Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1873)/Heft 42

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[675]

No. 42.   1873.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.

Künstler und Fürstenkind.

Von August Lienhardt.
(Fortsetzung.)


17.

Theure Hedwig!

Wenn Du diesen Brief erhältst, ist längst ein zweiter von Dir in meinen Händen, der mich von der Angst befreit, die mir das Blut in den Adern stocken läßt, mir den Athem raubt.

Dennoch kann ich mich nicht enthalten, Dir in der Zwischenzeit zu schreiben, sei’s auch nur, um mich zu rechtfertigen.

Unselige! was soll aus Dir werden? Arme Freundin! Längst schon wußte ich, wie es in Deiner Seele aussah, hatte längst keinen Zweifel mehr, daß Du Dein Herz an diesen Künstler verschenkt, ehe Du ahntest, daß es in Liebe sich hingeben konnte. Wäre dem nicht so, ich müßte meine Hedwig nicht so abgöttisch lieben, müßte mich weniger beschäftigen mit Dem, was ihr Wohl und Wehe betrifft. Doch, Hedwig! so lange Du selbst keine Ahnung von dem hattest, was in Dir vorging, durfte ich nicht die Anklägerin Deines Herzens sein. Du warst wie eine Nachtwandlerin, die, festen, sicheren Trittes an Abgründen entlang schreitend, ohne Unfall, ja, ohne von ihrem Vorgehen etwas zu wissen, in’s sichere Asyl ihrer Behausung zurückkehren, aber auch einem schrecklichen Geschick anheim fallen kann. Ein Warnungsruf, der sie weckt, kann sie auch in bodenlose Tiefen, in ihr Verderben stürzen.

Deshalb, arme Hedwig, mahnte ich nicht. Du wußtest nicht, was Dein rebellisches Herz begonnen; unbefangen gabst Du Dich dem Zauber deines Wesens hin, vielleicht kamst Du gar nicht zur Erkenntniß Deines Selbst. Eine Abwesenheit des Künstlers konnte Anderen erlauben, sich hervorzuthun, und Du lenktest Dein Lebensschifflein ruhig in den Hafen der Ehe ein, ohne zu wissen, an welch’ gefährlichen Klippen es gedroht hatte, zu zerschellen. Wenn ich rief und warnte, war dies nicht mehr möglich – eine Selbsterkenntniß konnte in Drittem Falle gefährlicher, als die Liebe selbst werden, dann war ein bewußtloses Umgehen der Gefahr unmöglich. An Anspielungen habe ich es in meinen Briefen nicht fehlen lassen, und wäre meine theure Hedwig weniger unbefangen gewesen, sie hätte zwischen den Zeilen gelesen und Alarm gerufen. Was ich schrieb, sollte nur Deine Selbsterkenntniß erleichtern, wenn dieselbe auf dem Wege war – das erste Signal durfte ich nicht geben.

Was Du jetzt thun wirst, unglückliches Mädchen? Ich bin hierüber ganz unbesorgt und weiß, daß Dein eigenes Herz Dir nur Edles eingeben wird. Du wirst thun, was Du vor Dir und Deinem Bruder verantworten kannst, und koste es Dir mehr als das Leben.

Doch eine Warnung laß’ Dich nicht verdrießen! Wenn auch nur wenige Jahre älter als Du, so habe ich doch einsehen gelernt, daß der Pessimismus meistens Recht behält. Die Welt ist nun einmal schlechter, als sie in unseren enthusiastischen Jugendträumen sich abspiegelt. Dein Bruder scheint an des Künstlers Schuld nicht zu zweifeln. Du bist seiner Unschuld so gewiß wie Deines Daseins.

Verzeihe, liebe Freundin, wenn ich mich auf Deines Bruders Seite stelle! Seinen hohen Geist, seinen klaren Verstand erhoben wir ja stets Beide auf einen Altar, an dessen Stufen ich heute noch kniee. Wie leicht ist ein unerfahrenes Mädchen bethört, wenn es sich um den geliebten Mann handelt! Du wärst nicht Hedwig, zweifeltest Du einen Augenblick an der Unschuld dessen, der durch Geist und Jugendmuth Dein Herz bezwang. Aber, theure Freundin, wenn Alles, was er bisher gesagt, nur Heuchelei, wenn er wirklich schuldig, dann spricht Dein Herz nicht für ihn, denn eine Maske kann nicht bleibenden Eindruck auf Dich machen. Prüfe, prüfe Alles wohl, Hedwig! Und ach, vor Allem verlasse Dich auf Deinen Bruder, der noch keinem Menschen ungerecht gezürnt! Ich habe mich in Deine Lage hineingedacht und glaube, daß ich nicht wie Du an Ernst’s Worten gezweifelt hätte, vielmehr in Zorn aufgelodert wäre gegen einen Menschen, der also des edelsten Mannes Güte und Vertrauen mißbraucht. Ueberzeugst Du Dich, daß er Deiner Liebe nicht werth, so ersparst Du Dir, ach! wie viel Schmerzen – alle Qualen einer Entsagung.

Wo waren Deines Bruders Gedanken, daß er nicht sah, wie es um unsere Hedwig stand? Hat er vielleicht das Herz gefunden, mit dem sich zu verbinden sein Dasein verschönert?

Ich schließe in Herzensangst – um Dich, und kann nur hoffen, daß ein Brief von Dir mich in wenigen Tagen aus allen Nöthen befreien wird. Deine treue Schwester

Amalie von Hohenlicht.




18.

Gott sei Dank! Mit wie viel Stoßseufzern hat sich der Ausruf schon meiner Brust entrungen! Er ist auf Gottes Erde das unschuldigste, edelste, meiner Liebe würdigste Geschöpf. Und ich hatte sechs Tage verlebt, Amalie, sechs Tage, mit denen ich mir alle Freuden des Paradieses erkauft haben muß.

Doch Du brennst vor Begierde, zu wissen, was geschehen? So höre denn – wenn Du nicht schon, von Unruhe gepeitscht, auf dem Wege hierher bist. Ich konnte nichts schreiben als [676] Thränen – und die brauche ich selbst, um den Brand in meiner Brust zu löschen.

Als Fanny das Haus des Malers betrat, war dort Alles Unruhe, Aufregung. Ein Duell hatte wirklich stattgefunden; Walter war verletzt, Werdau tödtlich verwundet. So viel vernahm das Mädchen aus der geschwätzigen Hausfrau Andeutungen. Als die Einfältige dennoch ihren Auftrag erklärte, rief die Frau mit gegen Himmel gekehrten Augen: „Der arme Herr! Das wird lange dauern, bis der wieder zum Hause hinaus kann!“ Fanny ging alle Tage, sich nach Walter’s Befinden zu erkundigen. Am sechsten Tage ließ er mir sagen, er wolle Abends im Garten sein.

Ich ließ im Pavillon heizen und war glückselig zu sehen, daß Cousine Dorothea sich schon um vier Uhr zurecht machte, um einen langen Abend bei einer Pensionsfreundin (sie hat noch solche!) zuzubringen. Ernst ging in eine abendliche Commissionssitzung. Daß mir das Herz gewaltig kopfte, wie Fanny kam und meldete, Herr Impach sei im Pavillon, kannst Du Dir denken. Ich hatte meinen Pelz kaum umgeworfen, als mein Gewissen sich gegen das, was ich thun wollte, empörte und mich noch zur rechten Zeit zur Besinnung brachte. Unmuthig warf ich den Pelz auf einen Divan und dachte dabei: „Habe ich alle Fehler unseres Standes, Anmaßung, Einbildung, so sei wenigstens eine der dazugehörenden Tugenden geübt! Einer Waldemberg geziemt es nicht, heimliche Stelldicheins im Garten zu geben. Mit offenem Visir sei gehandelt!“

„Führen Sie Herrn Impach in mein Boudoir!“ befahl ich Fanny.

Ob die Gewißheit, daß Dorothea und der Bruder nicht hineinkommen würden, nicht einen großen Theil zu diesem heroischen Entschluß beitrugen? Bleich vor Aufregung, unsicheren Schrittes betrat ich das Zimmer, wo er meiner harrte. Er erhob sich mühevoll und schritt mir langsam entgegen.

„Ich konnte mich nicht früher Ihrem Wunsche fügen – eine leichte Wunde in der Schulter –“

„Sie hatten ein Duell mit dem Grafen von Werdau?“

„Auch das wissen Sie?“

„‚Auch das‘?“ sprach ich jetzt zögernd, „soll das ein Eingeständniß Ihres Fehlers sein? Sollten Sie wirklich schwach gewesen sein?“

„Das glauben Sie?“ frug er jetzt, zurückweichend und eine Stuhllehne zur Stütze ergreifend. „Sie haben einen Augenblick geglaubt, daß ich der niederträchtigste Schurke auf Gottes weiter Erde sei, und rufen mich zu sich, um das Geständniß von meinen Lippen zu hören? Mein Gott!“

Er fiel ermattet in einen Sitz, und ich glaubte, eine Ohnmacht wandle ihn an. Doch nein! Der gespannte, auf Antwort harrende Ausdruck seines Gesichts ließ nicht nach; flehend waren seine Augen auf mich gerichtet.

„Im Gegentheil!“ sprach ich jetzt leise. „Ich bin die Einzige, welche an Ihrer Unschuld nicht gezweifelt, nie gezweifelt hat – doch erklärt will ich Ihr eigenthümliches Benehmen wissen!“

Er erfaßte den Saum meines Kleides, und ihn dankbar küssend, rief er aus: „Ich Unglückseliger – das Einzige, durch welches ich meinen Dank beweisen könnte, darf ich nicht sagen – ich bin – Gott! – durch ein Ehrenwort gebunden.“ Die letzten Worte klangen wie ein Schmerzensschrei aus angstbekommenem Herzen.

„Ein Ehrenwort?“ frug ich jetzt, nachdenklich werdend. Mein Blick streifte kaum sein banges Antlitz, das bleich vom vielen Blutverluste, – auf dem in der Binde ruhenden Arm blieb er haften. Wie mit mir selbst redend, sprach ich vor mich hin: „Ihr Ehrenwort? Ein Duell mit Werdau? Gerechter Himmel, ich begreife! Galt ihm das Ehrenwort, um seine Schuld zu decken?“

„Schweigen Sie, um Gotteswillen schweigen Sie! – Ich darf mein Wort nicht brechen.“

„Nein, aber ich auf Ihrer Stirn, in Ihren Blicken die Wahrheit lesen, wie ich bisher gethan. Daran kann kein Elender mich hindern.“

Ich durchschaute Alles. Werdau hat das Bild für seinen Onkel gestohlen – wer weiß, durch welche Teufelskünste er Walter vermocht, ihm eine Copie anzufertigen, und diesem seine Schandthat verheimlicht. Einem solchen Menschen gegenüber sein Ehrenwort heilig halten, ist Narrheit. –

Ich schritt auf ihn zu, und mit gebieterischer Handbewegung ihn zum Sitzenbleiben nöthigend, rief ich im höchsten Affecte: „Werdau ist der Elende. Kein Wort wußten Sie von dem Betruge, bis mein Bruder ihn entdeckte. Sie machten die Copie, ohne zu ahnen, welchem Zwecke sie dienen sollte. Leugnen Sie, wenn Sie dürfen!“

Er wandte das Gesicht ab, bedeckte es mit beiden Händen, und dumpf klang es an mein Ohr:

„Ihnen mag ich keine Unwahrheit sagen; es ist so.“

„Dann bindet Sie auch kein Wort mehr. Das Duell hat Ihnen Ihre Freiheit zurückgegeben.“

Er blickte mich jetzt wieder an, doch waren seine Augen glänzend, als bärgen sie Thränen. Ich setzte mich ihm gegenüber und forderte ihn nach kurzer Pause auf, mir Alles zu erzählen. Stückweise kam sein Geständniß. Ich wußte Alles, nur nicht was er in jener Schreckensstunde gelitten.

„Solche Folter, solch unsägliche Qual, wie ich ausgestanden, konnten allein den Blick entschuldigen, den ich zum ersten Male in meinem Leben wagte, auf Sie zu richten. Ohne jene Stunde wäre das Geheimniß meines Herzens der Prinzessin verhüllt geblieben. Auf den Knieen möchte ich um Vergebung flehen, flehen, daß die Schuld jenes Momentes mir nicht die Pforten meines Paradieses verschließt; auf mehr als einen Gruß von Zeit zu Zeit hoffe ich ja nicht!“

Er war aufgestanden und hatte die letzten Worte abgewandt herausgepreßt. Ich hielt mich nicht mehr. Mit einer raschen Bewegung war ich an seiner Seite und hatte die Hand auf seine Schulter gelegt. Ich stand hinter ihm, und meiner selbst nicht recht bewußt, ergoß sich heftig der Strom meiner Rede.

„Das also wäre Ihre Meinung von mir? Freilich, eine Prinzessin ist monatelang das Ziel der bescheidensten, hingebendsten Anbetung, sieht ein außerordentliches Talent sich kund thun, jede ritterliche Tugend, den Muth an der Spitze, nach und nach sich entfalten, sieht dann den Besitzer alles Dieses bei seinem leichtsinnig gegebenen Ehrenworte, einem Schurken gegenüber, um den Preis seines Namens, seiner Ehre, seiner Liebe beharren, sieht ihn glänzend gerechtfertigt, und bleibt bei Alledem – kalt wie Marmorstein. Glauben Sie wirklich, Herr Maler, eine Prinzessin habe kein Herz – kein Gefühl? Schenkten Sie Ihre Liebe wirklich einer Wachspuppe? Glaubst Du nicht, Walter, daß auch ich lieben kann wie Du? Wer weiß, vielleicht – vielleicht doch …!“

Ich lachte und schluchzte zugleich, und als er sich umwandte mit einem Gesicht, noch zehnmal bleicher als es vorher gewesen, da – fiel ich ihm um den Hals, Amalie, und habe geweint, wie niemals in meinem Leben, weil ich bisher nur Schmerzensthränen vergoß – die Thränen, die ich nun weinte, waren helle, reine Freudenthränen! Was er mir gesagt hat, ich weiß es nicht zu wiederholen; es ist wahrhaftig der Mühe werth, Prinzessin zu sein, wenn nur der Glaube an eine Unmöglichkeit des Erfolges bei Männern solch wahnsinnige Leidenschaften hervorrufen kann. Daß ich die Seligste auf Erden, kannst Du Dir denken. Was aber nun?

Ich gehe morgen zu Ernst und beichte ihm Alles. Wie wird ihn die Rechtfertigung Walter’s freuen, wie ihn seiner Hedwig Liebe in Erstaunen setzen!

„Deine Ahnmütter folgten nicht wie die Schäferinnen dem Triebe ihres Herzens!“ hat er einst gesagt. Lag in den Worten ein Verbot, eine Warnung? Eine Welt könnte zwischen Walter und mich treten, sie trennte mich nicht mehr von ihm. Man rühmt an unserem Geschlechte die unverwüstliche Ausdauer – sie soll einmal auf die Probe gestellt werden. „Sterben oder siegen“ sei mein Losungswort. Ernst wird, wie ich einst, Bedenkzeit verlangen. Wie, wenn Du – Amalie, Deinen Einfluß – ich allein kenne ihn – auf ihn ausübtest und Mutterstelle an mir verträtest? Meine arme Mutter, das weiß ich, wäre meinem Walter günstig; eine Locke ihres Haares, die ich stets auf dem Herzen trage, lag – fiel einst auf Walter’s blondes Haupt. Ich hatte Mühe, sie wieder zu finden, so ähnlich ist die Farbe seiner Haare denen der armen Mutter.

Jetzt, Amalie, lebe wohl! Noch muß ich Zeit gewinnen, mir Muth einzusprechen zum morgigen Tag. Ob dem General wie mir zu Muthe, wenn er in die Schlacht reitet? Gute Nacht, Amalie! Mögen alle guten Engel mir morgen beistehen!
Deine Hedwig.     

[677]

19.

Ich zittere dermaßen vor Aufregung, Amalie, daß ich nicht weiß, ob die Feder meinem Geiste wird als Dolmetscher dienen, ob Du die wankenden Zeichen wirst entziffern können.

Ich hatte gebebt, Ernst beim Frühstück zu begegnen. Da ließ er zum Glück sich entschuldigen und blieb auf seinem Studierzimmer. Kaum war ich Cousine Dorothea glücklich losgeworden, als ich wankenden Trittes den Weg zur Bibliothek, wo Ernst sich befand, einschlug. Ich öffnete und glaubte am besten Muth zu erlangen, wenn ich sofort den Grund meines Kommens erkläre. Ernst schritt im Zimmer auf und ab; er hatte mein Eintreten überhört und wandte mir noch den Rücken, als ich schon rief:

„Ich bringe fröhliche Botschaft zum Guten Morgen, Ernst.“

Als er sich umwandte, sah ich, daß es ihm Mühe kostete, mich mit dem gewöhnlichen Lächeln zu empfangen; er hielt einen Brief in den Händen und sprach, nachdem er mir die Stirn geküßt: „Ich war nicht so glücklich wie Du, meine Hedwig. Schändliches, Unglaubliches mußte ich aus diesem Briefe vernehmen.“

„Ernst, Du machst mir Angst; darf ich erfahren, was er enthält?“

„Jawohl mußt Du es erfahren, mein Kind, auch wenn es Dir nur als Warnung gilt, fernerhin dem ersten Besten zu trauen.“

„Meine Nachricht lehrt das Gegentheil!“

Er achtete nicht viel auf meine Worte; mit verfinsterter Stirn blickte er wieder auf den Brief; kurze Ausrufungen, die Empörung, Aerger, Erstaunen ausdrückten, waren Alles, was ich eine Zeit lang vernahm. Dies war kaum der Moment, um mit meiner Nachricht herauszurücken. Ich mußte günstigere Stunden abwarten. Wenn wir lieben, Amalie, machen wir alle Diplomaten der Erde zu Schande.

„Kannst Du’s glauben, Hedwig,“ begann endlich der Bruder, noch immer starr auf das Blatt Papier blickend, „daß Werdau, in den ich solches Vertrauen setzte, den ich oft meinen besten Freund nannte, eine Schändlichkeit begehen konnte, wie sie selten vorkommt?“

Ich wollte ihn unterbrechen, doch ungehindert fuhr er fort:

„Ich bekomme heute Morgen einen Brief vom alten Baron Gerhardt, worin er sich der ärgsten Ausdrücke bedient, um seines Neffen Betragen zu schildern. Sein anderer Neffe, Werdau’s Mitbewerber um des reichen Onkels Vermögen, bekam, wer weiß auf welche Art, Wind von dem Auftritte der vorigen Woche. Glücklicher als ich, spürte er der Sache auf den Grund und entlarvte Werdau, der eine Schändlichkeit begangen, welche mich berechtigt, ihn, einen Edelmann, mit den niedrigsten Namen zu bezeichnen. Hörst Du, Hedwig, ein Edelmann – und Betrüger, Schwindler, Dieb!“

Jetzt blickte Ernst auf und begegnete meinen freudestrahlenden Augen.

„Das ist eben meine gute Nachricht!“ rief ich freudig aus. „Was geht aus der ganzen Geschichte hervor, als daß Impach, der Dir Dein Vertrauen auf die Menschheit geraubt hatte, rein und edel vor uns dasteht?“

„Wie doch so ein kleiner Optimist gleich die gute Seite eines Unglücks erspäht und dem traurigsten Ereigniß eine Freude abgewinnt! Impach war mir bei der Sache gar nicht in den Sinn gekommen; ich gestehe es zu meiner Beschämung. Dem jungen Manne geschah allerdings grausam Unrecht und er hat sein Unglück edel getragen. Ihm muß eine eclatante Rechtfertigung werden. Alles, was wir für ihn thun können, ist nicht zuviel. Wenn wir nur gleich Etwas wüßten, das ihn glücklich machte!“

„Ernst, ich weiß Etwas, das ihn über alle Maßen glücklich machen würde.“

„Sprich, Du schlaues Kätzchen,“ war Ernst’s lächelnde Erwiderung.

Amalie, Du kennst Deinen Hasenfuß und kannst Dir denken, wie mein Herz pochte; ich konnte es hören wie einen Hammer. Die Kniee wanken mir; vor den Augen tanzten goldene Sternchen einen rasenden Reigen; doch ich nahm den ganzen Muth meines Lebens zusammen und trat aufrecht vor Ernst hin, mit erhobenem Haupte sprechend:

„So habe ich die Ehre, Herzog Ernst von Waldemberg, Sie um die Hand Ihrer Schwester Hedwig für den Künstler Walter Impach zu bitten.“

Wie die Sonne, plötzlich untergehend, eine Landschaft in grauer Beleuchtung erscheinen läßt, so wich von meinem Antlitz das schelmische Lächeln, jeder Funke von Freude. Ernst stand, als ich schon geendet, noch mit vorgebogenem Oberkörper, die Augen weit hervorschießend, bleich, wie leblos da. Sein ganzes Leben schien sich in den Hörorganen zu concentriren. Endlich sich ermannend, frug er leise:

„Soll das Dein Ernst sein, Hedwig, Unglückliche?“

Ich konnte nur nicken, dann den Platz an seiner Seite einnehmen, den er mir, sich niederlassend, anwies.

„Hättest Du den Mangel an Leichtsinn und Flatterhaftigkeit, der unserer Race eigen, nicht auch geerbt, ich würde Deinen wahnsinnigen Worten so wenig Aufmerksamkeit schenken, als sie verdienen. Da ich Dich jedoch kenne und wohl weiß, daß Du verständigen Vorstellungen noch stets Gehör verliehen, so will ich Dir andeuten, wohin Du Dich verirrt, und Dich auf rechte Wege zurückführen.“

Ihm die Hand drückend, schüttelte ich traurig den Kopf, wagte jedoch nicht, ihn zu unterbrechen.

„Jeder Mensch,“ sprach er jetzt ernsthaft, „jeder Mensch erbt von seinen Eltern einen Theil des Wesens, des Geschmacks, der Liebhabereien, die diese wieder als Erbtheil von den Großeltern mit auf die Welt brachten. Erziehung, Umgebung, Bildung vervollständigen dieses Erbtheil und drücken dem Menschen einen Charakter auf, gegen den dieser, sträube er sich auch noch so sehr, niemals ganz aufkommen kann. Eine Verpflanzung in fremde Gewohnheiten führt fast stets das Unglück des Betreffenden herbei. Du bist im Schooße des Reichthums aufgezogen, das verwöhnte, verhätschelte Kind Derjenigen, die nun einmal auf der Welt den ersten Platz einnehmen. Impach kanntest Du nur, insofern er sich Deiner Umgebung fügte, hast ihn bewundern, lieben gelernt, so lange er ein Mitglied Deiner Welt bildete. Den Roman, der in diesem Köpfchen entstand, wird die Welt nicht verstehen – sie wird kühl sagen: ‚Eine Waldemberg hat sich in einen hübschen Kerl von Maler vernarrt!‘ Sie wird die Achseln zucken und Dir den Rücken wenden – denn daß sie mit Dir den jungen Mann, der einmal nicht zu ihr gehört, an ihre Seite stelle, kannst Du ihr nicht zumuthen. Eine solche Heirath, Hedwig, ist nicht nur eine Unmöglichkeit, sie ist der Grundstein zum unglückseligsten Zustande, den ich mir auf Erden denken kann.“

Ich ließ ihn nicht ausreden. „Ernst,“ sagte ich, „ich mache Dir keine Vorwürfe, aber entsinne Dich der Worte: ‚Ein Künstler ist Jedermanns Gleichen!‘ Als Du das sprachst, legtest Du das erste Samenkorn zu einem Baume, den Du nun so leicht zu entwurzeln glaubst.“

„Nicht so solltest Du mich verstehen. Der Künstler befindet sich allerdings auf jedes Menschen Höhe – doch nur, wenn er vor seiner Staffelei steht, Hedwig! Im Leben giebt es auch andere Stunden, und dann überschreitet er den Stand, in dem er geboren, um kein Haar breit!“

„Wenn er malt, ist er von selbst Edelmann, zu anderen Zeiten ist er es durch mich!“

„Nicht doch, Hedwig! Nicht er klimmt zu Dir empor, Du steigst zu ihm hinab. Nicht ihn erhöht diese Heirat, Dich erniedrigt sie. Und glaubst Du, daß nicht Stunden kämen, wo Dich’s gereute, daß Du so rasch Dich vergeben? Wenn Du Dich seiner schämen müßtest? Wenn Solche, die bisher eine Ehre darin fanden, Dich begrüßen zu dürfen, sich von Dir abwendeten?“

„Dann müßten sie sich schämen, nicht ich, daß sie so schlecht sind! Aber, Ernst, ich will nichts von ihnen wissen, die den Menschen nicht nach seinem inneren Werte schätzen, mich verachten, wenn ich einem Anderen als ihres Gleichen die Hand reiche. Ich sage Dir’s rund heraus,“ rief ich jetzt aufstehend, „ich will lieber arm wie ein Bauernmädchen sein, als auf Walter verzichten. Was brauche ich, wenn Du mir zur Seite stehst?“

„Raum ist in der kleinsten Hütte
Für ein glücklich liebend Paar!“

parodirte Ernst, sich auch erhebend. „Hedwig, Du weißt ja nicht, was es heißt, arm zu sein – hast Du nur eine Idee, was das Kleid werth, das Du auf dem Boden nach Dir schleppst? Mein Gott, mir ist’s, als spräche ich mit einem unvernünftigen Kinde! Hedwig, an diese Verbindung ist nicht zu denken.“

[678] Ich schüttelte den Kopf. „Und ich, Ernst, ich werde mein Lebenlang nicht aufhören, daran zu denken,“ sagte ich bestimmt. „Du gehörst doch sonst nicht zu Denen, die nach Aeußerlichkeiten urtheilen! Und wenn innerer Werth in Betracht kommen soll, hast Du nicht den Beweis in Händen? Wäre Werdau reich wie Arsent gewesen, Du hättest mich ihm mit Freuden anvertraut. Freilich wußtest Du nichts – aber steht nach dieser Geschichte nicht Walter in hehrer Pracht vor unseren Augen, während Werdau zusammenschrumpft zum gräulichsten Scheusal? Kannst Du es einem Mädchen verdenken, wenn es in der Einsamkeit seines Herzens Vergleiche anstellt zwischen dem Menschen, der nie andere als edle Gesinnungen an den Tag legte, der mit der Frische eines unverdorbenen Gemüths sich Gottes schöner Welt freut, und dem blasirten Weltmenschen, der nichts Edles aufzuweisen hat als seine Geburt und dem es selten gelingt, seine schlaffe Natur zu reinen Gefühlen emporzustacheln?“

„Das hast Du gethan?“ rief Ernst. „O, ich Thor, der Dich harmlos einem jungen Manne anvertraute – – – – !“

„Halt ein, Bruder! Jene Vergleiche führten mich zu weiter nichts, als der Gewißheit, daß es noch edle Menschen giebt, die in der Mehrzahl unserer jeunesse dorée nicht zu finden sind. Ich schwöre Dir, daß ich bis zum Augenblicke, wo wir Alle Walter als verloren aufgaben, nicht ahnte, daß ihm mein ganzes Herz gehörte. Nein! Bis dahin war ich eine echte Waldemberg gewesen, die Alles hinnahm, als sei es ihr gehörig, und nicht merkte, daß mit diesem ungekünstelten Sichhingeben der Künstler in ihr Herz sich schlich. Hätte ich früher gewußt, was kommen sollte, ich hätte wie ein Held gegen meine Liebe gekämpft, denn dann konnte sie mir noch als etwas meiner Unwürdiges erscheinen. Jetzt, Bruder,“ schloß ich leise, die Arme um seinen Hals schlingend, „jetzt ist es zu spät, denn jetzt bin ich stolz auf dieses Gefühl, betrachte es als Das, zu was ich auf Erden lebe!“

„Armes Kind! Und dennoch mußt Du entsagen!“

„Entsagen, Ernst? Du sprichst ein Wort aus, dessen Laut für mich keine Bedeutung mehr hat – wisse, ich bin so fest in meiner Liebe, daß, wenn Walter mir heute sagte: ‚Folge mir in einen andern Welttheil!‘ ich es thun würde, freilich nicht, ohne mir vorher die Kniee blutig gerungen zu haben, um Deine Bewilligung zu erzwingen. Laß Dich erweichen, Ernst! Du widerstehst mir nicht!“

Schweigend schritt Ernst im Zimmer auf und ab – in seiner Gedankenabwesenheit sogar hier und da ein Buch vom Schranke nehmend, um es dann eiligst an den unrechten Ort zurückzuzustellen. Sein Schweigen machte mir bange, Amalie, hatte ich denn so Unerhörtes verlangt, daß meinen Wünschen dieser eiserne Widerstand entgegengesetzt werden mußte?

„Es giebt Dinge, Hedwig,“ begann er endlich, vor mir stehen bleibend, „die ein Mann einem Mädchen schwer erklären kann. Dennoch muß es sein! – Der Mann ist stolz, Hedwig! Sei das Weib auch noch so hingebend, ihre Aufopferung besiegt den Stolz Desjenigen, der sich schon von Kindesbeinen an als Herr betrachtet, niemals! Impach hat uns gezeigt, daß er zu den wahrhaft seltenen Naturen gehört, deshalb allein spreche ich auch von ihm, wie ich’s jetzt wage. Glaubst Du, daß er wirklich glücklich wäre mit Dir? – Nicht diesen Triumphblick, Hedwig! Laß mich als Mann den Mann beurtheilen. Wenn er Dich diese ganze Zeit her geliebt hat, wie Du wähnst, so hat er Dich als etwas Unerreichbares, für ihn Verbotenes betrachtet, denn niemals ließ er einen Schimmer seines wahren Gefühls durchblicken. Du schenkst Dich ihm plötzlich, Du, zu Der er nur emporsah; glaube mir, Hedwig, er nimmt das Geschenk nur ungern an. Er hat Dich nicht erkämpft, erstritten; Du gabst Dich ihm, und das widerstrebt dem männlichen Gefühle. Jedes freundliche Wort, jede – Liebkosung ist eine Gnade, zu der er sich durch nichts berechtigt wähnt; und diese ewige Dankbarkeit, mit der er zu Dir aufsieht, ist nicht der Weg, ein Glück zu begründen.“

Ich unterbrach ihn rasch. „Ernst, Du stellst mich hart auf die Probe, wenn ich Dir Walter’s Liebe zu mir klar machen soll. Das weiß ich bestimmt,“ rief ich freudig, „daß er aus meinen Händen Alles annimmt, ohne zu glauben, daß er mir’s nicht mit Gleichem vergelten kann. Seine Leiden um mich haben alle Verpflichtung auf meine Seite gewälzt.“

„Das ist die enthusiastische Hingebung eines Mädchens, das wähnt, den Einzigen gefunden zu haben. Ich habe sie mein Lebenlang gesucht und immer nur das vorübergehende Aufflackern gefunden, das mich bei Dir jetzt zur Verzweiflung bringt.“

„O Ihr Männer mit all’ Eurer vielgerühmten Weisheit, wie macht Euch ein unerfahrenes Mädchen zu Schanden! Ebenso ungerecht als Du meine Liebe ein momentanes Aufflackern benennst, ebensowenig suchtest Du weibliche Hingebung umsonst – Du Undankbarer!

… Immer irrtest Du nach Liebe, immer
Nach Liebe, doch die Liebe fandst Du nimmer.
Und kehrtest um nach Hause, krank und trübe.

Und da fandest Du, Ernst? – Nur der Aufregung dieser Stunde hast Du es zu verdanken,“ setzte ich jubelnd hinzu, „wenn ich mein Schweigen breche – die opferbereiteste Hingebung, die treueste Liebe athmet ganz in Deiner Nähe –“

(Schluß folgt.)




Noch ein Dichter-Kerker.


Ihn schlossen sie in starre Felsen ein,
Ihn, dem zu eng der Erde weite Lande.
Er doch voll Kraft zerbrach den Felsenstein
Und ließ sich abwärts am unsichern Bande.
Da fanden sie im bleichen Mondenschein
Zerschmettert ihn, zerrissen die Gewande.
Weh! Muttererde, daß mit linden Armen
Du ihn nicht auffingst, schützend, voll Erbarmen!

Eines der lieblichsten, vor der Hand noch abseits vom Eisenbahnzug gelegenen Fleckchen schwäbischer Erbe ist das Uracher Thal; in seine Nähe führt jedoch das Dampfroß von Ulm wie von Stuttgart und Reutlingen her, wenn wir bis zur Station Metzingen der Ober-Neckarbahn fahren. Von da erreicht der Fußgänger in dreiviertel Stunden, nach Morgen gewendet, Dettingen und betritt gleich hinter diesem Dorfe das von der lustigen Erms bewässerte und geschmückte Thal, das in der That alle Schönheiten der Albnatur in größter Vollkommenheit und Fülle in sich vereinigt und vier Stunden lang, bis Seeburg, den Wechsel erfrischender und erhebender Bilder bietet.

Ungefähr in der Mitte dieses Thales liegt die alte und noch heute mittelalterthümliche Stadt Urach und dreiviertel Stunden davon, auf hohem Wald- oder Felsberg, die ehemalige Grafen-Veste Hohen-Urach in Trümmern – wie jenes Schloß, das „des Sängers Fluch“ gebrochen hat. Auch diese Trümmer theilen jenes Schlosses Schicksal, und man wird es mir nicht verargen, daß in der Erinnerung an ein schweres Dichterloos diese Burg mir noch heute wie beflort erschien. Ich sah ihre Trauer, denn ich wußte ihr Geheimniß und will es hiermit verrathen. Sie hat wirklich in ihren Jugendjahren den Deutschen einen Dichter gemordet, einen rastlosen Kämpfer für Recht und Freiheit hat sie getödtet, und ebendeshalb ruht auch auf ihr des Sängers Fluch, und nun ist sie geknickt, die blutrothe Rose mit den gewaltigen Dornen, und es that noth, daß ein mitleidiges Oberamt ihr eine Tafel anhing, worauf Dem mit schrecklicher Strafe gedroht wird, der ihr die lose hängenden Blätter muthwillig abzupft und der Zeit in’s Handwerk pfuscht.

Die Geschichte von dem unglücklichen Dichter ist nur wenig bekannt. Ich will sie im Folgenden kurz mittheilen, damit alle Leser der Gartenlaube, die einmal nach Schwaben kommen sollten, Hohen-Urach in seiner dunkel prächtigen Trauer sehen können und das schöne Thal der Erms doppelt genießen.

Clerus und Adel hatten sich zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts in unserem Vaterlande sehr breit gemacht, und im Volke hatte es schon längst angefangen zu wühlen und zu kochen. [679] Da erschien Luther, der große Vorkämpfer in jener halben Revolution, welche die Geschichte Reformation nennt. Halb war die Umwälzung und deshalb doppelt schwer durchzuführen. Denn, während nur die Geistlichkeit von Luther angegriffen wurde, blieb ihr Genosse, die Aristokratie, nicht unthätig; sie warf sich zu ihrem Secundanten auf und fing manchen Hieb auf, der sicher blutig gesessen hätte. Hätte doch unser großer Reformator die weisen, frommen Fürsten aus dem Spiele gelassen! Dein Kampf, Hutten, wäre auf günstigerem Terrain gestritten; hätte er sich gar mit dir verbündet, du hättest durch deinen Sieg den seinigen erst zu einem rechten und ganzen gemacht.


Hohen-Urach in Württemberg.
Nach der Natur aufgenommen von K. St.


So aber bist du, frommer Hutten, gefallen, ohne dein Lebensziel erreicht zu haben. Doch tröste dich, schlimmer als dir ging es deinem Gesinnungsgenossen, dem Dichter von Hohen-Urach, dem großen Humanisten Nicodemus Frischlin.

Frischlin wurde am 22. September 1547 zu Balingen geboren, wo sein Vater Pfarrer war. Er muß sich sehr schnell entwickelt haben, denn schon 1568 finden wir ihn in Tübingen auf dem Lehrstuhle der freien Künste als ordentlichen Professor. Die frühe Reife war bei ihm, wie bei so vielen großen Männern, ich erinnere nur an Goethe, keine ungesunde, durch künstliche Gewächshauszucht hervorgebrachte; das verbürgt der große Kreis von Zuhörern, der sich bald um den jungen genialen Frischlin schaarte. Burschikos und frei im geselligen Leben war er als Lehrer voll Begeisterung für das Alterthum, seine Helden und Weisen, war er voll bissigen Witzes, wenn er auf die flache Gelehrsamkeit gewisser Tübinger Herren zu sprechen kam, bekämpfte er mit spitzen Waffen des Spottes den anmaßenden, ungebildeten Adel jener Tage.

Es kann uns nicht Wunder nehmen, daß sich Nicodemus Frischlin auf diese Weise viele Feinde erwarb; die hat Derjenige, welcher sich mit Narren jeder Art herumschlägt, immer in großer Anzahl. In unseren Tagen können sie dem Klugen nur nicht in dem Maße schaden wie damals, wo sie überall an der Spitze standen und über Leben und Schicksal vieler Leute bestimmten. Als Beispiel von der Erbitterung und zugleich der Rohheit der Feinde Frischlin’s mag Folgendes dienen. Einst veranstaltete der Vogt Burkard von Anwiel ein großes Gastmahl, wozu viele Edle der Umgegend, der Vogt und die Honoratioren Tübingens und auch unser Dichter eingeladen wurden. Der große Saal im Rathhause zu Tübingen erscholl bald von Becherklang und fröhlichen Reden; letztere verwandelten sich in rohe Ausfälle und Zänkereien, als die Köpfe warm geworden, und Frischlin hielt es für das Beste, heimzugehen. Da ruft ihn der Gastgeber heran und nimmt ihm den schon umgelegten Mantel wieder ab; Frischlin mußte, wollte er sich nicht unnützer Weise einen neuen Feind erwerben, bleiben. So setzt er sich mit an die Tafelrunde der Ritter, die entschlossen schienen, bis zum Morgengrauen ihren Platz zu behaupten. Ihm zur Seite hat der Vogt von Tübingen, Herter von Herteneck, Platz genommen. Frischlin trinkt ihm zu, und der edle Herr antwortet: „’nen Dreck! in vino veritas.

Auch Frischlin spricht jetzt ganz frei von der Leber weg: „Ich nehme Euer Maul und ess’ den Dreck und noch mehr.“

[680] Hierauf erhebt er sich und trinkt das verschmähte Stück dem Burkard vor. Indem fühlt er, wie ihm der erzürnte Herteneck mit dem Barett in das Gesicht schlägt. Frischlin ist nicht so grob gewesen wie der Vogt, hat ihm den Rücken zugedreht und den Saal verlassen. Es war vorauszusehen, daß die Rohheit dieses würdigen Vertreters der Aristokratie von Frischlin nicht unbenutzt bleiben würde. Die Flugschrift, welche kurz darauf erscheint, ist nicht sowohl Rache für diesen speciellen Fall, als vielmehr ein Herzenserguß, zu dem der Schlag des Vogts ihm willkommene Gelegenheit gewesen war. Der gesammte württembergische Adel war äußerst aufgebracht; man soll Meuchelmörder für Frischlin gedungen haben, und zwei der edlen Junker sind mit Musketen auf sein Haus eingestürmt. Nicodemus mußte wohl oder übel Tübingen verlassen und eine Rectorstelle in Laubach beziehen.

Jetzt nimmt er wieder einmal die Gelehrtenwelt auf’s Korn und läßt den Adel etwas verschnaufen. Ein Streit mit dem Professor Crusius in Tübingen wird wieder aufgenommen. Hierbei ereifert er sich so, daß er stracks nach Tübingen zurückreist, um seinen Gegner besser zur Hand zu haben, und auch dort bleibt, obwohl man ihm hartnäckig jede Anstellung an der Universität verweigert. Um nur das Leben zu fristen, studirt er nebenbei Medicin, bringt es zum Doctor und prakticirt und streitet nach Herzenslust. Aber es soll ihm nicht gelingen, hier wieder festen Fuß zu fassen – die alten Basen in Tübingen erzählten sich böse Geschichten von ihm –, und auf Befehl des Herzogs muß er Stadt und Land verlassen.

So zog nun Frischlin, aus der Heimath ausgestoßen, durch das deutsche Land und hielt, wie die fahrenden Bänkelsänger, seine Schriften auf den Märkten feil. Reich an Entbehrungen, ist es doch ein freies und lustiges Leben gewesen, das er auf seinen Wanderungen genossen hat. Im grünen Walde entstanden seine kunstgerechten lateinischen Gedichte, beim Weine im Wirthshause die Dramen, und Abends im Dachstübchen der Herberge mag manch gelahrtes, bissiges Büchlein geschrieben sein. Bis nach Böhmen ist er über Wittenberg und Leipzig gekommen; er war auch eine Zeitlang in Braunschweig ansässig, hat sich aber dann nach Frankfurt zurückgewandt, wo er eine Druckerei zu errichten gedachte. Dazu war jedoch Geld nöthig, und er that deshalb an den Herzog von Württemberg die unterthänigste Bitte, ihm doch die in der Heimath noch ausstehenden Erbgüter seiner Frau auszuliefern. Das Gesuch ward ihm abgeschlagen, da man es nicht für gut hielt, einem so gefährlichen Unternehmen, wie eine Buchdruckerei in Frischlin’s Hand sei, noch hülfreich zu sein und sich selbst eine ganze Reihe von Gewittern über dem Haupte zusammenzuziehen. Der arg verletzte Frischlin schrieb nun eine Streitschrift nach der anderen, die alle von Gleichgesinnten förmlich verschlungen wurden, seine Gegner aber auf’s Aeußerste erbitterten.

So kam es, daß er einst, als er auf einer Reise in Mainz übernachtete, von einem württembergischen Vogte überfallen, dann erst von einem Kerker zum andern gebracht und endlich mit verbundenen Augen auf die Veste Hohen-Urach transportirt wurde. Ist man durch das erste Thor der Burg auf die vordere Terrasse gelangt, so kommt man in einen ziemlich engen, düsteren Gang, der auf den oberen Schloßhof führt. In diesem Gange links ist eine niedrige Thür, durch die man in das Gemach kommt, in das sie den Dichter einschlossen. Durch ein einziges schmales Fenster gelangte das Tageslicht in den niedrigen dumpfen Raum, jetzt freilich noch durch eine Oeffnung an der Decke, die Todespforte Frischlin’s. Man sieht noch an Spuren, daß dort in der Ecke ein Ofen gestanden hat und die Oeffnung jedenfalls zum Auffangen und Ableiten des Rauches bestimmt war. In der Nacht vor dem St. Andreastage 1590 – so berichten die Chroniken – brach Frischlin eine Platte aus dem Ofen, klomm durch den geräumigen Innenraum desselben zum Rauchfange empor, schlüpfte durch dessen Oeffnung und stand nun oben im Freien auf einem Mauervorsprunge. Es war heller Mondenschein. Unter sich sah er die Felsen weiß und hell am Gemäuer hervorklimmen, sie schienen ihm hinreichend nahe, und nun befestigte er an der Mauer das Seil, welches er aus dem Linnenzeuge seines Bettes geknüpft hatte. Er hatte die Höhe falsch abgeschätzt, das Seil reichte nicht zu und riß noch dazu, ehe er das Ende erreichte. Am Morgen fanden die Burgleute den entseelten Leichnam Frischlin’s an den Felszacken hängend.

Die Leute in der Umgegend wissen noch viel von dem unglücklichen Dichter zu erzählen. Dort, wo er an den Felsen zerschellt ist, keimt in mondheller Winternacht eine große Pflanze hervor, die schnell eine wunderbar bleichleuchtende Blüthe entwickelt, aber noch in derselben Nacht in ihrem eigenen Dufte vergeht. Merkwürdiger Weise verweben sie die Geschichte Frischlin’s mit der des gleichfalls vom Adel arg mißhandelten Schubart; ein alter Mann im Städtchen Urach erzählte uns:

„Der Schubart auf dem Hohen-Aschperg ischt sei Freund g’si und an den hot er viel Briefe g’schriebe.“

Von den edeln Grafen zu Hohen-Urach wußte man nichts zu berichten, auch von den württembergischen Fürsten, die zu Frischlin’s Zeiten die Burg besaßen, weiß Niemand zu sagen – den edeln, volksfreundlichen Eberhard natürlich ausgenommen; gerade hundert Jahre aber nach Frischlin’s Tode sei mit dem Pulverthurme der größte Theil der Gebäude in die Luft gesprengt und seit der Zeit sei Hohen-Urach Ruine.

Im Jahre 1755 ward auf dem Kirchhof zu Urach ein eichener Sarg aufgegraben, in welchem der zerschlagene Leichnam, sonst noch unversehrt, eine Papierrolle in der linken Hand und in ein Gelehrten-Staatskleid eingehüllt, gefunden wurde. Er hatte also doch ein ehrendes Begräbniß erhalten, wenn anders die Zeugen sich in ihrem Funde nicht getäuscht haben. So erzählt Gustav Schwab.
K. St.




Das Opfer eines wilden Tages.
Vor fünfundzwanzig Jahren in Frankfurt a. M.
(Schluß.)


Dennoch würde an Auerswald dieser erste Sturm schadlos vorüber gegangen sein, wenn er als Großvater mit dem Kindchen auf dem Schooß auf dem Kanapee gesessen hätte, wo noch außerdem unter diesem und dem Schlafrock die verrätherischen Sporen zu verbergen gewesen wären. Denn aller Haß suchte nur Lichnowsky, und selbst unter diesen Verfolgern waren noch Leute von Besinnung, denn als der Schlüssel zum Speicher nicht gleich zur Hand war, rief ein baumstarker Kerl den Seinen zu: „Man braucht nicht so schnell die Axt, um Thüren einzuschlagen, wir sind ja keine Soldaten!“ und zu Schmidt gewendet: „Suchen Sie nur den Schlüssel, er wird sich schon finden.“

Und er fand sich; Fräulein Pfalz hatte ihn unter das Kanapee geworfen. In demselben Augenblick durchfuhr Frau Schmidt wie ein Blitz der Gedanke an die Möglichkeit der Rettung ihres Schützlings im Keller. Sie eilte hinab. Unter dem Wasserfaß im Waschhaus war ein Wasserloch; es war jetzt leer. Dort war ein Mensch geborgen. Aber als sie den Raum betrat, hatte eine Schaar der Verfolger schon das Faß entfernt und suchte im Wasserloch. Da ging die verzweifelnde Frau zurück, durch den Keller, und an dem Verschlage sprach sie fast tonlos, aber für Lichnowsky hörbar genug: „Ach, jetzt ist Alles verloren!“

In demselben Augenblick mußten Beide den Jubel einer rauhen Stimme vom Speicher herab hören: „M’r hawwe A’n!“ (Wir haben Einen.)

Man hatte ihn! Der alte Mann wurde die Hühnerstiege hinab gezerrt und geworfen, er blutete aus Stirn und Nase, man stieß ihn die Treppen hinab und zum Hause hinaus auf die Terrasse. „Ihr habt nach uns geschossen!“ – „Ihr habt nach uns gestochen!“ – „Der Hund muß sterben – er muß standrechtlich behandelt werden, wie unsere Brüder in Frankfurt!“ So brüllte es durcheinander unter Stößen und Schlägen auf den Unglücklichen, der an einen der Verfolger sich anklammerte und laut jammerte: „Schont mich! Ich bin Familienvater, ich [681] habe fünf Kinder, die vor Kurzem die Mutter verloren haben, und ich bin ja unschuldig an Allem, was geschehen ist!

Hier ist’s wohl am Ort, nicht einem Todten noch einen Makel anzuhängen, aber eine Frage zu thun, welche die Möglichkeit der Rettung des alten Generals und vielleicht selbst die des Fürsten angeht. Hätte der Fürst, von dessen Lebenshoffnung nunmehr doch, nach Allem, was er gehört haben mußte, nicht das kleinste Fünkchen mehr glimmen konnte, es über sich vermocht, sein leichtes Versteck zu durchbrechen und herauszutreten in den Kreis der Wüthenden, oder hätte er aus dem Keller nur gerufen: „Laßt diesen gehen – Ihr irrt! – Ich bin es, den Ihr sucht!“ – es hätte Auerswald sicher in diesem Augenblick noch gerettet. – Ja, die Größe des Muthes, die Größe der Selbstaufopferung, das Erhabene einer solchen That – wer hat alle Tiefen des Menschenherzens ermessen! – es war möglich, daß sie selbst der wüthendsten Masse Bewunderung eingeflößt, daß sie dem furchtbaren Drama ein anderes Ende bereitet hätte. Der Fürst aber blieb stumm liegen bei dem lauten Jammer des greisen Vaters um seine armen Kinder, des Freundes, den er zu diesem Todesritte verleitet! – Welche Qualen er da gelitten, wie alle grimmigsten Seelenschmerzen in ihm genagt und gebissen, wer wagt das noch zu fragen? Und all das Entsetzliche litt er, weil er den großen Entschluß nicht zu fassen vermochte, ohne dadurch seinem noch qualvolleren, weil langsameren Schicksal zu entgehen.

Der General wurde weiter gestoßen, ein Kerl legt auf ihn an, er bricht bei einem Hyacinthenbusch in die Kniee zusammen, wird wieder aufgerissen und fortgestoßen, zum Pförtchen hinaus, über die Brücke und an den Graben gezerrt. Hier fällt auch ein Weib ihn an, die Gattin eines Lithographen Zobel. Sie schrie: „Ihr habt auch auf mich geschossen!“, schlug den blutenden Greis mit dem Regenschirm, warf einen großen Stein auf ihn und forderte seinen Tod. Die fortdauernd herüberschallenden Salven aus Frankfurt und der Ruf: „Bluthunde! Verräther! Ihr habt auch kein Mitleid mit uns!“ führten rasch zum Ende. Ein Stoß auf die Brust, ein Schlag und ein Schuß – er wankt rückwärts, kauert sich am Graben zusammen; noch ein Schuß – mit ihm fiel er in den Graben, ein dritter, dicht am Graben hinabgefeuert, macht seinem Leiden ein Ende.

Dies Alles war das Werk weniger Minuten.

Wieder begann das Suchen, und erst jetzt ergab es sich, daß man nicht gewußt, wen man getödtet hatte. Man fand in der Speicherkammer unter herausgeworfenen Betten des Generals Rock und Hut, nach denen man verlangte. Daß man Beides dort finden konnte, beweist, daß Frau Schmidt ihre Geistesgegenwart wiedergefunden und die kurze Zeit, wo das Haus leer war, benutzt hatte, um aus ihrem Kleiderschrank und ihrem Wohnzimmer (dort war der Hut liegen geblieben) die gefährlichsten Zeugen ihrer Sorge für den Todten wegzuschaffen. Einer, der den Namen im Hute las, rief: „Das ist ja der Unrechte!“ – ein Anderer: „Das ist sein Adjutant gewesen,“ – ein eben herzutretender Dritter, der Dr. Hodes aus Fulda, damals in Bornheim wohnend, klagte: „Ach, was habt Ihr gemacht! Ihr habt den General von Auerswald getödtet, einen unserer tüchtigsten Generale!“ Aber diese Worte erregten einen Sturm gegen ihn und schärften die Gefahr gegen „den Andern“, denn nun lief’s von Mund zu Mund: „Es ist nicht der Rechte, wir haben den Unrechten!“ – Und nun wurde abermals das ganze Haus durchwühlt, aber, seltsamer Weise, der Keller zuletzt. Wir übergehen die Wühlerei hier. Verschlag um Verschlag ward durchforscht, aber nirgends fand man den Gesuchten, und schon war die Mehrzahl der Verfolger gelangweilt davongegangen, als ein halbwüchsiger Bursche rief: „Da liegt was Graues und was Schwarzes!“ Sofort sprangen auch Andere wieder herzu, ein Beilschlag sprengte die Thür, das Graue und Schwarze war der Rockzipfel des Fürsten, der sich nun von seinem gepreßten Lager erhob und hervorsprang. Hier soll er, nach den Zeugenaussagen, um sein Leben gebeten und etwa Folgendes gesprochen haben: „Ich will Alles für Euch thun. Ich weiß, daß Ihr Ursache habt, unzufrieden zu sein, allein ich trage die Schuld nicht! Ihr haltet mich für Euern Feind – Ihr habt größere Feinde, als ich bin. Aber wenn Ihr mich gehen laßt, wenn Ihr mir nur mein Leben schenkt, dann will ich von nun an für das Volk arbeiten und nur für das Volk …“ Und wirklich schien seine Beredsamkeit noch einmal zu siegen. Man kam ihm nicht, wie fälschlich verbreitet worden ist, mit Schimpfen und Drohen von Mord und Todtschlag entgegen. Die Rachsucht war abgekühlt durch den Tod des Generals, und ob es jetzt auch dem ärgsten Feind galt, so trat doch schon so viel Besonnenheit ein, daß man sich seiner lieber als Geisel versichern, ihn nach Hanau oder Offenbach abführen wollte. Wenn jetzt, wo man fast bis zu friedlicher Verhandlung gekommen war, nicht neue Verhetzungen begannen, nicht ungeschickte Helfer kamen und der Fürst selbst besonnen blieb, so war immer noch die Erhaltung seines Lebens möglich. Aber alle drei Bedingungen blieben unerfüllt. Bis jetzt hatte Lichnowsky noch keine Mißhandlung erfahren, und dennoch setzte er der beruhigenden Aufforderung der Anwesenden: „Es solle ihm nichts geschehen, er möge nur ruhig mit ihnen gehen“ – Widerstand entgegen. Er wollte an Ort und Stelle freigelassen sein. In diesem Augenblick drängte sich ein junger Frankfurter Kaufmann Louis Pillot, vom Bethmann’schen Hause kommend und wohl dem Fürsten bekannt, vor und rief: „Schämt Euch! Sucht Ihr hier die Republik? Ist das Eure Republik?“ Das war böses Oel in’s aufglimmende Feuer. „Hundsfott, Du bist auch ein Freund von ihm!“ fuhr man ihn an und eiligst schlich er hinweg, offenbar um, wie der Fürst klug herausfand, Militär zu holen. Mit dem Widerstand begannen auch die Mißhandlungen des Fürsten. Er wurde gestoßen, fortgeschoben und die Treppe hinaufgezerrt. Da mußte er wohl plötzlich an Auerswald’s Schicksal denken, denn er rief nun laut: „Laßt mir mein Leben! Ich will für das Volk und sein Wohl Alles thun. Ich gebe Euch die Versicherung. Ihr wollt die Republik, – ich verschaffe sie Euch. Ich verschaffe sie Euch! – Ich kann es!“ und mit hoch erhobenem Arme schrie er dreimal hintereinander: „Hoch lebe die Republik!!“ Aber jetzt lautete schon die Erwiderung darauf: „Es ist zu spät – das hättest Du früher thun sollen!“ – und als er um seinen Hut bat, rief man: „Du brauchst keinen mehr!“ – Dennoch gestattete man, daß der Hut aus dem Verschlag hervorgelangt wurde.

In diesem Augenblicke trat Dr. Hodes wieder heran. Auch er vergaß sich zu einem: „Schändlich! Das ist schändlich, was Ihr macht!“ Aber ein Schlag in’s Gesicht und der Ruf: „Du bist auch einer von dene’ – auch so’n Schuft!“ verscheuchte ihn erst, brachte ihn aber zur Besinnung, und als er kurz nachher wieder kam, um sich auf die Seite Derer zu schlagen, welche den Fürsten als Geisel nach Hanau führen wollten, wußte er durch kluge Reden, Erzählung aus seinem Leben als politischer Kämpfer und Dulder und den guten Rath, gegen etwa nahendes Militär Lauerposten aufzustellen, die Mehrzahl so für sich zu gewinnen, daß sie aussprachen: „Das ist unser Mann, – der meint es gut mit uns.“ Von diesem Augenblick an durfte er der Begleiter des Fürsten bleiben, dessen Rettung seine einzige Sorge war. Der Fürst verstand aber auch diesen Mann nicht und machte ihm das Rettungswerk selbst mit unmöglich.

Bald wechselt zwischen den Haufen wie ein Parteiruf das Geschrei: „Der Hund muß todtgeschossen werden!“ und „Nein, er kommt nach Hanau!“ Damit zogen sie auch über das verhängnißvolle Brückchen und zerrten ihn jenseits an den Graben vor Auerswald’s Leiche. Und als er sich von diesem blutigen Bilde abwenden und gehen wollte, rief man ihm zu: „Was erschräckst D’? Bist ja ach in … nit erschrocke!“ (den Ort hat der Zeuge nicht genau gehört, ob Spanien oder Frankfurt?) Es war der furchtbarste dieser letzten Augenblicke des hier moralisch Gefolterten.

Indem der Haufen mit dem Fürsten die vom Brückchen nach Bornheim hinführende Pappelallee einschlug, kam ein abgesetzter und halb verrückter Judenschulmeister von Rödelheim, Namens Buchsweiler, aus der Stadt dahergerannt, schrie wie besessen: „Jetzt ist Deutschland gerettet! Juchhe! Juchhe!“ erhitzte von Neuem die Menge mit Erzählungen von den Kämpfen in der Stadt und brachte das Geschrei „Er muß sterben!“ wieder in gefährlichsten Fluß. Trotzdem bildeten die Friedlicheren, die „den Gefangenen“ nach Hanau bringen wollten, noch die Mehrzahl, an die Dr. Hodes sich halten konnte. Bei jeder Ausfechtung solchen Parteihaders ballten sich die Haufen zum Knäuel um den Fürsten und Hodes, und dann kam es auch zu Mißhandlungen des Ersteren. Man schlug ihm den Hut bald vom Kopf, bald über den Kopf, man stieß ihn und spuckte ihm sogar in’s Gesicht. [682] Leider wurde des Doctors Kriegslist, vor den Preußen zu warnen und die wildesten Schreier an die gefährlichsten Wachtposten zu empfehlen, von Lichnowsky nicht verstanden, der gerade von diesen Preußen seine Rettung erwartete und eben deshalb gegen seinen Transport nach Hanau protestirte. Hodes, selbst mißtrauisch beobachtet und der äußersten Gefahr ausgesetzt, durfte ihm durch kein Wort, keinen Wink seine wahre Meinung verrathen, ja, er mußte ihn mitunter hart anfahren (wie „Sie sind ganz ruhig! Sie sind Gefangener! Sie haben gar nichts zu opponiren!“) um den Tumultuanten nicht verdächtig zu werden. Diese blieben mehr und mehr der Hanauer Richtung des Zuges zugethan, und schon war man beim achtzehnten Baum (vom Schmidt’schen Garten her links gezählt) angekommen, als plötzlich eine Stimme schrie. „Wann dann d’r Spion doch fortgeführt wäre soll, s’ will ich a’ch ’n Andenke’ von ’m hawwe!“ und eine kräftige Faust fuhr über Lichnowsky’s Schulter, packte ihn fest an der Brust und fuhr mit gewaltigem Ruck zurück, und wie auf Commando riß es nun von allen Seiten an ihm herum, um Stücke von seinen Kleidern zu erhalten. Mit derselben Blitzesschnelle, wie dies geschah, riß der Fürst sich los, floh zum neunzehnten Baum und kehrte da sich trotzig gegen seine Quäler. Plötzlich sprang er mitten in den Haufen, packte das Gewehr eines Freischärlers und rang ihn nieder. Das ward sein Tod. „Zurück! zurück!“ rief’s, der Knäuel wand sich auseinander, drei bis fünf Schüsse fielen, und mit dem Schrei „Herr Jesus“ brach Lichnowsky zusammen. Da kam die wilde Meute wieder herangestürzt, und Jeder suchte dem bereits auf den Tod Verwundeten noch einen Schmerz zu bereiten. Mit Kolben, Knütteln, Säbeln und blanken Fäusten schlugen sie von allen Seiten auf ihn ein. Mit dem rechten Arme versuchte der Fürst noch seinen aus mehreren Wunden blutenden Kopf, nach dem besonders Jeder schlug, zu decken, bis der Arm zerfleischt und zerhackt an ihm niedersank.

Es war geschehen. Die That eines furchtbaren Augenblicks, die ihre Schatten Jahrhunderte weit wirft. Die Wuth des Augenblicks hatte Menschen in Bestien verwandelt, – aber noch menschenunwürdiger war es, daß ein Trupp Bewaffneter auch nach der That sich etwa zwanzig Schritte von dem Todeswunden aufstellte und jede Hülfsleistung für den Verschmachtenden mit dem Tode bedrohte. „Zurück von dem Hund – es ist Lichnowsky – kein’ Hand an ihn gelegt!“ – „Der Verräther, der Spion soll kein Wasser haben!“ – Ein Unmensch hielt dem Unglücklichen noch eine höhnende Strafpredigt. Zwar wurden Solche, die den Daliegenden noch weiter mißhandeln wollten, zurückgehalten, eifriger aber mehrere Hülfebereite vertrieben, bis endlich Dr. Hodes und der Bornheimer Schützenlieutenant Mechanicus Helfrich durch ihren Mannesmuth über die empörende Nichtswürdigkeit siegten. Zugleich riefen mehrere Jungen: „Da kommen Soldaten!“ – „Soldaten! Soldaten!“ wiederholt es, und im nächsten Augenblick flieht Alles auseinander, und so zerstiebt die ganze Rotte nach allen Richtungen.

Zu spät nahte die Rettung – nur um einige Minuten zu spät; denn es kam wirklich im eiligsten Schritt von der Stadt her ein Trupp Soldaten, geführt vom Major Detz, offenbar in Folge einer Benachrichtigung aus dem Bethmann’schen Hause. Ohnmächtig in seinem Blute schwimmend und besonders am Kopf und an beiden Armen schauderhaft verletzt, fanden sie jetzt den, den sie suchten.

Man trug ihn zurück nach dem Schmidt’schen Hause; hier legte Dr. Hodes ihm den ersten nothdürftigen Verband an. Er kam bald wieder zu sich und schon jetzt traf er Bestimmungen über sein Testament und sprach die Worte: „Ich verzeihe meinen Beleidigern und wünsche einen Geistlichen, welcher es sei.“ Auch eine hessische Chevauxlegersabtheilung kam zu seinem Schutze an, mit ihr der Prinz zu Hohenlohe. Als er diesen erkannte, jammerte er: „Ach, Felix!“ Dem Prinzen wurden alle Werthsachen, welche der Fürst trug, eingehändigt, ebenso die des Generals, dessen Leiche über eine Stunde im Graben gelegen hatte und nun ebenfalls in das Schmidt’sche Treibhaus getragen wurde. Zwar soll bei dem wüsten Angriff auf die Kleider Lichnowsky’s ihm die Uhr weggekommen sein. Möglich, daß sie in der wilden Hand geblieben, die den ersten Griff nach der Brust des Verfolgten gethan. Die übrigen bei ihm, wie die bei Auerswald unberührt gefundenen Gegenstände zeugen aber doch ebenso klar gegen die (untersuchungsbehördliche) Annahme, daß es hier auf einen Raubmord abgesehen gewesen, wie der ganze Verlauf der Unthat dagegen spricht, daß sie beplant und von einem Complot begangen worden sei.

Da hier in dem Unglückshause Alles fehlte, was ein so schwer Verwundeter brauchte, vor Allem Lichnowsky selbst noch jetzt fürchtete, noch einmal in die Hände „dieser Cannibalen“ zu fallen, so beeilte man sich, der Einladung des Herrn von Bethmann zu folgen, der eine Blumenbahre und Matratzen zum Transport des Todeswunden hatte herbeischaffen lassen. Die Chevauxlegers deckten den Zug und kehrten dann zur Stadt zurück, während die preußische Infanterie in und bei den Bethmann’schen Gebäuden und Garten postirt worden sein soll.

Es war Abend geworden. In dem schönen Treibhaussaale, in welchem der heitere, von der Gesellschaft verwöhnte und auf Händen getragene Fürst so manche glückliche Stunde verlebt hatte, wurde ihm jetzt am Boden aus Matratzen sein Schmerzenslager zubereitet. Trotz des heftigen Straßenkampfes in der Stadt glückte es doch, einige Aerzte zu erlangen. Eisumschläge wurden ununterbrochen aufgelegt und jede nur mögliche Erleichterung und Erquickung verschafft. Auch Anton hatte von dem Unglücke, das seinem Herrn zugestoßen war, Nachricht erhalten und war mitten durch den Kampf glücklich herzugekommen. Das war dem Fürsten eine große Beruhigung, denn er hatte schon mehrmals nach Anton gefragt. Nun stand er weinend an seinem Lager, denn es ging zu Ende mit seinem Herrn.

Noch war ihm das klare Bewußtsein nicht entschwunden, er änderte sogar insofern seinen letzten Willen, als er die Ernennung seines Bruders zum Universalerben zurücknahm: „Nicht meinen Bruder Karl, sondern die Herzogin Dorothea von Sagan ernenne ich zu meiner Universalerbin, und ich bitte Sie, Herr von Bethmann, sorgen Sie dafür, daß meinem treuen Diener Anton eine lebenslängliche Pension von vierhundert Thalern aus meinem Nachlasse gesichert werde.“

Die Gründe dieser Testamentsänderung waren sehr durchdacht und triftig.

Im weiten hohen Saale brannten nur einige schwache Lichter; man vermied Alles, was die Aufmerksamkeit nach außen hätte erregen können. Die wenigen traurig schweigenden Freunde, die noch das Lager umstanden, im Hintergrunde die leise ab- und zugehenden dunklen Gestalten einiger Hausdiener, dazu einzelne abgerissene Worte und wimmernde Schmerzensseufzer des schon Hinsterbenden und dazu das ferne Donnern und Toben des wilden Straßenkampfes, das war eine furchtbar düstere Scene.

Es war ungefähr zehn Uhr geworden, und nach den allerdings übertriebenen Nachrichten aus der Stadt erschien es den Anwesenden, als ob auch hier nicht mehr genug Sicherheit für den Verwundeten sei, und man kam zu dem Entschlusse, den Fürsten nach dem Hospital zum heiligen Geist bringen zu lassen. Und so geschah es. Der Sterbende wurde noch einmal auf die Trage gelegt und nach jenem Hospital getragen, aber nur um dort in einem kleinen einsamen Zimmer gegen Mitternacht ruhig und ohne Todeskampf zu verscheiden. Alle hatten sie ihn verlassen, nur Anton begleitete ihn auch bis zu diesem Sterbewinkel, und hier war es, wo er im letzten Aufdämmern des Bewußtseins dem treuen Gefährten und Diener seines ruhelosen Lebens die Worte zuflüsterte: „Ach, Anton, Anton, hätte ich Dir gefolgt!“ – „Und vergieb mir meine Schuld …“ waren die letzten noch verständlichen Worte des Fürsten, obgleich die Lippen sich noch oft wie zum Sprechen bewegten, bis der Tod sie für immer schloß.

Beim ersten Grauen des Tages trat, unheimlich und unerwartet, eine lange dunkle Gestalt in das Todtenzimmer, kniete sichtlich tief ergriffen an der Leiche nieder, lange in stummem Hinbrüten verharrend. Dann erhob sie sich und ertheilte dem Todten nach den katholischen Gebräuchen den Segen seiner Kirche. Das war Ketteler, jetzt Bischof, damals Kaplan in Mainz, der herbeigeeilt war in der Hoffnung, den Fürsten noch lebend zu finden und ihm den letzten Trost reichen zu können. Er kam zu spät. Es hatte schon geendet, dieses stürmische, stets übersprudelnde, wildbewegte Leben! Nachdem es so vielen Wechselfällen und mannigfachen Gefahren immer glücklich und unversehrt entronnen war, mußte es enden auf so elende, jammervolle Weise.

Eine Scheinbeerdigung beider Gefallenen wurde einige [683] Tage später mit vielem Pompe und unter einer außergewöhnlichen Theilnahme auf dem Kirchhofe bei Frankfurt in Scene gesetzt. In Wirklichkeit aber sind die irdischen Ueberreste des Fürsten getheilt worden. Sein Herz wurde in eine reiche silberne Kapsel verschlossen und kam nach Sagan, wo es noch jetzt neben dem Sarkophag der Herzogin Dorothea in der dortigen Parkkirche aufbewahrt wird. Sein Körper ruht in einer kleinen Dorfkirche bei Schloß Grätz in Mähren neben seinen Vorfahren in der fürstlichen Familiengruft. Eine Ausbesserung des Sarges machte es vor einigen Jahren nothwendig, denselben zu öffnen, und es erregte ein erschütterndes Erstaunen bei allen Anwesenden, als man die Züge des Fürsten noch vollständig kenntlich und wenig verändert fand.

Wir wollen es unterlassen, auch von dem über die Theilnehmer an dem Verbrechen verhängten Processe und ihrer Bestrafung zu erzählen. Es ist ein Vierteljahrhundert darüber hingegangen, und große versöhnende Ereignisse liegen zwischen damals und heute. Aber ein Dichterwort aus jenen wilden Tagen hat noch bis heute seine versöhnende Kraft bewahrt; es spricht das gerechte Gefühl jener Zeit aus und soll – auch dem todten Dichter Richard Georg Spiller von Hauenschild, genannt Max Waldau, zu Ehren – diese Erinnerungen schließen:


Ein Cypressenreis für Felix Lichnowsky.
Ratibor 1848.

In meiner Feinde Reihen stand sein Leben,
Und seine Bahn war mir ein feindlich Gleis;
Den Heldenlorbeer kann ich ihm nicht geben,
Doch seinem Sarge ein Cypressenreis. –

Es ist ein alt Gesetz, aus grauen Zeiten:
– Die Freiheit trägt ein blutumsäumt Gewand, –
Sie taucht empor, ein Stern, aus wildem Streiten,
Blut tüncht ihr Kleid, – doch rein ist ihre Hand.

Ich sagt’ es oft und muß beim Wort beharren:
So lang’ brutale Kraft der Freiheit wehrt
Und tausend Schlünde ihr entgegenstarren,
So lang’ ist alles Heil im Kampf, im Schwert.

Doch offner Kampf, die Brust dem Feind geboten,
Ein ehrlich Würfeln und ein ehrlich Feld,
Wo Ehre bleibt den Siegern und den Todten,
Ein ernster Kampf, ein Kampf um eine Welt.

Weh’ aber, wenn entmenschte Mörderrotten
In’s heil’ge Antlitz schlagen die Natur!
Das Thier giebt Tod, – doch seines Opfers spotten
Das kann es nie –, so freveln Teufel nur!

Und doppelt Weh’, wenn in der Freiheit Namen
Ruchloser Mord sein scheußlich Haupt erhebt,
Und wenn mit ihrem dreimal heil’gen Rahmen
Schandbubenthat sich zu umgehen strebt!

Ich liebt’ ihn nicht … und muß ihn doch beklagen,
Den Mann von scharfem Geist und gold’nem Mund;
Sie haben einen selt’nen Mann erschlagen,
Und wie? Bei Gott, bei Gott! wie einen Hund!

An solchem Grab muß alle Feindschaft enden,
Und an der Grube schmilzt des Hasses Eis;
Den Heldenlorbeer kann ich ihm nicht spenden,
Doch seinem Sarge ein Cypressenreis.




Heinrich der Vogelsteller
Harzer Herbstskizze.


Ein köstlicher Herbsttag, der sich Licht und Glanz und Wärme von dem Frühlinge entlehnt zu haben schien, zog uns wieder hinaus in den Wald, hinauf in die Berge. Unser Ziel war diesmal das weitbekannte, schöne, stille, friedenathmende Thal von Treseburg.

So ein warmer Herbsttag eignet sich mehr als jede andere Zeit zu einer Harzwanderung, und wie er uns die Ferne in seltener Klarheit vor die Augen führte, so zeigte er uns auch die näheren Berge und Wälder in ihrem prächtigsten Gewande. Denn nie, selbst nicht in den buntesten Blüthentagen des Frühlings, zeigen die Wälder des Harzes nur die Hälfte der wahrhaft entzückenden Farbenpracht, mit denen der Herbst sie schmückt. Das ist ein Reichthum und eine Ueppigkeit an Farben, wie wir sie sonst nur aus den Bilderbüchern unserer Kindheit kennen oder allenfalls aus den Panoramen der Messen und Märkte, in den grellen und bunten Bildern transatlantischer Waldungen. Alle Farben, welche nur der phantasiereiche Maler in excentrischen Augenblicken ersinnen kann und die man auf der Leinwand für unnatürlich, für eine Verirrung des Künstlers halten würde, stellen sich hier vor das Auge. Vom brennenden Purpurroth bis zum weichsten, mildesten Maiengrün, vom dunkeln Sammetbraun bis zum grellen Flammengelb erscheinen in tausendfältigen Farben und Farbenabstufungen und Uebergängen dieselben Blätter, welche noch vor wenig Wochen alle gleichmäßig in schlichtes Grün gekleidet waren.

Auch unsere Wanderung zeigte uns den Wald in solch prächtigem Herbstschmucke; am frappantesten aber an dem mit Recht wegen seiner wundervollen Aussicht gepriesenen Tunnel Wilhelmsblick, wo eine besondere Veranlassung uns zwang, ein wenig zu rasten. Denn unsere Wanderung galt nicht den Reizen der Natur allein. Wir, d. h. mein Freund, ein grundgelehrter Doctor der Philosophie, eifriger Historiker und Lehrer an einem fern in der Ebene liegenden Gymnasium, der wenig von Berg und Wald, von Pflanzen- und Thierleben kannte, und ich und dazu von jedem ein Sohn, wollten namentlich die verschiedenen Arten des Fischfanges und des Vogelfanges ausüben sehen und, soweit es möglich, selbst ausüben helfen.

Heute galt es dem Vogelfange. Steinmeyer, der weitbekannte liebenswürdige Wirth im „Weißen Hirsch“ zu Treseburg, hatte einen alten Vogelsteller, den Heinrich Sonntag, veranlaßt, sich uns zur Verfügung zu stellen, und uns nach dem Wilhelmsblick beschieden, wo derselbe uns erwarten würde, um uns in die Geheimnisse seiner Kunst einzuweihen. Er war noch nicht dort, und wir benutzten die Zeit, um ungestört den unaussprechlichen Reiz dieses Punktes zu genießen. Welch ein Blick auf den Kranz von Bergen und in die Thäler, welche die Bode in ununterbrochenen Krümmungen vor uns aufschloß, und auf den runden Tannenhügel unter uns im Thale, und drüben auf den Felskoloß, der die Reste der Treseburg trägt, eines ehemaligen Jagdschlosses der alten deutschen Kaiser!

Der alten deutschen Kaiser! Mußte nicht bei unserem heutigen Zwecke einer derselben recht lebhaft vor unsere Seele treten? Der erste Heinrich, Heinrich der Vogelsteller, hatte er wohl nicht auch hier bei seinem Jagdschlosse sich am Vogelfange ergötzt, hier seine Leimruthen gelegt, hier seine Netze gezogen? – Und mehr noch – der Gedanke wirkte elektrisch auf meinen Gefährten, den Historiker – war nicht vielleicht hier in dem einsamen Waldthale, welches bis vor Kurzem so ganz abgeschieden geblieben war von der übrigen Welt, war nicht vielleicht hier in den Bewohnern noch irgend eine Erinnerung an den kaiserlichen Vogelsteller lebendig geblieben? Es war wohl der Mühe werth, im Volke danach zu forschen; es kam auf eine Anfrage an. Dort am Wege der alte Kuhhirt, der hatte wohl manches Jahr über sein greises Haupt dahingehen sehen, seine Jugend fiel wohl in eine Zeit, wo die Traditionen noch in den Waldhütten eine Stätte fanden, vielleicht hatte der als Knabe noch mancher Sage gelauscht, die vom Kaiser erzählte.

Wir winkten ihm; er kam, trotz eines lahmen Beines und trotz seiner siebenzig Jahre, rüstig heran, neugierig, was wir von ihm begehren möchten. Bei unserer fast schüchternen Frage, ob er wohl je von Heinrich dem Vogelsteller gehört habe und ob es wohl hier noch Leute gebe, die etwas von ihm wissen, zog ein selbstzufriedenes Lächeln über sein vielgefurchtes Antlitz. „Da kommt Ihr bei mir gerade an den rechten Mann; zwar jedes Kind konntet Ihr fragen, und jedes Kind konnte Euch von ihm erzählen, aber doch nicht so wie der alte Herschelmann. Was wollt Ihr denn über ihn wissen, soll ich seinen Lebenslauf erzählen, oder über seine Jagdlust, seinen Vogelfang?“

Das war eine freudige Ueberraschung für uns, und besonders für den Doctor, dessen Gesicht hell erglänzte. Also doch [684] kannte das Volk seinen alten Kaiser noch und der Born der Tradition sprudelte uns hier überreich entgegen.

„O, erzählt, erzählt uns Alles, was Ihr wißt, für uns ist Alles wichtig.“

„Wichtig?“ entgegnete er, indem er sich vor uns auf einem moosigen Felsen niederließ. „Nun, Wichtiges weiß ich freilich nicht viel von ihm zu erzählen, außer von der gewaltigen Stärke, die er schon in früher Jugend besaß. Man sagt, er habe an seinem vierzehnten Geburtstage einen starken Hirsch, einen Zwölfender, da unten im Hirschbornsgrunde an den Geweihen erfaßt und zur Erde gedrückt und ihm den Nickfang gegeben; und wie ihn einmal bei Quedlinburg, als er, Fische angelnd, an der Bode gesessen, drei heimliche Widersacher unversehens zu überfallen gedachten, hat er zwei derselben von sich ab in die Bode geschleudert und dem dritten den Arm zerbrochen, wie einen dürren Stecken.“

Das waren interessante Details; der Doctor war außer sich; er hatte längst Notizbuch und Stift zur Hand genommen und sich neben dieser lebendigen Chronik niedergelassen, um kein Wort zu verlieren.

Der Hirt erzählte weiter: „Er soll in seiner Jugend ein hübscher stattlicher Mensch gewesen sein; seine erste Liebe hatte er in Quedlinburg –“

„Ah, das ist interessant!“ rief der Doctor, hastig weiter notirend, „so berichtet auch Dittmar von Merseburg. Wißt Ihr auch ihren Namen? Hieß sie Hatheburgis?“

„Das weiß ich nicht,“ kopfschüttelte der Hirt; „aber er hat später eine andere genommen, eine prächtige, große, hübsche Frau, hoch und schlank, und so recht umsichtig und verständig. Sie hielt ihn oft zurück von unbedachtem Handeln, und wie wild er auch oft auffuhr, so ertrug sie es mit Geduld, und so ward er auch bald wieder ruhig und wußte ihr’s Dank, daß sie ihn so klüglich behandelt.“

Der Doctor gerieth in Ekstase: „Wie das Alles stimmt; die herrliche Mechtild: ‚Gratias habeas. Iratum saepe mitigasti. In omni re utile consilium mihi dedisti‘.“ (Habe Dank! Wie oft hast Du mich im Zorn besänftigt, und immer gabst Du mir den besten Rath.) Fast mit Rührung recitirte er diese Abschiedsworte des sterbenden Kaisers an seine Gattin.

„Am tüchtigsten aber war er im Vogelfang,“ berichtete der Alte, dem die lateinische Unterbrechung etwas ungelegen zu sein schien; „ja, am tüchtigsten im Vogelfang. Seinen Leim müßtet Ihr kennen, so einen Leim giebt’s nicht weiter; aber wir kennen die Art, wie er gekocht wird, ich und noch ein paar Andere, aber wir halten’s geheim. Das ist ein Leim, nicht gar zu dick und doch so zäh, daß er festhält wie Fußangeln, und hält lange und läßt sich leicht wieder von den Ruthen abstreifen, wenn der Fang vorüber ist. So ein Leim! Unsere jungen Burschen möchten’s gerne nachmachen und bringen uns das Leinöl zum Kochen und passen auf, wie’s gemacht wird, aber sie können lange aufpassen, wenn’s ihnen nicht anvertraut wird, lernen sie’s nimmer. Uebrigens hat er auch eine ganz neue Art des Vogelfanges eingeführt, die hier am Harz noch Keiner konnte, den Fang auf der Eulenbucht –“

O, wie leuchteten des Doctor’s Augen! Wie flog sein Stift über das Notizbuch! „Langsam, langsam!“ bat er, damit ihm kein Wort entgehe; „o, wie werden meine Freunde staunen. Hierher sollten sie gehen, statt in die staubigen Archive. Hierher Waitz, hierher Pertz, hier ist eine wundervolle Quelle.“

Der alte Herschelmann schüttelte den Kopf: „Nein, Herr, Ihr irret, hier ist keine Quelle; die nächste Quelle ist drüben der Treseborn mit seinem prachtvollen Wasser; leider ist nur zu wenig –“

„Schon gut,“ fiel ihm der Doctor in’s Wort, „laßt die Quelle und erzählt weiter; Ihr waret beim Vogelfang.“

„Ach ja, Vogelfang, richtig. Ja, der Vogelfang hat ihm viel Zeit gekostet, und dann besonders – die Jagd.“

„Aha, die Jagd,“ murmelte der Doctor dazwischen; „‚in venatione fuit acer‘ (die Jagd betrieb er mit großem Eifer), wie Pantaleon erzählt.“

„Ich glaube,“ fuhr der Hirt fort, „er hat mehr Wild erlegt, als irgend ein Jägersmann; er hat einmal an einem Tage, ich weiß nicht genau, wie viel Stück –“

„Vierzig Stück!“ fiel ihm der Doctor in‘s Wort: „vierzig Stück Wild: una vice quadraginta feras.

„Nein, nein,“ schüttelte Herschelmann den Kopf, „so viel waren es lange nicht.“

„Doch, doch,“ eiferte der Doctor, „vierzig Stück, quadraginta feras, so steht’s geschrieben, schwarz auf weiß, und Pantaleon, der es erzählt, ist glaubhaft, seine Aussagen stimmen auch sonst mit den Eurigen. Nur weiter.“

Aber auf einmal erhob sich der alte Herschelmann und sah uns ernst und finster, fast drohend in die Augen: „So! Also schwarz auf weiß habt Ihr’s? Und Aussagen habt Ihr auch? Habt ihn also wohl schon in den Acten, und nun soll der alte Herschelmann auch heran und Verräther spielen? Pfui, vom Verräther frißt kein Rabe, und Ihr solltet Euch schämen, so Alles herauszulocken. Aber es hilft Euch nichts, ich widerrufe. Was ich auch gesagt haben mag, es ist Alles nicht wahr!“

Der Alte war in großer Aufregung und sichtlich bitterböse. Was konnte ihn denn nur so erregt haben? Der Doctor war bestürzt; er hatte augenscheinlich keine Berichte mehr zu erwarten.

„Aber, Herschelmann, so redet doch! Ihr ahnt ja selbst nicht, wie wichtig jedes Eurer Worte ist.“

„Wichtig?“ höhnte der Alte, „gar nichts Wichtiges! lauter thöricht Geschwätz von mir; es ist kein wahr Wort d’ran, weder an der Jagd, noch am Vogelfang. Ich glaube überhaupt nicht, daß er je einen Hirsch erlegt hat. Wollt Ihr’s wissen, so fragt ihn doch selber,“ fügte er spöttisch nach oben deutend hinzu.“

Der Doctor gerieth in gelinde Verzweiflung und fing fast an zu betteln:

„Aber Herschelmann! Alter Freund! Seid doch nicht so böse! Wir können ihn doch nicht selbst fragen.“

„Warum nicht?“ sagte der Alte etwas weniger barsch und deutete wieder nach oben. „Fragt ihn doch selbst; er kommt gerade zur rechten Zeit.“

„Wer kommt denn?“

„Nun, er selbst, Heinrich, der Vogelsteller!“

„Wer?“ Die Frage erstarb fast auf unseren Lippen, denn als wir dem abermals nach oben gerichteten Winke seiner Hand mit dem Blicke folgten, sahen wir über uns auf dem Bergkamm der Krügershöhe ein rothes lachendes Gesicht über das Gebüsch hinweg zu uns niederblicken, uns einen freundlichen guten Morgen zunickend.

„Wer ist denn das?“ fragten wir den Hirten, „der Mann scheint uns zu kennen?“

„Nun, das ist er ja eben,“ war die Antwort, „das ist ja der alte Heinrich, der Vogelsteller, über den Ihr mich so scharf in’s Verhör nahmt.“

Der Doctor erblaßte; Notizbuch und Stift entfielen seinen Händen; er schaute noch einmal in das lachende, seelenvergnügte Gesicht da droben, dann in das meinige. Also das war Heinrich der Vogelsteller! Einem Momente der Betroffenheit und der Enttäuschung folgte unsererseits ein herzliches und langes Gelächter, und damit war das eigenthümliche Mißverständniß beseitigt. Wir traten aus dem Reiche der Vergangenheit, in welches wir uns einen Augenblick hineinverzaubert fühlten, plötzlich wieder in die Gegenwart. Der neue Ankömmling von oben stimmte in unser Gelächter vergnügt mit ein; er schien darin einen Ausdruck der Freude über seine Ankunft zu sehen, kletterte zu uns herab und bot uns ein biederes Willkommen. Er war eben der Begleiter, den Freund Steinmeyer für uns bestimmt hatte und der uns bald, obwohl die Kaiserglorie ihn nicht mehr umgab, ein lebhaftes Interesse einflößte. Onkel Heinrich, so wurde er meist genannt, und so nannten auch wir ihn, verständigte sich bald mit uns, wie wir zur Erreichung unseres Zweckes die Zeit eintheilen wollten; er hatte uns deshalb gerade hierher beschieden, weil auf dem Wege von hier nach Treseburg sich bereits Gelegenheit bot, die eine Art des Vogelfanges kennen zu lernen; er hatte hier seinen Dohnenstieg.

Dohne nennt man bekanntlich das auch in der Gartenlaube schon früher einmal beschriebene sprenkelartige Geflecht zum Fange der Krammetsvögel, und Dohnenstiege sind die schmalen Waldpfade, an deren beiden Seiten der Vogelsteller seine Dohnen an den Bäumen und Büschen aufhängt. Es ist für Jeden, außer dem Vogelsteller, ein trauriger Anblick, die armen Thierchen schlaff mit zusammengeschnürtem Halse in der Dohne hängen zu sehen, um so trauriger, als man sich dabei erinnert, daß es gerade die beliebtesten der gefiederten Sänger [685] des Waldes sind, die Amseln und Drosseln, die alljährlich auf die Weise zu Hunderttausenden vernichtet werden. Eine tröstliche Erscheinung ist dabei, daß trotz dieses fortwährenden Vernichtungskrieges der Wald dennoch nicht vereinsamt, sondern daß noch immer zahllose Sänger die grünen Hallen bevölkern und mit ihren Liedern erfüllen und daß eine merkliche Abnahme in Folge der Dohnenstiege nicht wahrzunehmen ist.

Die Ausbeute unserer Wanderung durch den Dohnenstieg bestand vorzugsweise in Drosselarten. Die Rast im Harze, auf ihrem Zuge nach Süden, mag ihre Zahl alljährlich wohl um fünfzigtausend Stück verringern. Demungeachtet erreichen den Süden noch ungeheure Massen, die freilich dort noch in ungleich höherem Grade als hier gelichtet werden, da die Einwohner die von dem weiten Fluge ermüdeten und kraftlos niederfallenden Thierchen zu Tausenden erschlagen. Die schmackhaftesten sind die Zippen und Weindrosseln. Die allgemeine Bezeichnung Krammetsvögel ist ihnen geworden von der Vorliebe der meisten Arten für Wachholderbeeren, die in mehreren Gegenden Krammetsbeeren genannt werden.

Unser Fang war übrigens kein reichlicher; so schöne, sonnige Tage sind dem Krammetsvogelfange nicht günstig. „Graue, nebelschwere Tage müssen es sein,“ belehrte uns unser Begleiter, „indeß ist dies Wetter um so günstiger für die Leimruthen; ich werde sie holen und gleich jetzt stellen.“ Er ging.

Herschelmann war uns gefolgt, seine Herde zog langsam unter uns an dem grünen Wiesenrande der Bode hin; wir hörten den wunderbar zum Herzen dringenden Klang ihrer Glocken leise und träumerisch durch den Wald herüberklingen. Der alte Hirt war wieder zuthunlicher geworden, seit er gesehen, daß wir im besten Einvernehmen mit seinem Freunde, dem Vogelsteller, standen und nichts Böses gegen denselben und seine Jagdlust im Sinne hatten. Er wiederholte uns nun, ohne daß wir ihn mit Kaisererinnerungen unterbrachen, daß Heinrich der Vogelsteller, oder Onkel Heinrich, oder auch der Neuntödter, wie man ihn nannte, was den Vogelfang betraf, weitum seines Gleichen nicht hatte, und alle Vogelsteller der jüngeren Generation sich bei ihm Raths erholten und ihn als ihren Lehrer und Meister betrachteten. Er hatte der Jagd, dem Fischfange, dem Vogelstellen von Jugend auf mit Leidenschaft nachgehangen, nicht zu seinem Vortheile, wie schon das Sprüchwort es andeutet, aber die Fertigkeit, die er sich darin erworben, und der Ruhm, den er davongetragen, tröstete ihn über manches Mißgeschick. Die Namen „Vogelfalk“, „Neuntödter“, „Würgangel“, „Fischotter“, den die Jüngeren ihm beilegten, hörte er ohne Mißfallen und Kränkung, ja, nicht ohne einen gewissen Stolz.

Jetzt kam er zurück, voll beladen mit Geräth aller Art; eine Partie kleiner Vogelkäfige auf der Schulter, ein Bündel Ruthen unter dem Arme, eine Axt und einen Leimtopf in der einen, eine dicke, hohe Stange in der anderen Hand.

Am Fuße der Treseburg erstreckt sich ein kleines Ackerfeld den Abhang nieder, dem kleinen und doch so anziehenden Dörfchen zu; ein schmaler Streifen Gebüsch zieht sich vom Walde aus durch das Feld, und dies Gebüsch hatte der Neuntödter sich zur Fangstätte ausersehen. Fußlange Ruthen von der Stärke eines Bleistiftes befestigte er mit großer Geschicklichkeit an den Büschen, indem er gleich starke Zweiglein derselben abschnitt und eine Hülse eines ausgehöhlten Fliederzweiges darüberschob, in deren vorderer Höhlung er die Ruthen einzwängte. Eben solche Ruthen befestigte er an der Stange, dem Vogelbaume, wie er sie nannte, indem er sie neben dem Gebüsch aufrichtete und in die Erde rammte; sie war zum Fange derjenigen Vögel bestimmt, welche nicht gern auf niedere Büsche fliegen. Die Ruthen an dem Gebüsch ragten ein wenig daraus hervor, unmerklich, aber doch so, daß, wenn sich Vögel auf diesen Büschen niederlassen wollten, sie unwillkürlich diese Ruthen wählen mußten. Die Ruthen waren mit Vogelleim überzogen, einer zähen, klebrigen Masse, die aus Leinöl mit einem Zusatze von Colophonium, Pech, dickem Terpentin oder dergleichen gekocht wird und deren Zubereitung für schwierig gilt; ein guter Leim ist ein Haupterforderniß beim Vogelfange, und einzelne Vogelsteller erfreuen sich in dieser Kunst eines ganz besonderen Rufes bei allen ihren Genossen.

Nachdem die Leimruthen gesteckt waren, brachte der Vogelsteller die mitgebrachten Käfige unter dem Buschwerk an. Diese Käfige enthielten die Lockvögel von den verschiedensten Arten, Finken, Zeisige, Stieglitze etc. Dieselben ließen alsbald ihre Stimmen ertönen, ihre im Walde zerstreuten Stammgenossen herbeizurufen. Onkel Heinrich zog uns derweil auf den moosigen Rain am Waldrande nieder, wo wir den Erfolg der Vorkehrungen abwarteten. Wir wollten uns schweigsam und versteckt halten, aber er hielt das für unnöthig. „Wir können immerhin ein wenig plaudern, das scheucht die Vögel nicht hinweg; sie sind an Menschennähe und Menschenstimmen gewöhnt. Nur nicht zu laut und nicht zu viel Bewegung. Es möchte auch langweilig werden, solltet Ihr hier sitzen ohne Frage und Rede. Mir freilich ist’s nie langweilig gewesen. Habe immer meine Gedanken zur Gesellschaft bei mir gehabt; die haben mir denn allerlei vorgeplaudert aus meinem eigenen Leben, aus meiner Jugendzeit und dann auch wieder aus alten, lange verschwundenen Tagen, aus Tagen, die nicht mehr sind. Seht, das ist gar eine hübsche Unterhaltung, während man sitzt und den Zug erwartet. Doch jetzt paßt auf, es sind Zeisige im Anzuge.“

Wir sahen nichts, wir hörten nichts, weder Zeisige noch andere Vögel.

„Und dennoch sind sie nahe,“ versicherte Onkel Heinrich. „Hört Ihr nicht, daß mein Zeisig im Bauer dort eben anfängt, frischer, lauter und kräftiger zu locken? Seine Genossen sind nicht fern. Hört doch! schon melden sie sich.“

Und in der That drangen aus dem Geflüster des welken Laubes einige zirpende Laute hervor, ganz einzeln, halblaut, zaghaft, fast wie eine schüchterne Frage. Alsbald schien den Zeisig im Käfige ein neuer Geist zu beseelen, seine Stimme erhob sich heller und freudiger; die einzelnen Töne schienen eine freundliche Antwort auf die schüchternen Fragen zu geben; die Fragen wurden lauter, länger, zusammenhängender; sie bildeten sich zum Gespräch, das in traulichster Weise von dem Gefangenen im Käfige unter dem gelben Laube erwidert wurde. Aber gewiß erzählte er nichts von seinem engen Käfige, nichts von der Art, wie er selbst einst gefangen worden, sonst wäre wohl nicht erst ein Zeisig, dann ein zweiter, ein dritter aus dem Walde heran und ihm näher geflattert. Ein Hüpfen von Baum zu Baum, von Busch zu Busch bis zu der gefährlichen Hecke, und dann von Zweig zu Zweig, den verführerischen Lauten immer näher, bis zu den verrätherischen Ruthen, die sofort ihre Füße heimtückisch mit dem klebrigen Leime festhielten; dann war es allerdings mit dem Hüpfen vorbei; ein kurzes Flattern, ein vergeblicher Versuch, sich loszureißen, dann folgte meist eine stille Ergebung in das traurige Schicksal.

Dies Schicksal war indeß keinerlei Warnung für die Zahl der übrigen Vögel, die inzwischen, den Lockvögeln ihrer Gattung folgend, sich genähert hatten. Das Flattern der Gefangenen veranlaßte sie nicht, wie man annehmen müßte, zur Flucht, sondern zog sie vielmehr noch näher heran. Bemerkten sie die unglückliche Lage der Gefangenen nicht, oder trieb sie Neugier oder Theilnahme, genug, sie kamen zahlreicher und hastiger herbeigeflattert und gaben sich noch unvorsichtiger auf den verhängnißvollen Leim, der ihnen ein gleiches trauriges Loos bereitete. Immer noch mehrte sich der Zuzug, nächst den Zeisigen eine Anzahl der winzigen Goldhähnchen mit ihren purpurnen Diademen, Goldammern und Rothkehlchen, Finken aller Art, auch der seltenere Dompfaff, alle wurden allmählich aus dem Walde herausgelockt; sie folgten alle dem verführerischen Zwitschern und Zirpen und Schlagen, und viele von ihnen wanderten auf die Ruthen und dann in die Hand des Neuntödters, der einen Theil in den Käfig wandern ließ, die übrigen aber schonungslos tödtete.

Wie neu uns auch das Alles war, doch baten wir ihn bald: „O, lasset genug sein des grausamen Spiels!“ Und der Alte willfahrte uns gern, aber nur um uns eine andere schwierigere, aber auch interessantere von seinen Künsten vorzuführen.

„Das Stellen ‚auf den Busch‘ ist keine Kunst; das kann ein Jeder, der gute Lockvögel hat und guten Leim zu kochen versteht. Ich denke, das haben hier vor Jahrhunderten die alten Burgknappen auch schon gekonnt. Aber auf der Eulenbucht fangen, das ist ein ander Stück.“

Der Fang in der Eulenbucht ist allerdings wesentlich verschieden von dem eben beschriebenen. Mitten im Walde wird ein wo möglich etwas isolirt stehender Baum seiner unteren Zweige beraubt, und an Stelle derselben werden Leimruthen angebracht. Die abgehauenen Zweige werden unten am Stamme schräg gegen [686] denselben gelehnt, so daß sie ein dichtes Dach und einen darunter befindlichen hohlen Raum bilden, eine Bucht, fast von der Form einer Köthe. In diese Bucht setzte sich unser Vogelsteller. Dann begann er sein Werk, welches sich von der frühern Fangart dadurch unterschied, daß er selbst Vögel aller Art heranlockte, zunächst nicht durch Nachahmung ihrer Stimmen, sondern durch täuschendes Nachahmen des Pfeifens einer Eule. Dies zieht bekanntlich die kleineren Vögel heran, und es übte auch hier eine zauberische Anziehungskraft. Kaum hatte der Alte seinen Eulenruf einige Male ertönen lassen, da fing es an lebendig in den nahen Fichten zu werden. Zuerst kamen jetzt die Goldhähnchen.

„Das sind die Neugierigsten,“ sagte Onkel Heinrich. „Das ganze Thierchen wiegt etwa ein Viertel bis ein halbes Loth und steckt ein Pfund Neugier darin. Schade, daß man sie nicht im Käfige am Leben erhalten kann. Aber woher sollte man das kleine Gewürm nehmen, dessen sie zur Nahrung bedürfen?“

Nächst den Goldhähnchen kamen Meisen und Finken zuerst heran, dann eine Schaar von Buchfinken aus dem nahen Tannenhäu. Ein gelber Zeisig streckte sein Köpfchen mit der schwarzen Platte fast in die Bucht hinein, er schien kaum zu ahnen, daß der trügerische Leim bereits seine Füße fesselte. Neben ihm war ein Zetscher mit rother Haube und rother Brust sein Leidensgefährte. Die bunten Meisen flatterten in großer Zahl umher; sie aber, wie die einfarbigeren Hänflinge schienen vorsichtiger zu sein; sie begnügten sich, aus einiger Entfernung nach der Bucht zu schauen. Dem Eulenrufe waren allmählich Goldhähnchen und Zeisige und Finken genug zum Opfer gefallen.



(Schluß folgt.)




An den Quellen der blauen Isar.
Von Heinrich Noe.


„Die Isar entspringt im Karwendelgebirge,“ sagt eine Inschrift, die zu München am „Thurmwirthshause“ bei der steinernen alten Isarbrücke angebracht ist. Diese Belehrung hat den Vorzug der Kürze, aber völlig wahr ist sie nicht.


Holzfäller im Mittenwalder Walde.
Nach der Natur ausgenommen von G. Sundblad


Denn von den drei Bächen, die im Dorfe Scharnitz angesichts der blau-weißen Grenzpfähle zusammenfließen und die Isar bilden, kommt nur ein einziger aus den Kalkwüsteneien des Karwendel. Und gerade der mittlere von diesen Bächen, eben derjenige, welcher in der Geographie ohne Weiteres als Isar bezeichnet wird, kommt aus dem Hinterauthale, aus der Gegend um die Kastenalpe hervor, welches Thal doch vom Karwendel durch mächtige Jöcher getrennt ist. Und ein dritter Bach bricht dort aus dem Gleirschthal, dessen romanischer Name (glaries Kies, Schotter) an die Jahrhunderte erinnert, in welchen hier nicht der trotzige Baiernstamm, sondern feingliedrige Romanen saßen.

Trotzdem lasse ich mir den Karwendel als Heimath der Isar gern aufschwätzen, denn es ist ein wildschönes Gebirg von großer Ausdehnung, und sein Name, der aus Kar, welches kleine Hochfläche, kurzgrasige Mulden der Felsgiebel bedeutet, und Wändel, der Verkleinerung von Wand, zusammengesetzt ist, scheint mir schon mehr als ein Name; er ist, was man im gelehrten Stil eine Definition nennt. Wenn er mit seinen Geröllhalden und dunkeln Fichtenständen, seinen Alpenrosenflächen und Wasserfällen, seinen Schluchten und Abstürzen dem Flusse, zu welchem er nur ein Dritttheil des Wasservermögens spendet, zu Gevatter steht, so ist es wenigstens ein stattlicher Taufpathe. Die „Kare“ und die „Wände“ dieses Felsenrevieres erheben sich aber aus einem grünen Waldland, in welchem das Summen der Wasser mit dem der Fichtenwipfel um die Wette das Sommerlied des „Alten vom Berge“ begleiten.

Und mitten in diesem grünen Thalboden liegt Mittenwald, zur Zeit, als die Bajuwaren hier gegen die Römer, wie Aventinus erzählt, die Grenze bildeten, wohl „mitten im Walde“, heute aber vom Tann der Alpen durch eine schöne Aue mit Feldern und Wiesen geschieden. Diese Flur ist aber nach jeder Richtung hin bald von Demjenigen durchschritten, der in den harzigen Bergwald oder zu einem hellen Wasser kommen will, und darum sind die Erinnerungen an das Thal vor den Isarquellen von Waldbildern unzertrennlich.

Die Mittenwalder Gegend ist ein großes Waldland. Ueberreste von Urwald, wie sie, selbst den Malern unbekannt, im Oberrißthal gegen den Krotenkopf hin stehen, giebt es hier freilich nicht, und in der allernächsten Umgebung des Marktfleckens ist es sogar schlecht bestellt mit Buchen-, und Fichtenschatten. Wenn man aber eine halbe Stunde weit geht, so gelangt man alsbald in schattige Gewölbe, durch welche Wasser hell zur Isar fließen, moosige Tannensäle, durch deren Lücken überall die stahlgrauen Bergwände hereinschauen. Die Stämme gleiten auf der Isar als Flöße hinab – ein lustiger Anblick, der nur durch das Andenken an den gelichteten Wald verdüstert wird. Hier treiben die Flößer und die Holzhacker ihr Wesen, und schon in beträchtlicher Entfernung von Mittenwald kann man oft auf der Straße stämmigen Gestalten begegnen, die, das Beil und das zusammengewundene Tau als Kranz auf dem Rücken, von der raschen Floßfahrt, die sie zur Kaiserstadt hinabgetragen hat, mühselig wieder nach mitten im Walde pilgern, um bald [687] wieder schnell mit denselben Wellen zu reisen, an deren Kiesufern sie hinauf pilgern.

Die Wälder liefern Brennholz, welches die Mittenwalder meist nach Innsbruck führen, und Nutzstämme, die auf der Isar hinabrinnen und oft die Donau erreichen, mit Bausteinen, Kohle, Kreide befrachtet. Der Wald ist am schönsten gegen Elmau und gegen Krün hin. Auch in der Umgegend der Wettersteinalp und des Schachen stehen stattliche Forste, und aus jenen ist die Scene geholt, welche der Künstler darstellt. Die Holzfäller rasten, aber schon naht aus der Lichtung im Hintergrunde der Förster, durch dessen Nähertreten die Gruppirung sich wahrscheinlich rasch verändern wird. Das Waldbild vollständig zu machen, fehlten noch die Haufen von Rinden, die zur Einfassung des gewonnenen Peches dienen.

Die Mittenwalder haben besonders in diesem Jahre, mit den Partenkirchenern im Verein, Ursache, über die Almen, Felsen und Wasser sich ein wenig stolz zu fühlen. Denn in der großen Weltausstellung zu Wien sind es von allen deutschen Landschaften nur sie, welche in großen photographischen Blättern und Albums getreu dargestellt sind, nicht in Oelbildern, zu welchen oft der Kunstsinn und die Einbildungskraft ihres Schöpfers Lichter und Gestaltungen beifügt, welche den Eindruck weit über den der Wirklichkeit hinüber erheben, sondern in sclavischer Nachahmung, die das Licht in Zwangsarbeit thut, die aber doch Bilder von solcher Schönheit erzeugt hat, daß es nie an angesammelten Bewunderern fehlt. Es hat dies Johannes zu Partenkirchen gethan, von welchem ich den Lesern schon bei einer Schilderung der dunkeln Partnachklamm erzählte.

Wir brauchen nicht so lange zu warten, um einzusehen, daß die Gegend um Zugspitz, Wetterstein und Karwendel nicht gerade vom blinden Ungefähr im Pavillon der Rotunde so außerordentlich gefeiert wird. Das Berchtesgadener Land vielleicht ausgenommen, giebt es im dermaligen Umfange des deutschen Reiches nirgends Landschaften von gleicher Erhabenheit. Wer im Postgarten beim Biere sitzt, welches hier an der Grenzmark des Baiernlandes mit besonderer Kunstfertigkeit gebraut wird, kann leicht auf dem großen Schneefleck über dem Garten, welchen der Neuling wohl in geringer Zeit zu erreichen vermeint, ein Rudel von Gemsen erblicken, welche sich auf diesem weißen „Kar“ ergötzen. Auch die viel bewunderte Erscheinung des Alpenglühens genießen die Mittenwaldener an schönen Sommer-, noch mehr aber Winterabenden umsonst, wobei ihnen allerdings nachgesagt werden muß, daß sie es während der warmen Jahreszeit am liebsten von genanntem Garten aus betrachten.

Der Nachbar des Karwendel ist die Pyramide des Wettersteins, hier besonders schön zu beschauen. Der Gipfel desselben erhebt sich schroff viertausend Fuß über das Thal, welches selbst schon dreitausend Fuß über dem Meere liegt.

Bei Mittenwald vor der Wettersteinalp. Nach der Natur aufgenommen von G. Sundblad.

[688] Oft bilden die beiden, wenn die Sonne sinkt, wundersame Gegenstücke. Nachdem der Kalk bis gegen Abend bleichgrau unter dem tiefblauen Himmel dagestanden war, entzündet sich der Karwendel urplötzlich veilchenroth, und über dem Wetterstein schwebt ein pinienwipfelähnliches Wolkendach, blauroth durchzuckt, wie es die Blitze in der Rauchsäule des Vesuv thun. So schauen an schönen Sommerabenden die Pfosten des Portals aus, durch welches die Isar in Baierns Berge hereinbricht.

Obwohl glücklicher Weise bis jetzt noch an keiner Eisenbahn gelegen (in den jüngsten Tagen erst hat man auch hier vermessende Ingenieure wahrgenommen, die einen Schienenweg von Augsburg nach Innsbruck vorbereiten), fehlt es solcher Annehmlichkeiten halber während des Sommers keineswegs an Wanderern, die ein paar Stunden im Thale verweilen, und an Solchen, die mit oder ohne ursprüngliche Absicht wochenlang nicht mehr weiter kommen. Unter die letzteren muß der Zeichner umstehender Bilder gerechnet werden, der im Verkehre mit wackeren Jägern, ungebildeten Holzknechten und aufgeklärten Bürgern nach und nach vergaß, daß seit seiner Ankunft einige Wochen in’s Land gegangen waren, ja es in der Aneignung unserer Volksthümlichkeiten so weit brachte, daß ihn, als er vor dem Posthause nach dem Giebel des Wettersteins spähte, ein eben zugereister norddeutscher Herr als Führer dingen wollte. Bei solchem „Pappenbleiben“ darf aber die Liebenswürdigkeit der einheimischen Staatsbürger durchaus nicht übersehen werden. Hier hat man es noch nicht so weit gebracht, die Ankömmlinge wie Poststücke zu behandeln, will vielmehr noch einen Rest jenes Gefühls sich behalten, mit welchem man früher in unseren Bergen durch die Ankunft eines Fremdlings das Haus und den Ort geehrt betrachtete. Man freut sich, die „Honneurs“ dieses Thales zu machen – zu Alpen- und Waldgängen, zu Wasserfällen und Klammen hin finden sich gefällige Theilnehmer. Und was die Herberge anbelangt, so ist sie „mitten im Walde“ nicht schlechter bestellt, als an Orten, wo Wagen und Schaaren von touristischen Blaßgesichtern zusammenströmen – und sind viele freundliche Stuben des Markfleckens zum Empfang von Gästen bereit.

Für Solche, die recht viel über die Alpen lernen wollen, ohne jedoch ihnen ihren Schweiß zu opfern, und das ist von den Reisenden ein großer, wenngleich mehr oder minder verschämter Theil, wird die alltägliche Gesellschaft des Postgartens, dessen sinnige Anlage ohnehin die Anwesenden nöthigt, ihre Blicke dem grauen Karwendel zuzuwenden, zur Akademie. Mühelos und beschaulich ihren Gerstensaft aus großen Steinkrügen schlürfend, erfahren sie über die Geheimnisse der umliegenden Bergwelt mehr als aus den Zeitschriften der Kletterer. Ich kann mir vorstellen, daß Einer, der fleißig unter jenen bescheidenen Arcaden gesessen ist, von Hirschen und Gemsen, von Almenstiegen und Gipfeln so viel gehört hat, daß er unseren Novellenschreibern in’s Handwerk zu pfuschen vermag. Ich habe Solche gekannt und beim obern Wirth in der Scharnitz, der sich einen Garten am blauen Isarwasser angelegt hat, anderen Fremdlingen ihre im Posthain erworbene Kenntniß auslegen gehört, die vom Silberhannsl beim Schwarzenbach im Karwendelthale, vom seltsamen Kirchlein der Ladizalpe und von den Wildschützen, die sich dort das Blei zu ihren Kugeln gleich aus dem Berge holten, so vertraut sprachen, als hätten sie einen Sommer dort drinnen „gehütet“.

Es kommt aber noch eine andere Gruppe von Fremdlingen in Betracht. Es sind dies Diejenigen, welche auch das Kreuz auf dem Karwendel gern funkeln sehen und sich alle Morgen den bernsteinfarbigen Wetterstein betrachten, auch gern einmal dort oben stehen und die endlosen Steinwellen des Alpengebirges sehen möchten, wenn es nicht gefährlich wäre, auch Mühe und Kletterei scheuen, doch aber nicht abgeneigt sind, sich die Region der Gemse und der Zirben, der Schneefelder und der weiten Gesichtskreise zu betrachten, nachdem ihnen die Kunde geworden ist, daß Dergleichen leicht zu erreichen sei. Nirgends in den deutschen Alpen, als in der Mittenwalder Gegend, gelangt man auf Fahrwegen zu Höhen, auf welchen der Baumwuchs aufhört. Diese günstige Wirkung zufällig zusammentreffender Umstände kommt auch Damen zu gut, die gern nach der Vereins-, der Wettersteinalpe oder dem Schachen sich aufmachen, weil die Wege geebnet sind und man insbesondere nach dem Schachen, der doch siebenzehnhundert Meter über dem Meere steht, in Zeugstiefelchen und wie auf einem Spaziergange durch einen Park gelangen kann. So leicht ist es nirgends mehr gemacht, in Abgründe von mehreren tausend Fuß Tiefe, aus Eisansammlungen und in die Werkstätten der Natur, in welchen die Flüsse geschaffen werden, hineinzuschauen. Die Ursachen davon sind die Neigung des Königs von Baiern, auf Berggipfeln oder am Rande von Hochseen, wie drüben bei den „Soiern“, zu wohnen – dann die Jagdliebhaberei des Herzogs von Nassau, der sich auf der Vereinsalpe ein Schlößchen gebaut hat, und die anderer fürstlicher oder reicher Herren, die zu hohen Jagdständen reiten wollen. Unsere Bergnarren dürfen sagen, was sie wollen – aber drei- oder viertausend Fuß vom Thalboden aus auf den gewöhnlichen „Steigen“ sich mit den Füßen hinaufzuheben, bleibt für unser Stadtgeschlecht, wie es durchschnittlich beschaffen ist, eine Mühsal. Die Genußfähigkeit wird nach und nach beeinträchtigt und bei zarteren Menschen vertritt schließlich Mißmuth oder Gleichgültigkeit die Stelle der gehofften Freude. In den Kalkalpen von Mittenwald ist von solchen Leiden, wenn man sie nicht geflissentlich aussucht, nicht die Rede. Man gelangt sanft in breiten Windungen guter Wege fortgehend zu Höhen, auf welchen man vom Eis der Centralalpen bis zum Silbergleißen der Flüsse und Seen im blauen Flachland draußen eine große Welt überschaut, in die Gegend, wo brennroth herum die echte Alpenrose die Kare überdeckt, wo noch im Spätsommer die Sturzbäche in den dunklen Oeffnungen alter Lawinenüberreste verschwinden, die letzten grauen Baumleichen mit kahlen Aesten bereits unter uns liegen und uns in dünner, scharfer Luft und in der ungeahnten Erweiterung des Gesichtskreises jenes Gefühl der Freiheit aufgeht, welches nur die Fläche des Meeres in ähnlicher Weise hervorzurufen vermag.

Die Damen, welche hier vor der Wettersteinalp lagern, brauchen also deshalb noch keine absonderlich guten Fußgängerinnen zu sein. Sie sind auf schönem und für das Gebirg fast glattem Weg bis zu diesen Bäumen gekommen, zuerst durch niedrigen Buchenwald am Lauter- und dann am Ferchensee vorüber. Dieses tiefgrüne Wasser am Fuße der Matten, über welche die grauen Schrofen des Wettersteins emporragen, ist das wahre Bild eines kleinen bairischen Alpensees. Das Gelispel des langsam über Kalkplatten abfließenden Baches, das helle Grün am Schilfufer, das tiefe dort, wo der Grund abstürzt, der Schnee oben in den Falten der Wände, der Wald und seine Ruhe, das Läuten der Rinder aus den Matten und gegen Osten der gerade heraussteigende Karwendel rufen die Erinnerung an manche Gewässer wach, deren gemeinsame Züge hier zusammengetragen zu sein scheinen.

Von diesem See sind die Damen und ihre Begleiter, worunter vornehmlich auch die Träger von Speisen und Getränken aufgeführt werden, durch einen Engpaß von großer Anmuth, – denn es bilden ihn niedrige Felserhebungen und Wald und ein Bach durchrauscht ihn nach dem Anger der Elmau gelangt. Hie und da hängen Blumen und Legföhren über den Bach; von dort an aber wird das Gewässer wilder, denn die Gesellschaft dringt nunmehr gegen die Falten des Wettersteins vor. Dort kommt auch ein Gewässer herein in das größere Bett, das vor der Sommersonnenwende gar nicht zu sehen ist und erst hervorbricht, wenn die Höhlen und Wasserbehälter im Innern des Kalkgebirges hinlänglich mit geschmolzener Schneetraufe angefüllt sind. Da ich nicht annehmen kann, daß die Damen zu der Zeit in die Berge gekommen sind, wo dieselben am schönsten erscheinen, im Frühsommer, sondern vermuthe, daß sie mindestens die zweite Hälfte des Juli oder den August abgewartet haben, so werden sie die volle Pracht der Blumen nicht finden, wie in den Tagen, in welchen der Kukuk ruft. Sie werden deshalb die Alpenrose erst finden, wenn sie weiter hinaufkommen, denn auf den Angern des Thales hat sie bereits abgeblüht. Dagegen können sie sich ihre Hüte mit Eisenhuts und gelbem Bidens schmücken, dessen Blumenfläche in der Sonne wie ein Goldstück glänzt, und die hohen Königskerzen unter den Fichten oder im Schlage leuchten sehen.

Je weiter sie steigen, desto mehr glüht es vom Roth der Alpenrose. Schon haben sie eine Stelle erreicht, von welcher aus sie die Mulde der Wettersteinalp unter Zacken und Graten erblicken. Hier wird Rast gemacht. Ist das Wetter schön, so nimmt man wohl ein Fernrohr zur Hand und schaut nach den Schneefeldern und den Wänden. Dann ergreift wohl ein rother Mund das Wort und schwärmt für die Seligkeit, auf einer jener Zinken zu stehen und unter sich eine Welt zu erblicken. Vielleicht [689] ist es aber doch bester, auf dem Plaid, den der Begleiter untergebreitet hat, zu sitzen und nicht den Abstieg von der felsigen Warte, sondern einen guten Weg vor sich zu haben. Ist es aber schlechtes und kaltes Wetter, hüllen sich die Gipfel in Wolken und scheint nur manchmal in einer Nebellücke ein Felsstück durch das Grau zu schimmern, so richtet sich die Aufmerksamkeit der Gesellschaft mehr auf Braten und Wein, ohne deshalb in Pausen die Nebel zu übersehen, die vom sommerwarmen Boden und Wasser in die kalte Luft aufsteigen, die violetten Huflattichblüthen am Bach und das Spiel von Wolkenschlangen in den Wipfeln des Forstes.

An solchen Tagen wird nicht mehr weiter nach dem Schachen gegangen. Auch ich bescheide mich bei der Wettersteinalp, weil jenes Haus bereits anderweitig geschildert worden ist. Wir kehren also mit der Gesellschaft unter die schützenden Arcaden des Postgartens zurück. Obwohl es kein Kunststück ist, nach der Wettersteinalp oder nach dem „Verein“ und anderen Reitwegzielen zu gehen, so liegt es in der galanten Weise der Mittenwalder, den Damen hierüber Complimente zu machen. Hierin ist vornehmlich der treueste Hüter des Posthaines, der kundige Arzt, bewandert. Mit schmeichelnder Rede weiß er das Verdienst der Bergpilgrime zu überschätzen und diese dadurch zu neuen Thaten auf den Bergen anzufeuern, deren Tannenwipfel auf die Salatstauden des Haines herabschauen.




Für die armen Eisenbahnarbeiter.

Angesichts des ungeheuren Aufschwungs, welchen in den letzten Jahren der Eisenbahnbau in Deutschland gewonnen hat, und des immer drohenderen Ernstes, welchen die Arbeiterfrage annimmt, erscheint es als eine Aufgabe, die das Interesse aller Kreise, auch Derer, die zunächst nicht dabei betheiligt sind, in Anspruch nehmen sollte, sich mit der Lage Derer eingehend zu beschäftigen, durch deren Schweiß und Arbeit die segensreichen Werke des Verkehrs hergestellt werden. Man hat sich fast daran gewöhnt, die Arbeiter an den Eisenbahnen als die Parias ihrer Kaste zu betrachten, weil Jeder dazu taugt, der nur zwei gesunde kräftige Arme als Betriebscapital aufzuweisen hat; man wendet sich mit vornehmer Scheu und Verachtung ab von der Rohheit und Verwilderung, die in jenen Kreisen oft sich kund giebt, oder nimmt sie hin mit Achselzucken als unabänderliche Thatsachen. Wollte man aber die materielle Lage dieser Leute zum Gegenstande besonderer Fürsorge machen, so würden nicht nur die Arbeiter selbst, sondern auch die Arbeitgeber, ferner die Gemeinden, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen bei Bahnbauten oft in Bezug auf die öffentliche Sicherheit schwer geschädigt werden, und endlich der Staat, der am Gemeinwohl aller seiner Glieder interessirt ist, bald die segensreichen Folgen davon verspüren. Dadurch, daß die schwere Arbeit des Erdekarrens, des Steinbrechens etc. verhältnißmäßig theuer bezahlt wird, ist man dieser Verpflichtung nicht etwa überhoben, denn trotz des hohen Lohnes bleibt der Eisenbahnarbeiter meistens arm. Bei der großen körperlichen Anstrengung müssen jene Leute einen bedeutenden Theil ihres Verdienstes auf ihre Beköstigung verwenden, diese aber besonders da, wo ihre Arbeitsstelle weit von bewohnten Ortschaften abliegt, einzig und allein von gewissen speculativen Privatunternehmern beziehen, die nicht an der Mäßigkeit, sondern an dem möglichst großen Verbrauch des Arbeiters ein Interesse haben, und durch Gewährung von Credit denselben nur zu leicht zu größeren Ausgaben verleiten. So soll es zum Beispiel eine gar nicht ungewöhnliche Praxis sein, daß gewissenlose Schachtmeister mit solchen Schankwirten gemeinsames Spiel treiben, und dem Arbeiter, der um Vorschuß bittet, denselben nur in Gestalt von Marken geben, für die der Arbeiter nichts als Speisen und Getränke bei einem bestimmten Wirte erhalten kann, welcher wieder dem Schachtmeister für diese Gefälligkeit einen nicht geringen Rabatt bewilligt.

Noch wichtiger als die Kostfrage, welche sich leichter regeln läßt, ist für die Eisenbahnarbeiter die Wohnungsfrage. Denn es ist geradezu jammervoll, wie elend sich die Arbeiter in einsamen Gegenden oder kleinen Dörfern, die natürlich für solche Massen zuströmender Bevölkerung nicht genügendes Unterkommen aufzuweisen haben, oft behelfen müssen. Es ist vorgekommen, zum Beispiel in Ostpreußen, daß Männer, Frauen und halberwachsene Burschen im bunten Gemisch in elenden Bretterbuden oder gar in Erdhöhlen ihr kümmerliches Nachtlager und Obdach gesucht haben, und solche Löcher wurden erst dann Gegenstand der polizeilichen Aufmerksamkeit, als sie zu Brutstätten des Typhus und der Cholera wurden. Um die sittlichen Nachtheile, die aus solchem engen Beisammensein vieler Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts unausbleiblich entstehen müssen, hatte man sich bis dahin nicht gekümmert.

Den Ruhm, den Anfang gemacht zu haben, um solchen Uebelständen zu steuern, darf die württembergische Regierung für sich in Anspruch nehmen, welche, ohne Hoffnung auf Gewinn, lediglich um des Wohles der Arbeiter willen und eben damit im besten eigenen Interesse, bei ihren ausgedehnten Eisenbahnbauten für Wohnung und Beköstigung ihrer Arbeiter sorgte und nun durch siebenjährige Erfahrung bestätigt gefunden hat, daß diese Fürsorge nicht nur von den Arbeitern dankbar empfunden worden ist, sondern auch ihrer financiellen Seite nach gute Früchte getragen hat. Dieselbe ließ auf solchen Strecken ihrer neu zu erbauenden Bahnlinien, wo die Bevölkerung weniger dicht ist und bedeutende Erdarbeiten, Tunnel, Brücken etc. die Concentrirung einer größeren Anzahl von Arbeitern auf längere Zeit notwendig machten, auf Kosten der Bauverwaltung Wirtschafts- und Speise- Gebäude errichten und in eigener Regie betreiben, in welchen die Arbeiter einfache, aber gute und reichliche Beköstigung und dazu gesunde und reinliche Schlafstellen finden sollten. Da der Betrieb der einzelnen Wirthschaften doch nur verhältnismäßig kurze Zeit dauert, so begnügte man sich mit einfacher Bauart. Die Gebäude sind in der Regel einstöckig mit Kniestock, aus Riegelmauerwerk mit doppelter Bretterverschalung und mit Dachpappe gedeckt, haben Einrichtungen für Küche, Keller und Speisekammer, einen Speise- und Wirthschaftssaal, Büffet und Räumlichkeiten zur Aufstellung von siebenzig bis hundert Betten, zwei Zimmer für den Agenten und den Koch, zuweilen auch ein eigenes Lesezimmer. Um die Nachtheile, welche das Zusammensein so vieler Leute in einem einzigen großen Schlafsaal im Gefolge hat, zu vermeiden, werden die Schlafgelasse durch Bretterwände geschieden und mit je ein bis zwei, selten mit vier Betten belegt. Jeder hat sein besonderes Bett und zwar mit eiserner Bettstelle, eine Strohmatratze, mit Stroh gefüllte Kopfpolster, ein Unterbett, Deckbett, Kissen mit Federn, je zwei doppelte Bezüge und zwei Betttücher. Federbetten wurde der Vorzug gegeben vor den bei dem Militär eingeführten Matratzen mit Decken, weil die Kosten ziemlich gleich, Federbetten im Winter aber schützender sind. Die Kosten eines vollständigen Bettes mit eiserner Bettstelle beliefen sich uns neunundzwanzig Thaler. In den Schlafcabineten ist für jeden Mann eine verschließbare Kiste zur Aufbewahrung der Kleider angebracht. Für Ordnung und Reinlichkeit in der Schlafcabine hat der Arbeiter selbst zu sorgen.

Die Beköstigung besteht in Frühstück (Kaffee mit Zucker), einem kräftigen reichlichen Mittagsessen mit einem halben Pfund Fleisch für den Mann und einem Abendessen, letzteres abwechselnd aus Suppe oder Wurst bestehend. Außerdem bekommt Jeder ein und ein halbes Pfund gutes Brod täglich und drei Schoppen Bier, wovon ein Schoppen Mittags und zwei Schoppen Abends (oder umgekehrt) verabreicht werden. Für diese volle Beköstigung, einschließlich des Schlafgeldes, hatte der Arbeiter den äußerst mäßigen Betrag von dreißig Kreuzern (acht und einen halben Groschen) zu zahlen, welcher an den Lohntagen mittelst Abzugs verrechnet wird. Auf Verlangen erhalten die Arbeiter außer jenen drei zur Beköstigung gehörigen Schoppen Bier auch noch mehr; der Betrag dafür muß aber sofort baar bezahlt werden; ebenso Branntwein, den man im Winter, bei schlechter Witterung und bei Arbeiten im Wasser den Arbeitern nicht glaubt versagen zu dürfen. Anborgung findet unter keinen Umständen statt. Wein wird nur an das Baubeamtenpersonal und an die Unternehmer abgegeben.

Die meisten Wirthschafts-Gebäude enthalten hundert Bettstellen. Die zugelassenen Arbeiter müssen in der Regel die [690] ganze Verköstigung und die Schlafstelle in dem Gebäude nehmen, doch werden an Arbeiter, welche Abends zu ihren Familien nach Hause gehen, auch einzelne Mittagsportionen zu zehn Kreuzer (drei Groschen) verabreicht, und bei besonders abgelegenen Baustellen in Bretterbuden Bier und Brod an sämmtliche Arbeiter verkauft, um die Verschwendung von Arbeitszeit zu vermeiden. Die Theilnahme an diesen Einrichtungen und der Austritt ist ganz dem Belieben der Arbeiter überlassen. Unfreiwilliger Ausschluß erfolgt nur bei schlechter Aufführung, dann aber ohne Nachsicht. Es besteht eine „Menage-Ordnung“, welche Reinlichkeit und anständiges Verhalten zur Bedingung der Theilnahme an den Wohlthaten dieser Einrichtungen macht. Unter Anderem bestimmt dieselbe, daß Getränke nur bis zehn Uhr Abends abgegeben und die Wirthschaftsräume und Hauseingänge um diese Zeit geschlossen werden. Um den Arbeitern auch Gelegenheit zur Lecture zu geben und hierdurch bildend auf sie zu wirken, wird jeder Wirtschaft eine kleine Sammlung von Büchern unterhaltenden und belehrenden Inhalts zugewiesen.

Jeder Wirthschaft ist ein Agent vorgesetzt, gewöhnlich ein dazu commandirter Unterofficier, der mit dem Betriebe der Militärwirtschaften vertraut ist. Derselbe hat die Vorräte an den Koch (der ebenfalls Militärkoch ist) abzugeben und unter Controle des Bauamtes die gesammte Rechnung zu führen; außerdem sind ein bis zwei Gehülfen des Kochs im Tagelohne angestellt. Neben freier Kost und Wohnung erhält der Agent täglich einen Gulden (siebenzehn Groschen) und der Koch achtundvierzig Kreuzer (dreizehn Groschen). Alle vier Wochen ist der Bauverwaltung Rechnung abzulegen und der Ueberschuß an die Hauptcasse abzuführen.

Die finanziellen Ergebnisse sind nicht ungünstig zu nennen. Die Bau- und Einrichtungskosten von zwölf solchen Wirtschaften verzinsten sich 1868–1869 mit 7,26 Procent und, da die Bauverwaltung im Hinblick auf die mannigfachen sonstigen Vorteile dieser Institute auf Erstattung der Verwaltungskosten verzichtete, sogar mit 14,94 Procent, offenbar ein überaus erfreuliches Resultat, zumal wenn die Güte und Reichlichkeit der Mahlzeiten in Anschlag gebracht wird, die in sehr teurer Zeit den Arbeitern für einen sehr geringen Preis geboten werden konnten, während von allen Privaten für eine weit geringere Beköstigung und eine ganz ärmliche Schlafstelle ein viel höherer Betrag angerechnet wird.

Einzelne Wirthschaften wurden nach Beendigung der Bauten versetzt, andere als provisorische Stationsgebäude, Magazine etc. benutzt. Der Verkehr in diesen Instituten war an einzelnen Orten ein so bedeutender, daß die vorhandenen Mittel zur Befriedigung des Bedarfs nicht ausreichten. Nur zwei Wirthschaften haben den Erwartungen zeitweilig nicht ganz entsprochen. Schließlich ist nicht zu übersehen, daß das Inventar an Betten etc. auch bei gänzlicher Auflösung des Unternehmens immerhin sich noch verwerthen läßt, wodurch also die Einrichtungskosten teilweise wieder ersetzt würden. Aber selbst dann, wenn der Betrieb solcher Institute den Verwaltungen Opfer an Geld und Mühe auferlegte, würden dieselben andererseits bei Weitem aufgewogen von den Vortheilen, die in verschiedener Hinsicht durch diese Einrichtung erzielt werden. Durch dieselben wird die Herbeiziehung einer größern Anzahl ständiger und solider Arbeiter ermöglicht, die mit frischer Kraft, nicht schon ermüdet durch weite Wege, zur Arbeit kommen; der Bau wird dadurch rascher gefördert, das Baucapital schneller nutzbar gemacht. Die Arbeiter aber wissen solche Einrichtungen, wo sie vor offenbarer Ausbeutung durch die Privatunternehmer bewahrt sind, wohl zu schätzen und arbeiten selbst bei geringerem Lohne an den Plätzen, wo solche Wirthschaften sich befinden. Während Privatwirthschaften in Folge der Unmäßigkeit oft der Schauplatz der rohesten Excesse der Eisenbahnarbeiter sind, ist in jenen Instituten keine irgend erhebliche Ausschreitung vorgekommen; der Verbrauch geistiger Getränke ist ein sehr mäßiger gewesen, und mancher Arbeiter hat durch die gebotene Gelegenheit gelernt, in seinen Freistunden sich mit einem guten Buche zu unterhalten und zu bilden. Außerdem ist es als ein unverkennbares Zeichen des guten Einflusses dieser Einrichtung anzusehen, daß von den Theilnehmern derselben in zwei Jahren den Agenten gegen zehntausend Gulden an Ersparnissen übergeben wurden, um dieselben theils aufzubewahren, theils in Sparcassen anzulegen, theils zur Anschaffung von Kleidern und Wäsche zu verwenden. Die Agenten aber sind angewiesen, auch die kleinsten Ersparnisse anzunehmen, sowie überhaupt im Wege freundlicher, theilnehmender Aufmunterung die Arbeiter auf Ordnung, Reinlichkeit und anständiges Benehmen hinzuführen und den Sinn für Mäßigkeit und Sparsamkeit bei denselben zu fördern.

Zur Erreichung des letzteren Zweckes aber ist außerdem noch den Bauämtern besonders empfohlen, die Ansammlung von Ersparnissen zu begünstigen, und um noch mehr zur Absendung derselben in die Heimath zu ermuntern, übernimmt die Baucasse für Inländer wie Ausländer die Portokosten. Zuverlässige Personen vermitteln die Versendung gegen eine keine Vergütung aus der Baucasse, und es sind 1868/1869 durch ihre Bemühung von 4448 Sparern 117,569 Gulden 25 Kreuzer versendet worden, wofür die Bauverwaltung an Porto 1536 Gulden 44 Kreuzer verausgabte. Als besonders sparsame Arbeiter zeichneten sich vor den Deutschen die Italiener aus, welche auch anderwärts in Bezug auf Fleiß, Mäßigkeit und Sparsamkeit den besten Ruf genießen und darum sehr gesucht sind.

Erwähnt mag noch werden, daß zur weiteren Förderung des Wohles der Eisenbahnarbeiter, wie anderwärts, so auch in Württemberg Krankencassen eingerichtet sind, an welchen jeder Arbeiter teilnehmen muß, und aus welchen er gegen einen Beitrag von einem halben Groschen auf jeden Lohntaler im Erkrankungsfalle freie ärztliche Hülfe, Arznei und Verpflegungsgeld bis zu neunzig Tagen erhält. Bei Auflösung dieser Cassen nach Vollendung der Baustrecke werden die disponibeln Mittel in der Regel den Familien verunglückter Arbeiter zugewendet, und es konnten schon Unterstützungen bis zu hundertsiebzig Thalern gewährt werden.

Von den soeben geschilderten Einrichtungen hat zunächst die preußische Regierung die Anregung zu gleichen Versuchen empfangen und beim Baue der soeben vollendeten Strecke der königlichen Ostbahn, Schneidemühl-Dirschau, in der Nähe der Brahebrücke bei Rittel Wirthschaften in der oben beschriebenen Weise einrichten lassen, in welchen von einem Wirthschaftsmeister früh Kaffee oder Mehlsuppe für einen halben Groschen, Mittags eine kräftige Mahlzeit für zwei und einen halben Groschen, ohne Fleisch für einen Groschen, und Abends eine Suppe für einen Groschen geliefert wird. Die günstigen Erfahrungen, die auch hier gemacht wurden, haben Veranlassung gegeben, allen Eisenbahndirectionen die gleichen Einrichtungen zu empfehlen. Aber noch ist dies nur als ein Anfang zu betrachten, da die so wichtige Frage des nächtlichen Unterkommens hier noch nicht berücksichtigt worden ist. Wohl aber wäre zu wünschen, daß allerwärts die Fürsorge der Bauunternehmer, wie der bauenden Actiengesellschaften bei Strecken, welche teils durch wenig, teils durch allzu dicht bevölkerte Gegenden führen, dem Beispiele der württembergischen Regierung folgend, das Wohl ihrer Arbeiter durch Einrichtung billiger Kost,- und gesunder Schlafstätten förderte. Denn das Capital, auf solche Zwecke verwandt, trägt mindestens indirect die besten Zinsen.

D.




Blätter und Blüthen.


Kleiner Briefkasten.


G. W. in B. Beruhigen Sie sich! Wie sehr auch – und, wie erkennbar, leider recht absichtlich! das plötzlich auftauchende Zeitungsgeschrei über den angeblichen Wohlstand oder gar Reichthum, in dem Roderich Benedix gelebt haben und gestorben sein soll, den Sammlungen für die Wittwe und das beklagenswerthe Kind desselben zu schaden drohte, so wird doch die Darstellung des wahren Sachverhalts, die wir in der nächsten Nummer der Gartenlaube bringen werden, den Verehrern des Dichters die Augen und Herzen wieder für die Wahrheit und Berechtigung unseres „Aufrufs“ öffnen.

Ch. T. in Bremen. Ungeeignet! Beide Manuscripte stehen zu Ihrer Verfügung.

Z. A. Ihre Arbeit schläft den ewigen Schlaf der Gerechten – im Papierkorb.




Zur Beachtung. Auf die vielfachen Anfragen wegen Nachlieferung der im 3. Quartale beginnenden Anfangskapitel der Novelle „Künstler und Fürstenkind“ diene die Mittheilung, daß alle Buchhandlungen und Postämter die Nrn. 36 bis 39 gegen Zahlung von 10 Gr. gern besorgen werden.

Die Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.