnung hingeben, daß ein Eindringen in das Innere Afrikas von der Loangoküste aus möglich sei.
Für die Wahl, die Westküste als Ausgangspunkt der Expedition zu nehmen, war auch die wichtige, durch Schweinfurth’s und Livingstone’s letzte Reisen gewonnene Wahrnehmung, daß sie in ihren Endstationen bereits die geographischen Provinzen West-Afrikas erreicht hatten, bestimmend, denn Flora, Fauna und Menschenleben gehörten dieser an.
Alle diese neuen Anschauungen weckten nun eine rührige Thätigkeit in geographischen Kreisen; das von Berlin ausgehende Unternehmen erfreute sich der lebhaftesten Theilnahme, und reiche Beiträge flossen der Casse der „Afrikanischen Gesellschaft“ zu.*[1] [614] Dr. Güßfeldt selbst zeichnete sechstausend und Bankdirector G. H. W. Bergmann fünftausend Thaler; von den Aeltesten der Kaufmannschaft von Berlin, aus Bremen, Hamburg, Dresden, Leipzig und anderen Orten gingen größere Beiträge ein, auch die Huld des Kaisers Wilhelm, des Königs von Sachsen wurde dem Unternehmen zugewandt, das außerdem durch allerhöchste Bestimmung aus dem kaiserlichen Dispositionsfond unterstützt wurde und von dem Auswärtigen Amte in verschiedener Weise schätzbarste Förderung erhielt.
Nachdem Alles auf das Beste hergerichtet, verließen die Mitglieder der Expedition im Mai 1873 Europa. Der unermüdliche und für die Wissenschaft keine Opfer scheuende Professor Bastian, der Vater und zunächst die Seele der Expedition, eilte unaufgefordert aus eigenem Drange und aus eigenen Mitteln über Lissabon nach der Westküste Afrikas.
Dr. Güßfeldt, der mit seinem Begleiter, Lieutenant von Hattorf, über Liverpool mit dem englischen Postdampfer „Nigritia“, auf welchem er seine gesammte Ausrüstung eingeschifft hatte, die Reise antrat, hatte bekanntlich das Unglück, im Juni bei Sierra Leone zu scheitern, bei welcher Gelegenheit er den größten Theil seiner Ausrüstung einbüßte. Doch durch das thätige und schnelle Eingreifen des Vorstandes der „Afrikanischen Gesellschaft“, damals unter der Leitung des Herrn Professor Neumayer, Vorstand des hydrographischen Amtes der kaiserlichen Marine, wurde rasche Abhülfe geschaffen und der Verlust gedeckt.
Am 2. Juli erreichte Professor Bastian die holländische Factorei Kabinda, nach Dr. Güßfeldt’s Beobachtung unter 5° 33′ 21,5″ südlicher Breite gelegen. Bastian war nicht wenig überrascht, von Dr. Güßfeldt hier noch nichts zu hören; er mußte ja zu dieser Zeit, wenn ihm kein Unfall zugestoßen war, bereits gelandet sein, und nicht ohne Besorgniß ging Bastian nach Banana, der Hauptstation der holländischen Factoreien. Letzteres liegt an der Mündung des Zaïre oder Congo, nach Güßfeldt’s Beobachtung unter 6° 1′ 25,4″ südlicher Breite. Hier erfuhr Bastian die Hiobspost von dem gestrandeten Schiff; er begann nun sofort eine Recognoscirungsreise durch die Küstenländer Kabinda, Tschiluango und Loango, die uns bis dahin vollständig unbekannt waren. Am Quillu mußte er Halt machen, da er inzwischen von der Ankunft Güßfeldt’s unterrichtet war.
Am 25. Juli 1873 erreichten Güßfeldt und von Hattorf Banana, von wo aus Güßfeldt alsbald nach Landana in der Landschaft Loango aufbrach, und der 5. August führte diesen mit Bastian zusammen.
Es lag von vornherein im Plane des ganzen Unternehmens, an einem geeigneten Punkte an der Küste eine Station zu errichten, in welcher die Personen Standquartiere nehmen sollten, welchen einestheils die Pflicht oblag, die Verbindung zwischen der nach dem Innern vorgehenden Expedition und dem Vorstand, respective der Gesellschaft, im Vaterlande zu unterhalten, und anderntheils wissenschaftliche Beobachtungen und Sammlungen zu machen. Es war nun auch die erste Sorge der beiden Führer der Expedition, ich sage, der beiden Führer der Expedition, weil Bastian als der geistige Führer und Güßfeldt als der factische Führer auf afrikanischem Boden zu betrachten, den geeigneten Platz für die Station zu ermitteln. Anderthalb Meilen nördlich von Landana, unter fünf Grad neun Minuten südlicher Breite (nach Güßfeldt’s Messung), fand man diesen Ort, der sich Chinchoxo nennt.
Chinchoxo oder Chinchoncho war eine verfallene Factorei, die nun zu einer wohnlichen Stätte umgeschaffen ist. Ja, aus der vor wenigen Wochen abgegebenen Nr. 8 des Correspondenzblattes [615] geht hervor, daß auf der Station noch ein zweites Wohnhaus errichtet ist und daß Herr Soyaux, Mitglied der Expedition, auch schon einen Garten mit Versuchsfeldern angelegt hat. Einen interessanten Anblick dürfte denjenigen, welchen die Einzelheiten einer solchen Expedition noch fremd sind, das Zelt gewähren, in welchem die Waffen und Instrumente der Expedition aufbewahrt werden. Ich lege eine Photographie desselben bei, auf welcher zugleich das für die Passage von Flüssen und Seen angefertigte Boot sichtbar ist.
Bastian kehrte, nachdem die nöthigen Angelegenheiten geordnet und er noch hier und da einen Forscherblick in das Küstenland geworfen, nach Europa zurück.
Am 13. October vorigen Jahres war die Station Chinchoxo so weit hergestellt und eingerichtet, daß die Expedition nun selbstständig an der Küste existiren und Dr. Güßfeldt einer ferneren Aufgabe näher treten konnte, und bereits am 16. October brach derselbe von Chinchoxo aus nach den Landschaften Mayombe und Yangela auf. Es gelang ihm, in das bisher für verschlossen gehaltene Innere einzudringen, ohne daß man
ihm ein Ziel steckte. Da diese wichtige Reise doch eben nur eine vorläufige Recognoscirung war, so mußte er sich selbst ein Ziel stecken. Nachdem Güßfeldt den Quillufluß, einen Strom, der unserm Rhein an Größe kaum etwas nachgiebt, bis zu einer Entfernung von zweiundsechszig Miles (circa sechszehn deutsche geographische Meilen) von der Mündung verfolgt, was einer Entfernung von Köln bis Bingen gleichkommt, und seinen Lauf niedergelegt, kehrte er nach Chinchoxo zurück. Die Reise dauerte bis zum 2. December 1873 und war eine recht erfolgreiche, wenn auch recht beschwerliche. Güßfeldt scheint das innere Hochplateau erreicht zu haben, denn er beobachtete Höhen von vierhundertdreißig bis siebenhundert Metern und spricht von Gegenden, die uns an heimathliche oder doch europäische erinnerten. „Diese Gegend,“ sagt Güßfeldt, „schien für Deutsche oder Schweizer geschaffen zu sein, aber nicht für Schwarze, und es erschien mir fast wie Hohn, daß ich mich hier, statt in ein reinliches kleines Wirthshaus einzutreten, mit den Schwarzen wegen der zu bezahlenden Fazenda herumzanken mußte.“
Nach glücklich überstandener Reise versorgte sich Güßfeldt mit den nöthigen Begleitern zu seiner nun schon angetretenen Reise nach dem Innern. Die erforderlichen Instrumente und Schußwaffen waren auch inzwischen eingelaufen. Auch hatte der Vorstand nach und nach noch die folgenden Mitglieder der Expedition nach der Station Chinchoxo hinausgesandt: die Herren Dr. med. Falkenstein, Lindner, Soyaux, Botaniker, Dr. phil. Lenz, Geolog, und in neuester Zeit Dr. phil. Pechuel-Lösche. Letzterer ist besonders befähigt, Dr. Güßfeldt in allen Arbeiten zu unterstützen und nach mancher Richtung hin das Feld der Thätigkeit zu erweitern.
Die Station ist so weit vorbereitet, nun auch strengwissenschaftliche Gelehrte aufzunehmen, und während sich diese Mittheilung im Druck befindet, bereitet sich ein jüngerer, vielversprechender Gelehrter, Dr. Georg Lohde aus Leipzig, vor, nach der Station Chinchoxa abzureisen. Dr. Lohde. hat sich bereits durch mehrere wissenschaftliche Abhandlungen, z. B. „Ueber die Entwickelungsgeschichte und den Bau einiger Samenschalen,“ Inauguraldissertation, ferner „Ueber Insectenepidemien, welche durch Pilze hervorgerufen werden“ u. A., rühmlichst hervorgethan. Lohde wird nicht in das Innere gehen, sondern nur auf der Station morphologische und physiologische Forschungen anstellen.
Zum Schluß dieser ersten Mittheilung*[2] über die deutsche Expedition geben wir noch Einiges über Land und Leute an der Congoküste.
Wie die Loangoküste unter den Küstenländern Westafrikas eine klimatisch bevorzugte Oertlichkeit bildet, so zeichnen sich auch die Bewohner derselben vor den anderen Negern durch ihre Intelligenz aus. Sie verstehen sehr zierlich in Metall zu arbeiten, in Holz oder auf Elfenbein zu schnitzen; sie stellen feine Thonwaaren her und verfertigen Matten mit einer Mannigfaltigkeit geschmackvoller Muster. Die ersten Entdecker rühmen die feinen Zeuge, die aus Bastfasern gewebt werden, aber ein seidenartiges Aussehen hatten, und noch jetzt kommen mitunter solche Manufacturen aus dem Innern, während an der Küste selbst durch die Einfuhr baumwollener Stoffe aus Europa die einheimische Industrie verdrängt ist. Ausnehmend gefällig sind die sogenannten Mafuka-Mützen gewirkt, das heißt die von den Mafuka und anderen Häuptlingen als Standeszeichen getragenen Mützen, von denen sich einige Exemplare in dem ethnographischen Museum in Berlin befinden, ebenso wie mit mühsamer Sorgfalt hergestellte Körbe, die in großer Zahl ineinander geschachtelt sind.
Die königliche Würde ist in all’ diesen Negerländern mit vielen lästigen Verpflichtungen verknüpft, indem die Untertanen sehr weitgehende Anforderungen an den Landesherrn stellen. Es wird ihm Schuld gegeben, wenn keine Fische in’s Netz gehen, wenn die Ernten fehlschlagen oder wenn der Regen ausbleibt, und im letzten Falle wird von dem Fürsten verlangt, daß er Regen mache. Dies ist ein bedenkliches Ding, da ein Fehlschlagen des Versuches leicht einen gefährlichen Aufstand hervorrufen könnte, und die Klügeren unter den Fürsten lassen sich deshalb persönlich auf nichts ein, sondern schicken einen verantwortlichen Minister, der die weiteren Folgen, also auch wenn es mißlingt, zu tragen hat.
Der Lebenslauf des Einzelnen fließt ziemlich gleichförmig dahin, und auch der Stand macht keinen großen Unterschied. Zwar besteht auch an der Loangoküste, wie überall in Afrika, die Sclaverei, doch ist diese Haussclaverei eine weit mildere Form der Leibeigenschaft, verglichen mit dem Geschicke der Sclaven in Colonien, wo sie zum harten Felddienste angehalten werden. Unter den Freien scheidet sich eine Classe von Vornehmen (Fume genannt) ab, zu denen auch die fürstlichen Familien gehören, doch unterscheiden sie sich ihrem äußeren Auftreten nach kaum von dem gewöhnlichen Volke, außer daß sie meistens von einem mehr oder weniger zahlreichen Gefolge umgeben sind.
Wenn ein junger Weltbürger in’s Leben tritt, wird er für [616] die ersten Monate sorgfältig Aller Blicke entzogen, und selbst der Vater darf ihn mitunter nicht sehen. Die Mutter hat oft schon bald nach der Geburt ihren gewöhnlichen Hausgeschäften nachzugehen; so viel sie es aber durchführen kann, bleibt sie in dem innersten Gemache des Hauses mit dem Neugeborenen verborgen, bis dieser selbstständig auf seinen Beinchen stehen kann und Gehversuche macht. Dann werden die Fetischpriester gerufen und allerlei Ceremonien angestellt, wodurch der erste Ausgang des Kleinen, der mit Amuletten behängt ist, geweiht wird.
Die Kinder wachsen ungebunden auf, unterstützen aber bald ihre Eltern in deren Beschäftigungen, mehr aus freiem Antriebe, als weil dazu gezwungen. Die Eheschließung besteht in einem Kaufe, wie in anderen Theilen Afrikas, und so bald der junge Mann sich einiges Vermögen erworben hat, bleibt sein erster Gedanke, eine Frau zu erwerben. Manche lassen es bei dieser Einen bewenden; Andere fügen mit weiterer Ausdehnung ihres Haushaltes noch mehr Frauen hinzu, doch bewahrt dann die Erste und Aelteste den Rang der Hausfrau und sie ist kenntlich an einem dicken Kupferringe, Lemba genannt, den sie am Arme trägt. Ihr sind auch die Schlüssel zu dem Besitzthume des Mannes anvertraut, und den Raum, wo dasselbe aufbewahrt wird, darf außer ihr selbst Niemand betreten.
Die Bestellung des Bodens bleibt den Frauen überlassen. Jeder, der eine Stelle für den Anbau lichtet, wird dadurch Eigenthümer derselben, und obwohl deshalb in der Nähe größerer Dörfer die Umgebung bereits parcellirt zu sein pflegt, bleibt doch im Buschwalde Platz genug für Jeden, der sich der Mühe unterziehen will, das Unkraut auszuroden. Die Männer bringen ihr Leben in Nichtsthun hin, mit Rauchen und Palmweintrinken, es sei denn, daß sie mit Handelsgeschäften oder durch Erörterung ihrer Streitigkeiten in den sogenannten Palavern gelegentlich in Anspruch genommen werden. Die Jagd ist für ihren Geschmack zu mühsam, und sie sehen sich nur selten dazu veranlaßt, wenn nicht vielleicht sich ein Leopard in der Nähe des Dorfes zeigt und Menschenleben bedroht. Dann mag es geschehen, daß sich die Besorgten zusammenthun und das Raubthier zu erlegen suchen. Wenn dies nun aber gelingt, so folgt aus alter Ueberlieferung eine Reihe eigenthümlicher Gebräuche, indem der Leopard als ein „Fürst des Waldes“ betrachtet wird und der Jäger nach der Volksansicht zu einer Sühne verpflichtet ist, weil er an die geheiligte Person eines „Fürsten“ Hand angelegt. Es wird deshalb ein Scheingericht zusammenberufen, vor dem er sich mit der Nothwehr zu rechtfertigen hat, und erst nachdem er dort freigesprochen ist, erhält er von den übrigen Dorfbewohnern ehrenvolle Dankbezeigungen, weil er sie vor einer ernstlichen Gefahr bewahrt hat. Oft giebt indeß die Erscheinung eines Leoparden in bevölkerten Gegenden Anlaß zu Hexenprocessen, indem man glaubt, daß in der Verkleidung desselben ein Zauberer stecke, ähnlich wie in Europa früher die Vorstellung von den Wehrwölfen verbreitet war. Auch wenn von einem Krokodil ein Mensch gefressen worden ist, wird dadurch manchmal ein Inquisitionsverfahren eingeleitet, um die Hexe oder den Zauberer ausfindig zu machen, durch deren Böswilligkeit ein solches Unglück veranlaßt sei. Ja selbst jeder gewöhnliche Todesfall aus natürlichen Ursachen kann eine derartige Untersuchung hervorrufen, indem die Verwandten des Verstorbenen Solche, die sie demselben feindlich glauben, als Thäter beschuldigen, und es kommt häufig genug vor, daß für einen Einzelnen, der an Krankheit oder Altersschwäche verstorben ist, die doppelte oder dreifache Zahl von Menschenleben, wenn nicht mehr, in Hinrichtungen geopfert wird. Ueber alles Dieses findet sich Näheres in dem vortrefflichen Buche von Prof. Bastian: „Die deutsche Expedition an der Loangoküste“.
Die Leitung der Anstalt ruht in der Hand eines Directors, zweier Vicedirectoren und eines Spirituals, welche sämmtlich Priester sind. Die drei Ersten haben die Hausordnung zu überwachen, die Alumnen spazieren zu führen, bei ihren Mahlzeiten zugegen zu sein und ihre Studirstunden zu inspiciren; der Spiritual sorgt für die rein geistliche Seite, besonders durch sogenannte Exhorten (Predigten).
Des Morgens haben Alle nach dem gegebenen Glockenzeichen aufzustehen, was, zumal im Winter, einige Ueberwindung kostet, da die Dormitorien (Schlafsäle) nicht geheizt sind. Des Vormittags werden die Collegien besucht, und erst beim Mittagstisch finden sich wieder Alle zusammen. Die Kost ist eine ziemlich einfache, sehr oft auch eine durchaus nicht gut zubereitete. Man sollte meinen, wenn die Vorsteher während der Mahlzeit anwesend seien (freilich ohne sich daran zu betheiligen, denn sie speisen für sich und wahrlich keine Seminaristenkost), so würden gerechtfertigte Klagen vorgebracht werden können. Allein deshalb scheinen die Vorsteher nicht hier zu sein, vielmehr, damit keine Bemerkungen über die Kost gemacht werden. Die Speisewirthschaft führt nämlich ein angestellter Wirth, und wenn dessen Gattin nur den Mittagstisch der Vorstände gut zu besetzen weiß, so kann die Kost der Seminaristen knapp und schlecht ausfallen.
Herr und Frau Wirth gelten überhaupt etwas, denn es kam der Fall vor, daß beim Begräbniß einer Wirthsfrau die Alumnen aufgefordert wurden, der Todten das letzte Geleite zu geben, während man kurz zuvor beim Tode eines verdienten Domherrn dasselbe kaum gestattete, weil dadurch eine Stunde Collegium versäumt wurde.
So drücken denn die Meisten die ihnen zuertheilten Speisen mit stoischer Gelassenheit hinunter. Sie erhalten an besonderen Festtagen auch ein Seidel Bier von fraglicher Qualität dazu. Manche machen dabei heitere Gesichter, aber nicht aus Abtödtung – bewahre, sondern weil der Herr Director oder Vicedirector sie beobachtet. Dadurch steigt man in der Gunst der Vorsteher, und als Begünstigter erhält man zunächst das Ehrenamt eines Präfecten, das ist Aufsehers über seine Collegen und hat die Anwartschaft auf eine gute Caplanstelle oder gar darauf, einmal als Lehrer an die theologische Facultät zu kommen. Aber wehe dem Unglücklichen, der den Rücken nicht krümmen kann, der nicht gelernt hat sich zu beugen und zu schweigen! Wehe ihm, wenn er sich nicht hergeben kann oder mag zum „Spitzel“ und Angeber! Seine Carrière ist halb verdorben, und um seine erste Caplanstelle wird er kaum zu beneiden sein.
An den Tagen, an welchen Collegien gehalten werden, ist der Spaziergang auf ein Minimum reducirt und kann jeder nach Belieben ihn wählen. Man sieht dann meist die schwarzen Kutten mit den violetten Binden durch die Karlsgasse über den Altstädter Ring, die Zellnergasse, den Graben und die Ferdinandstraße sich bewegen, um über das Franzensquai zurückzukehren. Der Besuch der Gasthäuser ist den Alumnen übrigens nicht gestattet, aber trotzdem kann man sie in dieser freien Zeit nicht selten bei einem Glas gutem „Pilsner“ sitzen sehen, oft in Bierhäusern nicht eben ersten Ranges, weil sie hier sichrer zu sein glauben.
An Ferialtagen gehen sie unter Aufsicht wenigstens eines Vorstehers spazieren, und es macht einen eigenthümliches Eindruck, wenn die jungen Leute, die wohl sämmtlich das zwanzigste Jahr überschritten haben, gleich Schulknaben paarweise „ausgetrieben“ werden.
Auch die Studirsäle sind gemeinsam, und da sitzen sie nun, die armen Schüler, Jeder vor seinem schwarzen Pulte, und studiren – auf Commando. Nicht, wenn es den Einzelnen drängt, sich dem Studium hinzugeben, nein, zu festgesetzter Stunde muß er daran gehen, zu „ochsen“, ob er disponirt ist oder nicht. Dann herrscht Stille in dem weiten Raume, und das spähende Auge des Vorstehers sieht überall nach, ob man sich auch blos mit der „Gottesgelehrsamkeit“ befaßt. Und hier wird die Heuchelei neuerdings großgezogen, denn nur Wenigen ist es gegeben, auf Befehl zu studiren; die Meisten lassen, das Auge auf das Buch gerichtet, ihre Gedanken nach allen Richtungen hin schweifen oder wissen geschickt dem theologischen Werke eine andere Lectüre unterzuschieben, hauptsächlich die Tagesblätter, zumeist czechische.
Das führt mich auf einen anderen Punkt. Die Erziehung [617] im Seminare ist eine durchaus nationale und nirgends kann das czechische Nationalbewußtsein und der Deutschenhaß mehr cultivirt werden, als hier. Kein Blatt ist schlecht genug, das nicht gelesen werden dürfte, wenn es nur in czechischer Sprache nationalen Tendenzen huldigt. Und das wird von den gleichfalls czechischen Vorstehern sehr unterstützt. Die Alumnen sollen ja Leiter des Volkes werden; in ihnen muß darum der Geist der Nation lebendig sein, der Geist „der großen, herrlichen czechischen Nation“. Die Anzahl der Deutschen im Kloster schmilzt deshalb auch immer mehr zusammen; sie sollen vier Jahre lang die Chicanen nationalen Uebermuthes tragen und dann die dürftigsten, beschwerlichsten Stellen im Erzgebirge übernehmen, denn selbst an bedeutendere deutsche Stationen schickt man gern czechische Seelsorger, vielleicht, damit sie auch hier Propaganda für die „herrliche Nation“ machen.
Rücksichtslosigkeiten gegen deutsche Alumnen sind an der Tagesordnung. Die Umgangssprache ist selbstverständlich die czechische, auch bei Tische; wenn der Deutsche mitsprechen will, muß er eben czechisch lernen, obwohl die Czechen alle des Deutschen mächtig sind, weil sie einsehen, daß ihre Zunge nur einen beschränkten Kreis umfaßt.
Mit dieser häuslichen Erziehung, welche nicht eben geeignet ist, tüchtige Charaktere heranzubilden, welche die jungen Leute nicht fromm, sondern zu Frömmlern und einseitigen Fanatikern macht, hängt auch die theologische Ausbildung zusammen. Das sind nicht freie, frische Studenten, welche hier vor dem Katheder sitzen, das sind ganz armselige Schuljungen in der Kutte, welche in ungeheurem Respecte vor dem Professor zerfließen, besonders wenn derselbe zugleich Seminar-Vicedirector ist. Und deutsche Hörer sitzen dabei und schlucken die nationalen Bissen mit hinunter, weil der Vortragende eben Vicedirector ist.
Fast in jeder Stunde wird lectionsweise abgeprüft, und es ist ein peinliches Vergnügen, wenn die großen Schulknaben das Eingelernte herunterleiern. Das Uhrwerk wird mit der Frage aufgezogen und läuft dann pünktlich ab. Daß damit dem Verstande nicht genützt wird, ist klar. Manchmal ist einer der tüchtigeren Professoren, wie der für Moral, so malitiös, eine Zwischenfrage zu thun; dann stocken die Räder des Gedächtnisses, und der denkfaule Verstand vermag sie nicht in Gang zu bringen. War der unglückliche Professor ein Deutscher, dann wehe ihm! Er wird auf alle mögliche Weise chicanirt, aber nur hinter seinem Rücken.
Wenn das Gedächtniß so vorwiegend cultivirt wird, so liegt das großentheils auch daran, daß der alte Zopf es verlangt, daß die meisten theologischen Disciplinen in lateinischer Sprache vorgetragen und abgeprüft werden. Vom Gymnasium bringt Keiner ein derartiges Wissen mit, daß er sich in der fremden Sprache mit Gewandtheit und Sicherheit ausdrücken könnte. So bleibt bei der strengen Forderung nichts übrig, als die so und so vielen Seiten, welche zur nächsten Stunde abgeprüft werden, wortgetreu auswendig zu lernen.
Wenn man nun durch vier Jahre immer „mitgebüffelt“ hat, so lernt man endlich die fremde todte Sprache radebrechen, und das geschieht denn in einer Weise, daß sich dabei dem rechtschaffenen Philologen wohl alle Haare sträuben. Und dabei wird so viel Unpraktisches und Unklares, so viel leerer Ballast für das Leben geboten, daß der Hörer gar nicht über das Oberflächliche hinauskommt, daß er bei dem beständigen Memoriren ermüdet; daher denn auch die begründete Klage Aller, welche die Prager theologische Facultät besuchen, daß das dortige theologische Studium das unfruchtbarste und trockenste sei, für Herz und Verstand nichts biete und keinen praktischen Nutzen gewähre. Das liegt wohl auch mit an einem Theile der Lehrkräfte.
Es giebt unter den Lehrern hier allerdings auch tüchtige Männer, wie der Professor der orientalischen Sprachen, ein kleiner lebhafter Mann mit blitzenden Augen, in die er zeitweilig ein Glas klemmt, oder der Lehrer der Moral, eine angenehme Persönlichkeit mit rundem, intelligentem, geröthetem Gesicht, einem an Phlegma grenzenden Gleichmuth und einer großen Gewandtheit in der lateinischen Sprache. Der letztere war der Adlatus des Prager Erzbischofes bei dem letzten Concil zu Rom und hat wohl den größten Antheil an der ursprünglichen Opposition des Cardinals Schwarzenberg gegen das neue Dogma.
Indeß bedeutendere Gelehrte sind immerhin selten, und das ist für den begreiflich, der da weiß, wie man meist Universitätslehrer wird. Wer das Rädchen des Gedächtnisses seiner Zeit als Seminarist am besten schnurren ließ, wer den Rücken am meisten zu krümmen vermochte, wem es ein Vergnügen machte, der peinliche Aufseher seiner Collegen zu sein, der besitzt alle Eigenschaften, auf das Katheder erhoben zu werden. Ob der Mann wirklich einen geistigen Fond, ein geeignetes Wissen, die Gabe des Vortrags besitzt, ist wohl Nebensache – wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch Verstand – und so wird denn der gewesene Seminarist Adjunct der theologischen Facultät und klettert an der Leiter der akademischen Würden, geschoben von seinen Gönnern, hinauf bis zum Doctor und Professor. Ein Deutscher hat übrigens selten das Glück, für diese Laufbahn ausersehen zu werden. –
In monotonem Trabe geht das Semester bei fortwährendem „Vorlesen“ und ebenso consequentem Abprüfen zu Ende bis zur Zeit der Examina. Es fehlt einzelnen Prüfungen übrigens nicht an komischen Seiten. So wird z. B. beim Einüben des Taufritus ein hölzernes Wickelkind mit beweglichem Kopfe verwendet, und dieses in aller Form Rechtens getauft, und zwar mit Zuziehung von Pathen und Hebamme, als welche letztere natürlich auch ein Seminarist fungirt.
Ja, Abhülfe thäte hier Noth in mannigfacher Weise. Diese Facultät ist beinahe ein losgerissenes Glied vom Körper der Universität, trägt nicht den Charakter einer Hochschule, sondern blos den einer erzbischöflichen Anstalt.
Ach, daß Lehr- und Lernfreiheit, daß Freiheit im Umgange und Ausgange, im Leben und Studium ihnen gegönnt würde, daß die theologische Facultät in innigste Beziehung zu dem Ganzen der Hochschule träte! Die katholische Kirche würde Priester erhalten, welchen das Leben nicht ganz fremd wäre, welche sich darin mit Anstand zu bewegen wüßten, während jetzt ein Pfaffengeschlecht voll Einseitigkeit und Heuchelei erzogen wird, das zum Theil oberflächliche Zeloten, zum Theil moralisch verkommene Individuen enthält, die für Staat und Kirche nicht nützen. –
Nach drei Jahren kam der Zeitpunkt, an welchem wir die feierliche Ordensprofeß abzulegen hatten. Der Tag fiel in die Ferien, welche wir ohnehin in unserem Kloster zuzubringen gewohnt waren. Drei Tage zuvor hielten wir die üblichen Exercitien in der bereits früher angegebenen Weise ab und gingen von Thür zu Thür, um das Votum der Capitularen zu dem bevorstehenden Acte einzuholen, selbstverständlich eine bloße Formalität, da das Votum wohl niemals verweigert wird.
An dem bestimmten Tage (es müssen seit Ablegung der einfachen Gelübde drei Jahre und ein Tag verflossen sein, weil sonst binnen der folgenden fünf Jahre eine Ungültigkeitserklärung möglich wäre) wurde die eigentliche Feier in aller Frühe und Stille in dem Capitelsaale im Beisein der Capitularen vorgenommen. Es war ein Act, der vielfach an die Einkleidung erinnerte, nur ungleich wichtiger war. Fast dieselben Fragen wurden seitens des Abtes vorgelegt und dieselben Antworten ertheilt. In die Hände des Prälaten wurde knieend das Gelübde des Gehorsams, der Armuth und der Keuschheit abgelegt und mit einem Handkuß besiegelt. Ein neues, zuvor eingesegnetes Ordensgewand wurde angelegt und unter Absingung des Salve regina begab sich der Zug zur Kirche. Damit war der folgenschwere Act eigentlich vorüber, aber zur Erbauung des Publicums wurde derselbe mit weit größerer Feierlichkeit während des Hochgottesdienstes noch einmal wiederholt. In Gegenwart des gesammten Capitels und einer zahlreichen Versammlung von Gläubigen lagen wir vor dem Hochaltare auf dem Angesichte, während der Chor über uns die Litanei zu allen Heiligen betete. Nach deren Beendigung erhoben wir uns auf die Kniee und sangen nun dreimal mit stets erhöhter Stimme: „Suscipe me, domine, secundum eloquium tuum, et vivam“, worauf der Chor entsprechend antwortete. Nun erhoben wir uns der Reihe nach, traten an den Altar und lasen die schon früher niedergeschriebene Profeßformel in lateinischer Sprache vor, worauf dieselbe auf dem Altarblatt in Gegenwart des Abtes und seiner Assistenten eigenhändig unterschrieben und dem äbtlichen Secretäre übergeben wurde. Daß Einigen die Stimme beim Vorlesen, die Hand beim Unterschreiben zitterte, ist wohl begreiflich und verzeihlich.
[618] Nun folgte der dritte Theil der Feier. Der Abt ließ sich, die Infel auf dem Haupte, auf einem rothsammtenen Faldistorium (Bischofssessel) nieder, das auf die höchste Altarstufe gestellt wurde, und vor ihm knieten wir nun der Reihe nach hin. Der schwere Chormantel, der bisher noch um unsere Schultern lag, wurde abgenommen; man bekleidete uns mit dem Rochet (einem kurzen hemdartigen weißleinenen Gewande), sowie mit dem Almutium (einem grauen leichten Pelzkragen mit Capuze) und drückte das Barett auf unser Haupt. Hierauf legte Jeder seine gefalteten Hände in die gleichfalls gefalteten des Abtes, und nach nochmaligem Gelübde und Handkuß folgte der Bruderkuß, welcher zuerst dem Abte, dann allen übrigen Brüdern ertheilt wurde. Auffallend, fast schmerzlich war es, daß einzelne Brüder sich dem letzteren consequent entzogen.
So waren die neuen Capitularen fertig, wenigstens äußerlich; wie es innerlich bei den Einzelnen aussah – Gott und der Betreffende haben es gewußt. Am nächsten Morgen erhielten wir unter allerlei, mitunter fast drastischen Ceremonien (eine Thür einmal auf- und zumachen, einmal an einem Glockenstrange ziehen etc.) die vier niederen Weihen: Akolythat, Ostiariat, Lectorat und Exorcistat, und mußten uns die Tonsur auf dem Hinterhaupte ausscheeren lassen, die allerdings in Kurzem wieder verwachsen war und erst, der Formalität halber, bei der Priesterweihe wieder erneuert wurde. Von den Priestern selbst trug beinahe Keiner dieses geistliche Abzeichen, außer wem die Natur in ihrer oft zu reichen Güte dazu verholfen hatte.
Noch ein Jahr brachten wir nun in den Hallen des „gastfreundlichen“ Klosters der Bettelmönche in Prag zu, sowie in den dumpfen Sälen der theologischen Facultät mit ihrer dem Geiste so wenig gesunden Luft, dann schlossen wir äußerlich unser Studium mit den höheren Weihen des Subdiaconates, Diaconates und Presbyterates ab und wurden mit dem letzteren „hochwürdige“ Herren, während wir bisher nur als „ehrwürdige“ gegolten hatten.
Nun erst trat die Pflicht des Gehorsams eigentlich an uns heran, indem Jeder nach dem Ermessen des Abtes seinen bestimmten Wirkungskreis zugetheilt erhielt, entweder als Lehrer, oder, was meist der Fall war, als Seelsorger. –
Es ist ein wesentlicher Vortheil der Ordenspriester, daß sie bei eintretendem Alter, bei Krankheit, oft auch aus weniger triftigen Gründen, in das Kloster selbst zurückkehren und hier, vor Nahrungssorgen geschützt, ihr Leben zubringen können. So fehlt es dem Kloster selbst nie an Bewohnern, freilich an Bewohnern, deren Jeder ein Original ist oder geworden ist, deren Jeder seine mehr oder weniger ausgeprägten Eigenthümlichkeiten besitzt, die wenig geeignet sind, die friedliche Einheit einer Familie aus diesen heterogenen Elementen zu bilden.
Ist das Friede, wenn der Bruder das Messer auf den Bruder zücken möchte, wenn er mit geladenem Gewehre demselben durch die Hallen des friedlichen Klosters nacheilt? Der das gethan hat, soll irrsinnig sein, sagt Man. Derselbe Mann hat übrigens jedem Neuaufgenommenen dringend zum Austritte gerathen. Die Bilder des Friedens sind selten in den Hallen des Klosters, weil nicht immer Beruf, weil äußerer Zwang, weil materielle Verhältnisse die Meisten hinter diese Mauern bringen, die dann in ihrer Unzufriedenheit sich und Anderen das Leben verbittern.
Es giebt unter ihnen gewiß auch ehrenwerthe Männer, denen ihr Beruf heilig ist, aber sie würden außer dieser Genossenschaft Gott ebenso gut, vielleicht besser dienen als in ihr.
Wer mag es dem Manne verargen und einen Stein auf ihn werfen, der wohl nach heftigem Seelenkampfe und in der Ueberzeugung, Recht zu thun, den Muth hat, die Fesseln trotz des Geschreies der Welt und der „Brüder“ zu sprengen? Hat er damit schon seine Kirche verlassen, ist er darum schlecht geworden, verdient er darum Tadel, daß er lieber ein ganzer Mensch als ein schlechter Mönch sein will? Und doch wirft die Kirche selbst, welche die Religion der Liebe lehrt, den Stein auf ihn; sie will ihn nicht dulden; sie stößt ihn aus ihrer Gemeinschaft und legt ihren Fluch auf sein Haupt, obwohl er vielleicht besser war als mancher ihrer „treuen“ Söhne, der ein weiteres Gewissen hat. Es wäre entsetzlich traurig, wenn Jene unfehlbar wären, die den Fluch aussprechen – aber Gott kennt in seiner Vatergüte den Fluch nicht, mit dem man seinen Namen entehrt.
Wiederum müssen wir die Stimme erheben, um zur Linderung eines harten Schicksals, welches vor einigen Wochen über die Bewohner einer uns benachbarten deutschen Stadt hereingebrochen ist, die Nächstenliebe und Barmherzigkeit Aller aufzurufen.
Meiningen ist am 5. September innerhalb weniger Stunden zu einem rauchenden Trümmerfelde geworden: ein Dritttheil der Stadt, zweihundert Häuser, liegen in Asche, und zweitausendsechshundert Menschen, etwa die Hälfte der Einwohner, wissen nicht, woher Brod nehmen gegen den nagenden Hunger, wo das Haupt hinlegen und es schützen gegen Wind und Wetter und den herannahenden Winter.
Hier thut Hülfe, schnelle Hülfe um der Menschlichkeit willen noth. Darum, Ihr Alle, fern und nah, diesseits und jenseits des Oceans, die Ihr den Ruf der Gartenlaube, wenn er um Abwehr des Elends bat, noch niemals überhört habt, hört und helft auch diesmal, helft den Bürgern von Meiningen, die in Noth und Drangsal die Hände ausstrecken und in ihrer schweren Bedrängniß Eurer rettenden Liebe hoffend entgegensehen. Jedes Scherflein ist willkommen, und der Empfang desselben wird dankbar von uns bescheinigt werden. Auf denn, sammelt in allen Kreisen und lindert mit Werken der Barmherzigkeit das unsaglich tiefe Elend braver und unglücklicher deutscher Mitbürger, deren Hab und Gut in wenigen Stunden zu einem Häuflein Asche zusammengesunken ist!
An Liebesgaben können wir heute bereits quittiren: Sammlung des Bibliographischen Instituts in Leipzig (früher in Hildburghausen) 162 Thlr. 6 Ngr.; Redaction der Gartenlaube 100 Thlr.; Ad. Winkler in Sebnitz 1 Thlr.; Alfred 10 Thlr.; Leo Gebhardt 20 Thlr.
Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
In Folge einer Verordnung der kaiserlichen Post werden die nach Erscheinen der ersten Quartalnummer aufgegebenen Bestellungen nur gegen Portovergütung von 1 Sgr. ausgeführt. Wir bitten also unsere Post-Abonnenten, zur Ersparung dieser überflüssigen Ausgabe, ihre Bestellungen
aufzugeben, bei späteren Bestellungen aber den von der Postbehörde octroyirten Groschen zu zahlen und jedenfalls die erschienenen Nummern des Quartals zu reclamiren. Jede Postbehörde hat die Verpflichtung, das Quartal vollständig zu liefern.
- ↑ * Für Diejenigen, welche sich noch an dem Unternehmen zu betheiligen wünschen, sei hier bemerkt, daß der Schatzmeister der Gesellschaft, Herr Le Coq, Berlin, Neue Friedrichsstraße Nr. 37, jederzeit Beiträge in Empfang zu nehmen bereit ist. Auch im Locale der „Afrikanischen Gesellschaft“ und „Gesellschaft für Erdkunde“ zu Berlin, Krausenstraße Nr. 42, zwei Treppen, werden Beiträge und Bestellungen auf das Correspondenzblatt der „Afrikanischen Gesellschaft“ gegen Einsendung von zwei Thalern entgegengenommen. Die Mitgliedschaft der „Afrikanischen Gesellschaft“ ist zu erwerben durch Zahlung von einem Thaler pro Jahr.
- ↑ * Die Gartenlaube wird von Zeit zu Zeit authentische Berichte über die Resultate der Expedition aus der Feder des Dr. Pechuel-Lösche bringen.