Die Gartenlaube (1874)/Heft 2
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No. 2. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Inmitten des Gartensalons stand eine lange eichene Tafel, an deren einem Ende eine Dame von auffallender Häßlichkeit saß. Fast schreckenerregend wirkte der große Kopf mit dem starren, entschieden rothen Haar und der vollkommensten Negerphysiognomie unter der zwar zarten, weißen, aber mit Sommersprossen bedeckten Haut. Nur die Hände, die so emsig arbeiteten, waren von leuchtender Schönheit, wie Marmorgebilde. Sie drehte einen blauen Syringenzweig zwischen den Fingerspitzen – man meinte, der Duft müsse von der Blüthendolde fliegen und das Zimmer erfüllen, so frisch gebrochen schwankte sie am Stengel; aber dieser Stengel wurde eben mit einem feinen, grünen Papierstreifen umwickelt – es war eine künstliche Blume.
Beim Eintritt der Gräfin Trachenberg fuhr die Dame erschrocken zusammen; die Blume flog auf die Werkzeuge, und mit eiligen Händen wurde ein weißes Tuch über die Zeugen der Arbeit geworfen.
„Ach – die Mama!“ stieß ein junges Mädchen halbmurmelnd heraus. Es stand am anderen Ende der Tafel, mit dem Rücken nach der Thür. Ueber diesen Rücken hinab fiel es im flammenden Schein wie ein Mantel – die junge Dame hatte das Haar bis an den Scheitel aufgelöst; gleichmäßig, ohne sich in einzelne Strähne zu theilen, hing das unglaublich reiche, stark röthliche Blond seine glänzenden Spitzen bis auf den Saum des hellen Muslinkleides.
Bei diesem Anblick hemmte die Gräfin einen Moment ihre Schritte.
„Weshalb so derangirt?“ fragte sie kurz, nach dem aufgeflochtenen Haar deutend.
„Ich habe heftige Kopfschmerzen mit heimgebracht, liebe Mama, und da hat mir Ulrike die Flechten gelöst,“ antwortete die junge Dame mit einem Anflug von Aengstlichkeit in der Stimme. „Ach, es ist eine entsetzliche Last!“ seufzte sie auf und hing den Kopf in den Nacken, als gebe sie der Wucht nach.
„Du warst wieder einmal draußen im Sonnenbrand und hast zum Gaudium der Bauern Unkraut heimgeschleppt?“ fragte die Gräfin streng und hohnvoll zugleich. „Wann endlich wird die Kinderei aufhören?“ Sie zuckte die Achseln und ließ einen verachtungsvollen Blick über die Tafel gleiten. Da lagen ganze Stöße Löschpapier neben einer Pflanzenpresse – die junge Dame hatte eben mit vorsichtigen Fingern einige Orchideen aus der Botanisirtrommel genommen, um sie zwischen Papier zu legen.
Ihro Erlaucht, die Gräfin Trachenberg, geborene Prinzessin Lutowiska, wußte sehr genau, daß ihre älteste Tochter, Gräfin Ulrike, künstliche Blumen fertigte, die als Modelle nach Berlin wanderten und gut bezahlt wurden; das Geschäft ging durch die Hand der alten verschwiegenen Amme, und Niemand ahnte die Grafenkrone über der Stirn der gesuchten Künstlerin. … Der Frau Gräfin war es auch nicht verschwiegen geblieben, daß ihr einziger Sohn, der Erbherr von Trachenberg, das verachtete Unkraut, im Verein mit seiner Schwester Juliane, vortrefflich präparirte und als Sammlung einheimischer Pflanzen – unter angenommenem Namen – nach Rußland verkaufte. Aber eine geborene Prinzessin Lutowiska durfte das nicht wissen – wehe der Hand, die sich beim Blumenmachen ertappen ließ, wehe der Zunge, die ein Wort über den Ursprung des erhöhten Einkommens fallen ließ – es war ja Alles eitel Spielerei, zu der man ein Auge zudrücken mußte, und damit basta!
Die Dame griff im Nähertreten nach dem Haar des jungen Mädchens und wog „die entsetzliche Last“ auf der Hand – etwas wie eine Regung mütterlichen Stolzes flog über das schöne, scharfgezeichnete Gesicht.
„Raoul müßte das sehen,“ warf sie hin. „Thörin, Deinen schönen Schmuck hast Du vor ihm versteckt! … die dicken Sammetschleifen, mit welchen Du die Albernheit hattest, Dich ihm zu präsentiren, werde ich Dir nie vergessen. … Mit solchem Haar –“
„Es ist ja roth, Mama.“
„Geschwätz! – Das ist roth,“ sagte sie und deutete auf ihre Tochter Ulrike. „Gott soll mich bewahren – zwei Rothköpfe! Wofür so viel Strafe?“
Gräfin Ulrike, die unterdeß eine Wollstickerei aus der Tasche gezogen hatte, saß bei diesen unbarmherzigen Worten da wie eine Statue. Sie zuckte mit keiner Wimper – die schöne Mutter hatte ja Recht. Ihre Schwester aber flog zu ihr hin, legte den geschmähten Kopf sanft an ihre Brust und küßte unter leisen Wehelauten wiederholt und zärtlich den rothen Scheitel.
„Sentimentalitäten und kein Ende!“ murmelte die Gräfin Trachenberg verdrießlich und legte das Paket, das sie mitgebracht hatte, auf die Tafel. Sie griff nach einer Scheere und löste mit einigen raschen Schnitten die Emballage – sie enthielt ein Schmucketui und einen weißen Seidenstoff mit eingewirkten großen Silberarabesken.
Mit einer wahren Gier öffnete die Dame das Etui – sie bog den Kopf mit prüfendem Blick zurück und konnte ein Gemisch [22] von unangenehmer Ueberraschung und hervorbrechendem Neid kaum bemeistern.
„Sieh, sieh! Mein einfaches Gänschen wird fürstlicher an den Altar treten, als einst die hochgefeierte Prinzeß Lutowiska,“ sagte sie langsam und betonend und ließ ein Halsband von Brillanten und großen Smaragden in der Sonne glänzen. „Ja, ja, die Mainaus können das! … Euer Vater war doch ein armer Schlucker – ich hätte das schon damals merken können.“
Ulrike fuhr empor, als sei sie von der Mutter in’s Gesicht geschlagen worden; aus den unschön durch wuchtige Lider gedrückten, aber scharfen blauen Augen brach ein Strahl der tiefsten Empörung, gleichwohl zog sie sofort wieder scheinbar ruhig den grünen Wollfaden durch das Gewebe und sagte mit ernster, fast monotoner Stimme: „Die Trachenbergs besaßen damals ein unbelastetes Vermögen von einer halben Million. Sie waren von jeher ein sparsames haushälterisches Geschlecht, und mein lieber Papa ist diesen Tugenden treu geblieben bis zu seinem vierzigsten Jahre, wo er sich verheirathete. … Ich habe beim Concurs mit den Herren vom Amte gearbeitet, um Licht in das Chaos zu bringen – ich weiß, daß Papa nur durch grenzenlose Nachgiebigkeit verarmt ist.“
„Unverschämte!“ brauste die Gräfin auf und holte unwillkürlich aus zum Schlag; aber mit einer verächtlichen Geberde ließ sie die Hand wieder sinken. „Immerhin vertritt Du Deine Trachenbergs – ich habe keinen Theil an Dir, als daß ich Dir das Leben geben mußte. Du wirst das am besten finden, wenn Du drüben die Galerie Deiner Ahnen musterst – rothhaarige Affengesichter vom Anfang bis zum Ende! Ich habe nicht umsonst geweint und – geflucht, als mir vor dreißig Jahren das neugeborene kleine Scheusal, eine echte Trachenberg, in die Arme gelegt wurde.“
„Mama!“ schrie Liane auf.
„Ruhig, ruhig, Kind!“ beschwichtigte sie sanftlächelnd, aber doch mit bebenden Lippen die Schwester. Sie rollte ihre Stickerei zusammen und erhob sich. Beide Schwestern waren von gleicher Größe – es waren weit die Mittelgröße überragende, sylphenhafte Gestalten mit edelschönen Händen und Füßen, feiner, schmiegsamer Taille und zart mädchenhaften Contouren der Büste.
Ulrike entfaltete, während ihre Mutter das Kästchen mit dem Schmuck grollend auf die Tafel warf, hastig den Seidenstoff. Steif und schwer, wie nur je ein Brocat aus den Zeiten unserer Urgroßmütter, entglitt er ihren Händen und fiel förmlich klirrend und zischend auf das Parquet. Mit einem erschrockenen Blick auf die wogende Silberpracht wandte sich Liane ab und sah so angelegentlich hinaus in den Garten, als gelte es, die niedersprühenden Goldfunken der fernen Fontaine zu zählen.
„Du wirst eine majestätische Braut sein, Liane … Wenn Papa das sehen könnte!“ rief Ulrike.
„Raoul verhöhnt uns,“ murmelte tief verletzt das junge Mädchen.
„Er verhöhnt uns?“ fuhr die Gräfin Trachenberg auf, deren scharfes Ohr die halbgeflüsterten Laute erfangen hatte. „Bist Du von Sinnen? Und willst Du wohl die Freundlichkeit haben, mich zu belehren, inwiefern er sich unterfängt, die Trachenbergs zu verhöhnen?“
Liane deutete auf die zerschlissenen, mißfarbigen Bezüge der alten Lehnstühle, neben denen das pompöse Brautkleid lag. „Läßt sich ein schärferer Contrast denken, Mama? Ist das nicht tactlos herablassend, der – der Armuth gegenüber?“ versetzte sie, indem sie sich bemühte, ihrer Furcht vor der leidenschaftlichen Mutter Herr zu werden.
Die Gräfin Trachenberg schlug die Hände zusammen. „Gott sei’s geklagt – wie komme ich, gerade ich zu solchen spießbürgerlichen Hohlköpfen, die an die Hoheit ihrer Stellung die Elle des Krämers anlegen? … Herablassend! und das sagt eine Trachenberg! … Du steigst herab zu den Mainaus – das merke Dir! … Muß ich Dir wirklich erzählen, daß Deine Mutter direct von den alten polnischen Königen abstammt, und daß Deine väterlichen Vorfahren schon lange vor den Kreuzzügen gebietende Herren waren? … Und wenn Raoul alle Schätze der Welt Dir vor die Füße schüttete, er kann Dir den Vorrang der hohen makellosen Geburt nicht abkaufen … Er hat keine zehn Ahnen – ja, es ist halb und halb eine Mesalliance, die Du eingehst, und wäre es mir nicht ein zu widerwärtiger Gedanke, zwei sitzengebliebene Töchter im Hause zu haben, dann hätte ich sicher seine Werbung zurückgewiesen. Er weiß Das auch recht gut, sonst nähme er Dich nicht so – so unbesehen.“
Die junge Dame blieb mit gefaltet niedergesunkenen Händen regungslos stehen. Das rothgoldene Haargewoge fiel jetzt auch über die Brust und verhüllte das Profil. Ihre Schwester aber durchmaß schweigend mit raschen Schritten einige Male den Salon.
In diesem Moment wurde die nach dem Corridor führende Thür behutsam geöffnet; die alte ehemalige Amme und jetzige Köchin steckte den Kopf herein. „Erlaucht halten zu Gnaden,“ sagte sie mit demüthig leiser Stimme, „der Postbote ist noch drüben; er will nicht länger warten.“
„Ach ja – ich hatte den Menschen total vergessen. Nun, er wird ja wohl warten, bis ich komme. Reiche ihm eine Tasse Kaffee in der Küche, Lene!“
Die Magd verschwand, und die Gräfin Trachenberg zog einen Zettel aus der Tasche.
„Der Postbote bekommt ein Trinkgeld, und hier ist eine Postanweisung auf vierzig Thaler, die wir einzulösen haben. Die Krämer in Rheims sind frech genug, mir den bestellten Hochzeits-Champagner per Nachnahme zu schicken … Zahle aus!“ sagte sie kurz zu Ulrike und reichte ihr den Zettel hin.
Ein jähes Roth des Erschreckens überflog das häßliche Gesicht der Tochter. „Du hast Champagner bestellt, Mama?“ rief sie bestürzt. „O Gott – und für eine solche Riesensumme!“
Die Gräfin Trachenberg zeigte höhnisch auflachend ihr perlengleiches falsches Gebiß. „Hast Du gemeint, Du könntest die Herren beim Hochzeits-Dejeuner mit Deinem selbstfabricirten Johannisbeersaft regaliren? … Uebrigens habe ich, wie bereits erklärt, nicht im Entferntesten an die Gemeinheit gedacht, mit welcher uns die Bezahlung per Post sofort erpreßt werden soll.“ Sie zuckte die Achseln. – „Da heißt’s eben gute Miene zum bösen Spiel machen und zahlen.“
Schweigend schloß Ulrike einen Secretair auf und nahm zwei Geldrollen heraus. „Hier ist die ganze Haushaltungscasse,“ sagte sie kurz und bestimmt. „Es sind fünfunddreißig Thaler. Davon müssen wir aber leben; denn nicht allein in Rheims verweigert man uns den Credit, wir bekommen auch in der ganzen Umgegend kein Loth Fleisch ohne sofortige Bezahlung. – Darüber kannst Du unmöglich im Unklaren sein.“
„Gewiß nicht – meine weise Tochter Ulrike predigt häufig genug über dieses beliebte Thema.“
„Ich muß, Mama,“ versetzte Ulrike ruhig. „Weil Du so oft vergißt – was ja wohl begreiflich ist – daß die Gläubiger unser Jahreseinkommen von fünfundzwanzigtausend Thalern auf sechshundert zusammengeschnitten haben.“
Die Gräfin Trachenberg hielt sich die Ohren zu und rannte nach einer der Glasthüren – die große, majestätische Gestalt nahm Geberden an wie ein verzogenes Kind. Sie riß die Thür auf und wollte hinaus stürmen, besann sich aber doch eines Anderen.
„Gut,“ sagte sie, die Thür zuwerfend, anscheinend ruhig, aber auch mit sichtlicher Bosheit. „Nur sechshundert Thaler. Aber nun frage ich doch auch endlich einmal: Wozu werden sie gebraucht? … Wir essen erbärmlich, förmliche Bettelsuppe – Lene füttert uns mit Reis und Eierspeisen bis zum Ekel, und die Prisen Pecco, die Du in den Theekessel wirfst, werden immer homöopathischer. Dazu schleppe ich diese Fahne“ – sie deutete auf ihr schwarzseidenes Kleid – „die Ihr die Gnade hattet, mir zu Weihnachten zu schenken, Tag für Tag. Alles, was mein todeseinsames Leben einigermaßen erträglich machen könnte – neue französische Lectüre, Confituren, Parfüms – ist für mich ein längst überwundener Standpunkt … ich schließe also mit Recht: Du mußt mehr Gelder zur Verfügung haben, als Du mir weis machen willst.“
„Ulrike lügt niemals, Mama!“ rief Liane empört.
„Ich kann die Anweisung unmöglich an die Post zurückschicken“ – fuhr die Gräfin unbeirrt fort – „Du wirst der Komödie sofort ein Ende machen und den Betrag herausgeben!“
„Soll ich Geld aus der Erde stampfen? … Der Wein muß zurückgehen!“ versetzte Ulrike gelassen.
Ihre Mutter stieß einen gellenden Laut aus, dann warf sie sich rücklings auf ein Sopha und verfiel in Lachkrämpfe.
Ruhig, mit untergeschlagenen Armen, stand Ulrike zu Häupten der wie toll um sich schlagenden Frau und sah mit einem bitter-ironischen Lächeln auf sie nieder.
[23] „Der arme Magnus!“ flüsterte Liane, nach der Thür des Nebenzimmers deutend. „Er ist drüben – wie wird er erschrecken über diesen Lärm! … Bitte, Mama, fasse Dich! Magnus darf Dich nicht so sehen – was soll er denken?“ wandte sie sich halb bittend, halb mit ernstem Nachdruck an ihre Mutter.
Die widerwärtige Scene, welcher die Töchter stets durch Nachgiebigkeit und möglichsten Gehorsam vorzubeugen suchten, spielte sich ja nun doch ab; nun machte sich der tiefe, gerechte Unwille geltend, den das charaktervolle Weib gegenüber den Ausschreitungen einer entarteten Frauennatur empfindet. Die junge Mädchengestalt zitterte nicht mehr vor Furcht – es sprach etwas unbewußt Ueberlegenes aus der Bewegung, mit welcher sie ernst mahnend die Hand hob. Sie predigte tauben Ohren – das Geschrei dauerte fort.
Da wurde in der That die Thür des anstoßenden Zimmers geöffnet. Liane flog durch den Salon.
„Geh’, Magnus, bleibe drüben!“ bat sie mit kindlich rührender Stimme und versuchte, den Eintretenden sanft zurückzudrängen. Es hätte wohl keiner besonderen Kraft bedurft, ihn ernstlich zurückzuhalten, diesen knabenhaft schmächtigen jungen Mann.
„Lasse mich nur, kleiner Famulus,“ sagte er freundlich – ein Schimmer verklärender Freude lag auf seinem geistreichen Gesicht. „Ich habe Alles mit angehört und bringe Hülfe.“
Einen Moment aber wurzelte sein Fuß doch auf der Schwelle, als er die Frau mit zuckenden Gliedern und verzerrtem Gesicht auf dem Sopha liegen sah.
„Mama, beruhige Dich,“ sagte er nähertretend mit etwas vibrirender Stimme, „Du kannst den Wein bezahlen. Sieh, hier ist Geld – fünfhundert Thaler, liebe Mama!“ Er zeigte ihr mit hochgehobener Hand eine Anzahl Banknoten.
Ulrike sah ihm mit ängstlicher Spannung in das Gesicht; sie war sehr roth geworden – aber er bemerkte es nicht. Er warf das Papiergeld achtlos auf das Sopha neben seine Mutter und schlug ein Buch auf, das er mitgebracht hatte. „Sieh, Herzchen, da ist es nun,“ sagte er sichtlich bewegt zu Liane. – Die Leidende auf dem Sopha fing an, sich zu beruhigen; sie legte aufstöhnend die Hand über die Augen – durch die gespreizten Finger fuhr ein unglaublich rasch bewußt und scharf gewordener Blick, der das Buch in den Händen des Sohnes fixirte.
„Werde mir nur nicht zu stolz, kleiner, lieber Famulus!“ fuhr er fort. „Unser Manuscript kommt als Prachtwerk zurück. Es ist lebensberechtigt vor dem hohen Stuhl der Wissenschaft; es geht siegreich durch das Kreuzfeuer der Kritik – ach, Liane, lies den Brief des Verlegers –“
„Schweige, Magnus!“ unterbrach ihn Ulrike rauh und gebieterisch.
Die Gräfin Trachenberg saß bereits aufrecht. „Was ist das für ein Buch?“ fragte sie, weder in den impertinent verschärften Zügen, noch in der befehlenden Stimme war eine Spur des soeben beendeten Krampfanfalles zu bemerken.
Ulrike nahm mit einer raschen Bewegung das Buch aus der Hand des Bruders und drückte es mit beiden Armen fest an ihre Brust. „Es ist ein Werk über die fossile Pflanzenwelt – Magnus hat es geschrieben, und Liane die Zeichnungen dazu geliefert,“ sagte sie kurz erklärend.
„Gieb her – ich will es sehen!“
Zögernd, mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihren Bruder, reichte Ulrike den Band hin; Liane aber, bis in die Lippen erblaßt, verschränkte krampfhaft die feinen Finger und vergrub das Gesicht hinein – diesen Ausdruck im Gesicht der Mutter hatte sie von Kindesbeinen an so fürchten gelernt, wie kaum die Höllenstrafen, mit denen die Kinderfrau drohte.
„Fossile Pflanzen – von Magnus, Grafen von Trachenberg,“ las die Gräfin mit lauter Stimme. Ueber das Buch hinweg, mit grimmig einwärts gezogenen Lippen, sah sie einen Moment starr und vernichtend in das Gesicht des Sohnes. „Und wo steht der Name der Zeichnerin?“ fragte sie, das Titelblatt umwendend.
„Liane wollte nicht genannt sein,“ versetzte der junge Mann mit vollkommener Gelassenheit.
„Ah – also doch wenigstens in einem dieser Köpfe ein Funken von Vernunft, ein schwaches Aufdämmern von Standesbewußtsein!“ Sie stieß ein häßliches Gelächter aus und schleuderte den schweren Band mir einer solchen Gewalt weit von sich, daß er klirrend durch die Glaswand hinaus auf die Steinfliesen der Terrasse flog.
„Dahin gehört die Sudelei!“ sagte sie und zeigte auf das Buch, das breit aufgeschlagen liegen blieb und die reizend ausgeführte Zeichnung einer vorweltlichen Farrenform sehen ließ. – „O dreifach glückliche Mutter, welch einem Sohne gabst Du das Leben! Zu feig, um Soldat zu werden, zum Diplomaten zu geistlos, geht der Nachkomme der Fürsten Lutowiski, der letzte Graf Trachenberg, unter – die Buchmacher und läßt sich Honorar zahlen!“
Liane umschlang in leidenschaftlichem Schmerz die schmalen Schultern ihres Bruders, der sichtlich mit sich kämpfte, um angesichts dieser Schmähungen die äußere Ruhe zu bewahren.
„Mama, wie kannst Du es über das Herz bringen, Magnus so zu beleidigen?“ zürnte das junge Mädchen. „Feig nennst Du ihn? – Er hat mich vor sieben Jahren unter eigener Lebensgefahr drüben aus dem See gezogen. Ja, er hat sich entschieden geweigert, Soldat zu werden, aber nur, weil sein mildes, weiches Herz das Blutvergießen verabscheut. … Zum Diplomaten fehle ihm der Geist, ihm, dem unermüdlichen, tiefen Denker? O Mama, wie grausam und ungerecht bist Du! Er haßt nur das Doppelzüngige und will seinen edlen, wahrhaftigen Geist nicht durch die Schachzüge der Diplomatenkünste entweihen. … Ich bin auch stolz, sehr stolz auf unser altberühmtes Geschlecht; aber ich werde nie begreifen, weshalb der Edelmann nur mit dem Schwert oder der glatten Diplomatenzunge ein Edelmann sein soll –“
„Und dann frage ich,“ fiel Ulrike mit ernstem Nachdruck ein – sie war hinausgetreten und hatte das mißhandelte Werk aufgenommen – „was ist ehrenvoller für den Namen Trachenberg: daß er einer wohlgelungenen Geistesthat voransteht, oder – daß er in der Reihe der Ueberschuldeten zu finden ist?“
„O Du, Du –“ zischte die Gräfin fast wortlos vor innerem Grimm, „Du Geißel meines Lebens!“ Sie fuhr einige Male wie rasend im Salon auf und ab. „Uebrigens sehe ich nicht ein, was mich zwingt, ferner mit Dir zu leben,“ sagte sie, plötzlich stehen bleibend, unheimlich ruhig. „Du bist längst über die Zeit hinaus, wo das Küchlein von Anstandswegen unter die Flügel der Mutter gehört. Ich habe Dich lange genug ertragen und gebe Dir Urlaub, unbeschränkten Urlaub. Mache meinetwegen eine langjährige Besuchsreise durch die ganze Sippe – gehe wohin Du willst, nur spute Dich, daß mein Haus rein wird von Deiner Gegenwart!“
Graf Magnus ergriff die Hand der verstoßenen Schwester. Die drei Geschwister standen innig vereint der herzlosen Frau gegenüber.
„Mama, Du zwingst mich, zum ersten Mal mein Recht als Erbherr von Rudisdorf zu betonen,“ sagte der stille, sanfte Gelehrte mit vor Aufregung tiefgeröthetem Gesicht. „Den Gläubigern gegenüber habe nur ich Anspruch auf eine Wohnung im Schlosse und auf das Einkommen, das sie verwilligt. … Die Heimath kannst Du Ulrike nicht nehmen – sie bleibt bei mir.“
Die Gräfin wandte ihm den Rücken und schritt nach der Thür, durch die sie gekommen. Der Sohn war so vollkommen in seinem Rechte, daß sich auch nicht ein Wort gegen seine ernste Erklärung finden ließ. Sie legte die Hand auf den kreischenden Drücker, drehte sich aber noch einmal um.
„Daß Du Dich nicht unterstehst, auch nur einen Groschen von dem Judasgelde unter die Haushaltungscasse zu mischen!“ befahl sie Ulrike und zeigte nach den auf dem Sopha liegenden fünfhundert Thalern. „Ich verhungere lieber, ehe ich einen Bissen anrühre, der mit dem Gelde bezahlt ist. … Den Wein löse ich aus. Gott sei Dank, ich habe noch Silberzeug genug aus dem Schiffbruch gerettet! Mag man das Geräth, von welchem meine Vorfahren speisten, einschmelzen – den Schmerz darüber wiegt das Bewußtsein auf, daß ich meine Gäste auf echt fürstliche Weise, und nicht mittels eines Arbeiterhonorars bewirthe. … Dich aber wird die Strafe schon ereilen,“ wandte sie sich an Liane, „und zwar dafür, daß auch Du Front gegen Deine Mutter machst! Komme Du nur nach Schönwerth! Raoul, noch mehr aber der alte Onkel Mainau werden Dir Deinen Sentimentalitäts- und Gelehrtenkram schon austreiben.“
Sie rauschte hinaus und warf die Thür so hart ins Schloß, daß der Schall noch an der Steinwölbung der fernsten Corridore schütternd hinlief.
Seit diesem Auftritt im Schloß Rudisdorf waren fünf Wochen verstrichen. Man machte Vorbereitungen zur Hochzeit. Vor sechs Jahren noch wäre das prächtige Schloß bei einer solchen Veranlassung ein wimmelnder Ameisenhaufen gewesen, denn die Frau Gräfin hatte es verstanden, so viel bedienende Hände um sich her in Thätigkeit zu versetzen, wie kaum ein indischer Radscha. Vor sechs Jahren noch hätten blendende Märchenpracht, licht- und lusttrunkene Wogen berauschender Feste dem Freier eine blonde Fee zugetragen – heute holte er die Braut aus verlassenen Gärten, die der Wildniß entgegenwucherten, aus dem statuengeschmückten Steinkoloß, wo die Schemen verrauschter Freuden, hinter Marmorsäulen hockend, sich von den Spinnen mit schmutzigen Schleiern verhängen ließen. … Im großen Saal hatte der Gutspächter Getreide aufgeschüttet; auf allen Fenstern lagen die weißen Läden, und wo ein Lichtstrahl eindrang, da fiel er auf ungefegtes Parquet und vollkommen leere Wände.
Es war gut, daß die erlauchten Herren, im Eisenhut und Panzerhemd oder auch das federngeschmückte Barett auf den rothhaarigen Köpfen, zwischen den glänzenden Marmorplatten der Ahnengalerie eingefügt, an den Wänden stillstehen mußten, daß ihre stolzblickenden Frauen und Töchter in Stuartkragen und starrer Goldstoffschleppe nicht hinunterrauschen konnten in den Gartensalon – sie hätten sicher den blinkenden Pfauenwedel oder die steifblätterige Rose aus den bleichen Händen fallen lassen und sie über dem Kopfe zusammengeschlagen; denn da kniete Ulrike – die echte Trachenberg, wie die Gräfin immer sagte – sie hatte die mottenzerfressenen Bezüge von den Sophas und Lehnstühlen gerissen und schlug mit eigenen gräflichen Händen die Nägel in den großblumigen Zitz, der neuglänzend die Polster deckte. Die alte Lene aber rieb und bohrte das wurmstichige Holz der Möbel, bis ein matter Glanz unter ihren Fäusten entstand und die Linien der eingefügten Prachtmuster schattenhaft hervorkamen. Dank dem rechtzeitig eingetroffenen Buchhändlerhonorar standen auch neue zierliche Sessel und Blumentische von Korbgeflecht umher. Nun stieg Epheugespinnst an den weißen Wänden empor, und aus Gruppen breiter Blattpflanzen hingen Draperien von Clematis und Immergrün auf das Parquet herab. Ein Odem von behaglicher Traulichkeit durchwehte den erst so kahlen Salon, und das war nothwendig, denn hier sollte das Hochzeitsfrühstück eingenommen werden.
Während dieser Vorkehrungen schweifte Liane mit Botanisirbüchse und Grabscheit an der Seite ihres Bruders durch Wald und Feld, als habe sie mit der ganzen Angelegenheit nichts zu schaffen. Der Bruder vergaß über allen Wundern der Schöpfung, daß sein kleiner Famulus am längsten mit ihm zusammen gelebt und gestrebt habe, und von den Lippen der Schwester kamen geläufig lateinische Namen und kritische Bemerkungen, nie aber auch nur der Name des fernen Verlobten. Es war ein seltsamer Brautstand.
Im Elternhause hatte Liane wohl manchmal die Mainaus nennen hören – ein Lutowiski hatte eine Mainau heimgeführt – aber nie hatte ein persönlicher Verkehr mit den entfernten Verwandten stattgefunden. Da waren plötzlich Briefe aus Schönwerth an die Gräfin Trachenberg eingelaufen, die eifrig beantwortet wurden, und eines Tages kündigte Ihro Erlaucht der jüngsten Tochter kurz und bündig an, daß sie über deren Hand verfügt und sie dem Vetter Mainau zugesagt habe, wobei sie jeden etwaigen Widersprach mit der Bemerkung abschnitt, daß sie genau auf dieselbe Weise verlobt worden und dies die einzig standesgemäße Form sei. … Dann war der Bräutigam unerwartet gekommen, Liane hatte kaum Zeit gefunden, ihr von Wind und Gesträuch zerwühltes Haar unter den berüchtigten Sammetschleifen zu verbergen, da war sie schon in das Zimmer der Mutter befohlen worden. Wie dann Alles gekommen, wußte sie selbst kaum. Ein schöner großer Mann war ihr aus der Fensternische entgegengetreten; hinter ihm hatte die volle glühende Frühlingssonne durch die Scheiben gefunkelt und sie gezwungen, die Augen niederzuschlagen. Darauf hatte er fast väterlich freundlich zu ihr gesprochen und ihr schließlich seine Hand hingehalten, in die sie auf Befehl der Mutter, noch mehr aber auf die vorhergegangenen geheimen und inständigen Bitten Ulrikens hin, die ihrige gelegt. Er war sofort wieder abgereist, zur unaussprechlichen Erleichterung der Gräfin Trachenberg; denn wie aufgescheuchte Gespenster waren ihre Gedanken während der Verlobung durch die öden Kellerräume, oder die todeseinsamen Johannisbeersaftetiquetten hingeirrt, und die alte Lene hatte drunten in der Küche ihr Gehirn zermartert, wie sie wohl mit den letzten fünf Eiern und einem Restchen Kalbsbraten ein gräfliches Diner herrichte.
Alles die Hochzeit Betreffende wurde zwischen dem Bräutigam und der Mutter schriftlich vereinbart, und nur dem Brautgeschenke hatten einige Zeilen für Liane beigelegen, Zeilen voll ausgesuchter Höflichkeit und Galanterie, aber auch fremd und förmlich – sie wurden mit kalten Augen gelesen und lagen seitdem unberührt bei dem Schmuck im Kasten. Es war dies Alles aber so „prächtig standesgemäß und aristokratisch steif“ und das „Hineinfinden“ Lianens, ihre widerspruchslose Ruhe befriedigten die Gräfin Mutter so sehr, daß sie sich einige Tage nach der stürmischen Scene wieder herbeiließ, mit ihren Kindern zu essen und dann und wann ein gnädiges Wort an sie zu richten. Sie wußte freilich nicht, daß das junge Mädchen unter dem Trennungsschmerze bereits unsäglich litt – das aber erfuhren ja selbst die Geschwister nicht. …
Der Hochzeitsmorgen war da – ein kühler, grauverhangener Julimorgen. Nach trockenheißen Tagen tröpfelte ein sanfter Regen durch das Gehölzdickicht, und draußen auf den großen ausgedörrten Staudenblättern der Rasenflächen klatschte er in leisem unermüdlichem Ticktack und sammelte sich zu rollenden Silberperlen. Aus Busch und Baum und von den Dachrinnen herab zwitscherten und schrieen jubelnd die Vögel, und die alte Lene sah von ihren schmorenden Pfannen hinweg in das graue Geriesel hinein und freute sich, daß es der Braut in den Kranz regne.
Ein einziger Wagen rollte in den Schloßhof, noch dazu ein Miethwagen von der nächsten Eisenbahnstation. Während er in einer der ungeheuren leeren Remisen verschwand, stiegen die zwei Angekommenen langsam die Freitreppe des Schlosses hinauf. Baron Mainau zeigte sich auf die Minute pünktlich; er traf der Verabredung gemäß genau eine halbe Stunde vor der Trauung ein.
„Daß Gott erbarm’ – das will ein Hochzeiter sein!“ seufzte die alte Lene betrübt auf und trat vom Küchenfenster zurück.
Droben flog die Glasthür weit auf und die Gräfin Trachenberg eilte heraus. Die Regentropfen sprühten auf ihre dunkelviolette Sammetschleppe und glitzerten in den schwarzen Scheitelpuffen neben einigen aus dem Schiffbruche geretteten Brillanten. Schmachtend und mit sanfter Anmuth streckte sie begrüßend die feinen Hände aus den reichen Spitzenärmeln – wer hätte ihnen zugetraut, daß sie einen schweren Gegenstand mit der Kraft der Furie zertrümmernd durch die Glasscheiben schleudern konnten!
Man flüchtete vor dem Regen in das Wohnzimmer der Gräfin, und Baron Mainau stellte seinen Trauzeugen, Herrn von Rüdiger, vor. Zwischen die leichte Plauderei, die sich an die Vorstellung knüpfte, kreischte ein Ara in der Fensternische, und auf dem verblichenen Fußteppich balgten sich knurrend zwei schneeweiße Exemplare einer kleinen Pudelrace. … Hätte die alte Lene nicht eine dicke Guirlande über die Glasthür gehängt, durch welche der Bräutigam kommen mußte, und wäre nicht die effectvolle, königlich stolze Toilette der Gräfin gewesen, es hätte Niemand einfallen können, an einen bevorstehenden feierlichen Act in diesem Hause zu denken, so banal und obenhin plauderte die Dame, so gleichmüthig und unbewegt stand die elegante schwarzbefrackte Gestalt des Bräutigams am Fenster und sah in den stäubenden Regen hinaus, und eine so tiefe Stille und Oede lag seit dem Verrollen der vier Wagenräder wieder über dem weiten, verlassenen Schlosse. Herr von Rüdiger wußte, daß es sich bei dieser Vermählung wie um ein Geschäft handelte; er war selbst zu sehr Weltmann und Cavalier, um ein solches Uebereinkommen nicht ganz in der Ordnung zu finden; aber die spukhafte Einsamkeit ging dem kleinen Beweglichen denn doch „über den Spaß“ – es lief ihm fröstelnd über den Rücken, und er athmete ängstlich auf, als endlich die Flügel der gegenüberliegenden Thür feierlich langsam zurückgeschlagen wurden.
Gewiß haben viele Leser der Gartenlaube in der Wiener Weltausstellung das großmächtige vom Vicekönig von Aegypten angekaufte Bild des Florentiners Ussi gesehen, den Ausgang der Pilger nach Mekka darstellend. Niemand wird dem italienischen Maler nachsagen können, daß sein Bild nicht trefflich gemalt, das Wesentliche dieses charakteristischen Zuges nicht in bunten, reichen Farben auf der Leinwand wiedergegeben sei, doch giebt diese Darstellung von der Wirklichkeit keinen klareren Begriff als ein Wassertropfen von der ungestümen See mit ihren windgepeitschten Wellen, dem Getöse ihrer Brandung, ihrem Sausen und Brausen. Man muß dieses merkwürdige Fest vom Anfang bis zum Ende durchgemacht haben, man muß wissen, daß die fanatischen Söhne Mohammed’s in ihrer religiösen Verzückung gleich Riesen heulen und mit solcher Riesenkraft auf Pauken und Trommeln schlagen, daß die Fenster der Häuser klirren, man muß wissen, daß sie jauchzen und beten, jubeln und stöhnen, daß sie die tollsten Sprünge aufführen, all Das muß man wissen, um sich von diesem eigenthümlichen Feste einen Begriff machen zu können.
Es ist über dieses größte und merkwürdigste Fest Kairos schon Manches geschrieben worden, allein ich habe noch in keinem Buche, selbst nicht in der unübertrefflichen Lane’schen Schilderung ägyptischen Lebens, den ganzen Hergang der Feier gelesen, wodurch dem fremden Leser das Verständniß derselben ermöglicht würde. Ehe ich in dieses Land kam und sah und forschte, hatte auch ich durch all die vorhandenen Schilderungen von der Mekka’schen Pilgerfahrt einen ganz verwirrten Begriff bekommen. Ich will sie den Lesern der Gartenlaube jetzt schildern, wie ich sie gesehen habe.
Jedem Mohammedaner ist bekanntlich als Religionsgebot vorgeschrieben, ein Mal im Leben nach Mekka zu pilgern. Dort, im heiligen Tempel von Haram, steht die Kaabah, jenes anfangs durch die Engel dem Throne Allah’s nachgebaute, später durch Adam, Abraham und verschiedene Khalifen und Sultane restaurirte heilige Gebäude. Die Muselmänner erzählen, daß die Kaabah einst eine große Lücke hatte, welche auszufüllen Abraham nicht vermochte, so daß ihm der Herrgott zu Hülfe kam, indem er ihm durch den Erzengel Gabriel einen großen schwarzen Stein sandte, der gerade in besagte Lücke hineinpaßte. Der Stein, welcher heute an der südlichen Ecke der Kaabah eingemauert ist, soll noch immer der gottgesandte sein, allein bei all den geschichtlich bekannten Restaurationen und Wiederaufbauten dürfte wohl von den sämmtlichen Steinen, welche jene ehrwürdigen Herren im grauesten Alterthum aufhäuften, auch kein einziger mehr vorhanden sein. Wie Dem auch sei, so ist doch die Kaabah für jeden Muslim der heiligste Fleck der Erde; dorthin richtet er beim Gebet seinen Blick.
Die Monate der Wallfahrt sind gemäß der Vorschrift die drei letzten des Jahres, das heißt Schewwal, Dsulkade und Dsulhedsche. Indeß ziehen viele Pilger vor, den Ramadhan, nämlich den Fastenmonat, der vor den ersten der drei genannten fällt, in den heiligen Städten von Mekka und Medina, in welcher letzteren der große Prophet begraben liegt, zuzubringen. Viele langen daselbst auch in den drei dem Fastenmonat vorhergehenden Monaten an, so daß die Zeit der Pilgerfahrt eigentlich einen Zeitraum von sieben Monaten umfaßt.
Der Auszug der Pilger findet aber in Kairo immer an einem bestimmten Zeitpunkt statt, nämlich vom zwanzigsten bis fünfundzwanzigsten Schewwal, dem zehnten Monat der mohammedanischen Zeitrechnung. Mit diesem Auszug hängt die Sendung der jährlich zu erneuernden, den heiligen Grabmälern und der Kaabah bestimmten Ueberzüge und Decken zusammen, die in Kairo auf Kosten der Regierung verfertigt und alle Jahre mit Kanonen und Cavallerie nach Mekka und Medina gesandt werden. Diese Cavallerie, aus vierhundert Mann bestehend, wird von der Regierung das ganze Jahr hindurch lediglich darum unterhalten, daß sie jährlich diesen heiligen Decken durch die Wüste das Geleit gebe, freilich eine vierzig Tage dauernde saure Arbeit, während welcher viele Pferde umkommen und auch zuweilen die Reiter.
Besagte Decken sind sämmtlich aus schwerem schwarzem Brocate, mit goldenen Arabesken in hohem Relief ausgeschmückt und mit farbigem Tuche benäht, auf welches wieder goldene Koransprüche gestickt sind. Diese Stickereien beschäftigen etwa hundert eigens dazu angestellte Schneider vollauf sieben Monate; diese müssen die Arbeit dem Gouverneur der Stadt in den ersten Tagen des Monats Schewwal vollendet überliefern.
Zunächst werden die gestickten Decken in einem Saal des Regierungsgebäudes ausgehängt. Priester müssen die Nacht hindurch in diesem Gemach beten. Es ist dies eine geisterhafte Ceremonie, die bis auf diesen Tag exclusiv islamisch war, indeß jetzt, und zwar auf Antrieb des Vicekönigs, der seinem intoleranten Volke etwas Toleranz einbleuen möchte, einen Christen als Beobachter geduldet hat. Und dieser Christ war ich.
Die Feier fand in einem geräumigen, länglichen Gemache statt, um welches ringsherum weiche Kissen lagen. Längs den mit den goldenen Decken behängten Wänden der einen Hälfte des Gemachs saßen die Eingeladenen mit gekreuzten Beinen, in der anderen Hälfte, welche ein persischer Teppich schmückte, kauerten die Priester. In der Mitte des teppichbedeckten Raumes steht eine Art Katafalk, dem Grabmal Abraham’s bestimmt, durch einen brocatenen, mit den zierlichsten Stickereien in Gold ausgestatteten Ueberzug bedeckt; derselbe war von vier Riesenkerzen, die ein flackerndes, unstetes Licht auf die Versammlung warfen, umgeben.
Jetzt stimmt einer der Priester einen Koranspruch an; er singt ihn nach üblicher Weise, mit klagender, auf gewissen Noten lange anhaltender Stimme; dabei wiegt er den Leib unausgesetzt hin und her, was in den Pausen besonders unheimlich aussieht.
Den Eingeladenen wurde nach Landessitte duftender Mokka in niedlichen Schalen gereicht, auch die Priester genossen von demselben, wie ich überhaupt bemerkte, daß diejenigen, welche mit dem Beten nicht gerade beschäftigt waren, gar nicht der Welt entrückt zu sein schienen und unter einander gar munter plauderten. Sobald der eine mit seinem Spruch fertig war, fing gleich ein anderer Beturbanter zu singen an, und zwar noch klagevoller als der Vorhergehende, gleichsam als ob er die Steine mit seinem Gesange rühren wollte.
Unten im Hofe ließ ein Scheich seinen Derwischen den sogenannten Zikr beten, ein Gebet, das mir jenes Kinderspiel in’s Gedächtniß rief, bei welchem Eines voranmarschirt und allerlei dumme Bewegungen macht, welche die ihm in der Reihe Nachfolgenden genau nachahmen müssen. Der Scheich befiehlt nämlich seinen umstehenden Getreuen, zu springen, zu kreiseln, den Kopf nach hinten oder vorn, links oder rechts zu werfen, wozu der Name Gottes gebrüllt werden muß. Ich glaube nicht, daß ein Mensch jemals mehr entwürdigt aussehen kann, als wenn er den Zikr betet. Die von Minute zu Minute rascher und gewaltsamer werdenden Bewegungen und das unaufhörliche Allahrufen haben eine berauschende Wirkung, die sich durch Stöhnen, Röcheln und Schnauben Luft macht; der Schaum tritt an die Lippen … Es war ein empörender Anblick, bei welchem dieselbe Wehmuth über mich kam, welche mich einst im Irrenhaus zu Reggio beschlich.
Am darauf folgenden Morgen brachte man die Decken mäuschenstill, um kein Aufsehen zu machen, durch Seitengäßchen in die Citadelle. Von dort aus müssen sie unter großem Gepränge in die Moschee Hassanin transportirt werden. Um acht Uhr Morgens und schon vorher waren alle die Straßen, durch welche der Zug kommen sollte, die Dächer der Häuser, die Fenster der Kaufläden von Menschen dicht angefüllt. Unter Kanonendonner wand sich der Zug aus der Citadelle heraus. Nach einer unabsehbaren Linie von Militär kamen die vier Theile des Kaabahüberzuges zum Vorschein, die zusammengerollt auf hölzernen Bahren lagen, von brüllenden Muselmännern getragen. Um das Machmal taumelten die religionstrunkenen Pilger, die heulenden Derwische mit ihren Bannern und Schäften.
Bevor ich fortfahre, muß ich zum besseren Verständniß des Nachstehenden vom Machmal sprechen. Es ist dies ein von einem reich aufgeschirrten Kameel getragener goldener Baldachin, dessen Grundfarbe, der vielen Goldstickereien halber, nicht mehr zu erkennen [27] ist. An den vier Kanten desselben und an der kuppelartigen Spitze sind große goldene Kugeln angebracht, welche mit dem Halbmond geschmückt sind. Unter diesem Baldachin oder Zelt befindet sich Niemand. Das Machmal, welches leer nach Mekka geht und leer zurückkehrt, wird heutzutage blos mitgenommen, um der Ceremonie größeres Gepränge zu verleihen.
Als ich aber die verzückten Muslimen gewahrte, wie sie sich sicherem Zerquetschen aussetzten, nur um die Hand über das goldene Zelt zu streifen, die sie dann mit Küssen bedeckten und über die Stirn strichen, wobei ihr Gesichtsausdruck eine Seligkeit verrieth, gleichsam als ob sie Ambrosia genossen, als ich den unvergeßlichen Ausdruck der Augen der Frauen sah, wie sie die Schleier und Kopftücher zu den Fenstern hinunterließen, um das Zelt damit zu berühren, da sagte ich mir: Dieser Fanatismus kann nicht aus Liebe zu Prunk entstehen; ein goldenes Zelt kann auch in dem schausüchtigen Volke keine solche Vergötterung hervorrufen. Es muß ein religiöser Glaube dahinter stecken.
Vergebens suchte ich bei den Arabern Auskunft. „Das Machmal? Ach! Das ist etwas sehr Heiliges.“ Man verdrehte die Augen und – Punctum. Auch in den Reisebeschreibungen ist es mir nicht viel besser ergangen.
Ueber keinen Gegenstand ist wohl noch so viel gefaselt worden, wie über das Machmal. Der Eine sagt, es habe die Bestimmung, die Kaabah zu bedecken, der Andere, es gehöre auf das Grabmal Mohammed’s etc. Der unübertreffliche Lane erzählt, daß Scheger ed-Durr, die Favoritin des Sultans Es-Saleh-Negm-ed-Din, die Erste war, welche unter einem Machmal nach Mekka wallfahrte. Die Frauen der Khalifen sollen für einige Zeit dasselbe gethan haben; später wären sie fein zu Hause geblieben und hätten blos ihr Zelt mit der Pilgerkarawane nach Mekka geschickt. Seit der Zeit werde es als Symbol königlicher Würde mitgenommen. Auch Burckhardt ist dieser Meinung. Lane giebt indeß zu, daß er niemals hätte ausklügeln können, aus welchem Grunde die Muslimen für’s Machmal so fanatisch sind.
Trotz der Meinungsverschiedenheit oder vielmehr der Unkenntniß der Sache sind sämmtliche Reisende in Einem einig, nämlich, daß auf dem Machmal zwei Koranexemplare befestigt sind, und dies hat nach zur Ueberzeugung geführt, daß Alfred von Kremer den richtigen Ursprung des Machmals gefunden hat. „Geht ein Beduinenstamm in’s Gefecht,“ erzählt besagter Autor, „so pflegt man das schönste und muthigste Mädchen des Stammes in eine Sänfte zu setzen, die von einem Kameel getragen wird, das man in’s dichteste Kampfgewühl leitet. Während die Feinde sich der schönen Beute zu bemächtigen suchen, wird sie von den Ihrigen vertheidigt. Sie spricht denselben Muth ein, belobt tapfere, vor ihren Augen vollführte Thaten und verspricht dem Tapfersten der Tapferen ihre Hand; so wird dann der Kampf um sie herum am heftigsten. Auf diese Sitte gründet sich auch der Gebrauch, daß bei der Pilgerkarawane der Koran unter einem Zelt von einem edlen Kameel, das kostbar aufgeputzt ist, getragen wird. Man nennt dies das Machmal. Dasselbe soll der Sammelpunkt sein, um den sich im Fall des Angriffs der Karawane die Kämpfenden zu schaaren haben, um ihr Heiligstes zu vertheidigen.“
Anfangs sahen die frommen Muslimen beim Anblick des Machmals nur den Koran, von dessen Göttlichkeit sie bekanntlich Alle überzeugt sind; der Fanatismus wurde von Vater auf Kind überliefert, bis zuletzt die Verzückung beim Erscheinen des heiligen Zeltes eingeboren ward und des Muslimen Eifer nicht mehr dem Koran, sondern dem Machmal galt. Das Curiose bei der Geschichte ist aber, daß das Machmal in der That jetzt keinen Koran trägt. Ich habe den Chef selbst gefragt, und er antwortete mir: „Koran? Ich weiß von keinem Koranexemplar. Wißt Ihr Etwas davon?“ frug er seine Leute. Jeder schüttelte den Kopf und sagte. „Wasisch Koran,“ was auf Deutsch so viel als „Nix Koran“ heißt. Man hat den Koran also vergessen. Armer Islam! hohl sind die Feiern deiner einst so getreuen Muslimen; die noch bleibenden Zeloten hangen blindlings an dir. Oeffnet ihnen die Augen, und sie werden zu Skeptikern!
Jetzt wollen wir wieder zur Feier zurückkommen. Der Sitte gemäß, bleiben die heiligen Decken zwei Wochen in der Moschee Hassanin, wo das Haupt Hussein’s, des Enkels Mohammed’s, aufbewahrt wird. Hussein wurde in der Ebene von Kerbela auf des Khalifen Jezid’s Befehl getödtet. Er starb also nach den Mohammedanern den Tod eines Märtyrers und wird von diesen als solcher verehrt. Diese Moschee, das größte Sanctuarium Aegyptens, ist äußerst schön. Um Vieles höher als unsere Kirchen, ist sie durch Riesensäulen von grauem Marmor und mit goldenen Sprüchen aus dem Koran geziert. Den Boden decken farbenreiche, werthvolle Teppiche. Die grünen Thore des Sanctuariums sind mit silbernen Verzierungen beschlagen. In dieser Moschee wurden die Teppiche verpackt, auf Kameele geladen, um am 20. Schewwal (12. December 1873) nach dem unmittelbar außerhalb der Stadt gelegenen Sandfelde von Abbassijjeh gebracht. Am folgenden Morgen findet die Uebergabe der Machmalschnur statt.
Alle Jahre meldet sich freiwillig ein höherer Officier, das Machmal durch die Wüste zu geleiten und die Machmalsgarde zu befehligen. Früher war dies eine hohe Ehre, und man riß sich darum. Heute mögen die Jüngeren von dieser Strapaze nichts mehr wissen, und es bewerben sich nur noch alte Zeloten um die heilige Mission. Auch jetzt ist der Emir der Pilgerfahrt ein alter Mann, Namens Manuch-Aga. Diesem Manne überreichte der Kronprinz – der Vicekönig mag von solchen Geschichten nichts wissen – die Schnur des Machmals. Dasselbe war durch Soldaten dreimal um den mit Infanteristen und Cavalleristen besetzten großen Plan geführt und dann vor das prächtige Zelt des Kronprinzen geleitet worden, in welchem nebst demselben die Großen des Reichs saßen. Tewsik-Pascha legte die besagte Schnur in Manuch-Aga’s Hände, der Scheich el Bekri, ein Nachkomme Abu Bekr’s und als solcher Haupt sämmtlicher Derwische Aegyptens, sprach ein Gebet und somit war die Ceremonie beendet. Man hatte mich auf langes Beten, wie es die feierliche Gelegenheit heischte, vorbereitet, doch das Gebet des Scheichs el Bekri mußte von sehr kurzem Inhalt gewesen sein, wenn überhaupt eins ausgesprochen worden, sintemalen es keine Secunde dauerte.
Mäßigen Schrittes, von Kanonen und Soldaten gefolgt, trug das edle Kameel das Machmal nach Abbassijjeh. Hier wurde der Baldachin auf den Sand gesetzt und mit einer grünen, mit weißen Schnörkeln benähten Decke, die wieder mit farbigen Lettern (Anpreisungen Allah’s und Mohammed’s) ausgestattet war, verhüllt, damit die Farbe des Machmals nicht unter den glühenden Strahlen der Sonne verschieße. Rings um dasselbe wurde ein grünes Paravent (Windschirm) aufgestellt, durch Stricke befestigt, die schräg in den Sand liefen. Neben dem Machmal stand das Zelt des Chefs aufgeschlagen. Ringsum, in einiger Entfernung, sah man die Zelte der Soldaten, der Proviantmeister, der Schneider und der übrigen Handwerker. Die Karawane nimmt nämlich Leute von jedem Handwerk mit, um allen Bedürfnissen Genüge zu leisten. Ich sah sogar kleine Stiefelputzer.
Drei Tage pflegt die Karawane in Abbassijjeh zu lagern, um die zur Wüstenreise nöthigen Vorbereitungen zu treffen. Am Abende des dritten Tages schlossen sich ihr die Pilger an, die sämmtlich die Nacht daselbst verbrachten, um am folgenden Tage beim Aufbruche der Karawane an Ort und Stelle zu sein.
Da ich den Abzug sehen wollte, bestellte ich gestern meinen schönen Esel, der mich denn heute früh abholte. Sein liebliches Geschrei weckte mich gegen vier Uhr aus den süßesten Träumen. Im Nu war ich angekleidet. In einen dicken Mantel gehüllt – denn hier ist es Morgens und Abends kalt –, schwang ich mich auf das kühne Eselchen. Der Treiber schrie: „Uau!“ und fort ging’s in Galopp durch die engen Gäßchen Kairos. Die Esel vertreten hier die Stelle der Droschken; sie sind hierzulande kräftiger und schöner als irgend anderswo und leisten die trefflichsten Dienste.
Es wurde mir eigen zu Muthe, als ich so durch die dunklen Gassen zwischen hohen Häusern ritt, die das Mondlicht nicht einließen, die hohe Gestalt des dunklen Aegypters an meiner Seite mit seinem schlichten Gewande, das bei jeder Bewegung das Ebenmaß der Glieder verrieth, in der Hand die ägyptische Laterne mit den farbigen Glasscheibchen. Er erzählte mir wundersame Dinge, Alles mit dem gläubigsten Tone, als ob er die Richtigkeit des Behaupteten verbürgen könnte. Wie er einen „Hund von Christen“ vor einigen Tagen einlud, mit ihm zu essen. „Ich bin ein armer Mann,“ sagte er, „aber ich kann nicht essen, wenn der Beistehende nicht mein schlichtes Mahl [28] theilt“ – und wie dieser „Hund“ ein abscheuliches Wort ausgesprochen und es ihm angethan habe. Seit er dieses Wort gehört, habe er nicht mehr essen können; es habe ihm die Kehle zugeschnürt. Heute sei der Christ wieder vorübergegangen; da habe er gewisse beschwörende Worte gesprochen und einige Lumpen in’s Feuer geworfen, und nun stehe es mit dem Appetit wieder besser.
Wir sprachen dann von der Procession des Machmals. Mein Mann verdrehte die Augen, als er mich von der Heiligkeit Derjenigen zu überzeugen suchte, die mehr als einmal in Mekka gewesen sind.
„Und hast Du den Schlüssel bemerkt, der auf goldenem Kissen hinter dem Machmal einhergetragen wurde?“ frug er mich.
„Ja! Das ist der Schlüssel der Kaabah. Nicht?“
„Du sprichst die Wahrheit, Herr; es ist der Schlüssel der Kaabah. Mit diesem Schlüssel hat es eine eigene Bewandtniß. Beim Aufschließen des Thores der Kaabah geschieht jährlich schon seit undenklicher Zeit ein Wunder. Kein Mensch außer der in Mekka ansässigen Familie Scheiba kann dieses Thor öffnen. Die Stärksten mögen stundenlang daran rütteln, und es bleibt hartnäckig verschlossen, während ein Säugling der Scheiba es mit dem kleinen Finger öffnen kann.“
(Später erfuhr ich, daß mit dem Aufschließen der Kaabahthür in der That ein Geheimniß verbunden ist, dessen nur die Familie Scheiba kundig ist. Die Mitglieder dieser Familie, der wohlhabendsten der Umgebung, halten streng zusammen und vermählen sich niemals mit fremdem Blute.)
Wir bogen um eine Ecke und hatten die weite Sandebene von Abbassijjeh vor uns. In der Ferne konnte man Menschengewimmel unterscheiden; oben am lichtblauen Himmel stand noch der Mond, auf die Umgebung ein sanftes Licht gießend; im Osten leuchtete der Morgenstern wie ein tiefes Auge, und dort oben auf dem nahen Minaret hub der Mueddin die wehmüthige Weise, den Ruf zum Gebete, an.
Es lag ein wundersamer Zauber in dem Anblicke. Der Zauber wich indeß, als ich mich dem Lager der Pilger nahte.
Es war inzwischen Tag geworden. Ein Kanonenschuß, und die Karawane bewegte sich. Voran das Geschütz, gefolgt von einer langen Reihe Soldaten zu Pferde, zu Zwei und Zwei reitend, hinter diesen die mit den heiligen Teppichen bepackten Kameele und hinterdrein ein Schwarm taumelnder, heulender, jauchzender, betender Menschenkinder – es ist völlig unmöglich, diese Menschenmasse zu veranschaulichen.
Man sah Derwische mit langen lebendigen Schlangen und bunten Fahnen, Spießen, Speeren und Netzen, aus Reifen aufgespannt, worin Fische zappelten, dem Kadirijjeh-Orden angehörend, deren Glieder meist Fischermänner sind, Possenreißer, in scheckigem Anzuge mit Fransen statt der Haare und des Bartes, Fechter mit Schilden und Säbeln, Kleinkrämer, die Imams der vier orthodoxen Seelen des Islams, weiße, rothe und grüne Turbane, schwarze, orangefarbene, weiße, himmelblaue, weiß und braun gestreifte Kaftane, farbenreiche Gürtel, deren Träger theils auf buntscheckig aufgeputzten Kameelen, theils zu Fuß waren, Alles mit intelligenten, aber durch die Erregung hier und da verzerrten Gesichtern, vom leuchtenden Schwarz bis in’s Braune und Gelbliche.
Hinter den Pilgern ritt der Stab des Befehlshabers Manuch-Aga selbst dicht neben dem Machmal. Diesem folgte auf einem mit rothen Latzen, Spiegelchen, Muscheln, keck aufstehenden Federn und Palmenzweigen gezierten Kameele der sogenannte Scheich el Gemel (Scheikh des Kameels), der das Machmal schon unzählige Male nach Mekka begleitet hat. Dafür sprach ihn das Volk heilig. Es ist dies ein ekliger, fetter Mann mit grauem Barte, der, bis an den Leib nackt, gar nichts mehr von der Außenwelt zu bemerken scheint und mit der den Irren eigenen Monotonie seinen Kopf herumrollt. Hinterdrein trabten die mit den Nakadirs beladenen Kameele; Nakadirs sind eine Art Pauken mit dumpfem Schalle, die während der Reise unausgesetzt geschlagen werden, um den Pilgern, welche sich von der Karawane etwa entfernen, den Ort derselben anzudeuten.
Da ziehen sie nun, die fanatischen Söhne Mohammed’s, unter den glühenden Strahlen der ägyptischen und asiatischen Sonne, auf glühendem sandigem Boden. Längs des Weges schließen sich ihnen Pilger aus allen Theilen des türkischen Reiches, aus Kaukasien, den russischen Südprovinzen, aus der Krim, ja selbst aus Persien und Bokhara an. Constantinopel, Damaskus, Smyrna und zahllose andere Städte senden werthvolle Angebinde nach der heiligen Stadt des Islams. Der Kairiner Pilgerstrom wird durch alle diese Seitenströme mit jedem Tage größer, bis über hunderttausend durch die Strapazen der Wüstenreise hager gewordene Muselmänner vor den Thoren Mekkas stehen. Hier müssen sie sieben Male um die Kaabah gehen, den schwarzen Stein Abraham’s küssen, drei Tage im Thale von Mina beten und eilenden Schrittes den heiligen Berg Arafat herabkommen, was ihnen Alles in dem Koran so deutlich vorgeschrieben ist.
Und nach vier Monaten wird das Machmal in Kairo wieder seinen feierlichen Einzug halten. Dann wird man Mütter jammern, Gattinnen schluchzen und Kinder heulen hören, denn so Mancher war frisch und gesund ausgezogen und kehrt nicht wieder zurück. Jetzt ruhen die Gebeine der den Strapazen erlegenen Pilger im glühenden Sande der Wüste.
Und leider wiederholt sich dies alle Jahre! Ismaïl-Pascha, der ein Jahrhundert älter ist als sein Volk, schaut grollend zu. Indeß ist heute mit diesen abergläubischen Muslimen nichts zu machen. Der letzte Vice-König, Saïd-Pascha, hatte im Jahre 1861 wohl versucht, aus der ganzen heiligen Geschichte ein Paket zu machen und sie zur See von Suez nach der Mekka-Hafenstadt, Dschedda, zu befördern – aber die altgläubigen Mohammedaner schüttelten ihre Köpfe so lange, bis das Machmal wieder den langwierigen Landweg nahm. Die Pilger mußten diesen ohnehin einschlagen, weil ihnen das Fahrgeld des Dampfers zu kostspielig war.
Kairo, im December 1873.
Im Corridor lagen zwei Eßmesser, womit wir am Abend vorher Adorfer Knackwürste kunstgerecht secirt hatten. Diese Messer waren passabel scharf, stark und spitzig. Jeder steckte eins zu sich, damit es im Falle der Noth nach Schiller’s Tell ein „Bringer bitterer Schmerzen“ werden könne. Hierauf brach ich mit Leichtigkeit aus der nicht eben schwachen Gatterthür zum Dachboden einige starke Sprossen nur mit der Hand heraus – die Kraft dazu ist mir noch heute unerklärlich. Es prasselte ziemlich stark, allein der Gott des Schlafes, der Veranstalter der Sonnenfinsterniß und ihrer Folgen, war diesmal mit uns. Niemand hörte. Wir kamen auf den Dachboden; ich hatte auf die hier befindlichen Wäschleinen gerechnet; denn ich wollte sie neben dem unzuverlässigen und schwachen Blitzableiter zum Abstieg, wie die Bergsteiger sagen, benutzen. Ein unglücklicher Zufall oder Wachtmeisters Vorsicht hatte sie entführt – hinter uns waren die Schiffe verbrannt. Es wurde heller und heller. Der frühe Julimorgen suchte sich bereits im Osten Bahn zu brechen; einzelne Lerchen belehrten uns, wie dereinst den sentimentalen Romeo, daß die Stunden der Nachtigall vorüber seien. Ich stieg hinauf auf’s thauglatte Schieferdach, denn ich wollte zuerst hinab, da ich noch kein Weib und keine Kinder hatte; brach der Blitzableiter, so konnte Blankmeister zurück und ich hatte so ziemlich sicher nichts mehr nöthig. Dies waren so ungefähr meine Morgengedanken, als ich mit meinem Körper einen großen Bogen beschrieb, und zwar um den weit vorstehenden Dachsims gegen den Hof hin, am schwankenden, biegsamen und von der Mauer vielfach losgerissenen Blitzableiter hinab. Es war die gefährlichste Stelle. Nur von den Händen gehalten,
[29] schaukelte ich da in frischer, freier Morgenluft zwischen Erde und Himmel. In weniger als zwei Minuten war ich mittelst eines kunstgerechten Turnergriffes im Gefängnißhofe angelangt, der, von oben gesehen, soeben noch „bergetief, in purpurner Finsterniß“ dalag.
Die ziemlich starke Thür nach dem größeren Garten war geschlossen. Ein Druck mit einem Klafterhobel aus dem Holzhause genügte, um den Schloßkloben aus der Wand zu sprengen. Inzwischen schwebte auch Blankmeister majestätisch zwischen Himmel und Erde, und sein Hemd flatterte siegverheißend durch die verwundeten Unaussprechlichen im Sommermorgenwinde. Niemand hatte uns gehört; es war ein Glück für uns; aber auch ein Glück für etwaige Verfolger, denn wir waren fest entschlossen, unseren Sieg zu vertheidigen bis auf’s Messer. Wie zwei Hirsche, die nach frischem Wasser lechzen, setzten wir durch den größeren Garten und hatten eben den Riesenschwung über den Zaun vollendet, als der dicke Schießhauswirth, der selige Klarner, der damalige Herbergsvater der Demokratenzunft, vom nahen Schießhause hergetrollt kam. Wir hielten es für besser, ihm heute keinen „Guten Morgen, Herr Klarner!“ zuzurufen, denn unter solchen Umständen gilt Schiller’s praktisch-poetische Anweisung:
„– – Jeder treibt
Sich an dem Andern rasch und fremd vorüber
Und fraget nicht nach seinem Schmerz.“ –
Wir schwenkten kühn gerade gegen die Stadt zu, um noch zeitig genug das rechte Ufer der Elster, die Straße nach dem Städtchen Schöneck und somit den geraden Weg nach dem Innern von Sachsen zu gewinnen. Während des Dauerlaufs waren zwischen Blankmeister und mir zwei Hauptfragen entschieden worden. Er wollte in die Stadt, um seiner Frau Lebewohl zu sagen; ich ließ es nicht zu, denn dies hätte geheißen, sich wieder fangen lassen. Dann drang er darauf, direct die Flucht über die nahe böhmische und bairische Grenze zu nehmen. Auch diesen Vorschlag bekämpfte ich aus strategischen Gründen; denn wir hätten dort über zwei damals scharf besetzte Grenzen hinüber gemußt und Alles würde uns gerade dort zuerst gesucht haben, während uns auf den von mir geplanten Wegen kein Mensch vermuthete. Also hinein in die voigtländischen Wälder!
Blankmeister erkannte die Richtigkeit meiner Folgerungen – denn ich vermied ja selbst meinen nahen Heimathsort –, und nun ging es um Adorf herum, beim Kirchhofe hinunter, ruhigen Schrittes, damit wir kein Aufsehen erregten, gegen die Elster-Brücke, allwo zwei einsame Schlagbäume mir Gelegenheit boten, dem damaligen Herrn Straßengeldeinnehmer, der mich im vorigen Jahre so liebevoll in’s Gefängniß kutschirt hatte, noch „ein stilles Adje“ zuzurufen. Unser Zweigespann gab diesmal aber kein Chaussee-, sondern nur brav Fersengeld.
Wir hatten Beide einen Höllendurst, wie wir wohl seit den Flitterwochen unserer Studentenzeit keinen empfunden hatten. Lockend lag das Adorfer Feldschlößchen vor uns, allwo Frau Becker (nun auch schon todt), als Wittwe eines der ersten obervoigtländischen Vorkämpfer für deutsche Einheit und Freiheit, ein Allerbestes ihren Gästen bot, aber – da war keine Zeit zum Durstlöschen. Fort ging es in angestrengtem Dauerlaufe die Bergstraße hinauf, Schöneck zu, dem alten freien Reichsstädtchen, hoch oben auf waldiger Höhe zwischen Ober- und Untervoigtland, zwischen Bauer und Stadtbürger mitten drin liegend. Hier und da begegnete uns ein früher Wanderer, allein wir zogen dann sofort Faust’s Zauberkäppchen in Gestalt eines Roggenfeldes über die Ohren und machten uns unsichtbar. Endlich – noch stak die Sonne hinter den Bergen, aber die Dämmerung hellte sichtlich empor – erreichten wir den Wald.
Ich habe den Wald unendlich lieb, aber so mit Inbrunst an’s Herz gedrückt habe ich ihn niemals wieder. Jeden Baum hätte ich umarmen mögen; waren es doch alle uralte Bekannte, die mit dem Knaben und Jüngling aufgewachsen waren und die ich so manches Mal besucht und begrüßt hatte, die lieben, dunkelgrünen Säulen meiner heimathlichen Berge!
„Sei gegrüßt, liebherz’ger Wald,
Sei gegrüßt viel’ Tausendmal!“
Und der alte liebe Kumpan nickte freundlich mit seinen Morgenwipfeln, flüsterte leise seinen Gegengruß und hüllte uns barmherzig in seinen schatten- und faltenreichen Mantel, wusch uns die rußigen Gesichter und Hände mit seinem plätschernden Waldbache, reichte uns im kleinen stillen Moosteiche einen krystallenen Spiegel zur nöthigen Morgentoilette und verstärkte unsere hausbackenen Dolche mit zwei kräftigen Wanderstäben aus des Bergwachholders urzähem Stamme, um etwaigen Widersachern ein bedeutsam Wörtlein von altvoigtländischer Kraft damit hinter die Ohren schreiben zu können. Der Wald credenzte aber auch den Halbverschmachteten kühlenden Labetrunk aus frisch-sprudelnder Quelle und deckte uns auf freier Haide gastfreundlich die Morgen-, Mittags- und Abendtafel mit köstlichem Gebeere von aller Art –
„Wie es der Wand’rer findet in den Bergen.“
Jetzt erst sahen wir einander an. Wir waren prächtige Kerle! Trotz erster und zweiter Mohrenwäsche waren wir immer noch „Ebenholz“, und Blankmeister mit seinem struppigen Vollbarte, in mächtigen Filzschuhen zu Ende Juli, in der Rechten den wuchtigen Wachholder, glich auf’s Haar einem riesigen Gnomen der Unterwelt, oder noch besser einem in der Umwandlung begriffenen Darwin’schen „Menschenwerder“. Betrachtete ich ihn und mich in irgend einem Wasserspiegel des Waldes, so glichen wir Beide vollkommen Dem, was wir waren – zwei soeben dem Zuchthause Entlaufenen.
Nach kurzer Zeit bogen wir um das Städtchen Schöneck herum, warfen dem idyllischen „Waldhaus“ und wohl mehr noch dessen frischem „Waldkeller“ einen freundlichen Blick zu und schlugen uns, wie Seume’s Indianer, rechtwärts in die Büsche, obgleich wir auf classisch-demokratischem Boden standen. Hier, auf weitem, waldumkräuztem Felde, hatten wir im Juni des Jahres 1848 die erste große Volksversammlung des Voigtlandes gehalten. Aus allen Thälern, weit und breit, ja selbst aus Böhmen und Baiern, hatten sich freiheitbegeisterte Männer eingefunden, und dort, am schattigen Waldhaus, wurde noch lange von den riesigen Bierfässern herab fortgerednert, bis die Sonne sich neigte vor dem unvergeßlichen Tage. Droben in der alterthümlichen Oberstube aber saßen, von da an, zu öfterem die Führer der voigtländischen Vaterlandsvereine zusammen und sahen hoffnungsreich hinab auf das blaugrüne, prachtvolle Waldmeer.
„Ganz wie Amerika!“ rief ich einst in jugendlicher Schwärmerei aus.
„Möcht’ es so sein!“ erwiderte mir ein alter, ehrlicher Fabrikant; „wird es aber wieder nichts, wie Anno 30, so schnür’ ich meinen Bündel und gehe noch in meinen alten Tagen hinüber in’s Land der Freiheit.“
Ich sah den Alten mitleidig an. Meine Jugend konnte die Möglichkeit eines Rückschlages gar nicht fassen, und nun, kaum drei Jahre später, stand ich barfuß, heimathlos, geächtet, verfolgt, ohne Obdach und ohne Kleider, zu zwölf Jahren Zuchthaus verurtheilt, vor demselben Hause, vor derselben wunderlieblichen Waldlandschaft, mich weislich in den Büschen bergend, auf unsicherer, dornenvoller Flucht nach – Amerika ober einem anderen freien Lande.
Sollte der alte Prophet von Auerbach noch leben, so sei er recht herzlich von der freien Schweiz aus gegrüßt, nach fünfundzwanzig Jahren! Ich habe seiner oftmals gedacht.
Hier hatten wir den nördlichen Chimborasso des Voigtlandes passirt. Eine Stunde weiter abwärts deckte uns Meister Jungwald geschäftig die Mittagstafel und servirte gastfreundlich seine saftigsten Heidelbeeren. Dann stiegen wir in ein enges, von Bergwassern ausgewaschenes Thälchen hinab und nahmen im sonnigblinkenden Waldbach, tiefverborgen und wohlversteckt, ein herzhaftes Bad, um uns den amtlichen Ruß des Gefängnißofens sowohl, wie dessen schornsteinfegerlichen Geruch – der aber trotzdem noch wochenlang meine Nase beleidigte – vom Leibe zu waschen. Der Erfolg durfte kein glänzender genannt werden.
Indessen waren meine Strümpfe auf den körnigen Granit- und den dornigen Waldpfaden den Weg aller Strümpfe gegangen, und Blankmeister’s sibirische Filzschuhe hatten ebenfalls des Daseins Zweck erfüllt. So stand ich, wie dereinst der deutsche Kaiser Heinrich der Vierte im Hofe zu Canossa, im Hofe der Natur, barfüßig, verbannt, vogelfrei, aber ohne Büßerhemd, weil ich im Drang des Augenblicks vergessen hatte, eins anzulegen.
Wir waren Beide des Gehens nicht mehr gewöhnt, [30] geschweige denn des Barfußgehens, und so machte sich denn in unseren Füßen allmählich ein heftiger Trieb zur Arbeitseinstellung geltend. Wir illustrirten sprechend ähnlich das alte Volksbild: „Er geht auf Eiern“. Dazu zwei Nächte nicht geschlafen, denn auch die vorhergehende war unruhvoll, dann die stete Aufregung! Daneben die Beeren und das Brod, die Waldkost, für die wir zwar äußerst dankbar waren, die aber trotz aller vegetarianischen Schwärmerei in solchen Fällen nicht genügt! Wir sehnten uns zu allererst nach des Schusters Rappen.
Doch die Sonne sank hernieder,
Und im Abendglockenklang
Tönte leis’ das Lied der Lieder,
Das so lieb die Mutter sang,
Von dem Schmerz des Heimwehs wieder.
In der Heimath heimathlos, saßen wir am Waldesrand und sahen hinunter in ein freundlich stilles Bergthal. Die Sonne vergoldete mit ihren letzten Strahlen die Kirchthurmspitze eines vor uns liegenden Dörfchens, das, fern vom Getöse der lauten Heerstraßen, der Eisenbahnen und Telegraphen, recht glückliche Menschen zu bergen schien. Ich kannte dieses bescheidene Dorf und hatte als Schüler, als Student und als Philister oftmals diese einsame Oase durchwandert. Mit welchen Gefühlen aber sah ich heute hinab auf die grauen Schindeldächer, mit den rothen oder weißen Schornsteinen, aus denen soeben der blaue Rauch gastlich emporkräuselte, der das einfache Nachtmahl verkündete! Auch unsere Alles bewegende Lebensmaschine sehnte sich dringend nach etwas Verdaulichem, aber Niemand lud uns freundlich zu Gaste; scheu wichen wir der Menschheit aus. Endlich, als die Dämmerung kräftiger herabstieg, stiegen wir empor zu dem Gedanken, alle Sentimentalität an den Nagel des Humors zu hängen, und recitirten aus den „Räubern“, denen wir ähnlich sahen, die trefflichen Worte:
„Heut’ kehren wir beim Pfaffen ein,
Bei reichen Pächtern morgen.“
Im lieben Dörflein Bergen lebte nämlich zur selbigen Zeit der uns wohlbekannte und werthe Pfarrer Röller, der nun auch schon längst in Walhallas Gefilden predigt. Ein Mann von seltenen Talenten, aber schon als Student politisch anrüchig, sintemalen er eifriger Burschenschafter und am Frankfurter Putsch betheiligt gewesen war. Er konnte sich auch noch als Candidatus die lichtere Anschauung der Welt und die Sehnsucht nach einem einigen, großen, freien und starken Deutschland nicht abgewöhnen und er hätte deshalb wohl auch das Schicksal vieler Zukunftspastoren von damals gehabt, das heißt: er wäre ohne Pfarre geblieben, und hätte als armer Hauslehrer oder als beneidenswerther Dorfschulmeister den Abend seines Lebens herbeimagistern können, wenn ihn nicht gerade das Jahr 1848 mit einem demokratisch gesinnten Patronatsherrn zusammengeführt hätte, der ihn ohne langes Federlesen auf die nicht ganz üble Pfründe zu Bergen versetzte. Dieser seltene Kirchenpatron war Wilhelm Adolph von Trützschler auf Falkenstein, Mitglied des deutschen Parlaments zu Frankfurt.
Hut ab! wir sprechen von Trützschler. Welchem Volksmann aus jener Zeit dränge dieser Name eines deutschen Märtyrers nicht durch Herz und Seele? Auch mich ergriff die Erinnerung an diesen grausam geknickten Stamm aus den Bergen des Voigtlandes tief, doppelt tief bei dem Anblick dieses lieblichen Dorfes, einer bescheidenen Stelle, die aber dennoch zu Trützschler’s stillem Wirkungskreise, zu seiner speciellen Heimath gehörte. Der Geist dieses edlen Todten umschwebte uns schützend im seinem Dörfchen. Hier galt es, Proviant aufzutreiben, Kleider und besonders Schuhwerk zu requiriren. Dazu eine Scheere, um unsere sehr überflüssigen Bärte zu beseitigen.
Ich hatte mich mit gutem Vorbedacht nach diesem Dörfchen gewendet. Hier war ich sicher, das Allernöthigste zu erhalten. Die Frau Pfarrerin war meine erste und wärmste Schulliebe und eine wackere Cameradin meiner Knabenzeit gewesen, welches freundliche Verhältniß sich noch in die ersten Jünglingsjahre hineinzog. Frau Pfarrerin war ruhig, fest und entschlossen. „Sie wird gewiß Rath schaffen,“ dachte ich. Die einzige Schwierigkeit war, wie wir in unseren nicht eben modernen Anzügen in’s Pfarrhaus gelangen wollten, ohne Aufsehen zu erregen, denn zu unserer halben Verzweiflung wollte es gar nicht dunkel werden, und außerdem wollten wir das Pochen aus dem Schlafe wohlweislich vermeiden.
Kurz entschlossen, ließ ich Blankmeister im Walde zurück, da seine Gestalt immer noch weitaus die verdächtigere war. Ich sah nach beiderseitigem Urtheile noch leidlich aus, knöpfte den schwarzen Rock über die unbehemdete Brust und wandelte herzhaft auf den Pfarrhof los. Barfüßige Handwerksbursche, die um einen Zehrpfennig und um ein Nachtlager anhielten, waren in jener Gegend gewiß auch nichts Seltenes, und außer der Pfarrfamilie kannte mich Niemand im Dorfe.
Mariens Mutter begegnete mir im Hofe mit einem Kinde auf dem Arme. Sie erkannte mich sofort; allein sie hatte Geistesgegenwart genug, da fremde Leute um uns herum waren, mich nicht zu kennen, und wies mich, wie wahrscheinlich noch manch andern Handwerksburschen, an den Herrn Pfarrer. Der Herr Pfarrer aber, der von jeher etwas ängstlich gewesen war und dem man außerdem zu jener Zeit einen politischen Proceß an den liberalen Hals zu hängen beflissen war – was ich natürlich nicht wissen konnte –, verlor bei meinem nicht ganz gewöhnlichen Anblicke beinahe den Kopf. Glücklicher Weise war er mit mir allein im Zimmer.
„Fritz,“ rief er fast entsetzt aus, „Du machst mich unglücklich. Fort – fort!“
„Ich will nichts von Dir als Brod,“ antwortete ich, „und was ich sonst brauche. Ich rathe Dir, zu geben und zu schweigen, oder ich stecke Dir den rothen Hahn auf’s Dach. Wir sind eine ganze Bande.“
Selbstverständlich brauchte ich diese Drohung, um dem Pfarrer im Falle des Verrathes meiner Einkehr die kräftige Entschuldigung zu ermöglichen, als sei er durch meine fürchterliche Drohung gezwungen worden, mir zu willfahren.
Das Beste war jedoch, daß der Herr Pfarrer verschwand und die Frau Pfarrerin mich ohne langes Besinnen zur Hand nahm. So war ich denn in die rechten Hände gerathen. Sie fürchtete den tollen Jungen von ehedem nicht, der heute als eine Art Räuberhauptmann in ihr Haus gefallen war. Sie schaffte rasch einen Laib Gerstenbrod zur Stelle, schnitt ihn auf und brachte nach voigtländischer Bauernsitte ein gehöriges Stück Butter in ein ausgehöhltes Loch, das hiermit wieder ordnungsgemäß verschlossen und somit transportabel gemacht wurde, brachte zwei Paar Stiefel, zwei Hemden, ein Paar „Unaussprechliche“ für meinen Exbürgermeister, eine flotte Scheere und ein paar Thalerchen Geld – „Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?“ – führte mich im tiefsten Zimmer- und Abenddunkel noch zu ihrer Schwester, die krank im Bette lag und sich über meine Flucht beinahe gesund freute; dann ging es, ohne den Herrn Pfarrer noch einmal zu besuchen, das Bündel auf dem Rücken, über einen langen dunkeln Heuboden hinweg, und nach einem kurzen Abschiede, nach einem tiefherzigen „Leb’ wohl, Marie!“ – „Leb’ recht wohl, Fritz, und denke zuweilen an uns!“ – stand ich mit Einem Satze unten im Baumgarten und huschte durch Häuser und Büsche, über Hecken und Zäune wie ein echter und gerechter Zigeuner
Zum Wald, zum Wald,
Zum frischen, grünen Wald.
Dort wurde zuvörderst ernhaft und mit einem echt obervoigtländischen Appetit Gerstenbrod und Butter getafelt. Dann ging es an die Toilette; Hemden und Stiefel wurden mit Wonne angezogen, und zum Schluß schoren wir uns, soweit es der helle Abend noch gestattete, gegenseitig die Bärte aus dem Gesicht, wenn auch nur im Gröbsten. Adieu, mon Henri quatre
Nun wurde der übrige Brocken sorgfältig eingepackt, und vorwärts ging es wieder auf Schusters Rappen und auf geistlichen Sohlen durch das thauige Thal hinab, in die Nacht und in die Fremde hinein
Bei Sturm und Wind marschiren wir,
Der Wald ist unser Nachtquartier,
Der Mond ist uns’re Sonne.
Bei allem Criminalhumor entwickelte sich jedoch immer fühlbarer eine ziemliche Müdigkeit. Ohne uns lange zu besinnen, huschten wir in einen Kornacker und verschwanden in diesem uns vertraut gewordenen Zauberkäppchen. Allein – trotz 29. Juli – Erde und Nacht war kühl. Mein dünner Rock [31] und Blankmeister’s wollene Jacke waren keine Soldatenmäntel, und Brod allein vermochte die Feldflasche nicht zu ersetzen. Wir konnten nicht schlafen. Da trabte noch zum Ueberfluß ein Reiter zu Pferd nahe an uns vorüber. Wir hörten so Etwas wie einen Säbel rasseln, und unsere noch immer aufgeregte Phantasie sah natürlich sofort einen leibhaftigen reitenden Gensdarm, der wie der Erlkönig durch die weißen lichten Nebel des kleinen erlengespickten Thales dahinsprang, und da wir ja doch nicht schlafen konnten, so spornten wir unsere flüchtigen Beine ernstlichst zur Weiterbeförderung an und passirten so gegen Mitternacht das gut demokratische Städtchen Treuen, um hier den letzten königlich sächsischen Nachtwächter und dessen harmonischen Stundenruf zu genießen, der mit dem bekannten vormärzlich diplomatischen Zuruf schloß:
„Bewahrt das Feuer und das Licht,
Damit Niemandem kein Schaden geschicht!“
Wir beiden achtundvierziger und neunundvierziger Lichtaufstecker begriffen Dies. Schweigend durchschritten wir die alten Gassen, grade und krumme, und suchten so rasch wie möglich den schützenden Wald zu erreichen, in dessen Dunkel bei friedlichem Wipfelrauschen wir uns in’s weiche Moos betteten, um uns zum letzten Male in der engeren Heimath, „auf der Flur, wo wir als Knaben spielten“, eine Spanne Nacht lang in der lieblichen Wiege des Traumes zu schaukeln.
Während wir hier so harmlos in des Waldes Armen schlummern, sei mir ein kurzer Rückblick auf die von uns so treulos Verlassenen gestattet. Das Scheiden von der traulich düsteren Frohnveste war uns nach der Parodie des Chamisso’schen Zopfliedes:
’s war Einer, dem’s zu Herzen ging,
Daß man ihn für das Zuchthaus fing –
Er wollt’ es anders haben!
sehr zu Herzen gegangen.
Es war im Junimonate des Jahres 1868. Nach den bewegten Tagen des Lutherfestes zu Worms war ich in’s grüne Neckarthal geeilt und lag träumend in einem Fenster der Schloßruine des Wilhelmsbaues zwischen den Gräsern, die aus den Mauerritzen hervorquollen und, von linder Luft bewegt, sich hin- und herwiegten. Ich schaute hinauf in die herrlichen Gestaltungen, welche die Zinnen der Ruine krönten, welche die Fenster schmückten, hinauf in den blauen Himmel, der zwischen den edlen Decorationen des Mauerwerkes, welches so satt gefärbt in goldigem Tone erglänzte, nur um so tiefer erschien. Ich wurde nicht müde, die schönen Gebilde einer reichen Zeit, einer verschwenderischen Fülle von Phantasie zu betrachten. Vorüber rauschten die Gestalten des phantastischen Winterkönigs und seines üppigen Hofes; vorüber zogen die Bilder jener wilden Tage, in denen das stolzeste Schloß im deutschen Lande von den Welschen in Brand gesteckt wurde, vorüber die Erinnerung an die teuflische Freude, mit welcher der stolze Herrscher Frankreichs eine Gedenk- und Ehrenmünze auf die Mordbrennerei seines Feldherrn schlagen ließ, auf welcher die Aufschrift: „Heidelberga deleta“ zu erblicken war. Um mich her summten die Bienen; mir klang’s wie ein fernes Lied, wie ein Chorgesang; „Heidelberga deleta“ hörte ich deutlich daraus hervorklingen, traurig und monoton.
Ich wurde den Klang des Bienenliedes nicht los. Es verfolgte mich auf Schritt und Tritt, und es verschwand der Ton und das Gefühl, das es mir in der Seele erweckt hatte, erst, als ich von der Freiung des Schlosses am Abende in das glückliche, blühende Neckarthal herniederschaute. Unten in der freundlichen Stadt Heidelberg erklangen die Abendglocken, und über dem golddurchleuchteten sagenreichen Rheinland lagerte der ganze Zauber eines Sommerabends. Wer einen solchen Abend auf dem Heidelberger Schlosse erlebte, wessen Blick jemals von der herrlichen Ruine nach den fernen Bergen schweifte, welche bereits französisches Land beherrschten, der begreift es wohl, daß es hier den Menschen drängt, die Hände still zu falten und mit den tausend Gebeten, welche der Abend in der Menschen Brust erweckt, das seinige zu vereinen, der begreift es, daß sich hier Vergangenheit und holdes gegenwärtiges Glück um den Besitz der Seele streiten, der begreift es aber auch, wie traurig in der Seele des Deutschen immer wieder der Refrain des Liedes „Heidelberga deleta“ wie ein Hohn auf unsere Vergangenheit dazwischen klang.
Heute ist das anders als damals. Nicht mehr wird der Blick in die Ferne durch Frankreichs Berge begrenzt. So weit man auch in die dämmernden blauen Linien am Horizonte schauen kann, überall erblickt man deutsches Land auch jenseit des Rheines. Vergessen ist heute das koboldartige Schwirren und Zirpen des höhnisch frohlockenden Liedes von „Heidelberga deleta“! Was auch das Rheinland durch den Franzmann an Wunden und Schmerzen erlitten, gerächt ist es und gesühnt im größten Stile. Der Zauber der Heidelberger Ruine aber ist derselbe geblieben, wenn er auch nicht mehr umwoben ist von dem Gefühle patriotischen Schmerzes und der Hoffnung auf die Stunde der Vergeltung – und für jeden Deutschen gehört die Erinnerung an Heidelberg heute, wie in den Tagen unserer Väter, zu den schönsten und unvertilgbarsten des Lebens.
Auf meiner Rückreise nach der Heimath führte mich der Weg durch Thüringen. Ich konnte es mir nicht versagen, von der Heerstraße weg einen Abstecher nach einer nicht minder berühmten Ruine Deutschlands, nach Paulinzelle zu machen. Während Heidelberg den Blick in die Fülle des reichen Lebens der Renaissance eröffnet, tritt Einem mitten in dem einsamen thüringischen Wiesenthale, umgeben ringsum von grünem Walde, die einfache Großartigkeit des romanischen Baustiles überwältigend entgegen.
Sanft überragten zwei Thürme das in schönen Rundbogen sich wölbende Portal. Nur einer ist noch übrig, der noch heute als Glockenthurm benutzt wird. Ehrfurcht beschleicht den Beschauer beim Betreten des Kirchenschiffes, aus dessen grünem Rasenteppiche die mächtigen Säulen sich erheben. Dazwischen wölben sich die einfachen Bogen des romanischen Rundbaues; mächtige blühende Linden beschatten das hohe Gemäuer; hellgrünende Buchen, von goldigem Sonnenlicht durchwoben, ersetzen beim Durchblick durch die offenen Fenster den Schmelz der verschwundenen Glasmalereien. Der Duft der Linden durchströmt den Tempel Gottes, über welchem der blaue Himmel sich wölbt, mit köstlicherem Geruche als Weihrauch. Lieblich schmiegt sich an den alten Bau neues Leben; aus dem blumengeschmückten Fenster des gemüthlichen thüringischen Hauses, welches an die Kirchenruine unmittelbar angebaut ist, schaut das freundliche Gesicht einer Frau, welche ein Kind auf dem Arme trägt, hernieder, und ein lieblicher Garten, mit Blumen wohl gehegt, breitet sich bis in die Ruine hinein. Jetzt tönen vom Thurme die alten Glocken in silbernem Klange, wie sie wohl ehedem den einsamen Mönchen erklungen. Die Herde kehrt mit melodischem Geläute an der Kirchenruine vorüber heim; eine Kuh versucht es, aus dem alten Taufbecken, das vor dem Portale in tiefem Grase liegt und in welchem sich etwas Wasser angesammelt hat, zu trinken. Freundlich das Köpfchen neigend, schauen die Vöglein zu, welche in den Bogen des Portales, an dem noch die Spuren musivischer Malerei sichtbar sind, ihre Nester aufgeschlagen haben.
Wenn Heidelbergs Ruine die harmonische Pracht der Entfaltung in Natur und Kunst charakterisirt, so ist es hier in Paulinzelle der das Gemüth ergreifende Contrast, welcher zwischen dem Denkmale einer längst entschwundenen Zeit, Welt- und Gottesanschauung und der behaglichen Idylle des gegenwärtigen Lebens ringsum liegt.
Ein eigenthümlicher Zufall war es, daß mein erster Weg, nachdem ich in meine Heimath zurückgekehrt war, nach dem Oybin führte. Die Meinigen hatten dort Sommeraufenthalt genommen, und ich eilte, sie zu begrüßen und frohe Tage mit ihnen zusammen zu sein. So reihte sich, wie von selbst, zu den Bildern der beiden merkwürdigsten Ruinen Deutschlands, Schloß Heidelberg und Paulinzelle, als kostbare Perle das Bild der dritten Ruine, welche würdig ist, jenen beiden zur Seite gestellt zu
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werden, des Oybin an. Die Kloster- und Kirchenruine Oybin mit den alten Trümmern eines Raubritterschlosses ergänzt die herrliche Dreigestalt auch nach der Richtung der Kunst hin. Denn, wenn in Paulinzelle uns die schlichte Großartigkeit des romanischen Baustiles entgegentritt, wenn in Schloß Heidelberg unsere Phantasie von der reichen Fülle sinnlicher Gestaltungen des Renaissance-Zeitalters gefangen wird, so umgiebt uns im Rauschen der Tannen auf Oybin der vollste Zauber gothischer Kunst, ein Hauch lebensvoller Romantik des späteren Mittelalters. Keine der beiden anderen berühmten Schwesterruinen ist aber so umwoben, gleichsam so umsponnen von dem tausendfältigen Leben des deutschen Waldes.
Dem liebenswürdigen Künstler ist es gelungen, in den beifolgenden Zeichnungen, deren Interpret der Verfasser dieser Zeilen nur sein will, den Eindruck des Märchenhaften, den köstlichen Duft von Romantik und Waldpoesie, der hier über Natur und Menschenwerk aus vergangener Zeit gleichmäßig ausgebreitet ist und Beide zu einem wunderbar schönen, einheitlichen Bilde gestaltet, festzuhalten und zur Darstellung zu bringen. Nicht möglich ist es der Feder, gleich lebendig [34] wie der Maler zu schildern; sie kann nur erläutern, und allein der Dichter vermöchte es im Liede, den ganzen Reiz dieses glücklichen Stückes Erde Oybin zu besingen.
Mitten aus einem von waldigen Bergen umgebenen grünen Thale erhebt sich der Bergfelsen Oybin mit seinen wunderlichen phantastischen Sandsteinformationen, etwa tausendsiebenhundert Fuß über dem Meeresspiegel, von reicher Vegetation geschmückt. Er bildet fast die Mitte des südlausitzischen Gebirgszuges, welcher Sachsen von Böhmen scheidet, und ist etwa anderthalb Stunde von der freundlichen Stadt Zittau, der Hauptstadt der südlichen Oberlausitz, entfernt. Aus grünem Rasenboden steigen die mächtigen senkrechten, rundgeformten Felsenwände empor; rings um den Bergkegel zieht sich ein breiter Gürtel von Wiesen und Feldern im Thale, welches auf der anderen Seite kreisförmig von Bergen, daran Forsten bis zum Thale herniedersteigen, umgeben ist.
Vor allen hervorragend an kühn geschwungenen Linien und Schönheit der Form, erhebt sich dem Berge Oybin gegenüber der mächtige Hochwaldberg mit seinem breiten Rücken, welcher die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen bildet und über dessen Joch die alte Straße in’s böhmische Land hinüberführt. In dem stillen blühenden Thale auf grünenden Matten rings um den Oybinberg herum lagert sich das Dörfchen Oybin mit seinen freundlichen hölzernen Weberhäusern. Es ist ein rühriges, fleißiges und genügsames Völkchen, welches diese braunen Holzhäuser, die in neuerer Zeit theilweise reizenden Villen weichen mußten, bewohnt. Oft, wenn ich noch in später Nacht durch das Thal schritt, da leuchteten noch die spärlichen Lämpchen aus den dunkeln Hütten, und weithin dröhnte der dumpfe Stoß des rastlosen Webstuhles.
In neuerer Zeit entstehen, wie bereits erwähnt worden, an Stelle der kleinen Hütten freundliche Villen, und nicht lange mehr wird es dauern, so ist von dem armen Gebirgsdörfchen wenig mehr zu sehen, und anstatt desselben eine heitere „Sommerfrische“ erstanden. Neben den ärmlichen Häusern giebt und gab es aber auch gar freundliche, blanke und wohlig ausschauende Gebirgshäuser. Besonders anmuthig gelegen sind die Häuser, welche sich auf der Anlehne ausbreiten, die sich nach dem Hochwalde zu, aus dem Thale aufsteigend, bildet. Das letzte Haus am Waldesrande, von welchem aus man eine herrliche Aussicht auf den Oybinfelsen und auf das Dorf im Thale hatte, dessen Giebel mit den Schornsteinthürmchen malerisch zwischen den Obstbäumen lagen, war das sogenannte Forsthaus. Im Sommer nahm es fröhliche Gäste auf. Es war das Ideal eines echten Oybinhauses, behaglich sauber, von jenem eigenthümlich schmuckhaften Aussehen, das fast allen reicheren Häusern in Gebirgsgegenden eigen ist. Bis an den geschnitzten First des Hauses rankte sich der Wein und wilde Epheu; freundlich blinkten die Fenster aus dem mit Zierrathen geschmückten Gebälk, und stattlich prangte in Stein gehauen über der Thür die verzierte Inschrift des Erbauers. Von einem blühenden Garten war das freundliche Haus umgeben. Die Bienen summten vor den zahlreichen Stöcken, und vor der Thür des Hauses rauschte der Brunnen mit köstlichem Bergwasser. Vom Garten aus blickte man nach der anderen Seite hinunter in einen kühlen Wiesengrund, aus dem uns am heißen Mittag Kühlung entgegenströmte. Würzig duftete der Wald hinterm Hause. Welches blühende sonnige Leben hier am Morgen, welche zauberische Ruhe am Abend, nur durch das Girren der wilden Tauben unterbrochen! Wenn heißer und heißer am Mittag die Sonne erglüht, wenn der Vogelsang verstummt war und man nur noch dann und wann halbverloren den Kukuk schreien hörte, hier war immer Kühle und Erquickung zu finden, hier fächelte, auch wenn draußen im Lande die Felder und Wiesen von der Sonnengluth versengt waren, stets leise Luft uns neues Leben zu.
Es war ein glücklicher Aufenthalt für genügsame Menschen, das Ideal einer Sommerfrische, wie deren mehrere noch heute in dem kleinen Gebirgsdorfe zu finden sind. Das alte Forsthaus ist verschwunden. Heute erhebt sich ein stattlicher Landsitz an seiner Stelle. Das Gärtchen hat sich in eine reizende Parkanlage verwandelt, die herniederreicht bis in den kühlen Wiesengrund; vor dem Hause rauscht eine mächtige Fontaine, und haushoch steigt das köstliche Bergwasser in tausend Diamanttropfen zum heitern Himmel empor. Der Comfort hat die Einfachheit der Idylle verdrängt, aber der Zauber der Natur macht heute, wie früher, den Aufenthalt hier und in den angrenzenden Villen zu einem der beneidenswerthesten in deutschen Landen.
Unmittelbar an die steile Felswand des Bergkegels Oybin angelehnt, erhebt sich über den Häusern des Ortes die kleine Kirche mit ihrem hölzernen Thurm. Der Schall der hellen Glocken, der von der nahen Felswand abprallt, wird durch das Echo weit in die Berge hineingetragen. Der Ort bildet nur eine kleine Filiale eines anderen Gebirgsdorfes Lückendorf, dessen Seelsorger alle vierzehn Tage, auch im Winter und im tiefsten Gebirgsschnee, den weiten Weg über die Berge herübermacht, um der Gemeinde das Wort Gottes zu predigen. Ein steiler Treppenpfad, theilweise in den Felsen gehauen, führt, an dem Kirchlein vorbei und zwischen herrlichen Bäumen hindurch, den Felsen hinan.
Als ich im Sommer 1868, von der Reise heimgekehrt, die Meinigen am Sonntagmorgen besuchte, da begruben sie gerade die Frau des ehemaligen Försters, unsere Hauswirthin. Ich wollte den leidtragenden ernsten Männern und Frauen in schwarzer schwerer Tracht aus dem Wege gehen, nahm mein einjährig Bübchen auf den Arm und ging mit Weib und Kind nach der anmuthigen Schenke am Fuße des Berges unmittelbar bei der Kirche. Ihr gegenüber lagerte ich mich auf einer Anhöhe in’s Grüne. Am blauen Sommerhimmel zeichnete sich der Umriß des Berges mit seiner Ruine, unterbrochen von mächtigen Buchenwipfeln, scharf ab. Es war Sonntagsweihe und Stille über die ganze Natur ergossen. Wohliger und melodischer rauschten die Brunnen: diamantener erblitzten die Gräser vom morgendlichen Thau; prachtvoller als je schien mir da oben im blauen Duft die Krone des Hochwaldes zu dämmern. Jetzt begann die Glocke hell zu läuten. Nicht lange dauerte es, so kam der Leichenzug mit der stillen Last im Thale unten vorbei und stieg dann den steilen Felsenpfad gegenüber empor. Die Glocke verstummte – statt dessen begann der fromme Gesang der Knaben, und langsam wand sich, von Zeit zu Zeit durch Bäume oder Felsen verdeckt, dann wieder sichtbar, der Leichenzug empor, voran der weiße Sarg, der mit seinen Verzierungen wie Silber glänzte. Immer höher wurde er emporgetragen. Noch einmal ertönten die Glocken, dann ward es still, aber jetzt war auch der silberglänzende Sarg in dem Thore der Klosterruine oben verschwunden, und Stille herrschte nah und fern. Es war, als hätte sich der Himmel geöffnet, um die fromme Dulderin, die sie droben so feierlich begruben, aufzunehmen. Uhland’s Empfindung klang lebhaft in dem Bilde wieder: „Droben steht die Capelle etc. etc.“
In ferne Zeiten war ich entrückt – ich konnte mich der Erinnerung an das Bild nicht erwehren, in welchem Moriz von Schwind die Beisetzung der heiligen Elisabeth schildert. Es war etwas von der feierlichen Romantik desselben in dem Leichenzuge der einfachen Dörfler. Sie sind stolz darauf, ihre lieben Todten dort oben auf dem Berge begraben zu können. Sie ertragen unverdrossen die Mühen, welche bei Beerdigungen im Winter überwunden werden müssen, wenn eisige Stürme wehen und die Felssteige und Treppen von Eisesglätte bedeckt sind. Sie freuen sich aber des Abends, wenn sie in ihren traulichen Hütten beisammen sitzen und der Lücken gedenken, die der Tod in ihrem engen Kreise gemacht hat, daß ihre Todten da oben ruhen „auf dem Berge“ über ihren Häuptern, ein Stück näher dem Himmel, und nicht im engen Thale, daß ihre Lieben gleichsam auf sie herniederschauen.
Der Tourist, der im Dorfe Oybin angelangt ist, kann sich im Kretscham oder in der hübschen Restauration Dürrling’s unmittelbar am Fuße des Berges erquicken. Ein Trunk guten Bieres und Weines, ein schmackhafter Imbiß ist hier stets zu finden, und noch sind hier nicht die exorbitanten Preise anderer Sommerfrischen eingedrungen. Bescheiden sind im Ganzen die Ansprüche der Bewohner, die Wohnungen billig, und Sauberkeit ist durchgängig im kleinen Orte zu finden. Erst seit etwa acht Jahren wird derselbe von Fremden besucht, ja selbst der unvermeidliche Berliner soll sich bereits schon im vorigen Jahre dort eingestellt haben. Unter den Stammgästen herrscht ein einfacher ungezwungener Ton. Chignon und Steckelschuh erscheint in mäßiger Verbreitung, dagegen ist der Appetit in der würzigen Bergluft um so größer. Eine außerordentlich reiche Auswahl der anregendsten Spaziergange im Walde und auf den Höhen bietet der Abwechselungen genug, und der Wald ist hier in den [35] heißesten Sommern ein nie versiechender Quell der Erfrischung. Die Verbindung mit Zittau ist gut und bequem – kurz, es fehlt nichts, um den Aufenthalt zu einer beneidenswerthen Sommerfrische zu gestalten, und wenn die Zittauer nicht ohne Ausnahme ihren Sommersitz hier aufschlagen, sondern fernere Orte aufsuchen, so geschieht dies wohl aus der sehr erklärlichen Erwägung, daß man die ehrbaren Gesichter der Zittauer Patrizier, welche man in der Stadt zehn Monate des Jahres hindurch sieht, nicht durch zwei Monate desselben auf dem Lande genießen will, sondern vorzieht, neuen Lebensstoff durch Anschauung anderer Menschengestalten zu gewinnen.
Wollen wir den Oybin besteigen, so können wir dies auf dem oben von mir geschilderten Pfade thun. Wir wollen aber der Führung unseres trefflichen Künstlers folgen und wenden uns von der anderen Seite des Oybinthales rechts in den sogenannten „Hausgrund“, welcher den Oybinfelsen auf der nördlichen Hälfte umschließt, eine üppige Waldschlucht, an deren Ende der dunkle Spiegel eines Forellenteiches uns das Bild der hoch am Felsen hängenden Kirchenruine und des Raubschlosses ernst wiederspiegelt. Gleichsam wie eine märchenhafte Vision, wie eine Phantasmagorie hat der Meister dieses romantische Bild aufgefaßt, und so erscheint es auch dem Wanderer, welchen alsbald der dunkle Wald- und Felsenpfad, der nach der Ruine führt, in seine schattige Kühle aufnimmt.
Noch ergriffen von dem Bilde im Grunde, das ich nur als einen landschaftlichen Juwel von dem tiefsten Glanze bezeichnen kann, gelangen wir nach Ersteigung einer nicht ganz unbeträchtlichen Höhe an’s äußere Klosterthor. Mit feinem Sinne hat unser Künstler den Charakter der Ruine in den schönen gothischen Bogenfenstern, in den üppig wuchernden Farrnkräutern, in den originellen Capitälchen – lauter Einzelnheiten aus dem schönen Gesammtbilde des herrlichen Baues – angedeutet, und den Geist des Zeitalters in dem Marienbilde, auf welchem sich heitere Schwalben schwingen, gekennzeichnet.
Wir halten vor dem Klosterthore unter herrlichen Buchen und Eichen eine kurze Rast und schauen hernieder in das liebliche Thal unter uns. Aus dem Grün der Gärten lugen die friedlichen Hütten hervor; durch die Matten schlängelt sich der Bach, und in geordneten Reihen lehnen sich bis an den Waldrand die wogenden Kornfelder wie ein ausgebreiteter Teppich an. Am Fuße des Hochwaldes, da wo das Thal etwas lehnan steigt, schimmern freundliche Villen und darüber ruht in Sommerstille und Mittagsgluth träumerisch der Hochwald.
Durch das äußere Klosterthor gelangt man an den Vorplatz, welcher vor dem Eingange der Kirchenruine liegt. Stolz wölbt sich hier das grüne Dach hochgewachsener Buchen, durch deren schönverzweigtes Geäst und frisches Blättergrün die Kirchruine in vollem Sonnenlichte farbensatt hindurchschimmert. Einige Schritte seitwärts, und es eröffnet sich überraschend der Blick in die jähe Tiefe des Hausgrundes. Wie ein klares Auge des Waldes schaut der von Schilf umgebene Forellenweiher zu uns empor. An der Erzbüste des Oybinforschers Peschek vorüber, einem vorzüglichen Werke des Bildhauers Donndorf in Dresden, das uns mit seinen freundlichen Zügen willkommen heißt, treten wir durch die schattige, architektonisch außerordentlich wirkungsvolle Pforte in die weite Kirchenhalle. Ueberraschend wirkt die kühne Wölbung des Chors; vor Allem aber ist das Maßwerk der Fenster von vollendeter Schönheit und großer Originalität. Der Bau ist aus der bessern Zeit der gothischen Kunst und zeichnet sich durch seinen lebensvollen, schlagkräftigen Eindruck vor vielen anderen gothischen Werken aus.
Welch ein Gegensatz gegen die ruhigen ernsten Massen des romanischen Stiles, gegen die vornehme Feierlichkeit der säulengetragenen Flächen! Hier drängt, strebt, blüht und lebt Alles zum Himmel empor; die ganze Architektur mit allen ihren Einzelnheiten erscheint als ein Hymnus, in dem jedes Capitälchen, jede Rosette, jede Säulenrippe zum Preise Gottes sich dar- und auszuleben berufen ist. Dazu wirken und winken überall in Fenstern und Thüren die blühenden Sträucher herein, und der herrliche stolze Wald umrahmt die Fenster, überragt die Wölbungen. Statt der gemalten Scheiben erblickt das Auge die goldgrünen Buchen auf blauem Himmelsgrunde und dazwischen die sonnengoldgetränkten ernsten Tannen, die sich zum herrlichsten Farbenteppich weben.
Der Gesang der munteren Vögel, vereint mit dem kräftig beleuchteten Architekturbilde, wirkt wie ein Gottesdienst von Form, Farbe und Tönen, gestaltet sich zu einem unvergleichlich harmonischen Stimmungsgebilde. Und nun ertönt auch vom Chore her ein schöner vierstimmiger Gesang. Menschenherzen, erhoben gleich uns von dem erhabenen Eindrucke des Bauwerkes und der Natur, sprechen im Liede ihr Empfinden aus.
Noch ein Stück Mittelalter. Unweit von Maulbronn erhebt sich aus der Hügelkette ein eigenthümlich gestalteter Berg hervor, der Sternenfels, und unmittelbar am Fuß des Sternenfels liegt ein stattliches Dorf, das im Allgemeinen nicht anders aussieht, als die Nachbarorte, und doch ist dieser Ort Kürnbach einzig in seiner Art, was seine politische Gestaltung anbelangt, und von dieser hier ein Wort.
Kürnbach ist nämlich ein Ort, der zugleich badisch und hessisch ist, ein sogenanntes Condominat.
Nun wird man freilich einwenden, der Umstand, daß die Grenze zweier Länder durch eine Ortschaft gehe, sei keine außerordentliche Rarität. Allein in Kürnbach richtet sich das Unterthansverhältniß der Einwohner lediglich nach den Häusern, in denen Dieser oder Jener, und sei es auch nur miethweise, wohnt, und die hundertundvierzehn hessischen und siebenundsechszig badischen Häuser, aus denen Kürnbach besteht, sind nicht nach Straßen oder in anderer Weise voneinander getrennt, sondern sie liegen zerstreut durcheinander. Wer dort in einem hessischen Hause wohnt, ist hessischer Staatsbürger einzig und allein deswegen, weil er auf hessischem Territorium wohnt, und alle Liegenschaften, Aecker, Wiesen etc., die Jemand besitzt, der in einem hessischen Hause – und sei es, wie gesagt, auch nur miethweise – wohnt, sind aus gleichem Grunde hessisch. In dem Augenblicke jedoch, in dem Derselbe ein badisches Haus kauft, miethet oder bewohnt, wird er mit seiner Familie und Hab’ und Gut badisch. Dort wechselt man also die „Nation“ nicht mit dem Rocke, wohl aber mit dem Hause und zwar ohne die geringste Schwierigkeit. Es bedarf keiner besonderen Naturalisation, keines Aufnahmeactes, keinem Eintrittsgeldes. Man kann dort in einer Stunde badisch, in der andern hessisch werden, ja wohl auch hessisch und badisch zu gleicher Zeit sein, wenn man ein hessisches und ein badisches Haus gleichzeitig bewohnt.
Die hessischen Häuser unterscheiden sich von den badischen durch eine kleine Tafel über der Hausthür, auf welcher eine Hausnummer angebracht ist; die badischen Häuser haben die Tafel nicht. Im Uebrigen sieht man den Häusern keine weiteren Nationalitätsabzeichen an. Es haben diese Häuser überhaupt keine Eigenthümlichkeit, nur das Schulhaus und das Rathhaus fallen unter ihnen auf. Ersteres ist ein neuer, eleganter, vor dem Orte gelegener Bau, welcher an die schönen Schulhäuser der Schweiz erinnert; letzterem, ein uraltes Mauerwerk, trägt zwei Wappen, wahrscheinlich die Wahrzeichen dieser Janusstadt, hat mehrere Thürmchen, ist auf der einen Seite aus rothen, auf der andern aus weißen Steinen aufgeführt und stellt mit seinen vielen Winkeln, An- und Aufsätzen so recht das Bild dieser verwinkelten unnatürlichen politischen Gemeinde dar.
Die Anfänge dieser Staatsbildung reichen natürlich bis in das Mittelalter zurück. Früher theilten sich Hessen und Württemberg in das Herrschafts- oder Oberaufsichtsrecht über Kürnbach. Der württembergische Antheil ist seit 1803 durch Vertrag an das Großherzogthum Baden übergegangen. Der Sitz der badischen Regierung über Kürnbach ist in Bretten, der der hessischen in Wimpfen, einer hessischen Enclave.
Es giebt freilich dort nicht viel zu regieren, denn die beiden, die hessische und die badische Gemeinde, bilden unter sich wieder eine Gesammtgemeinde mit einer besonderen Gemeindeverfassung, und diese genießt eine gewisse „Souverainetät“ in der europäischen Staatengruppe. Die badische sowohl wie die hessische Gemeinde hat wohl ihren besonderen Bürgermeister, allein die Verwaltung der Gesammtgemeinde, die Ortspolizei und den Vorsitz in dem Gesammtgemeinderath übt immer nur einer dieser zwei Bürgermeister aus und zwar alle sechs Jahre abwechselnd. Auch die Gemeindeorgane, Kirche, Pfarrhaus, Schulhaus, Rathhaus, Armenhaus sind Eigenthum der Gesammtgemeinde, welche selbst weder hessisch noch badisch, sondern nur kürnbachisch ist. Früher gehörte sie auch dem Zollverein nicht an und bildete eine Art Freihafen, das heißt einen Stapelplatz für die Schmuggelei im großartigsten Maßstabe. Sie hat noch heute ein besonderes Steuerexemtionsrecht, das heißt sie nimmt in keiner Weise an den badischen oder hessischen Steuern, seien sie direct ober indirect, Antheil, sondern sie zahlt an Baden und Hessen eine Ausgleichungssumme, das auf das Gesammtsteuercapital vertheilt wird. Dagegen sind über den Gerichtsstand in Civil-, Criminal- und Polizeisachen, soweit die Bürgermeister nicht zuständig sind, in vielen Fällen die Bestimmungen nicht ausreichend. Würden zum Beispiel Maßregeln gegen die Einschleppung der Cholera aus einer benachbarten Stadt nöthig sein, so müßte jedenfalls zwischen den betheiligten Staaten erst wieder ein besonderer Vertrag abgeschlossen werden.
Uebrigens entscheidet dort lediglich der Privatvortheil. Man wählt und verändert je nach Lage des einzelnen Falles sein Haus- und sein Unterthanenverhältniß. Erging von einem badischen Gericht gegen einen Badenser ein ungünstiges Urtheil, und es sollte vollstreckt werden, so wechselte er einfach sein Haus- und Unterthansverhältniß, stellte sich unter
[36] die hessischen Gesetze und hatte damit doch wenigstens gewonnen, daß er wieder eine Zeit lang Ruhe hatte vor dem Executor. In dieser Beziehung hat zwar das Reichsgesetz über die Gewährung der Rechtshülfe jetzt bessere Verhältnisse geschaffen, und ebenso ist in der Militärpflichtsübung, die unter dem Bundestag seiner würdig war, durch den Abschluß der hessischen und badischen Militärconvention mit Preußen Ordnung und Gleichförmigkeit eingetreten.
Bei der Wichtigkeit, welche in diesen verworrenen staatsrechtlichen Verhältnissen den Häusern beigelegt ist, muß natürlich auch die Frage von der allergrößten Tragweite sein, wie es bei dem Bau eines neuen Hauses zu halten ist, ob es hessisch, badisch oder schlechtweg kürnbachisch wird. Wie meine wiederholten Nachforschungen ergaben, bewahren dort die Bürgermeister ein stark Theil hessischen und badischen Particularismus auf, so daß sie mit der Absicht umgegangen sein sollen, sämmtliche bestehenden Häuser in die hessischen, respective badischen Landesfarben einzuhüllen, also entweder weißroth oder rothgelb, die gemeinschaftlichen Häuser, insbesondere das Rathhaus und die Kirche, innen und außen weiß auf der einen und roth auf der andern Seite anstreichen, die neuerrichteten Häuser dagegen vierfarbig, nämlich rothweißrothgelb bemalen zu lassen, so daß sie etwa wie die Stieglitze sich ausgenommen hätten.
Die Lösung dieser wichtigen Frage ist jedoch in anderer Weise ergangen; man hat sich nämlich mit Umgehung des Anstreichens dahin geeinigt:
Wird auf einem Platze gebaut, wo früher schon ein badisches oder hessisches Haus stand, so verbleibt es badisch, respective hessisch; von Häusern, welche ganz neu gebaut werden, muß das eine badisch, das andere hessisch werden, angestrichen wird dagegen nicht. Den thatsächlichen Besitzverhältnissen entsprechend ist diese Lösung freilich nicht, denn da es in Kürnbach bei einer Seelenzahl von circa vierzehnhundert etwa zwei Drittel hessische und nur ein Drittel badische Häuser giebt, so hätten bei dieser Art der Lösung stets zwei Häuser erst hessisch werden müssen, ehe das dritte badisch hätte werden können.
Die Stimmung der Einwohner Kürnbachs scheint mir mehr dem Großherzogthum Baden zugeneigt zu sein und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Sitz der hessischen Regierung Wimpfen zu weit von Kürnbach entfernt liegt, wodurch Verwaltung und Justiz nothwendig schleppend werden müssen; in erster Linie ist jedoch die Tendenz der Kürnbacher jedenfalls auf Erhaltung der jetzigen Verhältnisse gerichtet und zwar lediglich deshalb, weil Kürnbach nach Zahlung seiner Ausgleichungssumme an Baden und Hessen von allen Steuern frei ist. Der Geldbeutel spricht hier das entscheidende Wort, und so wird denn wohl diese Ausgeburt staatsrechtlicher Verrücktheit auch ferneren Geschlechtern überliefert werden.
Eine Winter-Erinnerung an die Belagerung von Paris. Unser Feldmaler im französischen Kriege, F. W. Heine, hat eine der vielen interessanten Skizzen, welche er aus Frankreich mit heimbrachte, als ein höchst wirkungsvolles Oelgemälde ausgeführt und darnach uns eine Holzzeichnung übergeben. Wir theilen dieselbe unseren Lesern auf Seite 25 mit und lassen die aus der Feder des Künstlers geflossene Schilderung dieser Kriegsscene hier folgen:
„Das sächsische zweite Reiterregiment hielt in der Zeit der großen Ausfälle gegen das zwölfte Corps seitens der Franzosen, an den Tagen vom 29. November bis zum 2. December 1870, meist vereint mit einer Alarmstellung südöstlich von Noisy le Grand, hinter den theils im Gefecht befindlichen, theils in der Reservestellung haltenden Truppen der vierundzwanzigsten Infanteriedivision. Obwohl nach den Terrainverhältnissen das Regiment nicht gut vom Feinde bemerkt werden konnte, fielen doch Granaten, welche die Franzosen in der richtigen Meinung, hinter den kämpfenden Truppen noch Reserven vorzufinden, auf’s Gerathewohl in unregelmäßigen Zeiträumen abfeuerten, in der Nähe des Regiments. Die Hauptaufgabe desselben bestand darin, den Ordonnanzdienst für die ganze Division zu thun, die rückwärtige Verbindung der einzelnen Armeecorps- und Divisionsstäbe während der Schlachten vom 30. November und 2. December aufrecht zu erhalten und kleinere Officiers-Patrouillen zu entsenden, um über die Bewegung und Stärke des Feindes genaue Nachricht zu erhalten. Am 30. November und 2. December kamen einzelne Schwadronen als Batteriebedeckung zur Verwendung, wodurch dieselben bis in unmittelbare Nähe der fechtenden Infanterie-Abtheilungen gezogen wurden und dabei vom feindlichen Feuer nicht unerheblich zu leiden hatten.
Meine Auffassung des Bildes stellt den Morgen des 2. December dar. Nachdem wir schon in frühester Morgenstunde aus unsern Quartieren in Champs durch das Geräusch einzelner in der Nähe einschlagender Granaten aufgescheucht waren, zogen Beck, der Artist der „Illustrirten Zeitung“, und ich hinaus, dorthin, wo das Rollen des Kleingewehrfeuers, der schnarrende unheimliche Ton der Mitrailleusen, das gewaltige Donnern der unzähligen Batterien schon stundenlang mit seinen gräßlichen Wirkungen in Thätigkeit war. Der Kampf um die am vorgestrigen Tage von den Franzosen in überlegenen Streitkräften genommenen Positionen war wieder aufgenommen. Die Franzosen sollten keinen Fuß breit von unsern ehemaligen Stellungen behalten, nicht der geringste moralische Sieg durfte ihnen gegönnt sein.
An uns vorbei in der Richtung nach Noisy le Grand und mehr links nach Villiers sur Marne zu zogen die sächsischen Regimenter. Ein kalter Wind wehte und trieb die feinen Schneeflocken den bärtigen kleinen Gestalten der Sachsen in’s Gesicht. Wohlbepackt mit Lebensmitteln zogen einige Regimenter hinaus. Andere dagegen waren weniger gesegnet und fielen mit Hast die wenigen Marketender- und andere Vorrathswagen an. Wie fast überall in der Nähe der Forts waren auch hier die Bäume der Chaussee größtentheils von Franzosenseite aus gefällt, nur an einigen hervorragenden Punkten hatten sie einige als Merkzeichen stehen lassen.
Links vom Wege hielt unser Reiterregiment. Schon den vierten Tag waren sie vom frühen Morgen bis zum Dunkelwerden auf einen Fleck gebannt, – eine der schwierigsten Aufgaben für jede Truppe, am meisten aber doch für Cavallerie, wo der Mann um sein Roß meistens mehr leidet, als um sich. Dazu war der Tag vorher bitterlich kalt gewesen. Wie um eine kriegerische Ausnahme zu machen, trat der sonst so milde Pariser Winter diesmal im Eispanzer auf und blies seine Sturmkälte bis in die Knochen von Roß und Mann. Die Kälte wirkt einschläfernd. Es gehörte alle Energie und Aufmerksamkeit der Führer dazu, dagegen anzukämpfen. Dennoch wurden, je näher dem Abend, Roß und Mann ein immer traurigerer Anblick – so todtmüde, so durch und durch von Frost geschüttelt standen sie da. Alles sehnte sich nach Ruhe und Wärme, die Pferdchen ließen die Köpfe hängen und knickten dann und wann halb im Schlaf mit den Beinen. Mager waren sie auch geworden; der Bauch-Sattelgurt war schon bis in’s letzte Loch zusammengezogen. Da kam endlich der Sieg und erlöste sie von ihrem Leidensposten.
Der Ausgang der Schlacht ist ja bekannt: als es Abend war, standen unsere Truppen wieder in all ihren am 30. November verloren gegangenen Stellungen, – und damit war des Kampfes Zweck, freilich mit allzuviel deutschem Blut, schließlich doch erreicht worden.“
Auch ein Stückchen Aberglauben. Vor kaum Jahresfrist als Beamter aus der Provinz Brandenburg nach dem Elsaß versetzt, traf mich vor Kurzem das große Unglück, meine liebe Frau, nach dreiwöchentlichem schwerem Krankenlager im Wochenbette, zu verlieren. Das Kind folgte vier Wochen später der Mutter nach.
Bald nach dem Tode meiner Frau riefen mich Amtsgeschäfte nach der Stadt Zabern. Dort in einem der besten Restaurants, wo ich schon öfters eingekehrt, wurde ich von der sonst sehr verständigen Frau Wirthin nach dem Befinden meiner Familie befragt; als sie theilnehmend nach meinem Kinde sich erkundigte, erwiderte ich, dies sei so munter, als würde es von der Mutter ernährt.
„Ja, ja! es ist doch wahr, lieber Herr, daß die Mutter sechs Wochen lang jede Nacht um Mitternacht kommt, um ihr Kind zu säugen.“
„Liebe Frau,“ gab ich zur Antwort, „glauben Sie an Dergleichen nicht! Das Kind liegt in demselben Zimmer, wo ich schlafe, und die Ueberreste meiner verstorbenen Frau ruhen eine Stunde von mir.“
Mit einem Blicke, der da sagen sollte: „Das ist Keiner von unserer Farbe,“ wandte sich die gute Frau von mir und sagte im Fortgehen: „Auch einer von den Ungläubigen!“
Dieselbe Ueberzeugung, daß die Mutter komme, namentlich wenn derselben auf dem Todtenbette Schuhe angezogen wurden, was hier sehr selten geschieht, sprachen noch verschiedene Leute in hiesiger Gegend gegen mich aus, ohne sich vom Gegentheil belehren zu lassen.
M. in D. Sie suchen ein treues Charakterbild des oberfränkischen Bauern. Wenn Sie die Grenzen nicht geographisch nehmen, also nur das bairische Oberfranken meinen, sondern ethnographisch, nach der Volksart, so finden Sie den ausgeprägtesten fränkischen Charakter nördlich vom Main von der Mündung der Itz bis zu den südlichen Ausläufern des Thüringer und des Frankenwaldes, also in den ehemals sogenannten „sächsischen Ortslanden in Franken“, in deren Mittelpunkt die Veste Coburg als „fränkische Krone“ prangt. Diese „lutherischen“ Franken sind ein kerngesundes, aber mit allem Widerspruchsgeist, Trotz und Stolz des Bauern, der sich fühlt, ausgerüstetes Volk. Wie nun vollendete Charaktere desselben sich zeigen in der Abstufung von äußerster Bravheit bis zur äußersten Schlechtigkeit in ergreifenden, durch die Störrigkeit der Köpfe herbeigeführten Conflicten, das ist uns in einem bescheiden als „oberfränkische Dorfgeschichte“ auftretenden Romane „Vater und Sohn“ von Heinrich Schaumberger auf das Gelungenste dargestellt. Das Buch bildet das zweite und dritte Bändchen von Jul. Zwißler’s „Schatz deutscher Volkserzählungen“ (Braunschweig, 1874). Der Verfasser, im Coburgischen heimisch und früher dort als Lehrer thätig und geehrt, lebt jetzt in dem schweizerischen Luftcurort Davos am Platz in Graubünden, um seine kranke Brust zu stärken. Möge ihm dies recht nachhaltig gelingen! Bei dem scharfen Blicke des noch jungen Mannes für die Eigenthümlichkeiten des Volkslebens würde das durch Natur und Geschichte so reich ausgestattete Nordfranken sich noch mancher Verherrlichung aus dieser gewandten Feder zu erfreuen haben.
Dr. Julian Fabricius, bis 1861 Herausgeber der bekannten Hamburger Jugendzeitung, dann in Upsala und später in Stockholm Lehrer an der dortigen Seecadettenschule, wird behufs Mittheilung gewichtiger Personalangelegenheiten dringend um seine jetzige Adresse ersucht. Sollte wider Erwarten der Genannte nicht mehr am Leben sein, so bitten wir seine etwaigen Erben um genaue Benachrichtigung und Angaben, wie und wo der Genannte verstorben ist.
Baierns Töchterchen in Amerika. Ihr Brief ist so liebenswürdig und Ihre Wünsche sind mit so reizender Schelmerei ausgesprochen, daß die Kritik vor Ihren Poesien leicht in’s Complimentenmachen gerathen könnte; wir wollen aber trotzalledem ehrliche Leute bleiben. Sie sind offenbar noch jung, das verräth Ihr waldduftfrischer Humor, haben also noch Zeit zum Leben und zum Dichten. Wollen Sie aus letzterem keine ernste Arbeit machen, die ihren ganz gehörigen Schweiß verlangt, so reimen Sie fröhlich drauflos! Sie werden Ihrer freundschaftlichen Umgebung manche Freude bereiten, manches Familienfest verschönen und veredeln. Wollen Sie’s aber ernst nehmen, dann thun Sie’s gleich, studiren Sie, lernen Sie, üben Sie; denn wer es wirklich bis zum Gelingen eines Gedichts bringen will, muß nicht nur die Sprache völlig in seiner Gewalt haben, sondern auch über ein tüchtiges Wissen gebieten. Aber während Sie noch üben, Bogen voll Verse, Uebersetzungen etc. schreiben, treten Sie immer von Zeit zu Zeit vor den vertrauten Spiegel und fragen sich also: „Freundlich schaust du schon aus; aber müssen denn deshalb alle deine Exercitia gleich gedruckt werden? und gar gleich in der Gartenlaube?“