Die Gartenlaube (1874)/Heft 32
[507]
No. 32. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
„Nein!“ sagte der Capitain. – „Das geht nicht! – Ich – ich habe Ihnen ein Bekenntniß zu machen, Ella, – auf die Gefahr hin, daß Sie mir dann sofort die Thür weisen.“
„Was haben Sie mir denn zu bekennen?“ fragte die junge Frau erstaunt.
Hugo sah zu Boden. „Daß ich noch immer der ‚Abenteurer‘ bin, dem Sie einst so nachdrücklich den Text gelesen. Gebessert hat ihn das freilich nicht, aber er hat es seitdem doch nicht wieder versucht, mit seinen Thorheiten Ihnen nahe zu kommen, und kann’s auch heute nicht. Also kurz und gut, ich hatte keine Ahnung davon, wer die Bewohner dieser Villa seien, als ich meine Schritte hierher lenkte. Ich ließ mich bei dem mir völlig unbekannten Herrn melden, weil Marchese Tortoni mir von einer jungen Dame gesprochen hatte, die hier in äußerster Zurückgezogenheit lebe, und – ja, das wußte ich vorher, daß Sie mich wieder so ansehen würden.“
Ihr Blick hatte ihn in der That ernst und vorwurfsvoll getroffen; jetzt wandte sie sich schweigend ab und sah durch das Fenster. Es entstand eine Pause, dann trat Hugo an ihre Seite.
„Das war der ‚Zufall’, der mich hergeführt. Nun, Ella? Ich warte auf meine Strafpredigt.“
„Sie sind ja frei und haben keine Pflicht zu verletzen,“ sagte die junge Frau kühl. „Im Uebrigen kann meine Meinung in solchen Dingen wohl schwerlich von Einfluß auf Sie sein, Herr Capitain.“
„Und damit hat der Herr Capitain sich zu entfernen, um das nächste Mal verschlossene Thüren zu finden, nicht wahr?“ In seiner Stimme klang eine unverkennbare Erregung. „Sie sind doch ungerecht gegen mich. Daß ich hier, wo ich völlig Unbekannte zu finden wähnte, einem Abenteuer nachging – nun, das ist eben nichts Neues bei mir, aber daß ich die grenzenlose Albernheit beging, es Ihnen einzugestehen, obwohl mir doch der beste Vorwand zur Täuschung gegeben war, das ist sehr neu, und dazu haben nur Sie mich mit diesen Augen gezwungen, die mich wieder so groß und fragend anblickten, daß ich roth wurde wie ein Schulknabe und nicht von der Stelle konnte mit meiner Lüge. Und dafür bekomme ich nun auch sofort wieder den ‚Herrn Capitain‘ zu hören, der sich, Gott sei Dank, auf eine Viertelstunde aus unserem Gespräch empfohlen hatte.“
Ella schüttelte leise das Haupt. „Sie haben mir die ganze Freude am Wiedersehn verdorben – jetzt freilich –“
„Haben Sie sich denn gefreut? Haben Sie das wirklich?“ rief Hugo, sie lebhaft unterbrechend, mit aufblitzenden Augen.
„Gewiß,“ versicherte sie ruhig. „Man freut sich immer, wenn man in der Ferne Grüße und Erinnerungen aus der Heimath wiederfindet.“
„Ja so,“ sagte Hugo langsam. „Ich hatte ganz vergessen, daß wir nebenbei noch Landsleute sind. Also nur den Deutschen haben Sie in mir gesehen? Da bekenne ich denn doch offen, daß meine Regungen nicht so allgemein patriotischer Natur waren, als ich Sie wiedersah.“
„Trotz der unvermeidlichen Enttäuschung, die Ihnen die Entdeckung bereitete?“ fragte Ella mit einiger Schärfe.
Der Capitain sah sie einige Secunden lang unverwandt an.
„Sie lassen mich das unvorsichtige Geständniß arg büßen, Ella. Sei’s darum! Ich muß es wohl ertragen. Nur eine Frage noch, ehe ich gehe, oder eine Bitte vielmehr. Darf ich wiederkommen?“
Sie zögerte mit der Antwort; er trat ihr einen Schritt näher. „Darf ich wiederkommen? Ella, was habe ich Ihnen denn gethan, daß Sie auch mich von Ihrer Schwelle bannen wollen?“
Es lag ein Vorwurf in den Worten, der seinen Eindruck auf die junge Frau nicht verfehlte. „Ich thue es ja auch nicht,“ erwiderte sie leise. „Wenn Sie mich wieder aufsuchen wollen – Ihnen wird unsere Thür nicht verschlossen sein.“
Mit einer raschen Bewegung ergriff Hugo ihre Hand und zog sie an seine Lippen, aber diese Lippen ruhten ungewöhnlich lange darauf, viel länger als es sonst bei einem Handkuß üblich ist, und Ella schien das zu fühlen, denn sie zog etwas hastig die Hand zurück. Ebenso hastig richtete sich auch der Capitain auf; die helle Röthe von vorhin lag wieder auf seinem Antlitz und er, der nie um eine Artigkeit oder eine passende Antwort verlegen war, sagte jetzt nur einsilbig:
„Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen also!“
„Auf Wiedersehen!“ entgegnete Ella mit einer Befangenheit, die seltsam mit der Ruhe und Sicherheit contrastirte, die sie während der ganzen Unterredung gezeigt hatte. Fast schien es, als bereue sie die soeben gegebene Erlaubniß, die gleichwohl nicht mehr zurückgenommen werden konnte.
Wenige Minuten darauf befand sich Capitain Almbach im Freien und schlug langsam den Rückweg nach Mirando ein. Er hatte wieder einmal seinen Willen durchgesetzt und das heute Morgen im Uebermuthe gegebene Versprechen eingelöst. Aber er schien wenig geneigt, diesen Triumph irgendwo geltend zu machen. Nach der Villa zurückschauend, strich er mit der Hand über die Stirn wie Jemand, der aus einem Traume erwacht.
[508] „Ich glaube, die elegische Atmosphäre in Mirando hat mich angesteckt,“ murmelte er ärgerlich. „Ich fange jetzt auch an, die einfachsten Dinge vom ideal-romantischen Standpunkte aufzufassen. Was ist denn eigentlich an dieser Begegnung, daß ich so gar nicht darüber hinauskommen kann? Die Erlau’schen Salons sind eben eine gute Schule gewesen, und die Schülerin hat über Erwarten leicht und schnell begriffen. Geahnt habe ich längst so etwas und doch – Thorheit, was geht es mich denn an, wenn Reinhold schließlich seine Blindheit bereuen lernt! Und sie weiß noch nicht einmal, wie nahe er ihr ist, so nahe, daß eine Begegnung auf die Dauer nicht ausbleiben kann. Ich fürchte, der Versuch einer Annäherung käme Reinhold dieses Mal noch viel theurer zu stehen als jener erste. Was war das für ein seltsam eisiger Ausdruck in ihrem Gesichte, als ich auf die Möglichkeit einer Versöhnung hindeutete! Das,“ – hier athmete Hugo auf, in vielleicht unbewußter, aber tiefster Genugthuung – „das sprach ‚Nein‘ bis in alle Ewigkeit. Und wenn sie jetzt auch Zufall oder Schicksal wieder zusammenführt, jetzt ist’s zu spät – jetzt hat er sie verloren.“
Ueber den blauen Spiegel der Fluth glitt ein Boot, das, von S. kommend, die Richtung nach Mirando nahm. Das zierliche Aussehen der Barke ließ sie als das Eigenthum irgend einer reichen Familie erkennen, und die beiden Ruderer trugen die Farben des Hauses Tortoni. Für den Herrn jedoch, der sich außerdem noch im Boote befand, schien weder die schwebend schnelle Fahrt noch das herrliche Panorama ringsum auch nur das mindeste Interesse zu besitzen. Er lehnte, wie schlafend, mit geschlossenen Augen in seinem Sitze und blickte erst auf, als das Fahrzeug an der Marmortreppe anlegte, die von der Terrasse der Villa direct in’s Meer hinab führte. Er stieg aus. Ein Wink verabschiedete die beiden Leute, die, wie die gesammte Dienerschaft des Marchese, gewohnt waren, dem berühmten Gast ihres Herrn fast noch größeren Respect als diesem selbst zu erweisen. Einige Ruderschläge trieben das Boot seitwärts, und gleich darauf legte es drüben am Parke in einem kleinen Hafen an.
Reinhold betrat die Stufen und stieg langsam hinauf. Er kam von S. her, wo Beatrice inzwischen eingetroffen war. Wie gewöhnlich war die Künstlerin auch hier, wo alle Fremden und Einheimischen von Bedeutung sich zur Villeggiatur zusammenfanden, von Bekannten umringt und mit Huldigungen umgeben worden, und Reinhold befand sich kaum an ihrer Seite, als auch ihm, und zwar in noch höherem Maße, dieses Schicksal zu Theil wurde. In Beatrice’s Nähe gab es nun einmal für ihn kein Ausruhen und keine Erholung; sie zog ihn sofort wieder in den Strudel hinein. Aus den Stunden, die er bei ihr zubringen wollte, waren Tage geworden, die an Aufregung und Zerstreuung den letzten Wochen in der Stadt wenig nachgaben, und nachdem er sie gestern Abend noch zu einer größeren Festlichkeit begleitet, welche die ganze Nacht hindurch bis an den lichten Morgen währte, hatte er sich endlich mit Tagesanbruch losgerissen und sich in’s Boot geworfen, um nach Mirando zurückzukehren.
Er athmete tief auf bei der Stille und Einsamkeit, die ihn hier umfing und die nicht einmal durch einen Gruß oder Empfang gestört wurde. Cesario hatte, wie er wußte, heute bereits in aller Frühe und in Begleitung Hugo’s einen Ausflug nach der benachbarten Insel unternommen, von dem beide erst gegen Abend zurückerwartet wurden, und für Fremde war die Villa jetzt nicht zugänglich. Der junge Marchese liebte es nicht, in der Einsamkeit seiner Villeggiatur gestört zu werden, und der Verwalter hatte Befehl erhalten, während seiner Anwesenheit keine fremden Besucher zuzulassen, ein Befehl, der in vollster Strenge aufrecht erhalten wurde, zum großen Mißvergnügen der Fremden, denen Mirando als ein beliebtes Ziel ihrer Ausflüge galt. Die Besitzung mit ihren weiten Gärten und prachtvollen Gebäuden, die man im Norden unbedingt ein Schloß genannt hätte, und die hier nur den bescheidenen Namen einer Villa führte, war weitberühmt, nicht allein wegen ihrer paradiesischen Lage und des unbegrenzten Blickes auf das Meer hinaus, sondern auch wegen der reichen Kunstschätze, die sie in ihrem Innern barg und die jetzt nur das Auge der Wenigen entzückten, die das Glück hatten, sich die Gäste des Marchese nennen zu dürfen.
Ueberwacht, ermüdet, und doch unfähig, Schlaf und Ruhe zu suchen, warf sich Reinhold auf eine der Marmorbänke im Schatten der Säulenhalle; er fühlte sich abgespannt bis zur äußersten Erschlaffung. Jawohl, diese schwülen italienischen Nächte, mit ihrem betäubenden Blüthenduft und ihrer mondbeglänzten Ruhe oder dem rauschenden Festesjubel, diese sonnenhellen Tage mit dem ewig blauen Himmel und der glühenden Farbenpracht der Erde, sie hatten ihm alles gegeben, was er nur je im kalten trüben Norden davon geträumt, aber sie hatten ihm auch den besten Theil seiner Lebenskraft gekostet. Die Zeit war längst vorüber, wo dem jungen Künstler das ganze Dasein nur ein Wechsel war von glühendem Rausch und beseligenden Träumen. Das hatte monden-, jahrelang gewährt – dann war allmählich die Ermüdung gekommen und dann zuletzt das Erwachen, wo diese herrliche farbenglänzende Welt so kalt und leer vor ihm lag, wo die Ideale zusammensanken und die einst so heiß ersehnte Freiheit zur grenzenlosen Oede wurde, die keine Pflicht, aber auch keine Sehnsucht mehr begrenzte. Mit den Fesseln, die er so energisch und rücksichtslos gesprengt, hatte er auch den Zügel verloren; er schweifte hinaus ins Schrankenlose, und die Schrankenlosigkeit war ihm zum Fluche geworden. Den Künstler bewahrte freilich der Prometheusfunke in seinem Inneren vor dem Schicksal, das so viele Andere ereilte, vor dem rettungslosen Versinken in diese Ernüchterung und Gleichgültigkeit gegen alles, aber dieselbe Macht, die ihn immer und immer wieder daraus emporriß, jagte ihn auch ruhelos umher, dem Einen nie Erreichten nach, das er nicht zu nennen wußte, und von dem er nur fühlte, daß es ihm fehle und ewig fehlen werde. Italien in all seiner Schönheit hatte es ihm nicht zu geben vermocht, nicht die glühende Liebe Beatricens und nicht die Kunst, die ihm doch den vollsten Ruhmeskranz gereicht – das Phantom zerfloß, sobald er die Arme danach ausstreckte. Und wenn die Wunderblüthe des Südens sich ihm auch geöffnet hatte in ihrer ganzen berauschenden Pracht – die blaue Märchenblume hatte er nicht gefunden. –
Reinhold schreckte plötzlich empor aus seinen Träumereien. Irgend etwas hatte ihn darin gestört. War es ein Schritt, ein Rauschen gewesen – er erhob sich und sah mit grenzenlosem Erstaunen eine Dame nur wenige Schritte entfernt auf der Terrasse stehen und in das Meer hinausblicken. Was sollte das heißen? und wie kam diese Fremde hierher, jetzt wo Mirando doch für Besucher nicht zugänglich war? Sie konnte erst vor wenigen Minuten aus der noch offenen Thür getreten sein, die in den Saal führte, der die berühmte Gemäldesammlung der Villa enthielt, und schien den einsamen Träumer in der Säulenhalle so wenig bemerkt zu haben, wie er sie.
Reinhold war längst auch gegen Frauenschönheit gleichgültig geworden, aber diese Erscheinung fesselte ihn doch unwillkürlich. Sie stand im Schatten einer der riesigen Vasen, welche die Terrasse schmückten; nur das etwas vorgeneigte Haupt wurde von dem vollen Sonnenlicht getroffen und die schweren blonden Flechten schimmerten in dem Strahle wie gesponnenes Gold. Das Gesicht war zur Hälfte abgewendet. Man sah kaum das zarte, rein und edel gezeichnete Profil. Die schlanke Gestalt im luftig weißen Gewande lehnte leicht in unbeschreiblich graziöser Haltung an der Marmorbalustrade; die linke Hand stützte sich darauf, während die herabhängende Rechte den blumengeschmückten Strohhut hielt. Sie stand unbeweglich, ganz im Anblick des Meeres versunken und hatte augenscheinlich keine Ahnung davon, daß sie beobachtet wurde.
Es war noch früh am Tage. Der Morgen war in leuchtender Klarheit aus dem Meere emporgestiegen und lag jetzt sonnig lächelnd in thauiger Frische über der ganzen Umgebung. Noch umwob blauer Dunst das Vorgebirge und die fernen Küsten, deren Linien wie hingehaucht am Horizont zu schweben schienen, und in der Luft flimmerte es noch wie feuchter Silberglanz. Es lag etwas Märchenhaftes in dieser Morgenstunde und dieser Umgebung, vor Allem in der weißen Gestalt da drüben mit dem goldschimmernden Haar, und wie ein Märchenschloß, das aus der feuchten Tiefe emporgestiegen, erschien auch Mirando mit seinen weißen Marmorsäulen und Terrassen. Tiefblau wölbte sich der Himmel darüber hin und tiefblau rauschte das Meer zu seinen Füßen. Aus den Gärten wehte der Blüthenduft herüber, aber geisterhafte Stille umfing Alles, als sei jedes Leben hier gebannt oder in Schlaf versunken. Kein Ton ringsum, nichts als das leise Wallen des Meeres, der immer gleiche, träumerische Laut der Wellen, welche die Marmorstufen küßten, und vor den Blicken [509] nur die blaue wogende Unermeßlichkeit, die sich fernhin dehnte in unbegrenzter Weite.
Reinhold verharrte regungslos in seiner Stellung; er mochte mit keiner Bewegung den Zauber dieser Minute stören. Wehte es doch auf einmal zu ihm herüber wie ein Hauch der alten Sagenpoesie seiner Heimath, die er längst vergessen, und die mit ihrem schwermüthig süßen Reiz in diesem Augenblicke wieder vor ihm auftauchte. Aber die tiefe Stille wurde plötzlich unterbrochen durch das helle Jauchzen einer Kinderstimme. Ein Knabe von sieben oder acht Jahren stürmte die Stufen zur Terrasse herauf, eine große, glänzende Muschel in der Hand, die er irgendwo am Ufer aufgelesen haben mochte. Das Kind war sichtlich voll Entzücken über seinen Fund; das ganze kleine Gesicht strahlte, als er mit glühenden Wangen und fliegenden Locken auf die Dame zueilte, die sich auf seinen Ruf umwandte.
Mit einem halb unterdrückten Aufschrei fuhr Reinhold auf und stand dann wie in dem Boden festgewurzelt. In dem Momente, wo sie ihm das Gesicht voll zuwendete, erkannte er die Fremde, die Ella’s Züge trug und doch nicht Ella sein konnte. Betäubt, todtenbleich starrte er die Frau an, deren poetische Erscheinung er soeben noch bewundert und die doch Zug um Zug seiner so sehr mißachteten und schließlich verlassenen Gattin glich. Auch sie hatte ihn erkannt; das bewies die tiefe Blässe, die auch ihr Antlitz überflog, bewies auch ihr jähes Zurückweichen. Sie faßte nach der Marmorbalustrade, wie um einen Halt zu suchen, aber jetzt hatte der Knabe sie erreicht, und seine Muschel mit beiden Händen emporhaltend, rief er triumphirend:
„Mama! Liebe Mama, sieh nur, was ich gefunden habe!“
Das riß Reinhold aus seiner Erstarrung. Betäubung, Schreck, Erstaunen, das Alles verschwand, als er die Stimme seines Kindes vernahm. Nur der Eingebung des Augenblickes folgend, stürzte er vorwärts und streckte die Arme aus, um den Knaben stürmisch an seine Brust zu reißen.
„Reinhold!“
Almbach hielt betreten inne, aber der Name galt nicht ihm, sondern dem Knaben, der, dem Rufe augenblicklich gehorchend, zur Mutter eilte. Mit einer raschen Bewegung legte sie beide Arme um ihn, als wolle sie ihn schützen oder verbergen, und richtete sich dann empor. Noch war die Blässe nicht von ihrem Antlitze gewichen, und die Lippen bebten noch, aber die Stimme klang fest und energisch.
„Du darfst Fremde nicht belästigen, Reinhold. Komm’, mein Kind! Wir wollen gehen.“
Almbach zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück; der Ton war ihm so neu, wie das ganze Wesen derjenigen, die er einst seine Gattin genannt. Hätte er nicht ihre Stimme erkannt, er würde jetzt mehr als je an eine Täuschung geglaubt haben. Der Kleine dagegen blickte bei dem Vorwurf verwundert auf. Er war dem fremden Herrn ja nicht einmal nahe gekommen und hatte ihn sicher nicht belästigt, aber er sah an der Blässe und Aufgeregtheit der Mutter, daß irgend etwas Ungewöhnliches vorging, und die großen blauen Augen des Kindes richteten sich trotzig, fast feindselig auf den Unbekannten, von dem es instinctmäßig errieth, daß er es sei, der die Mama so erschreckt habe.
Ella hatte sich bereits wieder gefaßt. Sie wandte sich zum Gehen, den Arm noch immer fest um die Schulter ihres Knaben gelegt, aber Reinhold vertrat ihr jetzt heftig den Weg – sie mußte stehen bleiben.
„Wollen Sie die Güte haben, uns vorüber zu lassen?“ sagte sie kalt und fremd. „Ich bitte darum.“
„Was soll das, Ella?“ brach Reinhold jetzt in leidenschaftlicher Erregung aus. „Du hast mich so gut erkannt, wie ich Dich. Wozu dieser Ton zwischen uns?“
Sie sah ihn an; in dem Blicke lag die ganze Antwort, eiskalte niederschmetternde Verachtung. Er hatte es freilich nie für möglich gehalten, daß Ella’s Augen so blicken konnten, aber er wandte sein Angesicht vor ihnen zu Boden.
„Wollen Sie die Güte haben, uns den Weg frei zu geben, Signor?“ wiederholte sie in vollkommen reinem Italienisch, als nehme sie an, er habe die deutsche Anrede nicht verstanden. Es lag ein entschiedener Befehl in den Worten, und Reinhold – gehorchte. Ganz fassungslos wich er zur Seite und ließ sie vorüber. Er sah, wie sie mit dem Kinde die Stufen hinabstieg, wie dort unten ein Diener in fremder Livree, der gewartet zu haben schien, sich ihnen anschloß, und wie alle Drei durch die Gärten davon eilten; er selbst aber stand noch immer oben auf der Terrasse und besann sich, ob er denn geträumt habe und das Ganze nur ein Gebilde seiner Phantasie sei.
Das geräuschvolle Schließen der Thür, die in den Gemäldesaal führte, brachte ihn wieder zur Besinnung. Mit wenigen Schritten stand er dort, und die Thür ungestüm aufreißend, trat er in den Saal, wo der Verwalter von Mirando soeben beschäftigt war, die Vorhänge wieder niederzulassen, die er der besseren Beleuchtung wegen aufgezogen hatte.
„Wer war die Dame mit dem Kinde, die sich soeben hier auf der Terrasse befand?“ Mit dieser hastigen Frage stürmte Reinhold auf den Mann ein, der sehr bestürzt schien, als er den Gast seines Herrn, den er noch in S. vermuthete, so plötzlich vor sich sah; er zögerte in sichtlicher Verlegenheit mit der Antwort.
„Verzeihung, Signor – ich hatte keine Ahnung davon, daß Sie schon zurück seien, und da Eccellenza und der Signor Capitano erst gegen Abend erwartet werden, so hatte ich mir erlaubt –“
„Wer war die Dame?“ drängte Reinhold in fieberhafter Ungeduld, ohne auf die Entschuldigung zu achten. „Woher kam sie? Schnell! Ich muß es wissen.“
„Drüben aus der Villa Fiorina,“ sagte der Verwalter, halb verwundert, halb erschreckt über das Ungestüm des Fragenden. „Die fremde Signora wünschte Mirando zu sehen und ließ durch ihren Diener anfragen. Eccellenza haben freilich befohlen, während ihres Hierseins keine Besucher einzulassen, aber es war ja heute Morgen Niemand von den Herrschaften anwesend, und da glaubte ich eine Ausnahme machen zu dürfen.“ Er hielt inne und setzte dann im Tone der Bitte hinzu: „Es würde mir freilich große Ungelegenheiten bei Eccellenza bereiten, wenn Signor Rinaldo es ihm mittheilen wollten.“
„Ich? Nein,“ sagte Reinhold wie abwesend. „Und wie nannte sich die Dame?“
„Erlau, wenn ich recht verstanden habe.“
„Erlau – so?“ Almbach fuhr mit der Hand über die Stirn. „Es ist gut, Mariano; ich danke Ihnen,“ sagte er und verließ den Saal.
Der Tag war glühend heiß geworden, und auch der Abend brachte weder Kühle noch Erfrischung. Luft und Meer schienen von keinem Hauche bewegt, und die Sonne ging in heißen Dunstwolken nieder. Auch in der Villa Fiorina schien man von der Gluth zu leiden. Die Bewohner hielten sich vermuthlich drinnen in den kühleren Zimmern, denn die Jalousien waren während des ganzen Tages nicht geöffnet worden und die Glasthüren, welche nach der Terrasse führten, blieben geschlossen. Die deutsche Familie bewohnte das weitläufige Gebäude, das sie für sich allein in Anspruch genommen hatte, kaum zur Hälfte. Einige Zimmer rechts vom Gartensaale waren für den Consul eingerichtet worden; die auf der andern Seite gelegenen bewohnte dessen Pflegetochter mit ihrem Kinde; die Dienerschaft war in den hinteren Räumen untergebracht, und das Uebrige stand leer.
Es war schon in vorgerückter Abendstunde, als Ella in den von einer Lampe erhellten Gartensaal trat. Der Consul hatte sich bereits zur Ruhe begeben, und die junge Frau kam von ihrem Knaben, den sie, nachdem er eingeschlummert war, der Obhut seiner Wärterin überließ. Vielleicht war es der matte Lampenschein, der ihr Antlitz auch jetzt noch so blaß erscheinen ließ; seit dem heutigen Morgen war die Farbe noch nicht wieder darauf zurückgekehrt, wenn auch die Züge selbst vollkommen ruhig erschienen.
Sie öffnete die Glasthür und trat auf die Terrasse. Draußen herrschte bereits völlige Dunkelheit; kein Mondstrahl drang durch das Gewölk, das noch immer den Himmel umzogen hielt, kein Hauch des Seewindes bewegte die blühenden Gesträuche. Schwül und schwer, schien die Luft auf der Erde förmlich zu lasten, und das Meer lag in träger Ruhe, fast regungslos. Es war beängstigend in dieser schwülen Stille und Dunkelheit; dennoch schien Ella sie dem Aufenthalt in dem erhellten Gartensaale vorzuziehen; sie stand wie heute Morgen an die Steinbalustrade gelehnt, zur Hälfte noch in dem matten Lichtkreise, der aus der geöffneten Thür auf die Terrasse fiel und die helle Gestalt, wenn auch undeutlich, erkennen ließ.
[510] Einige Minuten mochten so vergangen sein, als ein Geräusch in ihrer Nähe sie aufschreckte. Mit einem leichten Aufschrei wollte sie nach dem Hause zurückflüchten, denn dicht neben ihr stand eine hohe dunkle Männergestalt, in demselben Augenblicke aber legte sich auch eine Hand auf ihren Arm, und eine unterdrückte Stimme sagte:
„Beruhige Dich, Ella! Es ist weder ein Räuber noch ein Dieb, der vor Dir steht, wenn Du mich auch gezwungen hast, den Weg eines solchen zu wählen.“
Die junge Frau hatte beim ersten Ton Reinhold’s Stimme erkannt, aber sie wich nur um so weiter zurück, bis an die Schwelle der Glasthür.
„Was wünschen Sie, Signor?“ sagte sie kalt in italienischer Sprache. „Und was bedeutet dieser Ueberfall zu einer solchen Stunde?“
Reinhold war ihr gefolgt, aber er versuchte es nicht wieder, ihren Arm zu berühren oder ihr auch nur nahe zu kommen.
„Vor allen Dingen wünsche ich, daß Du die Güte haben mögest, einmal Deutsch mit mir zu sprechen,“ versetzte er mit mühsam verhaltener Erregung. „Ich habe unsere Sprache doch nicht so ganz verlernt, wie Du vorauszusetzen scheinst. Woher ich komme? Aus dem Boote dort! Die Terrasse wenigstens hat sich nicht so unzugänglich gezeigt, wie die Thüren Deines Hauses, die mir verschlossen blieben.“
Er wies nach dem Meere hinüber. Es war ein Wagniß, von dem schwankenden Boote aus die hohe Steinterrasse zu ersteigen, aber Reinhold schien nicht in der Stimmung, nach der Möglichkeit einer Gefahr zu fragen. Er war augenscheinlich schon hier gewesen, als sie heraustrat, und fuhr jetzt noch erregter fort:
„Es wird Dir wohl nicht unbekannt geblieben sein, daß ich bereits heute Nachmittag hier war. Du ließest mich abweisen, oder vielmehr Erlau that es, denn ich hatte begreiflicher Weise nicht die Tactlosigkeit, mich bei Dir melden zu lassen. Er hat mich weder empfangen, noch das Billet angenommen, das meine Bitte enthielt, und doch mußtet Ihr Beide wissen, was mich herführte. Da blieb denn nur die Selbsthülfe übrig. Du siehst, ich habe den Eingang dennoch erzwungen.“
Er sprach in tiefster Erbitterung. Der stolze Künstler empfand die doppelte Zurückweisung, die er heute erfahren hatte, als eine tödtliche Beleidigung. Man hörte, wie er noch jetzt jedes einzelne Wort seinem Stolze abrang, und es mußte ein mächtiger Beweggrund sein, der ihn trotz alledem herführte und noch dazu auf solchem Wege. Seine Gattin hatte wohl keinen Antheil daran, denn er stand ihr gegenüber in finsterem, ungebeugtem Trotze. Reinhold Almbach hatte es schon als Knabe nie vermocht, sich zu demüthigen, selbst da nicht, wo er sich im Unrecht wußte, und er hatte während der letzten Jahre nur zu oft die gefährliche Erfahrung gemacht, daß jedes Unrecht, das er beging, mit dem Rechte des Genius gedeckt wurde, der sich nahezu Alles erlauben darf.
Sie waren während der letzten Worte vollends in den Gartensaal getreten. In der Mitte desselben blieb Ella stehen.
„Signor Rinaldo scheint diesmal den Weg verfehlt zu haben,“ sagte sie, jetzt zwar in deutscher Sprache, aber in dem gleichen Tone wie vorhin. „Drüben in S. liegt die Villa, wo sich Signora Biancona befindet, und es konnte wohl nur ein Irrthum sein, der sein Boot an unserer Terrasse landen ließ.“
Der Vorwurf traf. Almbach’s trotziger Blick senkte sich, und für einige Secunden fehlte ihm die Antwort.
„Ich suchte diesmal nicht Signora Biancona,“ erwiderte er endlich, „und daß ich Eleonore Almbach nicht suchen darf, hat sie mir heute Morgen bereits hinreichend gezeigt. Es war nicht meine Absicht, Dich nochmals durch meinen Anblick zu beleidigen; es wäre Dir erspart worden, hättest Du meiner schriftlichen Bitte nachgegeben. Ich kam einzig, mein Kind zu sehen.“
Mit einigen raschen Schritten war die junge Frau an der Thür des Schlafzimmers und stellte sich davor. Sie sprach kein Wort, aber in der inneren Bewegung lag ein so energischer Protest, daß Reinhold sofort ihre Absicht begriff.
„Willst Du es mir nicht einmal gestatten, meinen Sohn zu umarmen?“ fragte er heftig.
„Nein!“ lautete die feste, mit vollster Entschiedenheit gegebene Antwort.
Reinhold wollte auffahren; sie sah, wie er die Hand ballte, aber er zwang sich zur Ruhe.
„Ich sehe, daß ich Deinem verstorbenen Vater Unrecht gethan habe,“ sagte er bitter. „Ich hielt es für sein Werk, daß mir jede Nachricht über meinen Knaben vorenthalten wurde. – Hast Du selbst meinen ersten Brief gelesen und ihn unbeantwortet gelassen?“
„Ja.“
„Und den zweiten unerbrochen zurückgesandt?“
„Ja.“
In Reinhold’s Antlitz wechselten Röthe und Blässe; stumm sah er die Frau an, aus deren Munde er nie eine eigene Willensäußerung, viel weniger einen Widerspruch vernommen, die er nur als demüthig und schweigend Gehorchende kannte und die es jetzt wagte, ihm mit solcher Entschiedenheit Etwas zu versagen, was er als sein unbedingtes Recht in Anspruch nahm.“
„Nimm Dich in Acht, Ella!“ sagte er dumpf. „Was auch zwischen uns geschehen ist, was Du mir vorwerfen magst, diesen Ton der Verachtung ertrage ich nicht, und vor allem dulde ich es nicht, daß mir der Anblick des Knaben versagt wird. Ich will mein Kind sehen.“
Die Forderung klang beinahe drohend, die bleichen Wangen der jungen Frau begannen sich leise zu röthen, aber sie wich nicht von ihrem Platze.
„Dein Kind?“ fragte sie langsam. „Der Knabe gehört mir, mir allein. Du hast jedes Recht auf ihn verloren, als Du ihn mir zurückließest.“
„Das möchte doch noch die Frage sein,“ rief Almbach mit ausbrechender Heftigkeit. „Sind wir gerichtlich geschieden? Haben die Gesetze Dir Reinhold zugesprochen? Er bleibt mein Sohn, was auch zwischen Dir und mir liegen mag, und wenn Du mir meine Vaterrechte noch länger verweigerst, so werde ich sie mir zu erzwingen wissen.“
Die Drohung blieb nicht wirkungslos, aber sie verfehlte vollständig ihren Zweck. Ella richtete sich auf mit zuckenden Lippen, aber mit vollster Energie.
„Das wirst Du nicht. Die Stirn hast Du nicht, und hättest Du sie, so giebt es, Gott sei Dank, noch eine andere Macht, die ich anrufen kann, und die Dir vielleicht nicht so gleichgültig ist wie Familienbande und Pflichten, welche Du so leicht zerrissest. Die Welt würde es erfahren, daß Signor Rinaldo, nachdem er Weib und Kind verlassen und jahrelang nicht nach ihnen gefragt hat, es jetzt wagt, seinem Weibe mit denselben Gesetzen zu drohen, die er verhöhnt und mit Füßen getreten hat, weil sie nicht will, daß ihr Knabe ihn Vater nennt – und all Dein Ruhm und all die Vergötterung würden Dich nicht schützen vor der verdienten Verachtung.“
„Eleonore!“
Es war ein Aufschrei der Wuth, der seinen Lippen entfuhr, als sie das letzte Wort aussprach, und sein Blick flammte in erschreckender Wildheit nieder auf die zarte vor ihm stehende Gestalt. Wenn Reinhold’s Leidenschaftlichkeit erst einmal auf’s Aeußerste gereizt war, so kannte er keine Schranken mehr und seine ganze Umgebung pflegte dann vor ihm zu zittern. Selbst Beatrice, so wenig sie ihm sonst an Heftigkeit nachgab, wagte es in solchen Augenblicken nicht, ihn noch mehr zu reizen. Sie kannte die ihr gezogene Grenze, und war diese erst einmal erreicht, so fügte sie sich stets. Hier war das anders; zum ersten Male seit Jahren scheiterte er an einem fremden Willen; vor dem Auge, das so klar und groß dem seinigen begegnete, sank sein ganzer Trotz zusammen – er verstummte.
„Du siehst wohl selbst ein, daß es mehr als Hohn wäre, wolltest Du Dich auf die Gesetze berufen,“ sagte die junge Frau ruhiger.
Reinhold stützte sich schwer auf den Sessel, an dem er stand. War es Scham oder Zorn, die Hand, welche sich in die Polster vergrub, zitterte.
„Ich sehe, daß ich in einem verhängnißvollen Irrthum befangen war, als ich die Frau zu kennen wähnte, die zwei Jahre lang meine Gattin hieß,“ erwiderte er in seltsam gepreßtem Tone. „Hättest Du mir nur ein einziges Mal die Eleonore gezeigt, der ich jetzt begegne, es wäre wohl Manches ungeschehen geblieben. Wer hat Dich diese Sprache gelehrt?“
„Die Stunde, in der Du mich verließest,“ antwortete sie mit vernichtender Kälte, indem sie sich abwandte.
[511]
[512] „Die Stunde scheint Dir noch Manches Andere gegeben zu haben, was Dir sonst fremd war – die Lust an der Rache zum Beispiel –“
„Und den Stolz, den ich Dir gegenüber nie gekannt,“ ergänzte Ella. „Ich mußte erst zu Boden getreten werden, ehe er aufwachte und mir zeigte, was ich mir und meinem Kinde schuldig war, dem Einzigen, was Du mir noch gelassen hattest, dem Einzigen, was mich noch aufrecht erhielt. Um seinetwillen habe ich noch einmal angefangen, zu lernen und zu arbeiten, als die Zeit des Lernens längst hinter mir lag, um seinetwillen habe ich mich emporgerissen aus den Vorurtheilen und Banden meiner Erziehung und meinem Leben eine neue Richtung gegeben, als der Tod der Eltern mich frei machte. Ich mußte dem Kinde jetzt alles sein, wie es mir alles war, und ich hatte mir gelobt, daß mein Sohn sich dereinst nicht der Mutter schämen sollte, wie sein Vater sich ihrer schämte, weil sie äußerlich hinter anderen Frauen zurückstand.“
Almbach’s Stirn färbte sich dunkelroth bei den letzten Worten. „Es war nicht meine Absicht, Dir Reinhold streitig zu machen,“ sagte er hastig. „Nur sehen wollte ich ihn, wenn es sein muß, in Deiner Gegenwart. Du weißt nur zu gut, welch’ eine Waffe Du mit dem Kinde in Deiner Hand hast, und gebrauchst sie schonungslos gegen mich. Ella,“ er trat ihr näher und zum ersten Male klang etwas wie Bitte in seiner Stimme, „Ella, es ist unser Kind. Dieses Band wenigstens reicht noch aus der Vergangenheit herüber in die Gegenwart, das einzige zwischen uns, das nicht zerrissen wurde. Willst Du es jetzt zerreißen? Soll der Zufall, der uns hier zusammenführte, wirklich nur Zufall bleiben? In Deinen Händen liegt es, ihn zu einer Schicksalswendung zu machen, die vielleicht noch zum Heil werden kann für uns Beide.“
Die Hindeutung war verständlich genug, aber die junge Frau wich zurück, und auf ihr Antlitz legte sich wieder jener verhängnißvolle Ausdruck, der „Nein!“ sprach bis in alle Ewigkeit.
„Für uns Beide?“ wiederholte sie. „Also glaubst Du wirklich, ich könnte ein Glück an Deiner Seite finden, nach Allem was Du mir angethan? Wahrlich, Reinhold, Du mußt sehr durchdrungen sein von Deinem Werthe oder meinem Unwerthe, daß Du es wagst, mir das zu bieten. Freilich, wo hättest Du auch Achtung für mich lernen sollen? In meinem Elternhause war es ja nicht möglich. Ich war zum Gehorsam, zur Unterordnung erzogen und brachte beides auch meinem Gatten entgegen. Was wurde mein Lohn dafür? Ich war die Letzte in seinem Hause und die Letzte in seinem Herzen. Er hielt es nie der Mühe werth, danach zu fragen, ob die Frau, der er sich doch nun einmal verbunden, auch wirklich so beschränkt, so unempfänglich für alles Höhere, oder ob sie nur verschüchtert war durch den Druck einer Erziehung, unter der wir Beide gelitten hatten. Er wies meine scheuen Versuche, mich ihm zu nähern, verächtlich, verletzend zurück, und ließ es mich täglich und stündlich fühlen, daß nur das Verdienst, die Mutter seines Kindes zu sein, mir noch einen Anspruch auf seine Duldung gab. Und als ihm die Kunst und das Leben aufgingen, da warf er mich bei Seite wie eine Last, die man lange genug mit Widerwillen getragen, da gab er mich dem Gerede, dem Spotte, dem entehrenden Mitleid preis, da verließ er mich um einer Anderen willen, und fragte an der Seite dieser Anderen nicht danach, ob das Herz seines Weibes sich verblutete an dem Todesstoß, den er ihr gegeben. – Und jetzt, meinst Du, bedürfe es nur eines Wortes, um das alles ungeschehen zu machen? Du meinst, Du brauchest nur die Hand auszustrecken, um das wieder an Dich zu reißen, was Du einst von Dir stießest? Glaubst Du? Nein, so spielt man nicht mit dem Heiligsten auf Erden, und wenn Du glaubtest, die verachtete, verstoßene Ella würde dem ersten Winke gehorchen, durch den Du sie wieder zu Gnaden annimmst, so sage ich Dir jetzt: eher stürbe sie mit ihrem Kinde, ehe sie Dir wieder folgte. Du hast Dich losgesagt von Deinen Gatten- und Vaterpflichten, und wir haben es gelernt, den Gatten und Vater zu entbehren. Du hast es ja klar genug ausgesprochen, daß wir die ‚Fesseln‘ waren, die den Aufschwung Deines Genius hemmten – nun wohl, sie sind jetzt gebrochen, durch Dich gebrochen, und ich gebe Dir mein Wort darauf, sie werden Dich nie mehr drücken. Du hast ja Deinen Lorbeer und Deine – Muse. Was brauchst Du da noch Weib und Kind?“
Sie schwieg, überwältigt von der Erregung, und preßte beide Hände gegen die stürmisch wogende Brust. Reinhold war todtenbleich geworden, und doch hing sein Auge wie festgebannt an ihr. Das Lampenlicht fiel voll auf ihr Gesicht und auf die blonden Flechten, wie an jenem Abende, wo er ihr so schonungslos die Trennung ankündigte. Aber wo war die Ella geblieben, die damals scheu und furchtsam an seinen Mienen hing, und jedem Winke, jeder Laune gehorsam folgte? Auch nicht ein Zug von ihr war in dem Wesen zu entdecken, das so hoch und stolz aufgerichtet ihm gegenüberstand und so energisch ihm die einst empfangenen Demüthigungen zurückschleuderte. Sie konnten aufflammen, diese blauen Märchenaugen, aufflammen in glühender Empörung, das sah er jetzt, aber er sah auch zum ersten Male, wie wunderbar schön sie waren, wie hinreißend die ganze Erscheinung der jungen Frau; in dieser leidenschaftlichen Erregung, und mitten durch den Zorn und Groll des tiefgereizten Mannes blitzte etwas auf, das fast der Bewunderung glich.
„Ist das Dein letztes Wort?“ fragte er endlich nach einer secundenlangen Pause.
„Mein letztes.“
Mit einer raschen Bewegung richtete sich Reinhold empor. All sein Trotz und Stolz flammte wieder auf bei dieser Art der Zurückweisung. Er schritt nach der Thür, während Ella unbeweglich auf ihrem Platze verharrte, aber an der Schwelle blieb er noch einmal stehen und wandte sich zurück.
„Ich fragte nicht danach, ob das Herz meines Weibes sich verblutete an dem Todesstoße, den ich ihr gegeben –“ wiederholte er mit verschleierter Stimme. „Hast Du ihn denn überhaupt gefühlt, Ella?“
Sie schwieg.
„Damals glaubte ich es in der That nicht,“ fuhr Reinhold mit tiefer Bitterkeit fort, „und die heutige Begegnung läßt mich mehr als je daran zweifeln, daß Dein Herz bei einer Trennung litt, die Deinen Stolz allerdings tiefer verwundete, als ich je für möglich gehalten. – Du brauchst nicht so angstvoll die Thür zu hüten; ich sehe es ja, daß ich Dich erst zur Seite schleudern müßte, um zu dem Kinde zu gelangen, und den Muth habe ich nicht. Für diesmal hast Du gesiegt. Ich verzichte auf das Wiedersehen. Leb’ wohl!“
Er ging. Sie hörte seinen Schritt draußen auf der Terrasse, dann das Rauschen der Gebüsche, durch die er sich einen Weg bahnte, endlich die Ruderschläge, die das Boot vom Lande entfernten. Die junge Frau athmete tief auf und verließ langsam den so energisch vertheidigten Platz. Sie trat an die Glasthür; vielleicht tauchte eine leise Besorgniß in ihr auf, ob der gewagte Sprung von der Terrasse ebenso glücklich sein werde wie das Ersteigen derselben es gewesen, aber in der Dunkelheit war nichts zu unterscheiden. Wie vorhin lag das Meer in träger Ruhe. Darüber hin breitete sich die stille schwüle Nacht, und um sie her dufteten die Blüthen – von Reinhold schien jede Spur verschwunden.
Haben Sie, verehrte Frau, schon einmal das seltene Schatzkästlein bewundert, welches das österreichische Salzkammergut und das bairische Berchtesgaden unseren Blicken öffnet? Eine der Perlen dieses Schatzkästleins ist der Königssee, und Niemand wird über seine dunkeln Fluthen, zwischen seinen schroff abfallenden, riesig aufgethürmten Felsenmauern dahingleiten, ohne daß ihm die schwermüthigen Verse Nicolaus Lenau’s mit der großartigen Feier der Natureinsamkeit, wie sie dieser
[513] Dichter liebt, im Gedächtniß wiederklingen. Die hoch hervorblickenden Gletscher, welche sich oft zum Theil in Wolkennebel gehüllt haben, erhöhen den Eindruck der Weltverlassenheit, den die ganze Scenerie hervorruft, und dort, wo auf dem Schuttlande der Watzmanngletscher das Jagdschloß von Sanct Bartholomäi am Ufer des Sees sich erhebt – dort ist eine Stätte für weltfremde Abgeschiedenheit, wie sie die kühnste Phantasie nicht passender denken, kein Jünger der modernen „Weltverneinung“ geeigneter wählen könnte.
Es giebt nur einen bairischen See, der sich in Bezug auf Naturschönheit mit dem Königssee messen kann – das ist der Walchensee. Hier athmet die Brust freier, wenn sie auf den weiten Spiegel blickt; keine kahlen Felsenwände engen die Fluthen und die Seele ein; ringsum rauschender Wald an hohen Uferbergen, über welche terrassenförmig das Hochgebirge bis zu seinen eisfunkelnden Gipfeln sich aufbaut. Der Walchensee ist ein sapphirnes Kleinod mit smaragdner Fassung, das aber in der wechselnden Beleuchtung in den schönsten Regenbogenfarben funkelt. Er ist kein See für Eremiten, wie der Königssee; aber er ist ein träumerischer, stimmungsvoller See, geschaffen für eine Einsamkeit, welche dem sehnsüchtigen Blicke in die blaue Ferne nicht entsagt hat.
Unsere Dichter, verehrte Frau, würden auf ein schönes Vorrecht verzichten, das ihnen die heimathliche Natur mit ihren landschaftlichen Reizen bietet, wenn sie nicht den Zauber dieser Bergsee’n mitverwertheten für ihre poetischen Gemälde. Daß unsere Maler darin unermüdlich sind, diese Naturschönheiten sich zinsbar zu machen, das beweist die Malercolonie in der Mantzau, in diesem mit Vor-, Mittel- und Hintergründen reich gesegneten Zauberthale; das beweist auf allen deutschen Kunstausstellungen der große Modellberg für alle Malerakademien, der ehrwürdige „Watzmann“, der, mit allen möglichen Abendröthen ausgestattet, überall von den Wänden herabblickt. Von unsern Dichtern haben die Münchner oder die zeitweise in München lebenden vorzugsweise die Verherrlichung dieser mit den bairischen Landesfarben geschmückten Naturwunder übernommen. Paul Heyse hat eine seiner Novellen in Versen an den „Walchensee“ verlegt; doch der lächelnde Novellist ist kein Naturschwärmer, und es kommt ihm durchaus nicht darauf an, die Schönheiten des Sees mit der bengalischen Beleuchtung verzückter Strophen zu verklären; er läßt ganz einfach ein gesellschaftliches Begebniß mit einer Moral für Ehefrauen und Ehemänner an den Ufern des Sees und auf seinen Fluthen spielen, und nur in gelegentlichen Randglossen seiner plaudernden Muse stellt er dem See in Bezug auf sein ästhetisches Wohlverhalten ein wohlwollendes Zeugniß aus. Anders hat ein anderer Dichter, der auch längere Zeit in der bairischen Hauptstadt verweilte und sogar eine Zeitlang, mit dem Pinsel und der Palette ausgerüstet, Naturstudien in Oel trieb, den „Königssee“ besungen – Julius Große in seinem poetischen Idyll „Gundel vom Königssee“.
Der Name dieses Dichters wird Ihnen, verehrte Freundin, schon öfters begegnet sein. Zur Zeit, als unsere ganze Lyrik mobil wurde und gegen den Erbfeind in’s Feld rückte, war auch Julius Große unter den Kriegssängern und zwar zeichneten sich seine Kriegsgedichte durch einen großartigen Schwung aus, den nur wenige der Genossen erreichten. Das Gedicht „Generalmarsch“ hat Béranger’sches Feuer; es sind jene Trommelwirbel des Refrains darin, welche eine kriegerische Wirkung nicht verfehlen. Dann wirft der Dichter wieder in Dante’schen Terzinen den Franzosen den Handschuh hin.
Ihr habt’s gewollt! – gewollt zu unsrem Glücke:
Der Einheit heil’ges Banner ist entrollt;
Germania’s Urkraft schmettert euch in Stücke,
Den Cäsar und sein Reich. Ihr habt’s gewollt!
Es ist ein zermalmender Schwung in diesen Versen, und nur der Gleichgültigkeit der Zeitgenossen gegen den höheren Stil der Lyrik mag es zugeschrieben werden, daß ihre Wirkung nicht eine bedeutendere war. Freilich, der pomphafte Ton, welchen Große’s Muse anschlägt, ihr Kothurngang haben hin und wieder etwas Einförmiges; die majestätischen Geberden wiederholen sich zu oft, wie dies in der größeren Sammlung „Aus bewegten Tagen“ der Fall ist. Auch hier ist dichterische Schönheit unverkennbar, doch sie prunkt immer in Sammt und Seide und rauscht mit einer stattlichen stolzen Schleppe, und selbst ihr Liebesempfinden spricht sie bisweilen in dreifach gereimten Schleppversen, in prunkhaften Terzinen aus.
Schon in dieser Sammlung hat der Dichter versucht, den oberbairischen Seen eine poetische Fassung zu geben; er besingt, neben dem Achensee und dem Eibsee, diesem weltverlornen Kleinode, das der Zugspitze bei ihrer unglücklichen Morgentoilette aus der Hand gefallen zu sein scheint, besonders den „Königssee“; doch die ganze Fülle seiner landschaftlichen Reize entrollt er erst in seiner erzählenden Dichtung aus dem bairischen Hochlande: „Gundel vom Königssee“, welche den ersten Band der jüngsterschienenen sechsbändigen Sammlung von Julius Große’s „Erzählenden Dichtungen“ bildet.
Eine solche „Gundel vom Königssee“ kann Jeder, der einmal über die Fluthen des Sees gefahren ist, als Vignette der Dichtung aus seiner Erinnerung sich selbst gestalten; er braucht blos das rudernde Mädchen zu idealisiren, welches in Gemeinschaft mit einem Burschen den Kahn nach St. Bartholomäi hinüberlenkt. Diese ländlichen Schönheiten unterbrechen den einförmigen Ruderschlag durch ein trauliches Zwiegespräch, welches indeß ihren Fahrgast nicht in seinen einsamen und melancholischen Gedanken stört. Dafür sorgt der oberbairische Dialekt; Niemand kann errathen, ob das Paar der Ruderer die Sprache der Götter oder der sterblichen Menschen spricht, und nur aus ihrem Mienen- und Geberdenspiele sieht man, daß Amor, der blinde Passagier, zwischen ihnen sitzt.
Schön sind sie in der Regel nicht, die gondelnden Gundels vom Königssee; es ist ein tüchtiger robuster Schlag von Mädchen mit einem tiefen Alt, der etwas männlich klingt, und die Poesie muß schon zu dem zartesten Incarnat auf ihrer Palette greifen, um diese derben, bäurischen Najaden in ein verklärendes Licht zu rücken. Doch die Heldin einer Dorfgeschichte in Hexametern braucht ja nicht gerade in ätherischen Farben zu schimmern – und der eigentliche Held der Dichtung ist der Königssee selbst. Der Dichter giebt ja selbst zu, daß das Landschafts-Element die Grundlinien der Composition des Gedichts auch in der Anordnung der Handlung mitbestimmte und daß es sich vorzugsweise um die Reproduction unvergeßlicher Eindrücke einer gewaltigen Natur handelt.
Was die eigentliche Dorfgeschichte in Versen selbst betrifft, so lege ich, verehrte Freundin, keinen sonderlichen Werth darauf; daß die Gundel anfangs den Ignaz liebt, dann aber sich in ihm getäuscht sieht, indem sie alle Opfer einem Unwürdigen gebracht hat, und zuletzt ihr Herz dem Thomas zuwendet: das ist eine alte Geschichte in Dorf und Stadt und ein sehr beliebtes Novellenthema. Auch daß, ähnlich wie in „Hermann und Dorothea“ die französische Revolution mit ihren weltgeschichtlichen Fernsichten in die kleinbürgerliche Handlung eingreift, so hier die Dorfidylle durch die Vergnügungsfahrt eines Königshofes und seine Abenteuer in der Berggegend, durch die Betheiligung fashionabler Hofherren weitere Perspectiven erhält, ist ein Vorzug, den ich gerade nicht allzuhoch anschlagen will, und die volksthümliche Eigenart, die durch Wörter des Volksdialektes in die Darstellungsweise kommt, giebt nach meiner Ansicht dem stilvollen Hexameter einen etwas bedenklichen Beigeschmack. Dennoch ist auch in der Schilderung des Menschengeschickes, der Begegnungen der Helden und Heldinnen, der Schwankungen in ihren Herzensneigungen so viel Ansprechendes und Sinniges enthalten, daß man dem Fortgange der Handlung selbst mit Antheil folgt. Die Naturschilderungen aber sind wirklich von großer dichterischer Schönheit. Hören Sie, verehrte Freundin, das schwunghafte und farbenreiche Loblied, das der Dichter dem Königssee singt:
Herrlicher Königssee voll mild majestätischer Schönheit,
Heilig erhabene Ruh umschwebt dein Felsengestade.
Wellenumspült und strahlenumblitzt und schwalbenumflogen
Aus smaragdenen Wogen empor ansteigen die Wände,
Unabsehbar verdämmern die Höh’n, unergründlich die Tiefen,
Daß mit Schwindeln die Hand festgreift in die Ruder des Bootes.
Wolkennahe gethürmt gleich Burgen der Götter gigantisch,
Schluchtenzerrissen und wild, dem menschlichen Fuß unerreichbar,
Ragen die Felsen als Pfeiler der Welt urzeitlicher Schöpfung,
Gleich als bewachten sie still den geheiligten See vor der Menschheit,
Jenen listigen Zwergen der Welt, die in Künsten erfahren.
Nur die Wurzel der Föhren erklimmt die verwitterten Schrofen,
Und der Fittig des Aars umschwebt die Gefilde des Eises. –
Aber der Spiegel des Sees, in funkelnder Bläue verschwimmend,
Dehnt sich in magischem Dufte hinaus, wie unendliche Wonnen
Trunkenem Auge verheißt ein Traumbild wogender Sehnsucht.
Wunderbar süß ist dein mächtiger Reiz, goldleuchtender Bergsee,
Daß sich die Brust aufschließt in ahnenden Schauern der Gottheit,
Grauenerfüllt in der Einsamkeit der erhabenen Urwelt,
Gleich als führte kein Pfad in die lachenden Auen zurücke,
Gleich als wäre das Menschengeschlecht noch nimmer erschaffen,
Oder als wär’s schon längst von dem donnernden Zorne der Götter
Seit Jahrtausenden wieder vertilgt von der nährenden Erde,
Daß nur Asche noch weht von Eroberern, von Schaaren der Krieger,
Frommen Mönchen und zahllosem Volk im Staube der Sonne
Draußen auf Haiden im Sturm. – Hier waltet erfrischende Kühle
Unentweihter Riesennatur voll heiligen Friedens,
Schattenumschwebt wie die stygische Fluth. Nur Schatten von Wolken
Sind’s, die d’rüber hinzieh’n und manchmal ruhen am Felsport.
Aehnliche Schilderungen der Alpennatur so wie des Lebens hoch oben in der Bergeinsamkeit sind vielfach in der Dichtung verstreut und bilden die Perlen an der Schnur der Begebenheiten, an welcher der Dichter seine Dorfgeschichte eingefädelt hat.
Süditalienische Natur schildert Große in dem Gedichte „Das Mädchen von Capri“, und auch hier ist die stimmungsvolle Beleuchtung neapolitanischer Landschaft von echt dichterischem Reize. Die Novelle in Versen selbst gehört in ein vorzugsweise von Paul Heyse gepflegtes Genre, das der Touristen- und Künstlerliebschaften auf Zeit, die den italienischen Himmel und das fremde Colorit brauchen, um mit ihren freizügigen Empfindungen nicht zu sehr gegen die bürgerliche Moral zu verstoßen. Ein deutsch-ungarischer Maler hat sich in ein reizendes Kind vom Felseneilande des Tiberius verliebt; doch schwere Krankheit zwingt ihn, nach Neapel zurückzukehren. Hier empfiehlt er sie einem russischen Freunde; er möge als Hort und Schutz ihn bei dem holden Kinde ersetzen. Der Russe geht auf das Abenteuer ein; doch ohne es zu wissen, macht er schon auf der Ueberfahrt von Neapel nach Capri die Bekanntschaft des reizenden Kindes; es entspinnt sich ein glückliches Liebesverhältniß, welches in seiner Entwickelung mit anmuthigen Farben geschildert ist. Allerliebste Genrebilder, etwa im Stile des anmuthigen Genremalers Robert, lösen sich ab mit Landschaftsgemälden im Stile von Poussin und Claude Lorrain, indem ja die Handlung auf einem durch die Geschichte des Alterthums geweihten Boden spielt und das flüchtige Liebes- und Lebensglück mit den Erinnerungen einer großen, aber wüsten Vergangenheit verschmilzt. Auch sonst weiß der Dichter nach allen Seiten hin geistige Fernsichten zu eröffnen. Die Katastrophe dieser Liebe tritt ein, als das Mädchen von Capri erfährt, der Geliebte sei ihr vom Freunde als Ersatz bestellt; sie fühlt sich verkauft und sagt sich von ihm los. Auch diese pathetische Wendung kommt in ausdrucksvoller Weise zur Geltung. Den abenteuernden Russen ruft inzwischen der Feldzug des ersten Napoleon gegen Rußland zurück in’s Vaterland.
Beide Dichtungen, „Gundel vom Königssee“ sowohl wie „Das Mädchen von Capri“, gehören zu den gelungensten neueren Schöpfungen unserer epischen Muse.
Außerdem, verehrte Freundin, hat Große eine große Zahl epischer Gedichte verfaßt, die in das Gebiet der orientalischen Märchen gehören, etwas Phantastisches, Verschleiertes haben, auch einen mehr oder minder klar ausgeprägten Grundgedanken, aber doch nicht jene dichterischen Vorzüge wie diese beiden Hexameterdichtungen. Es liegt auf ihnen etwas wie der Duft von Opium- und Haschischträumereien, und dabei giebt der spanische Trochäus mit seinen mehr ermattenden als verstärkenden Wiederholungen der Darstellung oft etwas Breitspuriges. Gleichwohl fehlt es nicht an Glanzstellen einer orientalisch farbenreichen Phantasie. Die umfassendste dieser Dichtungen ist „Tamarena“; die Heldin derselben ist die Tochter des Großveziers von Bagdad, die sich in einem märchenhaften Zauberschlosse kühn ein phantastisches Glück gründet, den Jüngling, für den sie in Liebe entbrannt ist, zu sich entführen läßt, sich ihm in geheimer Ehe verbindet und in aller Pracht des üppigsten Luxus ein von Glück berauschtes Leben führt. Doch hat diese „Tamarena“ auch etwas von einer „Venus im Pelz“; aus Eifersucht läßt sie dem liebestrunkenen Jüngling die Bastonnade ertheilen und singt dazu „ein Lied von mächt’gem Klange“. Der bestrafte Liebhaber, der außerdem seine Eltern durch sein Verschwinden in tiefes Leid gestürzt hat, verfällt in Wahnsinn; Tamarena bereut ihre Grausamkeit. Der weise Khalif Harun al Raschid schützt indeß „ein holdes Glück, das sich kühn von selbst gegründet“, und führt die Liebenden zusammen. Nicht minder märchenhaft ist „Ferek Musa“. Der Held wird von einer stolzen Schönen dafür bestraft, daß er die Weiber für leichte, um Gold zu erkaufende Waare erklärt hatte. Die schöne Taniura macht ihn zum Bettler; er muß um ihretwillen demüthigende Knechtsdienste thun, bis sie den Bestraften wieder gnädig aufnimmt zum Mitgenuß ihrer großen Reichthümer.
Die Lehre von der Seelenwanderung, die im östlichen Asien viele Millionen von Bekennern zählt, hat unsern Dichter zu einer neuen in jene gesammelten Gedichte nicht mit aufgenommenen Dichtung, „Abul Kazim’s Seelenwanderung“, begeistert – einer divina commedia des Orients. Es geht sehr bunt zu in diesem Guckkasten aller Bilder, welche die Seele auf ihrer Wanderschaft durch das Leben erblickt, und die Lebensläufe bewegen sich bald in aufsteigender, bald in absteigender Linie; ja, auch durch verschiedene Stationen des Thierreiches passirt die Seele hindurch; doch hält sich der Dichter hierbei nicht lange auf und erwähnt nur im Chronikenstil, daß Abul Kazim als Schlange, als Kellerwurm, als Spinne herumgekrochen, und ein anderes Mal, daß er als Goldfisch, Goldkäfer und zuletzt als semmelfarbenes Hündchen existirt hat. Nur in die Hundeexistenz fallen einige romanhafte Lichter, denn als Hund schnüffelt er eine Räuberbande heraus, die seinen Herrn erschlagen hat. Sehr anschaulich sind die Freuden des Hundelebens geschildert, das „Duftgeheimniß“, das den Hund überall umgiebt und reizt, die „Wolke seltsamster Gerüche“, in welcher er schwelgt. Auch in’s Jenseits macht die Seele des Helden einen Ausflug. Dort benimmt sie sich indeß höchst curios; aus Langerweile stiehlt sie den Engeln oft ihre Botschaft, entreißt ihnen die Zornesschalen, verschüttet sie und bewirkt auf Erden große Umwälzungen. Zur Strafe für diese Eingriffe in die Weltherrschaft wird sie in den Höllenschlund des Vesuv hinabgeschleudert, wo namentlich eine schöne Büßerin, Teba, verweilt, die früher als Aspasia und Lucrezia Borgia auf Erden gewandelt ist und jetzt gelegentlich den Blocksberg besucht. Abul Kazim beginnt in der Hölle ein Missionswerk; er will die Sünder bekehren und bessern und dann aus der Hölle entführen. Zur Strafe dafür wird er nach dieser Höllenfahrt wieder an die Oberwelt ausgespieen. Seine Seele hat hier ein großes Rollenrepertoire, das sie im Laufe der Zeiten aufführen muß: Schauspieler bei den Chinesen, König bei den Aegyptern, Kaufmann in Kleinasien, Prophet in Palästina, Krüppel in Frankistan, Feldherr bei den Venetianern, Lehrer der Weisheit, Goldmacher, Derwisch, – ja einmal wird sie auch ein schönes Weib.
Das giebt zu denken, verehrte Freundin. Wie viele Frauen mit männlichem Geiste und Männer mit weibischem Charakter giebt es in der Geschichte! Vielleicht sind dies Seelen, die bisher in dem andern Geschlechte gehaust haben und nun auf einmal in eine ungewohnte Körperlichkeit verschlagen worden sind. Da bleibt denn so etwas von den alten Lebensgewohnheiten haften, und ein ehemaliger General oder Sergeant, wenn er auch längst seinen Schnauzbart verloren hat und in zarter weiblicher Hülle wieder auftaucht, behält doch den befehlshaberischen Ton, an den er sich in seinen früheren Wandlungen auf Erden gewöhnt hat.
Die Behandlungsweise von Große ist phantastisch und grotesk, nicht satirisch scharf und einschneidend. Es ist der Stil der Gozzi’schen Zaubermärchen, welcher in dieser Dichtung herrscht; sie gleicht einer Camera obscura, mit vorbeischwebenden Bildern, vorübergleitenden Abenteuern oft märchenhafter, oft trivialer Art, einem Zaubercabinet mit verschwebenden dissolving views. Nichts davon ist recht zu fassen und festzuhalten mit bleibendem geistigem Gehalte; es ist ein Hereinklingen sinnvoller Bedeutungen, die aber eben so rasch wieder in’s Blaue austönen. Auch die Terzinen haben im Ganzen einen mehr plauderhaften Charakter; sie lassen die sich scharf einprägende Prägnanz vermissen. Es ist eine Dichtung, die man nehmen muß, wie sie ist; die Phantasie des Autors läßt sich mit Behagen gehn; sie nimmt gerade auf, was ihr in den Wurf kommt, und bewegt sich in denselben Purzelbäumen, wie die Seele ihres Helden, der aus einer Menschwerdung in die andere von Zufalls Gnaden herunterpurzelt.
Unsere neuen Dichter, verehrte Freundin, sind vielseitig; kein Romanschriftsteller, der nicht wenigstens ein Drama gesündigt hätte! Auch Julius Große hat dramatische Dichtungen in sieben Bänden veröffentlicht, Schöpfungen, in denen sich das dichterische Talent des Autors nicht verleugnet, die an einzelnen Schönheiten, ja auch an dramatischen Situationen reich sind, aber als ganzes Werk übt keines dieser Dramen eine ergreifende und volle [515] Wirkung aus; es fehlt ihnen der echt dramatische Nerv, da das Talent des Dichters wesentlich ein episches und lyrisches ist.
Auch Romane hat Julius Große geschrieben, verehrte Freundin. Der Roman ist die Poesie in Schlafrock und in Pantoffeln. Ein geistreicher Romanschriftsteller verdient gewiß alle Anerkennung, aber wenn die geborenen Poeten, „denen die ewigen Melodien durch die Glieder sich bewegen“, Erzählungen und Romane schreiben, so kann man dies gewiß mit Recht für eine Nebenbeschäftigung halten, auf welche kein sonderliches Gewicht zu legen ist. Auch in einem Romane kommt Große noch einmal auf die Seelenwanderung zurück. Doch wenn wir im Rausche des poetischen Mohns und Hanfs träumen sollen, so träumt es sich doch besser in Versen als in Prosa. Da ist Abul-Kazim mehr mein Mann, zumal er sich auch einmal in ein schönes Weib verwandelt hat.
Avis au lecteur, verehrte Freundin – und – träumen Sie süß!
Es ist ein eigenthümlich wohliges Gefühl, wenn man, von schwerer Krankheit erstanden, planlos durch Wald und Feld schwärmt, seit langer Zeit zum ersten Male wieder im Vollgefühle seiner alten körperlichen Kraft. Luft und Licht berauscht uns; voller klopft das Herz in der Brust; heißer und schneller jagt das Blut durch die schwellenden Adern; fröhliche Lebenslust weht uns frisch um die Wangen, und alle Jugendthorheiten, die wir längst begraben wähnten, winken uns verführerisch von Neuem.
Es war am Abende eines Tages, an dem alle Frühlingsfreuden der Wiedergenesung jauchzend durch meine Seele gezogen waren, als ich in den luftigen Raum des Cannstatter Sommertheaters trat. Nur mit Mühe drang ich zu meinem Platze durch, der von dem aufgebauschten Seidenkleide einer recht ansehnlichen Schönen fast verdeckt war. Ihr rundes, rothwangiges Gesicht, aus dem zwei große blaue Augen mich verwundert anstarrten, schien mir fast bekannt zu sein, und dennoch kannt’ ich’s nicht, bis, wie mit sich selber sprechend, die vollen Lippen einige unbeholfene Reime kaum vernehmlich zu mir herüberhauchten. Ich erkannte sofort ein arg sentimentales Liebesliedchen, das ich vor Jahren als unfertiger Gymnasiast zusammengeleimt, und wie Schuppen fiel’s jetzt von meinen Augen. Die üppige Schönheit neben mir, die mit so unsäglichem Behagen auf die derben Späße der schönen Helena gelauscht, war die Muse meiner Gymnasiastenjahre, die sentimentale Emma, der ich all die blaßblauen Blümlein, wie sie mein Frühlingsgarten unter Wind und Sonnenschein getragen, vor Zeiten zu Füßen gelegt. Schon längst waren die rührenden Abschiedsworte, mit denen sie mich auf die hohe Schule entlassen, vom Pfeifen der Quarten und Terzen übertäubt worden, die dort meine Ohren umschwirrten, und lebendigere Gestalten hatten ihr Bild bereits aus meiner Erinnerung verdrängt. Wie war die zarte Blume von damals in Saft und Kraut geschossen während der wenigen Jahre, in denen ein altbackener Primaner zum neugebackenen Doctor geworden! Auch sie schien die Veränderungen, die mit dem dummen Jungen von Ehemals vorgegangen, nicht ohne Verwunderung zu bemerken: mit süßem Lächeln schielte sie nach dem vollen Schnurrbarte herauf, der meine noch vom Gluthhauche des Typhus gebleichten Wangen umsäumte.
Wir freuten uns herzlich, vielleicht etwas zu herzlich des Wiedersehens und hatten uns Beide viel zu sagen. So nebenbei – Menelaus sang gerade sein abgeschmacktes Couplet – sprach sie auch von ihrem Manne: er war Theilhaber an einer bekannten Kleiderfabrik und viel auf Reisen. Es ist eine alte Geschichte: „Man kommt immer wieder auf seine erste Liebe zurück.“ So ging es auch uns Beiden, und als die schöne Helena auf der Bühne ihr Traumlied zu singen begann, ward, entsprechend dem Local, auch unsere Stimmung eine gehobene, und wir fingen an, uns in kühne Träume zu versenken, ohne immer die nöthige Rücksicht auf unsere Umgebung zu nehmen. Da legte sich eine leichte Hand auf meine Schulter, und eine tiefe Stimme sprach hinter uns:
„Herr Doctor, ich denke, es ist hoch an der Zeit, die Saison zu beschließen.“
Ein schöner Mann, mit einfachster Eleganz gekleidet, trat vor mich und sah mir mit großen glänzenden Blicken ernst in die Augen, die ich erröthend vor ihm niederschlug. Ein feines Lächeln spielte um seinen weichgeformten Mund, als er, sich tief vor der Dame verbeugend, mich sanft am Handgelenke zum Theater hinauszog, ohne mir Zeit zu lassen, von meinem wiedergefundenen Liebchen Abschied zu nehmen.
„Da wären wir wieder einmal zur rechten Stunde gekommen, um einen guten Jungen vor einem dummen Streiche zu bewahren,“ flüsterte er mir vor der Thür in’s Ohr.
Tief beschämt folgte ich dem treuen Eckard, der mir diese Worte zugerufen. Es war mein liebenswürdiger Lehrer, der gefeierte Arzt Felix von Niemeyer, der auch als trefflicher Docent weithin bekannte Verfasser des berühmten Lehrbuchs der Pathologie und Therapie (nunmehr ist neun Auflagen erschienen).
„Was nun?“ sprach er weiter, indem er mich von der halbgeöffneten Theaterpforte wegzog. „Das Einfachste ist, ich nehme Sie gleich mit mir wiederum nach Tübingen zurück, wo Sie noch genug lernen können, wenn Sie gleich ein preisgekrönter Doctor sind, hier machen Sie mir doch nur dumme Streiche, wie das eben Erlebte zeigt.“
„Aber, Herr Professor!“ fiel ich ihm in’s Wort.
„Was aber!“ unterbrach er mich. „Die Frau Mutter hat nichts dagegen einzuwenden; mit der habe ich mich bereits verständigt, als ich heute wieder einmal nach ihrem kranken Jungen sehen wollte, den ich wider mein Erwarten schon ausgeflogen fand. Also Kehrt gemacht und mit zum Bahnhofe gegangen! Es ist hohe Zeit, wenn wir den Zug noch erreichen wollen“
„Aber, Herr Professor!“ rief ich in ziemlicher Verlegenheit.
„Ah so! wir haben wieder einmal unser letztes Geld in’s Theater getragen,“ meinte er lächelnd. „Macht nichts – es ist ja nicht das erste Mal, daß wir einander aushelfen.“
Damit schob er seinen Arm in den meinigen und zog mich nach dem Bahnhofe, in den unser Zug soeben hereinbrauste. Rasch schob er mich in ein Coupé erster Classe. Sein Gepäck war bereits in Stuttgart darin untergebracht worden, denn bei der großartigen ärztlichen Praxis, die er dort hatte, und als Leibarzt des Königs von Württemberg war er genöthigt, allwöchentlich mehrere Male von Tübingen nach Stuttgart hinabzufahren und hatte deshalb ein eigenes Coupé auf immer für sich gemiethet. Dasselbe war hübsch wohnlich eingerichtet; sogar ein Schachbrett stand auf dem Tische, neben diesem und auf dem Sopha herum lag ein Haufen von politischen und medicinischen Zeitungen und ein Bündel Krankengeschichten.
„Machen wir eine Partie Schach!“ meinte der Professor und bot mir, während er selber eine anbrannte, seine Cigarren an. Ich griff mit Vergnügen zu, denn er rauchte die feinsten Havannacigarren. Als wir in den Bahnhof von Plochingen einfuhren, war ich, und zwar auf die eleganteste Weise, matt gemacht. In der Bahnhofsrestauration ließ er ein ausgezeichnetes Abendessen für uns auftragen und schenkte mir fleißig von dem vortrefflichen Untertürkheimer Rothweine ein. Dazwischen erkundigte er sich bald scherzend, bald mit ernster und liebevoller Theilnahme nach dem Befinden der aus- und eingehenden schwäbischen Reisenden, denn er kannte fast halb Württemberg persönlich und war seiner Freundlichkeit halber in allen Kreisen meines Heimathlandes gleichermaßen beliebt. Die hohe Verehrung, die das schwäbische Volk noch heute seinem Andenken weiht, ist der beste Beweis für die seltene Liebenswürdigkeit des großen Arztes; ich weiß nur noch einen Preußen, der sich bei seinen Lebzeiten einer ähnlichen Beliebtheit bei meinen gegen alles norddeutsche Wesen von Haus aus so sehr mißtrauischen und voreingenommenen Landsleuten erfreut hat und der, ähnlich wie Felix von Niemeyer, noch lange Jahre nach seinem Tode in der Erinnerung des schwäbischen Volkes fortleben wird; es ist Paul Konewka, der jugendliche Landsmann Niemeyer’s.
„Wie wär’s, wenn wir einen Gang durch den Eisenbahnzug [516] machten?“ frug der Professor, als wir von Neuem im Wagen saßen.
Ohne meine Antwort abzuwarten, schritt er mir voran durch die langen württembergischen Wagen hindurch. Die Conducteure, welche sämmtlich die Bräuche des allverehrten Mannes schon längst kannten, ließen ihn bereitwillig gewähren. Nun war es reizend mit anzusehen, wie der feine Herr mit dem Volke in der dritten Classe verkehrte. Dort ließ er sich von einem Bauern über den Stand der Ernte berichten; hier sprach er einem alten Mütterlein Trost zu, die weinte, daß ihr Sohn unter die Soldaten gemußt, oder beschenkte ein schüchternes Kind mit Zimmtsternen und Zuckerbrödchen, die er fast immer in der Tasche trug.
„Was fehlt dem Mädchen da?“ frug er mich, plötzlich stehen bleibend, indem er auf ein bleiches, trotz der warmen Jahreszeit dick bekleidetes Kind zeigte.
„Herr Professor, das kann ich unmöglich sagen, ehe ich es examinirt und untersucht habe,“ war die Antwort.
„Das Kind hat Bronchiektasien; darauf können Sie Gift nehmen. Merken Sie sich’s!“ – und damit wies er auf die eigenthümlich trommelschlägelartig geformten Finger des Mädchens – „wenn ein Kind solche Fingerspitzen zeigt, dann hat es gemeiniglich Bronchiektasien.“
Es war so; ich habe dieses Kind wenige Tage nachher in der Tübinger Klinik untersucht, und es hatte wirklich Bronchiektasien; Niemeyer aber nahm es in den Arm und trug es in sein eigenes Coupé hinüber, um die kranke Lunge des Kindes von dem Tabaksrauche zu erlösen, der durch den Wagen qualmte.
Wir kamen in den nächsten Wagen. Neben einer alten Frau saß ein junges Mädchen, den unförmlichen Kopf dicht mit einem Tuche umwickelt. Er lüftete leicht das Tuch, welches die Stirn des Mädchens umhüllte. Sie war von dicken, gelbweißen, tropfsteinartigen Gebilden bedeckt, die sich, gleich einem Turban, über das ganze Gewölbe des Schädels herlegten; von den Haaren war keine Spur mehr sichtbar.
„Ihr seid auf dem Wege nach Tübingen?“ frug er die alte Frau, welche neben dem Mädchen saß. Sie bejahte die Frage und setzte dem Professor in echt schwäbischer Breite auseinander, daß sie dort den berühmten Professor Niemeyer wegen des kranken Kopfes ihres Töchterleins befragen wolle.
„Das findet sich ja ganz hübsch. Ihr könnt gleich mit mir kommen; dann nehmen wir,“ fuhr er zu mir gewendet fort, „die Krankengeschichte gleich unterwegs auf.“
Damit geleitete er die Beiden gleichfalls in sein Coupé hinüber, wo er sie neben dem lungenkranken Kinde sich setzen ließ.
„Was machen wir mit dem Kopfe des Kindes?“ frug er, nachdem ich die Krankengeschichte verzeichnet, die er mit einer seltenen Genauigkeit aufgenommen hatte.
Ich zuckte mit den Achseln. „Viel wird in diesem Fall nicht zu machen sein; ich wenigstens halte Heilversuche mit einem so hochgradigen Favus für erfolglos.“
„Oho, so schnell werfen wir die Flinte noch nicht in’s Korn,“ rief der Professor. Und jetzt entwickelte er in einer so ungemein lebendigen Weise eine Reihe der originellsten Anschauungen über die Heilung des Favus, die er mit den Worten schloß: „Curirt wird das Mädchen, darauf können Sie Gift nehmen; aber mit ihren Haaren ist es auf alle Ewigkeit vorbei. Schade übrigens um das hübsche Köpfchen,“ fuhr er nach einer, Weile fort; „ich denke, wir kaufen dem Kinde eine Lockenperrücke, sobald wir es curirt haben, dann kann es sich mit Anstand wieder unter den Menschen sehen lassen.“
Und er hat Wort gehalten. Nach wenigen Monaten entließ er das Mädchen, vollständig hergestellt, aus seiner Klinik und gab ihm zur Erinnerung eine kostbare Lockenperrücke mit, unter der es den kahlen Schädel mit mädchenhafter Eitelkeit versteckte.
Endlich gelangten wir in Tübingen an. Ich wurde sofort beordert, die unterwegs eingefangenen Patienten nach dem Universitätskrankenhause zu begleiten und Quartier für dieselben zu bestellen.
In solcher Weise las der geniale Arzt mit den Adleraugen ganz gewöhnlich gerade das interessanteste Material für seinen klinischen Unterricht in des Wortes eigentlicher Bedeutung von der Straße auf; in dem Garten des Tübinger Universitätskrankenhauses konnte man während der Sommermonate regelmäßig eine kleine Schaar solcher auf der Straße gefundener Leute spazieren sehen, die an unheilbaren, aber hochinteressanten und sehr seltenen Krankheiten litten. Durch seine persönliche Liebenswürdigkeit und die humane Vorsorge, die er jeder Zeit für seine Pfleglinge an den Tag legte, wußte es Niemeyer dahin zu bringen, daß solche Kranke bis an ihr Ende im Tübinger Krankenhause verblieben und ihm, wie seinen Schülern, Gelegenheit zu wichtigen Beobachtungen und schließlich zu lehrreichen Sectionen gaben, ja, er verstand es sogar, durch seine allzeit lebendigen, nicht allein ungemein lehrreichen, sondern auch im höchsten Grade unterhaltenden Vorträge den Patienten selbst die medicinische Klinik in Tübingen so anziehend zu machen, daß sie sich förmlich als Mitglieder der Facultät betrachteten und sogar zuweilen den jüngeren Zuhörern Niemeyer’s populäre Vorträge im Garten des Krankenhauses hielten. Namentlich zwei dieser ständigen Patienten waren ganz originelle Käuze. Der eine litt an hochgradiger Entartung der Nebennieren; er war in Folge seiner Krankheit schwarzbraun, wie ein richtiger Mulatte, hatte aber ein zähes Leben und konnte bei warmem Wetter ohne jede Gefahr in’s Freie gehen und außerdem alle häuslichen Verrichtungen besorgen, die keine große Körperkraft erforderten. Er benutzte jede Gelegenheit, sich unter den Professoren der Medicin und den angehenden Aerzten herumzutreiben, und benahm sich allzeit mit großer urkomischer Herablassung gegen dieselben, nur dem Lehrer der pathologischen Anatomie ging er mit possirlicher Scheu aus dem Wege; seinen verstorbenen Collegen, wie er seine Leidensgefährten im Tübinger Krankenhause nannte, gab er regelmäßig das Geleit zu Grabe, in langem blauem Rocke, schwarzem Cylinderhute und weißen baumwollenen Handschuhen, welche Kleidungsstücke er von dem Professor zum Geschenk erhalten hatte. Der andere, der sicher jedem Schüler Niemeyer’s unvergeßliche Remigius Leins, litt an so vollständiger Gefühllosigkeit der Haut, daß er kochendes Wasser nicht von kaltem unterscheiden konnte und das Bett, auf dem er lag, den Fußboden, über den er ging, nicht unter seinen Füßen fühlte, sondern in der Luft zu liegen und zu gehen vermeinte. Er konnte überhaupt nur mit Hülfe des Gesichtssinnes gehen und hantiren; hielt man ihm plötzlich die Augen zu, so wäre er zu Boden gestürzt, wenn man ihn nicht mit den Armen aufgefangen hätte, und Gegenstände, die er in den Händen hielt, entfielen ihm, sobald er den Blick von ihnen wandte. Niemeyer benutzte ihn regelmäßig als glänzendes Beispiel zur Widerlegung der von Professor Leyden aufgestellten Theorie über das Wesen der Rückenmarksschwindsucht. Trotz seines trostlosen Zustandes war dieser Mensch ein lustiger Geselle und ließ sich mit großem Vergnügen von den jüngeren Studenten zu Scherzen und Mystificationen verwenden, zu deren Opfern nicht Medicin studirende Commilitonen erkoren wurden.
Sein allzeit anziehender und wunderbar anschaulicher Vortrag war das Hauptverdienst Niemeyer’s; in ihm gipfelte seine Bedeutung als Lehrer der Medicin. Wohl hat es gleichzeitig mit ihm eine Reihe wissenschaftlich viel bedeutenderer Koryphäen in der Heilkunde gegeben – ich erinnere z. B. nur an seinen Vorgänger Griesinger –, aber als Lehrer standen sie Alle tief unter ihm. Wenn Griesinger eine seiner unerhörten Diagnosen stellte, dann klangen seine Worte dunkel wie ein Orakel; die Diagnose bewies sich richtig bei der Section, aber die Fäden, an denen er sich in dem labyrinthischen Dunkel zurecht gefunden, blieben verborgen vor den Augen seiner Schüler. Bei Niemeyer war es umgekehrt; er hat sich trotz des beispiellosen Glückes, das er in der Praxis gehabt, oft genug geirrt, aber aus jedem seiner Irrthümer haben seine Schüler etwas gelernt. Der Umstand, daß Niemeyer’s Vorträge niemals langweilig waren, ist vor Allem Ursache gewesen, daß seine Klinik nicht leicht „geschwänzt“ wurde; ja, nicht selten erschienen auch Nichtärzte in ihr, so wurde sie von Konewka während seines Aufenthaltes in Tübingen vielfach besucht, wenn er sich einmal, wie er sagte, recht gut unterhalten wollte. Hand in Hand mit seinem rhetorischen Talente ging sein Geschick, seine Zuhörer auf die ärztliche Praxis einzuschulen. Beiden hat er in seinem Lehrbuche der Medicin ein glänzendes Denkmal gesetzt, das auf lange Zeit das beste Unterrichtsbuch für Schüler der Heilkunde sein wird. Diesen beiden Eigenschaften Niemeyer’s hat es mein Heimathland Württemberg zu [517] danken, daß es eine Schaar junger Aerzte von einer Sicherheit im Auftreten und ärztlichem Handeln besitzt, die geradezu beispiellos dasteht.
Als Arzt, wie als Lehrer, war er immer von einer bezaubernden Liebenswürdigkeit, und der persönliche Verkehr mit ihm ist für Jedermann in hohem Grade anziehend gewesen. Von Pedanterie war keine Spur in seinem Wesen, im Gegentheil: nicht leicht verstand es ein Lehrer, so liebenswürdig, wie er, jugendliche Thorheiten seinen Schülern zu verzeihen und verzeihend abzugewöhnen; nachgetragen hat er niemals einem seiner Schüler eine That jugendlichen Leichtsinns; selbst wenn er, was nicht selten der Fall war, von Zeit zu Zeit den Einen oder Anderen auf seiner eigenen Jagd bei der Wilderei, dem uralten Laster des Tübinger Studenten, erwischte, so schickte er ihn mit einem classischen Witze nach Hause, und die Sache war abgethan.
Seine Sorge um das Wohlergehen der Unbemittelten unter seinen Schülern äußerte er ebenso zartfühlend wie originell; nicht wenigen unter den beschäftigtsten Aerzten meiner Heimath ist es nur durch seine großmüthige und nachhaltige Unterstützung möglich gemacht worden, daß sie ihre Studien gründlich vollenden konnten. Von der originellen Art, wie er, wo er nur immer konnte, seine in die Praxis übergegangenen Schüler zu fördern suchte, will ich nur eine einzige launige Probe anführen, die mir selbst begegnet ist.
Ich kam zu ihm, um Abschied zu nehmen.
„Wo eröffnen Sie denn die goldene Praxis?“ frug er.
„Im Schwarzwald, Herr Professor.“
„Sind Sie verrückt geworden?“ rief er und blies eine gewaltige Wolke aus der Cigarre. „Ein Kerl wie Sie gehört in eine Großstadt und nicht in den Schwarzwald; zum Theaterarzt würden Sie gar nicht übel taugen,“ fügte er mit sarkastischem Lächeln bei.
„Ich bleibe auch nur so lange im Schwarzwald, bis ich meine Schulden bezahlen kann.“
„Dazu will ich Ihnen bald behülflich sein. Jetzt reisen Sie mit Gott! Adieu, mein lieber Junge!“
Damit schob er mich zur Thür hinaus.
Ich war Arzt in einem kleinen Städtchen des Schwarzwaldes. Eines schönen Morgens reite ich gemächlich einem Dörflein zu, wo ich mehrere Kranke zu besuchen hatte. Da schmettern lustige Posthorntöne mir entgegen, und in rasender Eile jagen zwei Extrapostchaisen an mir vorüber. Wie ich zurückkomme und eben mein Pferd zu besorgen beginne, rennt athemlos der Hausknecht aus der Post auf mich zu und brüllt schon von Weitem:
„Herr Doctor, kommen Sie schnell! Seine Excellenz der Herr Minister von Delbrück ist angekommen und will Sie consultiren.“
Sprachlos folgte ich dem Menschen.
Auf der Post wurde ich in ein Zimmer geführt, in dem eine Gesellschaft von mehreren Herren und Damen beisammensaßen.
„Sehen Sie, mein Junge, wie ich Wort halte!“ rief mir eine wohlbekannte Stimme entgegen, und Professor von Niemeyer umarmte mich herzlich. Dann stellte er mich dem Minister, der in blühendster Gesundheit neben ihm saß, und einigen hochadeligen Damen aus Berlin vor, die auch mitgekommen waren, seinem Schüler die Praxis begründen zu helfen. Unter heiteren Scherzen flog ein herrlicher Tag dahin. Als die Stunde der Trennung schlug, drückte mir der Minister lächelnd die Hand mit den Worten: „Hoffentlich trägt unsere kleine Kriegslist gute Früchte.“
Und die hat sie getragen: von diesem Tage an war ich der beschäftigtste Arzt weit und breit im ganzen Schwarzwalde.
Der große Lehrer der Heilkunde ist gestorben, viel zu früh für die Wissenschaft, wie für die leidende Menschheit; im schwäbischen Boden, fern von seiner nordischen Heimath, liegt seine sterbliche Hülle. Möge er sanft in der Erde meines Heimathlandes ruhen, und sein verklärter Geist von lichter Höhe freundlich herabschauen auf den bescheidenen Kranz, den, wenn auch nicht sein talentvollster, so doch sein dankbarster Schüler auf sein Grab legt.
So, meinte der Mann, welcher den Bau einer Eisenbahn von Neapel bis zum Krater des Vesuvs unternommen hat, müsse der alte Feuerberg genannt werden, sobald dieser kühnste Schienenweg um und auf denselben vollendet sei. Ob der gewaltige Gatte der Venus, welcher am glühenden Herde der Tiefe über die rauchende Esse gebietet, so großen Respect vor den seine Lavaklippen durchziehenden Schienenfäden verspüren wird, um sich „in Eisen gelegt“ zu fühlen, mag dahingestellt sein; kann aber durch die Kunst und Macht der Technik der schaulustigen Menschheit die bis jetzt noch über alle Maßen beschwerliche, ja sogar lebensgefährliche Strecke über den obersten Aschenkegel des Vesuv bis zum Kraterschlund bequem zugänglich gemacht werden, so ist damit abermals ein gutes und ohne Zweifel auch recht einträgliches Werk vollbracht.
Der Vertreter der Gesellschaft, welche diesen Bahnbau unternehmen will, Herr E. E. Oblieght, hatte in Rom die Baupläne zur öffentlichen Prüfung ausgestellt und sandte der Redaction der Gartenlaube die von uns in Holzschnitt wiedergegebene Zeichnung und eine Beschreibung der künftigen Bahn zu, die wir übrigens in anderen illustrirten Zeitungen bereits abgedruckt finden. Wir beschränken uns deshalb nur auf die nöthigsten Andeutungen zum Verständniß der Illustration, Weiteres für den Zeitpunkt aufsparend, wo über die fertige Bahn zu berichten sein wird.
Von der Eisenbahn von Neapel nach Torre del Greco abzweigend, soll die Vesuvbahn in weitem Bogen um den nordwestlichen, nördlichen, westlichen und südwestlichen Fuß des Berges herumbiegen und Stationen bei den Ortschaften Barra, San Sebastiano, Santa Anastasia, Somma, Ottajano und San Giuseppe erhalten. So weit würde auf dem gewöhnlichen Schienenwege die Locomotive arbeiten. Die Bahnlänge bis dahin würde dreiundzwanzig Kilometer betragen. Von da an beginnt die Steigung und zwar in zwei Absätzen von zusammen drei Kilometern. Der erste Absatz erhält bei einer Länge von zweitausendeinhundert Metern eine größte Steigung von zwanzig Procent und soll bei dem Atrio del Cavallo enden; der zweite Absatz mit der stärksten Steigung bis zu fünfunddreißig Procent soll eine Strecke von elfhundert Metern überwinden und in den Ausgangsbahnhof, wenige Meter vom Kraterrande entfernt, einmünden. Die Bewältigung dieser beiden Absätze über Lava, Schlacken und Asche des Vesuvs hin geschieht durch Anwendung des Drahtseilsystems, über welches wir unseren Lesern nächstens einen besonderen Artikel bringen.
Einem Freunde, welcher soeben von einer Reise durch Italien, mit welcher er eine Besteigung des Vesuvs verbunden hatte, zurückgekehrt ist, verdanken wir noch folgende, unseren Lesern durch ihren belehrenden Inhalt gewiß willkommene Mittheilungen über die bisherige Vesuvbesteigungsweise und die Vortheile der künftigen.
„An der Südseite des Berges, längs der Küste, läuft bekanntlich schon seit länger als einem Vierteljahrhundert eine Bahnlinie, welche sich am Südost-Fuße des Vesuvs in Torre dell’Annunziata theilt und rechts am Strande noch eine halbe Meile nach Castellamare weiter geht, wo sie endet, während die andere Linie über Pompeji nach Nocera, Salerno, Eboli und weiter führt. Die Vesuvbesteiger konnten diese Bahn jetzt bis Portici oder Pompeji benutzen. Im ersteren Falle hatten sie ebenso, wie die größere Masse, welche von Neapel direct mit dem Wagen nach Resina fuhr (eine Stunde Fahrzeit), sich in’s Führerbureau in Resina zu begeben, von wo sie gewöhnlich zu Pferd oder Esel den Weg bis zum sogenannten Eremiten, neben dem Observatorium, zurücklegten. Die Entfernung beträgt zwei Stunden, die Höhe fast die Hälfte des Berges. Bis hierher geht Fahrstraße; eine Minderzahl fährt im Wagen. Die Straße war durch den vorletzten Ausbruch (1868) überdeckt, ist aber wieder hergestellt worden.
Vom Observatorium aus führt ein Fußweg, auf welchem [518] man auch reiten kann, auf den Rücken des Vorgebirges, dessen Ende das Observatorium trägt, zunächst in östlicher Richtung weiter und wendet sich dann, immer steigend, nach rechts in südöstlicher Richtung bis an den Fuß des eigentlichen Kegels. Man braucht zu dieser Strecke ungefähr drei Viertel Stunde und einen ziemlichen Aufwand von Kräften, weil man meist in Aschensand zu gehen hat. Hier ist alle Vegetation, welche unterhalb des Observatoriums durch Lavaströme streckenweise unterbrochen war, definitiv zu Ende.
Am Fuß des Kegels müssen die Reiter ihre Pferde zurücklassen. Es treiben sich da immer eine Menge Leute herum, welche theils die Obhut über die Pferde übernehmen, theils sich als Träger oder zum Beistand anbieten. Man kann nämlich die Vesuvbesteiger von hier an in drei Gruppen theilen; ein Theil will die Ueberwindung der Anstrengung nur den eigenen Kräften verdanken; ein anderer Theil nimmt Hilfe an, gewöhnlich einen Mann zum Ziehen an einem Riemen mit Handhaben und einen zweiten zum Schieben; Einzelne endlich lassen sich auf Tragsesseln hinauftragen. In der That ist es der Mehrzahl der fremden Vesuvbesteiger, besonders den Damen, nicht möglich, ohne Unterstützung hier hinaufzugelangen. Die Höhe beträgt vierhundertfünfzig bis fünfhundert Meter, die Neigung dreißig bis fünfunddreißig Grad, und der Weg ist tiefer Aschensand, in welchen man bei jedem Schritt einsinkt und zurückrutscht.
Als ich im Winter 1850 bis 1851 zwei Mal den Vesuv bestieg, ging der Weg in’s Atrio del Cavallo hinein, die breite, etwas gebogene, nach Süden concave Thalfläche, welche sich zwischen dem eigentlichen Kegel des Vesuv (im Südost und Süd) und den schroffen Wänden der Somma (im Nord) hinstreckt. (Auf unserem Bilde ist die Somma der Gipfel rechts.) Der Anstieg erfolgte somit an der Nordseite, nicht wie jetzt an der Westseite. Damals stieg man auf Lava hinauf, und wenn dieselbe auch großentheils aus lockerem Geröll bestand, doch sehr viel leichter, als jetzt. Der frühere Weg soll erst seit dem Ausbruch vom April 1872 verlassen worden sein, wahrscheinlich, weil sich in derselben Gegend bei diesem Ausbruch eine tiefe Schlucht gebildet hat, durch welche jetzt der Krater nach dem Atrio zu offen ist. Man kann den Vesuv auch von der Ostseite, von Pompeji aus, besteigen. Diesen Weg kenne ich nicht.
Die geplante Bahn wird den Besuch des Vesuv außerordentlich viel leichter und billiger machen. Der Plan ist mit großer Ueberlegung entworfen. Die Bahn soll, wie bereits angegeben, um die Nordseite des Vesuv, am Fuß der Somma hin, in großem Bogen herumführen auf die Südwestseite und erst hier, auf der Seite, wo Pompeji liegt, hinauf. So weit sie in der Ebene hinführt, durchschneidet sie höchst fruchtbares und reichbevölkertes Land, wird somit einen großen, von der Vesuvbesteigung unabhängigen Ertrag gewähren. Die Bergbahn ersteigt den Vesuv auf einer Seite, wo nach den bisherigen Erfahrungen neue Lava-Ausbrüche am wenigsten wahrscheinlich sind. Das oberste Ende, am Rande des Kraters, soll gedeckt werden, wahrscheinlich theils zum Schutz der dort stationirten Angestellten und Arbeiter vor den aus dem Krater aufsteigenden Wolken von Rauch und nicht athembaren Gasen, theils zum Schutz der Bahn und der Maschinen vor den zuweilen aus dem Krater emporfliegenden und am Rande niederfallenden Steinen.
Die Besteigung wird durch die Bahn nicht nur wegen des Wegfalls aller Anstrengung, die kürzlich noch einem Besteiger das Leben gekostet hat (durch ‚Herzschlag‘), wie wegen der großen Verminderung des Kosten- und Zeitaufwandes sehr viel angenehmer und leichter werden, sondern auch die Erreichung der mit der Vesuvbesteigung verbundenen Absichten viel mehr sichern. Jetzt kommen die Meisten so vollständig erschöpft oben an, daß sie weder für die Aussicht noch für die Eigenthümlichkeiten des Vulcans Sinn und Genußfähigkeit mehr haben. Der Krater selbst ist meist mit Rauch erfüllt und gewährt nur auf Augenblicke, wenn ein Windstoß den Rauch auf die Seite treibt, einen Einblick. Jetzt haben die Besucher weder so viel Zeit, um auf günstige Momente zu warten, noch genügende Körperkräfte übrig, um auf dem Rande vielleicht um den halben Krater herumzugehen und die Windseite aufzusuchen. In Zukunft wird man am Rande des Kraters aussteigen, also völlig frisch ankommen und über Zeit und Kräfte frei verfügen, auch im Nothfall leicht wiederkommen können.“
Drei große Fragen der Zeit waren es, welche mich im October 1838 lebhaft erregten. –
Mit dem kostbarsten Schatze von einem Manuscript in der Tasche eilte ich, wie nachher noch zehn Jahre lang fast alle Tage, nach der Kochstraße Nr. 70 zu Berlin, eine Treppe hoch, zu dem grauen Männchen mit dem Kopf voll weißen Haaren. Er saß in dem einfenstrigen Stübchen mit nur einem Stuhle, einem unwandelbaren, nicht polirten, nicht gestrichenen Tische am Fenster und einem ebenfalls unwandelbaren birkenen Stehpulte an der Seite. Die meisten Schauspieler damaliger Zeit, Künstler, Schriftsteller Berlins haben wohl alle mehr oder weniger oft in diesem kleinen Käfig von Zimmer gestanden. Nur für Damen holte der kleine, unwandelbare Professor Gubitz zuweilen einen gewöhnlichen Rohrstuhl aus dem Nebenzimmer, aber auch nicht für alle. Wenn ich nicht irre, beehrte er blos Charlotte von Hagen, die Birch-Pfeiffer, Clara Stich und vielleicht noch zwei oder drei andere weibliche Größen der königlichen Bühne mit einer solchen Gelegenheit und Aufforderung zum Sitzen. Männliche Größen, selbst Herr von Küstner, Seydelmann, Rott, Varnhagen von Ense, Karl von Holtei, Fouqué, Wilibald Alexis, Franz von Gaudy, der damalige Assessor und Verfasser des „Grad’ aus dem Wirthshaus“, Kopisch, Chamisso, ja sogar der alte ehemalige Minister und Dichter von Stägemann mußten stehen, während er, vielleicht um bei der Unterhaltung keine Zeit zu verlieren, tief über ein Buchsbaumblöckchen gebeugt saß und emsig den neuesten Holzschnitt corrigirte. Nur in dem noch kleineren Hinterzimmer saß sehr lange immer ein junger Mann, um Holzschneiden zu lernen, was ihm aber nicht so gut gelang, als seitdem sein Eindringen in das tiefste Leben des größten germanischen Dichters Shakespeare. Dieser Holzschneidelehrling war nämlich Rudolph Genée.
Die drei großen Zeitfragen, die damals zum ersten Male in meinem Kopfe zusammen wirthschafteten, hatten während des darauffolgenden Vierteljahrhunderts unsere ganze Zeit umgewandelt, nur nicht den Professor Gubitz. Als ich ihn 1861 zum ersten Male wiedersah, war’s noch ganz dasselbe graue Männchen mit dem Kopf von weißen Haaren, in demselben einfenstrigen Käfig mit dem unwandelbaren Tische und demselben birkenen Stehpulte. Nur um ihn herum und weit auf der ganzen runden Erde war Alles anders, Vieles um Hunderte von Procenten besser, Einiges freilich auch viel schlimmer geworden. Davon wollte er nun endlich nichts mehr wissen. Und so legte er sich bald darauf eines Tages hin zum Sterben, ohne je vorher krank gewesen zu sein.
Ja, das graue Männchen mit dem Kopf voll weißen Haaren war beinahe während der ganzen ersten Hälfte dieses Jahrhunderts eine merkwürdige, ungemein bekannte Größe Berlins für Bühne, Kunst und Literatur. Wer aus diesen Kreisen etwas auf dem Herzen hatte, begab sich nach der Kochstraße Nr. 70, eine Treppe hoch. Neulinge und Nestors, Alle wanderten zum Professor Gubitz. Ich that dies pflichtgemäß zehn Jahre lang, so daß ich auf diese Weise alle damaligen Größen Berlins und auch viele aus anderen Orten irgend ein oder mehrere Male hinter dem holzschneidenden Professor stehen sah. An diesem erwähnten Octobertage 1838 waren’s der damalige Pietsch der „Vossischen Zeitung“, Rellstab, und ein blasser, langer, mir unbekannter Mann. Begeistert über den Inhalt meines Artikels platzte ich gleich damit heraus und erzählte mit schwimmenden Blicken in die Zukunft von der in meinem Artikel geschilderten fabelhaften Entdeckung eines Franzosen, Namens Daguerre. Er verstehe es, Glasplatten chemisch so zu behandeln, daß sie einem beleuchteten Gegenstande gegenüber diesen in ganz kurzer Zeit genau auf dem Glase im Portrait wiedergäben. Auf diese Weise könne man menschliche
[519] [520] Gesichter, wie sie leibten und lebten, aber zugleich in einer gewissen geisterhaften Veredelung beliebig oft portraitiren, wie natürlich auch von allen anderen Gegenständen die allergetreusten Lichtabbildungen erhalten „Denken Sie sich nur, Herr Professor, das Licht selbst ein Xylograph, ein Maler!“
Aber er pustete ruhig die kleinen Spähnchen von seinem Buchsbaumblocke und meinte, es werde wohl wieder so ein französischer Schwindel sein, aber interessant sei der Artikel, und er werde ihn natürlich sofort im „Gesellschafter“ zum Besten geben. Der dicke, haarige Rellstab brummte etwas von Dampf und Dunst, der nun die Welt beherrschen werde, aber gewiß nicht lange. Der erste Eisenbahnzug, der heute Morgen von Berlin abgegangen sei, werde entweder alle Cultur zum obdachlosen Strolche machen oder dem ganzen Dampfschwindel das Todesurtheil sprechen. Bei allem Respecte vor dem damaligen Unfehlbaren der „Vossischen Zeitung“ widersprach ich doch, wenn auch bescheiden. Auch der blasse, lange Mann neben mir am birkenen Stehpulte meinte, man müsse nicht so schnell urtheilen; jedenfalls seien die Eisenbahnen ebenso wie meine erste Kunde von der Pariser Lichtdruckerfindung, so wie seine eigne Idee einer näheren Prüfung würdig und der größten Vervollkommnung fähig.
„Welche Idee, wenn ich fragen darf?“
„Oelbilderdruck.“
„Oelbilderdruck? Wie meinen Sie das?“
„Wollen Sie sich darüber näher unterrichten, so bitte ich Sie, mich zu besuchen. Ich heiße Liepmann[WS 1], wohne da und da.“ –
Erster Eisenbahnzug aus Berlin, erste Kunde von der Photographie, erster Klang vom Oelbilderdruck an diesem einzigen Tage des Octobers 1838. Gegen Abend desselben Tages sah ich nun auch mit eignen, leibhaftigen Augen zum ersten Male dieses wasserdampf- und feuerspeiende, Raum und Zeit zermalmende Ungeheuer vor mir vorbeirasen, und ich gestehe, daß ich jetzt nach sechsunddreißig Jahren immer noch große Augen mache, wenn ich eine solche ungeheuerliche Verkehrsschlange in voller Raserei dahinbrausen sehe. Erquickender und anmuthender ist für mich freilich die jetzige kosmopolitische Blüthe der beiden anderen Culturmächte der Gegenwart, dieser Typographie der Malerei in der Photographie und im Oelbilderdruck. Letzterer hat für mich außerdem noch eine tragische Seite. Ich habe den Erfinder desselben, diesen blassen, langen Liebmann unter den furchtbarsten Opfern, Mißgeschicken und Verhöhnungen langsam und sicher sinken, moralisch und materiell umkommen sehen, ohne ihm mit meinen besten Bemühungen helfen zu können. Und welcher Glaube, welcher Heldenmuth, welche Hartnäckigkeit des hungernden Genius in fester Ueberzeugung von der Größe und Zukunft seiner Erfindung, allem Hohne der Fachmänner, aller Gleichgültigkeit und Niederträchtigkeit des Publicums gegenüber! O, könnte er jetzt den Triumph dieser seiner Kunst, für welche er sich langsam todtmartern ließ, in diesen farbigen Blüthenmeeren gedruckter Oelbilder, durch welche die theuersten, unzugänglichen Originale unserer großen Meister jeder gebildeten Häuslichkeit zugänglich werden, mit eigenen Augen genießen!
Technisch und künstlerisch immer originalähnlicher, hat sich der Oelbilderdruck namentlich während der letzten zehn Jahre zu einem so reizenden Verschönerungsmittel gebildeter Häuslichkeit bis in kleinbürgerliche und anständige Arbeiterkreise hinein entwickelt und ausgebreitet, daß man ihn nun nachgerade als eine der schönsten Culturmächte der Zeit würdigen lernen muß. Die Maler und Kunstkritiker von Fach, sowie reiche Leute, die sich Originalölbilder kaufen, sprechen zwar noch gern geringschätzig von dieser Typographie der Malerei; aber ihre Einwendungen können sich jetzt nur noch hauptsächlich auf die geringere Dauerhaftigkeit der aufgedruckten Farben beschränken. Dies will aber wenig sagen, seitdem man weiß, daß gute Oeldruckbilder doch mindestens fünfzehn bis zwanzig Jahre Farbe halten. Der Preis beträgt im Durchschnitt etwa den hundertsten Theil des Originales, welchem es für den künstlerischen Genuß oft schon so vollkommen gleicht, daß man Ur- und Abbild nebeneinander nur mit scharfen Augen ganz in der Nähe unterscheiden kann. So gewinnt also die Ausbreitungsfähigkeit des gemalten Originalbildes eine Breite und Tiefe in alle Welt hinein, die man kaum hoch genug schätzen kann.
Der schöne Luxus reichster Leute wird immer mehr zu einem bürgerlichen Gemeingut, so daß Schönheitssinn und durchheiterte Häuslichkeit aus den Bel-Etagen bis in die Dachkammer hinauf- und in die Keller hinuntersteigen, der Rohheit und Häßlichkeit den Mund stopfen und die Faust lähmen. Schon der technisch und künstlerisch vollendete Holzschnitt, von welchem der Vater der neueren Xylographie, Gubitz, sich noch nichts träumen ließ und wie ihn heut zu Tage wöchentlich Millionen Menschen immer wieder frisch durch die Gartenlaube genießen, wird eine immer erfreulichere und wirkungsvollere Macht der Cultur und des guten Geschmacks; aber man muß erst aufschlagen und dazu lesen, während das originalgleiche, farbenfreudige, schön eingerahmte Oelbild bei jedem Aufblick im Zimmer unwillkürlich erheiternd und geschmackbildend wirkt. Wer mit der Zeit hundert Thaler in diese Verschönerung seiner Häuslichkeit wendet, hat, wenn er eine künstlerische Auswahl trifft, eine annähernde Entschädigung für die Bildergalerie des reichen Mannes. Und tritt eine Zeit der Erlöschung ein, so können mit den geringsten Opfern immer neue und jedenfalls vollendetere Meisterwerke der Malerei an die Stelle veralteter Schönheiten treten.
Ja, das Schmerzenskind des Märtyrers Liebmann ist längst eine Schwester des Schiller’schen Mädchens aus der Fremde geworden und bietet aus besonderen Anstalten in allen civilisirten Ländern und aus unzähligen Schaufenstern jedem verschönernden Häuslichkeitssinne anmuthige Gaben. Der „Allgemeine deutsche Kunstverein zur Förderung des Oelbilderdrucks“ in Berlin, Hölzel in Wien, Seitz in Altona, E. Gaillard in Berlin u. A. haben sich um diesen Zweig der Kunstindustrie große Verdienste erworben. Da nun die Kunst aus allen ihren wahrhaften Blüthen bildend, veredelnd, vermenschlichend durch die Sinne auf Sinnes-, Denkungs- und Handlungsweise irgendwie wohlthätig wirkt, so kann man sich nur freuen, daß auch durch die Kunstindustrie des Oeldrucks immer weiter und breiter Schönheit und Lebensfreude selbst bis in die Häuslichkeit des Bürgers, des Bauern und des strebsamen gemeinen Arbeiters getragen wird.
Aber erst die in jetziger Vollendung und Fülle wirksame Erfindung Daguerre’s schließt die Schätze der Kunst aller Zeiten und Zonen für Erheiterung und Veredelung der ganzen Menschheit auf. Schon vor Jahren hieß es in einem Berliner Possencouplet: „Auf jedem Dache sitzt ein Photograph.“ Manche derselben ziehen das vorübergehende Publicum halb mit Gewalt auf ihre Höhen hinauf, ohne ihm die Mühe des Treppensteigens zuzumuthen. Man braucht sich nur auf einen Stuhl zu setzen und wird flink durch Flaschenzug emporgehoben. Die Industrie der photographischen Albums und des Tauschhandels mit photographischen Portraits setzt jährlich viele Millionen Thaler um und jedenfalls noch viel höhere Werthe der Neigung von Herzen zu Herzen zwischen Familien, Freunden, Verwandten und Bekannten, zu denen in Amerika sogar unzählige Geister unserer Dahingeschiedenen gehören. Man mag über diesen Humbug nach Belieben lachen und spotten; aber ich habe eine ungeheure Sammlung von amerikanischen Geisterphotographien gesehen, die in technischer Vollendung wahrhaft bewundernswürdig sind und so zu sagen der Unmöglichkeit, Geister zu citiren und zu sehen, meisterhaft spotten. Man sieht Mütter mit ihren verstorbenen Kindern klar unsichtbar-sichtbar auf dem Schooße, verstorbene Mütter, die aus duftig weißen Gewändern heraus ihre durchsichtig gehauchten Arme um den Hals des noch körperlich lebenden geliebten Kindes legen; corpulente, massive Väter im traulichen Vereine mit ihren in der Blüthe der Jahre hinweggerafften Söhnen, sieht anmuthig hingehauchte liebe Angehörige von jenseits des Grabes in deutlichster Portraitähnlichkeit, wie sie um das kräftige Portrait des noch Lebenden Blumen streuen; kurz eine Fülle von Glauben, Aberglauben, Sehnsucht, Hoffnung und Ahnung verwirklicht und festgebannt auf das geliebte Lichtbild. Ohne Amerika um diese zweifelhaften Vorzüge zu beneiden, kann sich doch Jeder auch bei uns bis zum Kutscher herab im Laufe weniger Jahre mit einem guten Album voll geliebter Gesichter und Gestalten bereichern, die ihn in genauester Individualität bei jeder Durchblätterung mit klaren Augen und freundlichem Blicke begrüßen. Welche Fülle von Freuden fließt auf diese Weise in millionenfachen Hin- und Herströmungen durch die jetzige Menschheit!
Nun hat sich außerdem die Photographie der kostbarsten Kunstschätze der Welt bemächtigt, die sonst unbezahlbar in allen [521] möglichen Museen weit umher zerstreut und gefesselt hingen. Ich erinnere nur an die trefflichen Hanfstängel’schen Nachbildungen der Dresdener und Münchener Galerien und der Kasseler Kunstschätze, namentlich aber an die Unternehmungen der „Photographischen Gesellschaft“ in Berlin, die sich außer ihren vortrefflichen großen Nachbildungen besonders durch die billigeren Photographien der Kunstschätze aller Galerien ein hervorragendes Verdienst erworben hat. Die Zweiganstalten dieser Gesellschaft in London, New-York, Paris, wie ich höre, sogar in Indien, China und Japan, sowie die in aller Welt reisenden Agenten machen diese Schätze immer mehr zu einem veredelnden Gemeingute der ganzen Menschheit. Wenn wir noch hinzufügen, daß der jetzige Director der Gesellschaft für alle seine Beamten und Arbeiter Einrichtungen getroffen hat, welche denselben für ihren Abgang oder für ihr Alter die Früchte ihres treuen Fleißes mit Zins auf Zinseszins sichern, so kommt zu ihrer Bildungs- und Geschmacksförderung auch noch ein socialer Segen, dem wir gerade heut zu Tage einen besonderen Werth für Nachahmung zuerkennen müssen.
Unter den vervielfältigenden Künsten, dem Holzschnitt, Kupfer- und Stahlstich, nimmt neuerdings die Typographie der Malerei als Oeldruck und Photographie einen immer höheren Rang ein, weil dadurch der großen Menge die seltensten und theuersten Schätze aller Zeiten und Zonen allgemein zugänglich gemacht werden. Kommt nun noch dazu die Erfüllung der mir geheimnißvoll gewordenen Prophezeiung der farbigen Photographie genau nach dem Leben, so können wir uns vorläufig kaum einen schöneren Triumph auf dem Gebiete der Kunst und Lebensverschönerung denken. Wer daran selbst genießend möglichst theilnehmen will, nehme sich zu guter Letzt noch Goethe’s Ausspruch zu Herzen: „Das Nützliche fördert sich selbst, denn die Menge bringt es hervor und Niemand kann es entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn Wenige stellen es dar und Viele bedürfen es.“
Ein halb vergessen gewesenes Denkmal. (Mit Abbildung, S. 511.) In Nr. 28 der Gartenlaube haben wir der Herzogin Charlotte von Hildburghausen ein Denkmal gesetzt. Wir haben darzuthun versucht, wie geartet diese Frau war, die wir den hervorragenden fürstlichen Persönlichkeiten ihrer Zeit beizählen müssen. War es daher zu verwundern, daß sich die Königin Louise, die ihr in so vielen Stücken gleicht, immer wieder zu der Schwester und ihren gemüthreichen Angehörigen hingezogen fühlte? Auch an der Seite ihres Gemahls, des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten, besuchte sie mehrmals das kleine, aber an Naturschönheiten nicht arme Herzogthum Hildburghausen. Besonders gefiel ihr das idyllisch gelegene Lustschloß Seidingstadt, wohin sich der Hof in den Sommermonaten zurückzuziehen pflegte.
Einen herrlichen Blick in das gesegnete Frankenland bietet der Weg dorthin, der die Wasserscheide zwischen Weser- und Rheingebiet überschreitet. Da zeigen sich auf charakteristischen Hügelformen die altberühmten Bergschlösser Coburg, Callenberg, Heldburg, Straufhain, ferner die vulcanischen Gebilde der beiden Gleichberge, der Stolz der Gegend. Der Hintergrund wird durch die lang hingestreckten Haßberge abgeschlossen. Dazwischen lachende Fluren, üppiger Waldwuchs, behäbige Ortschaften. Aber auch die nächste Umgebung des Städtleins im Werragrunde bot damals vielfachen Reiz. Ein früherer Herzog hatte neben dem Residenzschlosse für den Erlös der erheiratheten und an die Generalstaaten verkauften holländischen Grafschaft Kuylenburg einen großartigen Park à la Versailles mit Pavillons, Fontainen, Naturtheater und Irrgarten angelegt, nach welchem letztgenannten Theile das Ganze noch heute benannt wird.
Alte Karten und Pläne, die uns vorliegen, geben ein genaues Bild von diesem Wundergarten, den der Herzog nach Verlegung des Werrabettes mit einem theilweise ummauerten Canale umgeben ließ, auf welchem sogar „Seegefechte“ geliefert wurden. Mit dem veränderten Zeitgeschmacke schwanden die zopfigen und beschnittenen Hecken, und es ward der englische Geschmack vorherrschend, charakterisirt durch breite Wiesenflächen und trauliche Baumgruppen. Dort, wo die fürstlichen Schwestern so gern lustwandelten, ließen auf einem künstlichen Hügel inmitten einer baumumrahmten Rasenfläche Friedrich und Charlotte im Jahre 1815 ihrer theuren Louise ein Denkmal von Sandstein in antikem Stile errichten. Auf der Vorderseite desselben befindet sich das vom Bildhauer Schulz aus Gotha in Marmor trefflich ausgeführte Reliefbrustbild der Königin, während die beiden Seitenflächen durch Schwan und Adler und die Rückseite durch die nachstehende Aufschrift und eine Reihe von Distichen geschmückt wird, welche von dem damaligen Gymnasialdirector Sickler, einem seiner Zeit bekannten Philologen und Alterthumsforscher, verfaßt sind. Aufschrift und Distichen lauten:
Unserer unvergeßlichen
Louise
Königin von Preußen
Friedrich R. Hzg. z. Sachsen
Charlotte R. Hzgn. z. Sachsen
MDCCCXV.
Freundliche Nymphen der Flur und des Thals umsprossende Blumen!
Kinder des Haines umher, trauliche Lüfte der Au!
Schützet der Schwester Gebild erhaben am heiligen Denkmal,
Hüllt es in lieblichen Duft, fächelt ihm zärtlichen Hauch!
Oft hat sie euch begrüßt in der Morgenröthe der Jugend,
Wallend am Schwesterarm; hier oft verhallte ihr Laut.
Oft hat ihr Blick hier geruht, umflossen vom Lichte des Himmels;
Lieblicher strahlte von ihm Liebe und Milde für uns.
Ach, ach, sie war nur zu früh im Sturme der Zeiten geschieden!
Nie mehr nahet sie euch, grüßet euch ferner nicht mehr.
Lebend erblickte sie nicht Teutonias siegende Fahnen,
Sah nicht Borussias Aar führen der Heere Triumph.
Ach, sie ruhte, die Hand, im Dunkel der Trauercypressen,
Welche die Fahne des Siegs, Freiheit für’s Vaterland, hob.
Doch aus der Sphäre des Lichts, wohin sie voran uns gestiegen,
Aus der Gestirne Kreis thront sie nun freudig herab.
Dort empfing sie die Helden, gefallen im heiligen Kampfe,
Dort vertheilet sie nun ihnen die Kränze des Siegs.
Und wie die Blüthen des Lenzes entführt noch Düfte entsenden,
So noch spendet sie uns segnend den himmlischen Duft.
Als nach der Umwandlung des Schlosses in eine Caserne für das zweite Bataillon des sechsten thüringischen Infanterieregiments Nr. 95 sich in der Nähe ein Exercirplatz nöthig machte, wurde Hügel nebst Denkmal entfernt und letzteres an einem andern abseits gelegenen Orte aufgestellt, wo es bereits durch ruchlose Hände gelitten hatte, als jüngst die allgemeine Aufmerksamkeit plötzlich auf dasselbe hingelenkt wurde. Sobald Kaiser Wilhelm von dem Vorhandensein eines solchen Denksteines erfuhr, ließ er sich eine Photographie desselben vorlegen; sofort wurde an Restaurirung des Denkmals und Herstellung einer würdigen Umgebung desselben Hand gelegt, und beides ist nunmehr vollendet.
Kehren wir im umgewandelten Irrgarten um vier Jahre zurück! „Wenn heut’ ein Geist herniederstiege,“ so dachten wir mit dem Dichter, als an der frühern Stätte des Denkmals, um einen Feldaltar geschaart, am 24. Juli 1870 jenes tapfere Bataillon feierlichen Feldgottesdienst beging, bevor es sich, von dem erhabenen Sohne der Königin Louise zum Kampfe gegen den alten Erbfeind gerufen, bei Wörth, Sedan und an der Loire unvergänglichen Ruhm erwarb. Daher erfüllt uns gerechte Freude über eine geschichtliche Erinnerung, die unsere Stadt mit dem Namen der herrlichen Frau verknüpft, welche ihr Volk zu hoher Vaterlandsliebe begeistert, in den Tagen der Demüthigung edel und standhaft ausgeharrt und dem deutschen Reiche einen Kaiser gegeben hat.
Eine neue Pflicht des Publicums. Niemand kann leugnen, daß bei der Summe des in jedem Lebensberufe nothwendigen Wissens und dem allgemeinen Bildungstrieb der Gegenwart es Bücher giebt, die wie das liebe Brod zum tagtäglichen Bedürfniß werden. An die Spitze dieser Literaturwerke stellt heutzutage Jedermann die Conversationslexika oder sogenannten Real- oder Universal-Encyklopädien. Es versteht sich von selbst, daß man solchen Büchern gegenüber vor Allem wünschen muß, daß sie so fehlerfrei hergestellt werden könnten, wie dies eben menschenmöglich ist. Wie schwer dies aber ist, davon hat der größte Theil des Publicums keine Ahnung. Es bekommt das Buch fix und fertig in die Hand; da fällt es ihm so wenig bei, zu überlegen, wie viel hundert Köpfe daran gearbeitet haben, als es bei Messer, Gabel und Löffel darüber nachdenkt, durch welche Anzahl von Händen das Material gegangen ist, bis es in so bequemer Form neben dem Teller liegt.
Jede neue Auflage eines solchen Werkes erfordert jahrelange Vorbereitung. Es ist nicht damit gethan, eine lange Liste von Mitarbeitern zusammen zu bringen: diese Mitarbeiter müssen für jedes Fach wieder neu geschult werden, und dies ist um so schwieriger, je berühmter die Herren, je mehr sie Autoritäten in ihrem Fache sind. Jeder derselben hält sein Fach für das wichtigste und beansprucht für seine Artikel „angemessenen“ Raum. Für ein Werk von festbestimmter Bändezahl und Erscheinungsfrist ist aber Ein- und Unterordnung aller Mitarbeiter nöthig, wenn nicht ein literarisches Ungethüm wie z. B. die „Ersch und Gruber’sche Encyklopädie“ daraus entstehen soll, die seit fünfundsechzig Jahren nicht erleben und ersterben kann, obwohl sie als eine unerschöpfliche Fundgrube gelehrten Wissens in ihren bis jetzt einhundertachtundfünfzig Bänden auch ihre wohlverdiente Ehre hat.
Eine Hauptfrage ist dann: aus welchen Quellen schöpfen die Mitarbeiter? Haben sie eine Stellung und die Mittel, um sich immer das neueste und beste Material zu verschaffen? Haben sie immer die Gewissenhaftigkeit, es sich nicht hie und da mit solchen Arbeiten bequem zu machen, d. h. Vorhandenes ohne strengste Prüfung zu benutzen? Gerade deshalb, um jeden Einzelnen zu überwachen, sind heutzutage Fach-Redactionen für ein solches Werk unentbehrlich; der Haupt-Redaction bleibt mit der Regulirung des Gleichmaßes der Artikel und deren möglichst allgemein verständlicher Form immer noch genug zu thun.
Ferner: wie schwer ist es oft, das Richtige und Wahre aus entfernten oder noch wenig erschlossenen Gebieten zu erlangen! Ein solches Gebiet ist z. B. Rußland und das gesammte russische Staats- und Volkswesen. Dort wird der Regierung selber Vieles anders berichtet, als es in der Wahrheit ist, so daß man mit den officiellen Quellen noch vorsichtiger, als mit den privaten sein muß. – Und wiederum giebt es Gegenstände, für deren encyklopädische Bearbeitung der Stoff erst herbeigeschafft werden muß. Beispiel: der in der dritten Auflage vom Meyer’schen fünfzehnbändigen Conversationslexikon so eben beginnende Artikel Banken. Um die Mitarbeiter in den Stand zu setzen, diesen Gegenstand nach seiner [522] Weltwichtigkeit zu behandeln, mußten Verlagshandlung und Redaction an sämmtliche Bank-Directionen Deutschlands und die wichtigsten des Auslandes schreiben und sich von ihnen selbst die authentischsten Mittheilungen über deren Entstehen, Wesen, Entwickelung und Statistik erbitten. Dieser Bitte wurde von den meisten Directionen, und von einzelnen mit eben so großer Bereitwilligkeit wie Ausführlichkeit, entsprochen. Und aus diesen Stößen von Material mit den Tausenden von Zahlen mußte der Artikel herausgearbeitet werden, der nach der Oekonomie eines fünfzehnbändigen Werkes doch nur einen sehr bestimmt beschränkten Raum einnehmen darf. Nun selbst angenommen, in diese Materialmasse habe sich kein Irrthum eingeschlichen, wie leicht ist bei der Bearbeitung selbst durch den aufmerksamsten Mann ein Fehler begangen, denn der Geist ermüdet ja auch, und wie schwer ist dann ein solcher Fehler durch die Correctoren zu entdecken! Und so geht es mit jedem neuen Material; der Weg von der Quelle durch die Köpfe und Hände der Schriftsteller, Schriftsetzer, Correctoren und Revisoren bis vor das Auge des Publicums ist ein langer, und trotz aller Gewissenhaftigkeit bedarf jeder Mitarbeiter daran für sich nicht selten des entschuldigenden Sprüchleins, daß eben „Irren menschlich“ sei.
Dennoch kann die Fehlerzahl jedes gewissenhaft redigirten Conversationslexikons auf ein Minimum beschränkt werden, wenn das Publicum sich zu seinem eigenen Besten dazu entschließt, selbst Mitarbeiter, oder noch besser Mitcorrector seines encyklopädischen Hausbuchs zu werden. Wenn jeder Leser sofort jeden von ihm bemerkten Verstoß niederschreiben und verbessern und die Niederschrift der betreffenden Redaction einsenden wollte, anstatt etwa nur mündlich gegen Andere seinem Aerger über entdeckte Fehler Luft zu machen – wie dankbar würden ihnen die Redactionen dafür sein! Nur auf diesem Wege ist es möglich, nach und nach den höchsten Grad von Correctheit solcher Werke zu erreichen.
Es ist wirklich kein Meisterstück, selbst einem mit anerkanntester Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit redigirten Conversationslexikon immer noch eine Reihe von Fehlern nachzuweisen, wenn man mit ganz besonderem Eifer sich darauf legt, und namentlich, wenn man hinsichtlich der Auswahl der Artikel größere Anforderungen an ein Werk stellt, als es erfüllen kann oder will. Auch in dieser Hinsicht sollte das Publicum seine Wünsche offen gegen die Redactionen aussprechen, und es ist deßhalb ein sehr glücklicher Gedanke der Redaction des Meyer’schen Conversationslexikons, daß dieselbe zu diesem Behufe bereits einen brieflichen Verkehr mit ihren Abonnenten eröffnet, zu welchem sie die Umschläge ihrer Hefte benutzt. Man wird nämlich gerade in der dritten Auflage des Meyer’schen Werkes manchen weniger wichtigen geographischen und biographischen Artikel vergeblich suchen. Derlei mußte wegfallen, um einestheils für die ausführlichere Behandlung wichtiger Gegenstände und anderntheils für das aus der Gegenwart herandrängende Neue den nöthigen Raum zu gewinnen. Wird der Leser jenes Ausführliche und dieses Neueste missen wollen? Nein! Aber das Ausgefallene wünscht er auch noch dazu. Gut! Dann bedenke der Leser, daß dieser Zuwachs die Zahl der Bände des betreffenden Werkes eben um einen vermehren würde – und es ist dann ja sehr möglich, daß die große Mehrzahl der Abnehmer zu der Ueberzeugung gelangt, daß es besser sei, von einem gediegenen Buche einen Band mehr, als eine große Anzahl kleiner Artikel weniger zu besitzen.
Ein solches näheres Verhältniß zwischen Publicum und Redactionen ist möglich; wir erlebten es längst bei mancher Zeitschrift, an deren Redaction die Leser aus allen Nähen und Fernen sich mit ihren verschiedensten Wünschen und Bitten wenden; warum soll dies nicht auch da möglich sein, wo die Ausübung dieser neuen Pflicht ihre besten Früchte nur für das Publicum selber trägt?
Noch einmal Hoffmann von Fallersleben. Zu dem reichen Lorbeerkranze, den das deutsche Volk auf das Grab des entschlafenen Barden gelegt, wobei natürlich auch die Gartenlaube mit warmem Herzen des edlen Sängers gedachte, möchte ich ein kleines Reis noch hinzufügen, das manchen Leser gewiß interessiren wird.
In Hameln an der Weser, der alten wohlbekannten Rattenfängerstadt, lebte bis 1869 der auch in weiteren Kreisen durch seine gemeinnützigen Bestrebungen bekannte Dr. theol. Schläger, gemeiniglich „Vater Schläger“ genannt. Er war immer ein Vorkämpfer gewesen für freies Denken und festes Handeln und schon vor fünfzig Jahren hatte er viel gewirkt für eine Besserung der Lehranstalten für Mädchen. Wie allgemein bekannt sein dürfte, ehrt die Stadt Hameln in der Provinz Hannover das Andenken des alten Schläger durch ein Denkmal, welches, von dem talentvollen Bildhauer O. Ranau in Dresden ausgeführt, im nächsten Jahre in Hameln aufgestellt werden soll. Hoffmann von Fallersleben war mit dem Schläger’schen Hause seit vielen Jahren bekannt und jedesmal, wenn er nach Corvey von seinen Reisen zurückkehrte, besuchte er den alten Schläger.
An einem herrlichen Sommerabende in den fünfziger Jahren saß die ganze Familie im Garten unter dem Laubendache bei einem frugalen Abendbrode. Da trat plötzlich Hoffmann herein, mit freundlichen Scherzesworten den Vater Schläger und auch den zum Besuche anwesenden Abgeordneten Dr. H. Schläger begrüßend. Der Jubel war groß, und der noch jugend- und lebensfrische, geistig regsame Vater Schläger, damals ein Siebenziger, ließ nun den besten Trunk, den ein Pfarrkeller bieten konnte, aus dem Keller holen, und bei vollen Bechern flog bald ein freundliches Witzwort hinüber und herüber. Es war damals gerade die Zeit, wo das Regiment des Grafen Borries am straffsten angezogen war, und Maßregelungen hatten stattgefunden, von denen man in Preußen selbst in der Conflictszeit keine Ahnung hatte. Ein königlicher Diener durfte nicht wagen seinen Kaffee von einem Nationalvereinler zu beziehen, sonst riskirte er sofort versetzt zu werden.
Hoffmann zog mit kräftigen Worten über dieses Regiment los und predigte dem Abgeordneten Schläger Muth ein, nicht nachzulassen in dem Kampfe. Der Exminister Windthorst spielte damals eine Zeitlang die Rolle eines Führers der Opposition, eine Rolle, die mit vielem Geschicke durchgeführt wurde. Dr. H. Schläger hatte versucht, bei seinen Parteigenossen dagegen zu wirken, und auf das Bedenkliche aufmerksam gemacht, solch einem Führer sich anzuvertrauen; er war aber nicht durchgedrungen. Man freute sich, in dem Kampfe gegen Borries einen so kundigen, gewiegten Führer zu haben. Hoffmann machte hierüber die kräftigsten Witze und zeichnete mit vielem Humor die daraus entstehenden Folgen.
Der alte Schläger nahm lebhaften Antheil an dem politischen Gespräche und achtete es nicht, als es kühler wurde und die Familie nun wünschte, er solle die Abendluft meiden und sich zurückziehen. Der Abend war herrlich. Im nahen Gebüsche sang die Nachtigall ihr Lied, das wunderbar einstimmte in das fröhliche Gelächter dort in der alten Pastorenlaube. Von ferne tönte das Rauschen der Weser, wie sie am Wehre hinunterstürzte. Da ergriff Hoffmann das volle Glas und brachte dem Alten einen Toast:
Alles Guten Reger,
Alles Schönen Pfleger,
Alles Edlen Träger,
Alles Bösen Feger,
Im Wohlthun niemals Träger
etc. etc. etc.
Es lebe Vater Schläger.
Leider sind dem Schreiber dieser Zeilen (der damals noch ein junger Mensch war) die verschiedenen Reime auf Schläger, deren Hoffmann noch eine ganze Reihe zum Besten gab, entfallen; er erinnert sich aber sehr gut, daß die Reimerei so lange dauerte, daß alle Zuhörer es für unmöglich hielten, noch einen Reim zu finden, und immer doch gelang es. Der Jubel war groß, als Hoffmann geendet, und begeistert schloß der alte Schläger ihn in die Arme und folgte dann dem Wunsche der Familie, während die übrige Gesellschaft noch bis in die späte Nacht zusammenblieb. Lange hat dieser schöne Abend Wiederhall gefunden bei Allen, die ihn miterlebt, und noch oft werden die Reime auf „Schläger“ in der Rattenfängerstadt benutzt.
Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:
Nachdem sich dieses alt-berühmte Buch durch vier starke Auflagen hindurch seinen Ruf als praktisches und zuverlässiges Handbuch für Liebhaber der Stubenvögel zu bewahren gewußt hat, ist es nunmehr auch auf die Hofvögel ausgedehnt, in allen seinen Abtheilungen bedeutend erweitert und um die Forschungen der Neuzeit vermehrt worden. Die beigegebenen 79 Farbendruck-Portraits der wichtigsten in- und ausländischen Vögel sind von einer Vollendung, wie sie kein anderes populär-ornithologisches Werk aufweist. Mit Freuden dürfte daher diese neue Auflage von jedem Vogelfreunde begrüßt werden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Liebmann