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Die Gartenlaube (1866)/Heft 3

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[33] No. 3.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Die Eintretenden sahen sich in dem wüsten Hofraume des alten Schlosses um.

„Hier ist nichts zu machen,“ sagte Ferber, „gehen wir weiter.“

Durch einen tiefen, finsteren Thorweg traten sie in einen zweiten Hof, der, obgleich bei weitem größer als der erste, doch einen noch viel unheimlicheren Eindruck machte und zwar durch seine Unregelmäßigkeit. Hier trat ein zusammensinkender, düsterer Bau weit in den Hof herein und bildete eine dunkle Ecke, in die kein Sonnenstrahl fiel; dort stieg ein stumpfer Thurm in die Höhe und warf einen tiefen Schatten auf den hinter ihm liegenden Flügel. Ein alter Hollunderbusch, der in einer Ecke kümmerlich sein Leben fristete und dessen Blätter mit herabgefallenem Mörtel bedeckt waren, sowie einzelne graue Gräser zwischen dem Pflaster, ließen die Oede noch trauriger erscheinen. Kein Laut unterbrach die Todtenstille, die hier waltete; selbst eine Dohlenschaar, die droben das heitere Blau des Himmels durchschnitt, flog lautlos vorüber, und deshalb klang den Eintretenden das Geräusch ihrer eigenen Schritte auf dem hallenden Steinpflaster fast gespenstisch.

„Da haben nun,“ sagte Ferber, ergriffen von dem Anblick des Verfalles ringsum, „die alten, gewaltigen Herren Steinmassen aufgehäuft und gemeint, die Wiege ihres Geschlechts werde, fest und unzerstörbar, durch alle Zeiten den Ruhm ihres Namens verkünden. Ein Jeder hat sich, wie der verschiedene Baustyl zeigt, das Erbe nach Geschmack und Bedürfniß eingerichtet, als ob da nie ein Ende kommen könne…“

„Und doch wohnte er nur ein kleines Weilchen zur Miethe,“ unterbrach ihn der Oberförster, „und mußte es sich zuletzt sogar gefallen lassen, daß der große Hausherr, die Erde, ihn selbst mit Haut und Haar als Miethzins einforderte … Doch gehen wir weiter … Brr, mich friert … hier ist Tod, nichts als Tod!“

„Nennst Du das Tod, Onkel?“ rief plötzlich Elisabeth, die bis dahin beklommen geschwiegen hatte, indem sie nach einem Thorbogen zeigte, der halb von einem vorspringenden Pfeiler bedeckt wurde. Dort hinter einer Gitterthür schimmerte sonnenbeschienenes Grün, und junge Heckenrosen schmiegten ihre Köpfchen an die Eisenstäbe.

Elisabeth war mit wenigen Sprüngen an der Thür, die sie mit einem kräftigen Ruck aufstieß. Dieser ziemlich große, freie Platz, vor dem sie stand, mochte wohl ehemals den Garten vorgestellt haben – jetzt konnte man die grüne Wildniß unmöglich noch so nennen, denn nicht ein Fuß breit Weges war zu entdecken, kaum, daß hier und da der verstümmelte Kopf einer Statue unter dem Gewirr von Stauden, Gesträuchen und Schmarotzerpflanzen erschien. Die wilde Weinrebe lief in dicken Strängen bis an das obere Stockwerk der Gebäude, rankte sich an den Fenstersimsen fest und fiel von dort wie ein grüner Regen wieder auf die blühenden wilden Rosen und Fliedersträuche hernieder. Es war ein Schwirren und Summen auf diesem abgeschiedenen, blühenden Fleckchen Erde, als ob der Frühling seine ganzen geflügelten Heerschaaren hier versammelt hielte. Zahllose Schmetterlinge flatterten durch die Luft, und über die riesigen Fächer der Farrenkräuter zu Elisabeth’s Füßen liefen geschäftig goldglänzende Käfer. Ueber all dies Blühen und Treiben erhoben einige Obstbäume und mehrere schöne Linden ihre Kronen, und auf einer kleinen Anhöhe lagen die Ueberreste eines Pavillons.

Der Garten war auf drei Seiten von zweistöckigen Gebäuden umgeben, und das Viereck des Raumes wurde durch eine Art hohen Dammes vervollständigt, über den die Wipfel der Waldbäume hereinsahen. Auch hier trugen die Baulichkeiten das Gepräge des Verfalles; abermals ziemlich gut erhaltene Mauern nach außen, doch vollständige Verwüstung im Innern. Nur ein zwischen zwei hohe Flügel eingeklemmter, einstockiger Bau fiel auf durch sein dunkles Aussehen. Er war nicht durchsichtig, wie die anderen decken- und thürenlosen Gebäude; das flache Dach, das an beiden freien Seiten schwere Steingeländer hatte, mußte Sturm und Wetter Trotz geboten haben, wie die grauen Fensterläden auch, die hie und da unter dem Wust von Schlingpflanzen hervorsahen. Der Oberförster meinte mit prüfendem Blick, dies sei höchst wahrscheinlich Sabinens berühmter Zwischenbau; möglicherweise sei er innen nicht so despectirlich zugerichtet wie die anderen Baulichkeiten; nur begreife er nicht, wie man zu dem angeklebten Schwalbennest gelangen könne. Allerdings war weder von Treppen, noch von Thüren irgend eine Spur zu sehen, was freilich schon durch das undurchdringliche Gebüsch am Erdgeschoß unmöglich wurde. Man beschloß deshalb das Besteigen einer ausgetretenen, aber doch noch ziemlich festen Steintreppe in einem der großen Flügel zu wagen und so auf das Ziel loszusteuern. Es gelang, wenn auch unter beständigem Anklammern an die unebene Mauer. Sie kamen zuerst durch einen großen Saal, der den blauen Himmel als Decke und einige grüne Büsche droben auf den Mauern als einzigen Schmuck aufzuweisen hatte. Zertrümmerte Balken, Dachsparren, einzelne Plafondstücken mit Ueberresten von Malerei bildeten ein grauses Gemisch, über das die Suchenden hinwegklettern mußten. Dann folgte eine Reihe von Zimmern in demselben Zustand der Zerstörung. An einigen Wänden hingen noch Fetzen von Familienbildern, die oft, schauerlich und komisch zugleich, nur [34] ein Auge, ein Paar gekreuzter, bleicher Frauenhände, oder einen theatralisch vorgestreckten, schienenbekleideten Männerfuß zeigten. Endlich hatten sie den letzten Raum erreicht und standen vor einem hohen Thürbogen, der mit Ziegelsteinen vermauert war.

„Aha!“ sagte Ferber, „hier hat man den Zwischenbau abzuschließen gesucht von der allgemeinen Zerstörung. Ich meine, ehe wir noch länger die halsbrechende Arbeit des Suchens fortsetzen, wäre es gescheidter, die Steine herauszunehmen.“

Der Vorschlag fand Beifall und der Maurer begann sein Werk; er drang in eine tiefe Wandnische ein und versicherte, hier seien doppelte Wände. Beide Männer halfen wacker mit, und bald erschien eine mächtige Eichenthür hinter dem zerstörten Mauerwerk, das schnell hinweggeräumt wurde. Die Thür war nicht verschlossen und gab dem Druck der Männer sogleich nach. Sie traten in einen völlig dunklen, dumpfen Raum. Nur ein dünner Sonnenstrahl drang durch eine schmale Ritze und zeigte die Richtung der Fenster. Das seit so langer Zeit nicht berührte Fensterschloß sträubte sich tapfer gegen die Kraftaufwendung des Oberförsters, ebenso der Laden, den die starken Zweige der Bäume draußen fest andrückten. Endlich wich er mit lautem Gekreisch – ein grüngoldenes Sonnenlicht strömte durch ein hohes Bogenfenster herein und beleuchtete ein nicht sehr breites, aber tiefes Zimmer, dessen Wände mit Gobelins behangen waren. Der Plafond zeigte in den vier Ecken das sauber gemalte Wappen der Gnadewitze. Zum Erstaunen Aller war es vollständig meublirt und zwar als Schlafzimmer. Zwei Himmelbetten mit vergilbtem Behang, welche an den zwei langen Wänden standen, waren vollkommen eingerichtet. Das Bettzeug steckte noch in den feinen Leinüberzügen, und die seidenen Steppdecken schienen nichts an Farbe und Haltbarkeit eingebüßt zu haben. Alles, was zur Bequemlichkeit vornehmer Leute gehört, war hier vorhanden, und wenn auch unter einer Last von Staub vergraben, doch noch in völlig brauchbarem Zustande. An dies Zimmer stieß ein zweites, weit größeres mit zwei Fenstern; es war ebenfalls meublirt, wenngleich in veraltetem Geschmack und, wie nicht zu verkennen war, mit Möbeln, die man aller Orten zusammengesucht hatte. Ein alterthümlicher Schreibtisch mit kunstreich ausgelegter Platte und seltsam geschnörkelten Füßen wollte durchaus nicht zu der mehr modernen Form des roth überzogenen Sofas passen, und die goldenen Rahmen, in denen einige nicht übel gemalte Jagdstücke an den Wänden hingen, harmonirten nicht mit der versilberten Fassung des großen Wandspiegels. Aber sei es auch darum – es fehlte ja nichts, was den Raum behaglich machen konnte; selbst ein großer, wenn auch etwas verblichener Teppich lag auf dem Boden, und unter dem Spiegel stand eine große, alterthümliche Uhr. Es folgte noch ein kleines, ebenfalls eingerichtetes Cabinet, von welchem eine Thür nach Vorsaal und Treppe führte. Hinter den Zimmern lagen drei Räume von gleicher Größe, deren Fenster in den Garten sahen und von denen das eine, tannene Möbeln und zwei Betten enthaltend, jedenfalls für die Dienerschaft bestimmt gewesen war.

„Potz tausend!“ sagte der Oberförster vergnügt lachend, „da finden wir ja eine Bescheerung, die unsere bescheidenen Seelen sich nicht einmal haben träumen lassen. Na, wenn das der Hochselige wüßte, er drehte sich in seinem zinnernen Grabe um. … Das sind lauter Dinge, die wir der pflichtvergessenen Seele einer Beschließerin oder dem ungetreuen Gedächtniß eines altersschwachen Haushofmeisters verdanken.“

„Aber dürfen wir sie denn auch behalten?“ fragten Frau Ferber und Elisabeth, die bis dahin vor freudiger Ueberraschung starr gewesen waren, wie aus Einem Munde.

„Ei freilich, liebe Frau,“ beruhigte der Vater, „Dein Onkel hat Dir das Schloß vermacht mit Allein, was es enthalte.“

„Und das ist wenig genug,“ grollte der Oberförster.

„Im Vergleich zu unseren Erwartungen aber eine wahre Fundgrube von Schätzen,“ sagte Frau Ferber, indem sie einen hübschen Glasschrank öffnete, der verschiedenes Porcellan enthielt, „und wenn mich damals, als ich noch hoffnungsmuthig und anspruchsvoll in’s Leben sah, der Onkel mit einem reichen Vermächtniß bedacht hätte, es würde mir sicher keinen größeren Eindruck gemacht haben, als in diesem Augenblick die unverhoffte Entdeckung, welche uns großer Sorgen enthebt.“

Elisabeth bog sich unterdessen aus dem Fenster des zuerst betretenen Zimmers und versuchte mit ihren Armen die Zweige zu trennen, welche die ganze Fensterreihe der Fronte vollständig verbarrikadirten und deshalb in den Zimmern gerade nur ein grünes Dämmerlicht zuließen. „Schade,“ meinte sie, das Ohnmächtige ihrer Anstrengung einsehend, „ein wenig Aussicht in den Wald hätte ich schon gern gehabt!“

„Glaubst Du denn,“ sagte der Oberförster, „ich würde Euch hinter dieser grünen Verschanzung stecken lassen, die jeden frischen Luftzug abwehrt? Dem soll heute noch abgeholfen werden, darauf verlasse Dich, Klein-Else.“

Sie gingen die Treppe hinab. Auch sie war in gutem Zustande und führte in eine große Halle, in deren Mitte eine ungeheure eichene Tafel, von hochbeinigen Stühlen umgeben, stand. Der Fußboden war von rothen Backsteinen, Wände und Plafond aber zeigten kunstvolle Holzschnitzereien. Dieser große Raum hatte außer vier Fenstern zwei Thüren, die sich gegenüber lagen; eine derselben führte in den Garten, die andere, die sich nur schwer öffnen ließ, aus einen schmalen, freien Platz, der sich zwischen das Gebäude und die äußere Mauer drängte. Hier hatten sich die Syringen und Haselsträucher ungemein üppig ausgebreitet, allein es gelang doch den Männern, einen Durchgang zu erzwingen und mit drei Schritten standen sie vor einem Pförtchen in der gegenüberliegenden Mauer, das hinaus in das Waldgestrüpp führte.

„Nun, sagte Ferber erfreut, „hier fällt auch das letzte Bedenken weg. Dieser Eingang ist viel werth. Wir brauchen nun nicht mehr durch die Höfe zu gehen, was jedenfalls sehr umständlich und immerhin gefährlich gewesen wäre.“

Noch einmal wurde die Wohnung durchschritten, die künftige Einrichtung derselben besprochen und der Maurer für morgen bestellt, damit er eines der Hinterzimmer zur Küche einrichte. Dann, nachdem man die Eichenthür, die nach dem großen Flügel führte, gehörig verrammelt und verriegelt hatte, wurde der Rückweg durch das Mauerpförtchen angetreten, ein Unternehmen, das für den Augenblick durch das dichte Gebüsch zwar sehr erschwert wurde, trotzdem aber doch dem ersten halsbrechenden Weg vorzuziehen war.

Als die Heimkehrenden den Garten des Forsthauses betraten, kam ihnen Sabine in Begleitung des kleinen Ernst, den man ihrer Obhut anvertraut hatte, erwartungsvoll entgegen. Sie hatte unter den Buchen auf einem weißgedeckten Tische den Nachmittagskaffee servirt und das schattige Plätzchen auf das Behaglichste eingerichtet, wollte nun aber auch wissen, wie man die Dinge droben gefunden, und schlug bei dem Bericht vor freudigem Erstaunen die Hände zusammen.

„Ach, du meine Güte!“ rief sie aus, „sehen der Herr Oberförster, daß ich Recht hatte?.… Ja, ja, die Sachen sind vergessen worden, und das ist auch gar nicht zu verwundern. Sowie der junge Herr von Gnadewitz unter die Erde gebracht war, ist der alte Gnädige über Hals und Kopf abgereist und hat alle Dienerschaft mitgenommen. Nur der alte Hausverwalter Silber ist zurückgeblieben; der war aber zuletzt ganz schwach im Kopfe und ein unmenschlich viel Zeug hat auch drunten im neuen Schloß gesteckt, da hatte er mehr als genug zu thun, daß ihm nichts unter der Hand wegkam, und da ist zuletzt das Alles da droben stehen geblieben und keine Menschenseele hat mehr davon gewußt. ... Du lieber Gott, ich habe ja jedes Stück davon unter den Händen gehabt und habe es abstäuben und putzen müssen ... Und vor der Uhr habe ich mich immer so gefürchtet denn, die spielt ein trauriges Stückchen, wenn sie schlägt und das klang so grausig durch die Stuben, wo ich mutterseelenallein hantiren mußte … Ja, damals war ich noch jung ... wo sind die Zeiten hin!“ –

Es folgte nun eine gemüthliche Stunde der Ruhe und des behaglichen Ueberlegens, während der Kaffee getrunken wurde. Weil Elisabeth gemeint hatte, sie könne sich nichts Schöneres denken, als zum ersten Mal am Pfingstmorgen da droben aufzuwachen, wenn die Kirchenglocken der umliegenden Dörfer hinauf klängen, eine Ansicht, die auch Frau Ferber theilte, so wurde beschlossen, die Renovirung mit allen Kräften schon morgen in’s Werk zu setzen, um das Beziehen der Wohnung bis zum Pfingstabend zu ermöglichen, und der Oberförster stellte alle seine Leute zur Verfügung.

Sabine hatte nicht weit von der Gesellschaft auf einer Rasenbank Platz genommen, um bei der Hand zu sein, wenn man etwas bedürfe. Um nicht ganz müßig zu bleiben, hatte sie ein paar Hände voll junger Möhren aus dem Beete gezogen, die sie eifrig schabte und putzte. Elisabeth setzte sich zu ihr und half bei der Arbeit [35] „Sie sind hier aus der Gegend,“ begann sie, „und wissen gewiß auch etwas von der Geschichte des alten Schlosses. Erzählen Sie mir davon ein wenig.“

„I nu freilich,“ entgegnete die alte Haushälterin. „Lindhof, wo ich geboren bin, hat ja den Herren von Gnadewitz seit undenklichen Zeiten gehört, und, sehen Sie, in so einem kleinen Orte, da dreht sich nachher Alles um die Herrschaft, der man unterthänig ist. Da geht nichts verloren, was Besonderes im Herrenhause vorfällt; das vererbt sich auf Kind und Kindeskinder, und wenn den vornehmen Leuten schon lange kein Zahn mehr wehe thut, da erzählen sich die Bursche und Mädchen im Dorfe noch ihre Geschichte.

Da war meine selige Urgroßmutter, die ich noch recht gut gekannt habe, die wußte Dinge, daß einem die Haare zu Berge standen. Sie hatte aber einen heiligen Respect vor denen auf Gnadeck und duckte mich mit ihren beiden zitternden Händen immer ganz tief auf den Boden, wenn die Herrschaft vorbeifuhr, denn ich war dazumal noch ein kleines Ding und konnte keinen rechten Knix machen … Sie wußte weit, weit in die uralte Zeit hinein die Namen von all’ den Herren, wie sie der Reihe nach da droben gehaust haben, und gar Vieles, was dort wider Gott und Recht geschehen ist.

Wie ich nachher auf das neue Schloß kam und die großen Säle fegen mußte, wo sie Alle abgemalt waren, von denen vielleicht jetzt kein Staubkörnchen mehr übrig ist, da habe ich manchmal dort gestanden und mich gewundert, wie sie doch ganz und gar nicht anders ausgesehen haben, als andere Menschenkinder auch, und haben doch ein Wesens von sich gemacht, als ob sie der liebe Gott in eigener Person auf die Welt ‘runtergebracht hätte. … Von Schönheit war bei den Weibern nicht viel zu sehen, desto mehr von seidenen Schleppen und Edelsteinen auf der Brust.

Unter den Männern war auch nur Einer, den ich gern ansehen mochte. Der hat aber gar ein liebes, treuherziges Gesicht gehabt und ein Paar Augen, so schwarz wie die Schlehen; und an dem ist’s auch wieder wahr geworden, daß der Beste am meisten zu leiden hat in der Welt. Von allen Anderen in der langen Reihe hat man nichts gewußt, als daß es ihnen gut gegangen ist ihr Lebelang… Viele davon haben Unglück genug in die Welt gebracht und haben sich doch nachher so ruhig auf ihr Sterbebett gelegt, als sei das Alles von Rechtswegen geschehen… Na, um wieder auf den Jost von Gnadewitz zu kommen, der hat ein recht trauriges Schicksal gehabt. Die Großmutter von meiner Urgroßmutter hat ihn selbst gekannt, als sie noch ein kleines Kind gewesen ist. Er hat dazumal nur der wilde Jäger geheißen, weil er den ganzen, geschlagenen Tag nicht aus dem Walde gekommen ist. Auf dem Bilde war er auch im grünen Rock gemalt und hatte eine lange, weiße Feder auf dem Hut, was mir immer so gefallen hat zu seinen kohlschwarzen, lockigen Haaren. Aber gut ist er gewesen und hat keinem Kinde was zu Leide thun mögen. Dazumal ist es den Leuten im Dorfe gar gut gegangen und sie haben gewünscht, es möchte immer so bleiben.

Aber auf einmal ist er eine Zeit fortgewesen; kein Mensch hat gewußt, wo er steckt, bis er endlich bei Nacht und Nebel wiedergekommen ist, ohne daß es Jemand gemerkt hätte… Von der Zeit an war er aber ganz verwandelt… Den Leuten in Lindhof ist zwar nichts entzogen worden, aber sie haben ihren Herrn nicht mehr zu sehen gekriegt. Er hat alle Dienerschaft fortgeschickt und ist im alten Schloß mutterseelenallein mit einem Lieblingsdiener geblieben. Da haben denn endlich die Leute viel gemunkelt von der schwarzen Kunst, die er da oben treibe, und hat sich kein Mensch mehr bei hellem, lichtem Tag auf den Berg getraut, geschweige denn in der Nacht… Die alte Großmutter ist aber in ihrer Jugendzeit gar ein keckes Ding gewesen und hat just erst recht ihre Ziegen bei den Schloßmauern grasen lassen… Nun, und da hat sie einmal ganz still und in Gedanken unter einem Baum gesessen und hat hinübergesehen nach der Mauer, wie die doch so hoch sei und was wohl dahinter stecken möchte. Und da ist mit einem Mal da droben ein Arm, so weiß wie Schnee, hervorgekommen, nachher ein Gesicht – die Großmutter hat erzählt, schöner sei das gewesen als Sonne, Mond und Sterne – und zuletzt hat mit einem Sprunge ein Mädchen droben gestanden, das hat die Arme in die Luft gestreckt, hat etwas gerufen, was die Großmutter nicht verstehen konnte, und wäre um ein Haar hinunter in das Wasser gesprungen, das dazumal um das ganze Schloß herumgelaufen ist. … Aber da hat auf einmal der Jost hinter ihr gestanden, der hat sie umfaßt und mit ihr gerungen und hat gebeten und gefleht, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen, und die kohlschwarzen Haare haben ihm vor Angst und Schrecken in die Höhe gestanden. Nachher hat er sie auf seinen Arm genommen, wie ein Kind, und weg waren sie von der Mauer… Dem Mädchen ist aber der Schleier vom Kopf gefallen und ist hinüber geflogen bis zu der Großmutter. Er ist wunderfein gewesen, und sie hat ihn voller Freude mit heimgenommen zu ihrem Vater; der hat ihn gleich voll Schreck in’s Feuer geworfen, weil es Teufelsspuk sei, und die Großmutter hat nie wieder auf den Berg gedurft.

Später – es ist wohl ein volles Jahr herumgewesen, seit der Jost auf Gnadeck so still gelebt hat – ist er auf einmal früh Morgens zu Pferde den Berg herabgekommen; aber Niemand hat ihn kennen mögen, so verfallen war sein Gesicht, und hat wohl noch viel blässer deswegen ausgesehen, weil er kohlschwarz angezogen war. Er ist langsam geritten und hat Jedem, der ihm begegnet ist, noch einmal traurig zugenickt. Dann ist er fortgewesen und ist auch nie wieder gekommen … er ist in der Schlacht erschossen worden, und sein alter Diener auch, der mit ihm war … es war dazumal der dreißigjährige Krieg.“

„Nun, und das schöne Mädchen?“ fragte Elisabeth.

„Ja, von dem hat Niemand weiter eine Spur gehört, noch gesehen… Der Jost hat auf dem Rathhause zu L. ein großes, versiegeltes Paket niedergelegt und hat gesagt, das sei sein letzter Wille. Man solle es aufmachen, wenn die Nachricht von seinem Tode käme. Aber da war eine große, große Feuersbrunst in L., viele Häuser, selbst die Kirchen und das Rathhaus mit Allem, was darin war, sind bis auf den Grund niedergebrannt, und das Paket natürlich auch mit.

In der letzten Zeit soll auch einige Mal der Pfarrer von Lindhof oben bei dem Jost gewesen sein. Der geistliche Herr hat aber still geschwiegen wie ein Mäuschen; und weil er alt war und bald darauf das Zeitliche segnen mußte, so hat er das, was er vielleicht da droben erfahren hat, mit in’s Grab genommen… So weiß nun kein Mensch, was es mit dem fremden Mädchen für ein Bewenden gehabt hat, und es wird auch wohl ein Geheimniß bleiben bis an den jüngsten Tag.“

„Na, genire Dich nur nicht, Sabine!“ rief der Oberförster herüber, indem er seine Pfeife ausklopfte, „es ist besser, die Else gewöhnt sich gleich von vornherein an den schauerlichen Schluß Deiner Geschichten – sag’s nur, denn Du weißt es ja doch ganz genau, daß das schöne Mädchen eines schönen Tages auf dem Besen zum Schornstein hinausgefahren ist.“

„Nein, das glaube ich nicht, Herr Oberförster, wenn ich auch –“

„Drauf schwöre, daß es in der Umgegend wimmelt von Solchen, die jeden Tag zum Scheiterhaufen reif wären,“ unterbrach sie der Oberförster. „Ja, ja,“ wandte er sich zu den Anderen, „die Sabine ist noch vom alten Thüringer Schlag. Es fehlt ihr sonst nicht an Verstand, und sie hat auch das Herz auf dem rechten Flecke; wenn aber der Hexenglaube bei ihr in’s Spiel kommt, da verliert sie Beides und ist im Stande, ein armes, altes Weib, weil es rothe Augen hat, von der Thür wegzuschicken, ohne einen Bissen Brod abzuschneiden.“

„Nu, so schlimm ist’s doch nicht, Herr Oberförster,“ entgegnete die Alte gekränkt, „ich gebe ihr zu essen, aber ich ziehe die Daumen ein und antworte weder ja, noch nein – und das kann mir kein Mensch verdenken.“

Alle lachten über dies Präservativ gegen das Behexen, welch’ ersteres augenscheinlich sehr ernst gemeint war. Die alte Haushälterin aber strich die Möhrenüberreste von der Schürze und erhob sich, um das Abendbrod für die Leute herzurichten, die heute früher essen sollten, denn bis zum Einbruch der Nacht gab es noch tüchtig zu thun im alten Schlosse.


4.

Als Elisabeth am anderen Morgen die Augen aufschlug, verkündete die große Wanduhr drunten in der Stube gerade die achte Stunde und überzeugte sie zu ihrem Verdruß und Schrecken, daß sie sich verschlafen habe. Daran aber war nichts schuld, als ein tiefer, häßlicher Morgentraum… Der goldene, poetische Duft, den ihre Phantasie gestern um Sabinens Erzählung gehaucht hatte, [36] war über Nacht zur trüben Wolke geworden, deren Druck noch im Augenblick des Erwachens auf ihr lastete… Sie war in Todesangst durch die wüsten, weiten Säle des alten Schlosses gelaufen, immer verfolgt von Jost, dem sich die Haare auf der todtblassen Stirn aufbäumten und der sie mit den schwarzen Augen anglühte, und hatte eben unter tiefem, nie empfundenem Grauen die Hände ausgestreckt, um ihn zurückzustoßen, als sie erwachte. … Noch klopfte ihr das Herz, und sie dachte mit Schauder an jene Unglückliche auf der Mauer, die vielleicht, ebenso gehetzt wie sie, verzweiflungsvoll den Tod suchte und in dem fürchterlichen Augenblick von dem Verfolger ergriffen wurde.

Sie sprang auf und kühlte sich das Gesicht in frischem Wasser; dann öffnete sie das Fenster und sah hinunter in den Hof. Dort saß Sabine unter einem Birnbaum, mit dem Butterfaß beschäftigt. Das ganze Hühnervolk hatte sich um sie geschaart und sah erwartungsvoll zu ihr empor, denn von dem großen Butterbrod, das neben ihr auf dem Steintisch lag, warf sie dann und wann einige Brocken auf den Boden, wobei sie nicht unterließ, die Unverschämten zu schelten und die Unterdrückten zu trösten.

Als sie das junge Mädchen erblickte, nickte sie freundlich und rief hinauf, Alles, was im Forsthaus Hände und Füße habe, arbeite seit sechs Uhr droben im alten Schlosse. Auf Elisabeth’s Vorwurf, weshalb man sie nicht geweckt, entgegnete sie, das sei auf den Wunsch der Mama geschehen, weil ihr Töchterlein sich in den letzten Wochen weit über seine Kräfte angestrengt habe.

Sabinens gutes, friedvolles Gesicht und die frische Morgenluft beruhigten Elisabeth’s Nerven augenblicklich und führten die Gedanken des jungen Mädchens in die Wirklichkeit zurück, die sich ja gerade jetzt so hell und rosig gestaltete… Sie gab sich unsägliche Mühe, sich selbst auszuschelten, daß sie, der väterlichen Ermahnung des Onkels entgegen, gestern bis um Mitternacht am Fenster gelehnt und über die mondbeglänzte Wiese in den schweigenden Wald hinausgesehen hatte. Allein der angeregten Phantasie gegenüber spielt der Verstand oft eine klägliche Rolle. Mitten in der Untersuchung verschwinden plötzlich Ankläger und Zeugen, er sieht sich allein auf seinem Richterstuhl und muß es sich sogar gefallen lassen, daß er hinter die Coulissen gesteckt wird, während um und neben ihm die Spectakelstücke der Phantasie von vorn anheben. Deshalb verstummten Elisabeth’s ärgerliche Betrachtungen auch sehr bald vor dem Bilde, das sich in einem Nu vor ihrem inneren Auge aufrollte und sie noch einmal den ganzen Zauber einer Mondnacht im Walde nachempfinden ließ.

Nachdem sie sich angekleidet und rasch ein Glas frische Milch getrunken hatte, eilte sie den Berg hinauf. Der Himmel war bedeckt, aber nur mit jener hellen, hohen Wolkenschicht, die zwar keinen goldenen, aber einen desto frischeren Frühlingstag verheißt. Deswegen dauerte auch heute das Morgenconcert der Vögel etwas länger und die Thautropfen schaukelten sich noch so voll in den Blumenkelchen, als sei ihr zartes Dasein für heute unantastbar.

Als Elisabeth in das weit offene Hauptthor des Schlosses trat, fiel ihr sogleich ein ungeheurer, grüner Hügel neben dem Brunnen in’s Auge. Es waren Distelbüsche, Farrenkrautbündel und Brombeerranken, die, ihrem alten, trauten Wohnplatz, dem Garten entrissen, hier ihr lustiges Leben verhauchen mußten. Der Weg durch den gewölbten Thorbogen des zweiten Hofes bis zur Gitterthür war mit verzetteltem Grünzeug bestreut, als sollte ein fröhlicher Hochzeitszug durch die Ruinen wandeln, und sogar an den Sims eines hohen Fensters, das droben in feinem Spitzbogen eine prächtige, durchbrochene Steinrosette mit Resten bunter Glasmalerei zeigte, hatten sich im Vorübertragen einige Ranken gehängt und legten ihr lebendiges Grün traulich neben die steinernen Kleeblätter der heiligen Dreifaltigkeit, die nicht verkennen ließen, daß der dunkle, wüste Raum da drinnen einst die Schloßcapelle gewesen war.

Der Garten, in welchem man gestern nicht zwei Schritte weit vordringen konnte, erschien dem jungen Mädchen völlig verwandelt. Ein beträchtliches Stück lag aufgedeckt und zeigte nun die Reste zierlicher Anlagen. Elisabeth konnte auf einem ziemlich gesäuberten Hauptweg, über den erschreckte Eidechsen blitzschnell huschten, bis nach dem grünen Damme gelangen, den man gestern von der Ferne aus entdeckt hatte. Zu beiden Seiten des langen, berasten Erdaufwurfes führten breite, ausgewaschene Steintreppen in die Höhe bis zu einer niedrigen Brüstung, über die man in den Wald und da, wo die Bäume ein wenig auseinander traten, hinunter in das Thal sehen konnte, wo das Forsthaus mit seinem blauen Schieferdach voll weißer Tauben behaglich auf der grünen Wiese lag. Zu Füßen des Walles, gerade da, wo der Hauptweg endete, befand sich ein kleines Bassin, in das eine grünbemooste Gnomengestalt einen starken, krystallhellen Wasserstrahl spie. Zwei Linden wölbten sich über dem rauschenden Brunnen und warfen ihren wohlthätigen Schatten auf die zarten Vergißmeinnicht, die hier massenhaft aus der feuchten Erde sproßten und das Bassin in dunkler Bläue umfingen.

Dem Damm gegenüber lag der Zwischenbau; er sah mit seinen zurückgeschlagenen Fensterläden und der großen offenen Thür im Erdgeschoß heute so hell und gastlich aus, daß sich Elisabeth freudig dem süßen Gefühl hingab, hier auf heimischem Boden zu stehen. Sie überblickte den Garten und dachte an ihre Kinderjahre, an jene Momente voll unbezwingbarer Sehnsucht, wo sie beim Spaziergang hinter den Eltern zurückblieb und, ihr Gesicht an das festgeschlossene Gitter gepreßt, in fremde Gärten hineinsah. Dort tummelten sich glückliche Kinder ungezwungen auf den Rasenplätzen; sie durften die aufgeblühten Rosen am Stock in ihre kleinen Hände nehmen und sich an dem Duft erquicken, so lange sie wollten… Und was mußte das für eine Lust sein, den kleinen Körper unter einen vollen Strauch zu ducken und gerade so im Grünen zu sitzen, wie die großen Leute in einer Laube! Damals blieb es bei Wunsch und Sehnsucht. Nie öffnete sich eine der geschlossenen Thüren vor dem Kind mit den bittenden Augen, und es wäre doch schon zufrieden gewesen, wenn man durch das Gitter einige Blumen in seine kleinen Hände gelegt hätte!

Während Elisabeth auf dem Wall stand, erschien der Oberförster an einem der oberen Fenster des Zwischenbaues. Als er das junge Mädchen erblickte, wie es, die zarte Gestalt an die Brüstung gelehnt und den schönen Kopf halb nach dem Garten gewendet, sinnend vor sich hinsah, da überflog ein unverkennbarer Ausdruck von Wohlgefallen und stiller Freude sein Gesicht.

Auch Else wurde den Onkel gewahr, nickte lustig ihm zu und lief schnell die Stufen hinab nach dem Hause. Da sprang ihr der kleine Ernst aus der großen Halle entgegen, und lachend fing sie ihn in ihren Armen auf.

Seiner enthusiastischen Beschreibung nach hatte der Kleine schon Unglaubliches geleistet. Er hatte dem Maurer, der den Heerd einrichtete, Backsteine zugetragen, war von Mama beim Ausklopfen der Betten beschäftigt worden und meinte mit großem Stolz, die Herren und Damen auf der wollenen Tapete sähen viel schöner und freundlicher aus, seit er mit der Bürste über ihre staubigen Gesichter gefahren sei. Er schlang entzückt die Arme um den Hals der Schwester, die ihn die Treppe hinauftrug, und hörte nicht auf, zu versichern, daß er es hier oben doch tausendmal schöner finde, als in B.

Der Oberförster empfing Elisabeth droben im Vorsaal. Er ließ ihr kaum Zeit, die Eltern zu begrüßen, und führte sie, ohne ein Wort zu sagen, in das Zimmer mit den Gobelins. … Welche Veränderung! … Das grüne Bollwerk vor dem Fenster war verschwunden, draußen, jenseits der äußeren Mauer, trat der Wald auf beiden Seiten coulissenartig zurück und gewährte einen vollen Einblick in ein weites Thal, das Elisabeth wahrhaft paradiesisch erschien.

„Das ist Lindhof,“ sagte der Oberförster und zeigte auf ein ungeheures Gebäude im italienischen Geschmack, das sich ziemlich nahe an den Fuß des Berges drängte, auf welchem Gnadeck lag. „Ich habe Dir hier etwas mitgebracht, das Dir sofort jeden Baum drüben auf den Bergen und jeden Grashalm drunten auf den Wiesen vorführen wird,“ fuhr er fort, indem er dem jungen Mädchen ein gutes Perspectiv vor die Augen hielt.

Da rückten die gewaltigen, ernsten Bergkuppen herüber, deren granitne Gipfel hie und da den Wald zerrissen und auf ihrer äußersten Spitze eine einsame Tanne gen Himmel streckten. Hinter diesen nächsten Bergen thürmten sich zahllose bewaldete Rücken im blauen Dämmerlichte, und aus einem fernen dunklen Thale, das nur wie ein tiefer Einschnitt zwei Bergriesen voneinander trennte, tauchten zwei schlanke, gothische Thürme bleich und nebelhaft empor. Ein kleiner Fluß, eine von Pappeln eingefaßte Chaussee und mehrere schmucke Dörfer belebten den Hintergrund des Thales; vorn lag das Schloß Lindhof, umgeben von einem im grossartigsten Style angelegten Park. Unter den Fenstern des Schlosses breitete sich ein weiter, kurzgeschorener Rasenplatz aus,

[37]

Leßmann am Sarge seiner Braut.


auf dem kleine, wunderlich geformte Beete in feuriger Tulpenpracht hingestreut lagen. Elisabeth’s Blick schweifte darüber hinaus und tauchte erquickt in das geheimnißvolle Dunkel einer Allee prächtiger Linden, deren Kronen sich dicht über den braunen Stämmen wölbten, während einzelne schwere untere Zweige ihre breiten Blätter zwanglos auf den Kies niederhingen. Bisweilen streckte ein Schwan seinen weißen Hals neugierig in den Schatten der Allee, wobei seine Flügel einen blitzenden Regenschauer an die alten Stämme schleuderten – ein klarer, kleiner See schmiegte sich dicht an ihre Füße; er lag in diesem Augenblick ziemlich melancholisch in seinem blumengeschmückten Ring denn ein bewölkter Himmel spiegelte sich in seiner Fläche.

Hatte Elisabeth das Fernrohr bis dahin rastlos von einem Gegenstand zu dem andern wandern lassen, so suchte sie jetzt einen festen Halt und Stützpunkt für dasselbe; denn sie hatte eine Entdeckung gemacht, die ihr Interesse in hohem Grade fesselte.

[38] Unter dem letzten Baum der Allee stand ein Ruhebett. Eine junge Dame lag darauf; sie hatte den reizenden Kopf zurückgelehnt, so daß ein Theil ihrer langen, kastanienbraunen Locken über das Polster herabfiel. Unter dem Saum des langen, weißen Mouslinkleides, das die ganze Gestalt bis an den Hals züchtig verhüllte, erschienen zwei zarte Füßchen in goldglänzenden Saffianschuhen. Die Dame hielt zwischen den feinen, fast durchsichtig mageren Fingern einige Aurikeln, welche sie gedankenlos unaufhörlich hin und her drehte. Nur auf den schmalen Lippen lag ein schwacher Anflug von Roth, sonst war das Gesicht lilienweiß, man hätte sich versucht fühlen können, seine Lebenswärme zu bezweifeln, hätten nicht die blauen Augen in einem wundersamen Ausdruck geleuchtet. Diese Augen mit diesem Ausdruck aber waren auf das Gesicht eines Mannes gerichtet, der, gegenübersitzend, ihr vorzulesen schien. Elisabeth konnte sein Gesicht nicht sehen, denn er wendete ihr den Rücken zu. Er schien jung, groß und schlank zu sein und hatte üppiges, dunkelblondes Haar.

„Ist die reizende Dame da drunten die Baronin Lessen?“ fragte Elisabeth gespannt.

Der Oberförster nahm das Perspectiv. „Nein,“ sagte er, „das ist Fräulein von Walde, die Schwester des Besitzers von Lindhof. Du nennst sie reizend, und ihr Kopf ist es auch, aber ihr Körper ist krüppelhaft – sie geht an der Krücke.“

(Fortsetzung folgt.)




Jude und Dichter.
Eine Erinnerung an Daniel Leßmann.


Vor einem ansehnlichen Hause in Berlin, welches, einem reichen Rentier gehörte, stand der junge Doctor der Medicin Daniel Leßmann und blickte zu demselben mit forschenden Blicken hinauf. Bald bemerkte er an dem Fenster der ersten Etage einen reizenden Mädchenkopf, der freundlich seinen ehrerbietigen Gruß erwiderte und sich dann erröthend wieder schnell zurückzog, worauf der Herr Doctor mit einem zufriedenen Lächeln seinen Weg fortsetzte und seine nicht eben allzu zahlreichen Patienten besuchte. Sobald er von der keineswegs lohnenden Praxis in seine Wohnung zurückgekehrt war, ergriff er die geliebte Feder und schrieb nicht sein Krankenjournal, sondern ein glühendes Lied an die Geliebte, jenen feurigen Dithyrambus, der später unter dem Titel „Venus Amathusia“ im Druck erschienen ist. Wie der Regimentschirurgus Schiller, war auch Leßmann Militärarzt gewesen und hatte in den Befreiungskriegen sich in seinem Berufe ausgezeichnet. Bei Lützen verwundet, hatte er nach seiner Genesung die Leitung eines Lazarethes übernommen. Unter den patriotischen Frauen und Mädchen, die sich in jener Zeit der Pflege der Verwundeten und Kranken widmeten, hatte er die liebenswürdige und geistvolle Marie, die Tochter eines vermögenden Berliner Hausbesitzers, kennen und, was dasselbe war, auch lieben gelernt. Sie erwiderte seine Neigung und der junge Arzt erwartete mit Ungeduld den Frieden, um sich mit der Geliebten seines Herzens zu verbinden, indem er auf seine wohlverdiente, mit seinem Blute theuer erkaufte Beförderung sicher rechnete.

Aber der Friede kam und Leßmann’s Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung. Der junge Arzt erhielt statt der erwarteten Beförderung seinen unerwarteten Abschied, nicht weil er unfähig oder untüchtig, sondern einzig und allein weil er – ein Jude war. Wie Hunderte von seinen armen Glaubensgenossen, war auch er begeistert bei dem ersten Auflodern des Volksgeistes in den Freiheitskampf geeilt, hatte er freiwillig Blut und Leben dem Vaterlande geweiht, an der Seite seiner christlichen Brüder muthig geduldet und gestritten und jedes Opfer der großen, heiligen Sache dargebracht. Wie die Meisten seines Volkes glaubte er, mit seinem Blute das alte Vorurtheil auszulöschen und sich das Bürgerrecht mit dem Einsatz seines Lebens zu erkaufen; wie sie, hoffte er auf eine neue Zeit, wo die Schranken schwinden, die mittelalterlichen Bande zerreißen und der Geist der Liebe die finsteren Satzungen der Kirche und des Staates für immer stürzen würde. Aber wie Hunderte von seinen Glaubensgenossen sah er sich schmerzlich getäuscht und in seinen Erwartungen betrogen.

Kaum war der Kampf beendet, so erhob sich das Gespenst der Reaction und spottete der höchsten Begeisterung. Die Völker wurden, nachdem sie ihre Fürsten gerettet, zur Ruhe verwiesen oder mit leeren und eitlen Worten vertröstet, die heiligsten Versprechungen und Eide nicht beachtet, die Mahnungen des Gewissens mit frivolen Festen und militärischem Schaugepränge übertäubt. Jede Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit galt für ein Verbrechen, und jedes Verlangen nach Freiheit wurde von den Dienern und Werkzeugen der Macht zum Hochverrath gestempelt; die muthige Jugend, welche der allgemeinen Enttäuschung und Entrüstung Worte lieh, sah sich verfolgt, geächtet und von Kerker zu Kerker geschleppt. Auch die Hoffnungen der jüdischen Bevölkerung gingen zu Schanden. Nach wie vor lastete auf ihr der alte Fluch des Vorurtheils, fand sie sich in die kaum gesprengten Fesseln von Neuem geschlagen, mußte sie wieder ihren gerechtesten Forderungen und Ansprüchen entsagen. Unter nichtigen Vorwänden wurden die jüdischen Krieger gleich nach beendigtem Feldzuge entlassen, die Officiere ohne Pension nach Hause geschickt, die Beamten ohne jede Entschädigung verabschiedet. Dazu kam noch, daß das frühere Vorurtheil mit erneuerter Kraft sich regte, als die läuternde, alle Stände und alle Religionen zu einem heiligen Bund verschmelzende Flamme der Begeisterung erloschen war.

Unter diesen Verhältnissen sah sich auch der arme Daniel Leßmann gezwungen, wenn auch nicht auf seine Liebe zu verzichten, doch seine beabsichtigte Verbindung vorläufig noch zu verschieben. Er wollte erst sich durch seine Kenntnisse und seine anerkannte Tüchtigkeit eine unabhängige Stellung erwerben und dann die Hand der Geliebten von ihrem Vater verlangen. Vier Jahre waren seitdem vergangen, aber er sah sich noch immer von seinem Ziele fern, da es in Berlin nicht an Aerzten fehlte und er nicht die Fähigkeit besaß, durch die bekannten Kunstmittel und Schleichwege so vieler seiner Collegen zur Praxis zu gelangen. Indeß gab er die Hoffnung nicht auf; er vertraute auf seine wissenschaftliche Tüchtigkeit und auf die Treue der Geliebten, die trotz aller Hindernisse nicht wankte und nicht von ihm ließ.

Aber noch eine Trösterin hatte er in jenen trüben Tagen in sich selbst gefunden – die Poesie. Die Liebe hatte den dichterischen Funken in ihm geweckt und sein ihm selbst bis jetzt unbekanntes Talent entfaltet, wie das goldene Sonnenlicht die schlummernden Knospen und Blüthen zum Leben ruft. Seine schüchternen Versuche wurden mit Beifall aufgenommen und seine bescheidene Muse erwarb ihm einflußreiche Freunde und Gönner, die ihm wohl wollten. Die Stelle eines jüdischen Hospitalarztes, um die er sich beworben hatte, wurde ihm auf die besondere Verwendung des ihm günstig gesinnten Vorstehers zuerkannt und der damit verbundene mäßige Gehalt setzte ihn jetzt in den Stand, sein Hauswesen zu begründen und um die Hand der Geliebten anzuhalten. Mit klopfendem Herzen trat er vor ihren Vater und brachte seine Werbung an. Er war auf Widerstand gefaßt, da die Eltern seiner Marie nicht frei von dem allgemeinen Vorurtheile und außerdem noch stolz auf ihren Reichthum waren. Aber er wußte, daß sie ihre einzige Tochter über Alles liebten, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen suchten, und er rechnete daher auf die wenn auch immer zögernde und bedingte, Einwilligung des Vaters, auf die Zustimmung der ihm sonst geneigten Mutter. Seine Voraussetzungen erwiesen sich jedoch auch hier als eine bittere Täuschung; er wurde zurückgewiesen und zwar in einer Weise, die ihn doppelt verletzen, ihm für immer jede Hoffnung rauben mußte. Jude und Dichter – das war es, was man ihm zum Vorwurf, fast zum Verbrechen machte. Es war eine unverzeihliche Vermessenheit, daß ein Jude, ein armer Dichter, es wagte, seine Augen zu einer Christin, zu der Tochter eines reichen und angesehenen Rentiers, emporzuheben. Das grenzte an Wahnsinn, wenn es nicht noch etwas Schlimmeres war. Vergebens bat und flehte die treue Marie, umsonst beschwor sie ihre Eltern, gestand sie ihnen ihre heiße, unerschütterliche Liebe, erklärte sie, nie einem anderen Manne [39] anzugehören; ihre Eltern blieben hart wie Stein und ließen sich weder von ihren Bitten, noch von ihren Schwüren rühren. Mit gebrochenem Herzen schieden die Liebenden, welche das Vorurtheil gewaltsam auseinanderriß und der Glaube trennte.

Trotzdem Daniel Leßmann ein Jude war, stand er, wie die Mehrzahl seiner gebildeten Glaubensgenossen, durchaus auf dem Standpunkte einer in Wahrheit christlichen Weltanschauung und Gesittung, das heißt, auf dem Standpunkte der reinsten Duldung und Liebe, indem er vollkommen den großen Fortschritt anerkannte, der mit Jesu Lehren und Beispiel in die Welt gekommen. Zugleich aber verschloß er seine Augen nicht vor den Mißbräuchen der sogenannten christlichen Kirche. Vielleicht ein besserer Christ, als Viele, die diesen Namen führten, konnte er sich eben deshalb nicht zur Taufe entschließen. Auch hielt er es für schimpflich, die Fahne seiner Glaubensbrüder in dem Augenblick zu verlassen, wo sie neue Bedrückungen erwarteten, noch schimpflicher aber erschien ihm der Uebertritt zu einer anderen Confession um irdischer Vortheile willen. Aus diesen Gründen blieb er der Religion seiner Väter treu und brachte dieser seiner Ueberzeugung das größte Opfer – seine Liebe, dar.

Zugleich aber verließ er Berlin, indem er auf die ihm angebotene Stelle eines jüdischen Hospitalarztes verzichtete. Mit glänzenden Empfehlungen versehen, begab er sich zunächst nach Wien, wo er längere Zeit in dem Hause des Grafen O’Donnel eine seinem Wissen und seiner Bildung angemessene Stellung als Erzieher von dessen Kindern fand. Sein dichterisches Talent, seine angeborene Liebenswürdigkeit eröffneten ihm die besten und vornehmsten Kreise, aber die Gesellschaft hatte keinen Reiz für ihn, er konnte die Geliebte und seinen Schmerz um sie nicht vergessen. Unter dem blauen Himmel Italiens suchte er Genesung für sein krankes Herz, Trost und Heilung in dem Anblick der Schönheit, die ihm verkörpert in den Meisterwerken der Kunst und Poesie eines hochbegabten Volkes entgegentrat. Auch die wieder erwachte neuere Literatur des jungen Italiens, die Vorläuferin der nachfolgenden politischen Bewegung, zog ihn mächtig an, vor Allem das Talent Manzoni’s, dessen berühmten Roman „die Verlobten“ er meisterhaft in’s Deutsche übertrug und seinen Landsleuten erschloß. Seine eigene Schöpferkraft wurde wieder angeregt und er entwarf oder schrieb auf dem classischen Boden der Geisterheimath eine Reihe von Novellen, welche mit Unrecht vergessen worden sind, da sie viele berühmte und vielbändige Romane der Gegenwart durch Tiefe der Empfindung, Feinheit des psychologischen Blicks und Poesie der Sprache bei Weitem übertreffen. Aber Leßmann hatte kein Glück, weder im Leben noch im Tode. Mitten in diesen Beschäftigungen, durch die er den Frieden seiner Seele wieder zu gewinnen hoffte, traf ihn eine Nachricht wie ein jäher Blitz aus heiterem Himmel. Marie, die unvergeßliche Geliebte seines Herzens, war erkrankt, verzehrt von Sehnsucht und Gram um den Abwesenden. Die Berliner Aerzte hatten die Ursache ihrer Leiden, eines langsamen Dahinschwindens, richtig erkannt und den betrübten Eltern die Wiedervereinigung mit dem Geliebten als das einzige, wenn auch zweifelhafte Mittel zu ihrer Rettung und zur Erhaltung ihres bedrohten Lebens angerathen.

Jetzt schrieb ihm selbst der harte Vater und bat ihn, so schleunig wie möglich zurückzukehren, um die zärtlich geliebte Tochter dem sicheren Tode zu entreißen; jetzt flehte die arme Mutter ihn mit den rührendsten Worten an, Alles zu vergessen und das theuere Leben ihres Kindes zu retten. Aber zugleich beschworen sie ihn, noch immer von dem alten Vorurtheil erfüllt, seine Religion zu verlassen und das Christenthum anzunehmen, da sich sonst der von ihnen nun selbst gewünschten Verbindung unüberwindliche Schwierigkeiten auch von Seiten der staatlichen Gesetze und Einrichtungen entgegenstellen möchten. Unter diesen Umständen glaubte Leßmann seinen Widerstand aufgeben zu müssen, da ihm ohnehin die Formen der Religion gleichgültig schienen. Dennoch entschloß er sich nur ungern zu dem ihm zugemutheten Schritt, mit allen Erinnerungen seiner Jugend zu brechen und die vielfachen Wurzeln, welche ihn noch immer mit dem Glauben und der Ueberlieferung seiner Väter verbanden, gewaltsam zu zerreißen. Aber die Liebe forderte das Opfer; seine sterbende Braut streckte verlangend ihre Hände ihm entgegen, und er schwankte nicht länger. Leßmann wurde Christ, nicht um einen irdischen Vortheil zu erreichen, sondern aus reinster, hingebendster Liebe.

Ohne Aufenthalt eilte er nach Berlin zurück, fortwährend umschwebt von dem Bilde der kranken Braut, schwankend zwischen seliger Hoffnung und banger Furcht. Ohne Ruh und Rast stürmte er bei Tag und Nacht, von einer inneren Angst getrieben, seinem Ziel entgegen, bis er es erschöpft und todesmüde endlich erreichte. Mit bebenden Knieen stürzte er nach dem ihm bekannten Hause, eilte er die Treppe hinauf. Sein Herz drohte zu springen, seine Glieder zitterten, und er mußte sich vor Erregung und Schwäche an der Thürpfoste halten. Niemand kam ihm entgegen, Keiner begrüßte den heimgekehrten Wanderer. Eine furchtbare Ahnung stieg in seiner Seele auf. Wenn er doch zu spät gekommen, wenn Marie –

Er wagte den entsetzlichen Gedanken nicht auszudenken, indem er seiner eigenen Furcht zu spotten versuchte. Noch stand er auf der Schwelle, die er nicht zu überschreiten den Muth hatte, um zu lauschen. Alles still, todtenstill!

Länger duldete es ihn nicht, mit einer gewaltsamen Anstrengung riß er sich aus seiner Schwäche auf und öffnete die Thür. Sein Blick fiel auf einen schwarzen Sarg und mit einem lauten Schrei sank er zu den Füßen der todten Marie. Sie war an demselben Morgen, wo er heimgekehrt, ihren Leiden erlegen, ihr letztes Wort, ihr letzter Hauch war sein Name gewesen! Und nun lag sie im weißen Kleide da, eine bleiche, vom Sturm geknickte Lilie, mit verklärten Zügen, die Hände auf der Brust gefaltet, das blonde Haar mit dem jungfräulichen Myrthenkranz geschmückt, Beide der vorzeitigen Verwesung geweiht, eine Beute des Grabes, ehe sie geblüht und Frucht getragen. Mit heißen Thränen benetzte der Unglückliche ihre bleichen Wangen, küßte er den selbst im Tode noch lächelnden Mund. Wie in einen Nebel gehüllt erblickte er dann die gebeugten Eltern, wie im Traume hörte er sie sprechen, klagen und weinen, schwankte er an ihrer Seite nach dem Kirchhof, sah er, wie der Sarg mit der Leiche der Geliebten in die dunkle Tiefe sank, wie Scholle auf Scholle niederfiel und der Hügel sich emporwölbte, der sein Glück, sein Leben, sein Höchstes barg. –

Daniel Leßmann lebte noch mehrere Jahre nach dem Tode seiner Geliebten in Berlin; er starb nicht gleich an gebrochenem Herzen, was auch lange nicht so häufig vorkommt, wie manche empfindsame Leute glauben oder Andern glauben machen wollen. Er verkehrte sogar wieder mit der Welt, die ihn für einen Sonderling hielt; er besuchte Gesellschaften, in denen er sich langweilte, und schrieb Bücher, die zu ihrer Zeit zwar gelesen, von der Kritik gelobt, aber vom Publicum nicht gekauft wurden, so daß es ihm schwer wurde, einen Verleger für seine Arbeiten zu finden. Allerdings hatten diese den Fehler, poetisch zu sein, während in jenen flachen Tagen die sogenannten Gebildeten und besonders die Damen für die Prosa des damals sehr berühmten und jetzt ebenfalls vergessenen Herrn Clauren schwärmten, dessen „Vergißmeinnicht“ lustig in dem Sumpf der Reaction blühte, während die Novellen und Romane des armen Leßmann ein ebenso kümmerliches Dasein wie ihr Verfasser führten und nicht in dem Moder jener corrumpirten Gesellschaft Wurzel fassen wollten. Außerdem waren seine Erzählungen meist so traurig und endeten fast immer ohne Hochzeitsschmaus, so daß die Leser sie, wie man zu sagen pflegt, gewöhnlich „unbefriedigt“ aus der Hand legten. Auch „das Tagebuch eines Schwermüthigen“ schreckte schon durch seinen bloßen Titel zurück und war leider mit dem Herzblut des Dichters geschrieben. Kurz, der arme Leßmann hatte kein Glück, weder in der Liebe, noch in der Literatur, und Niemand kümmerte sich viel um ihn.

Nur noch einmal wurde sein Name genannt, als er nämlich eines Tages aus dem Wege nach Leipzig zwischen Kroppstädt und Wittenberg an einem Baum hängend gefunden wurde. In den Taschen seines abgetragenen Ueberziehers steckte kein Geld, aber ein Manuscript, das er vergebens verschiedenen Buchhändlern angetragen hatte; auf seiner Brust ruhte eine goldene Kapsel mit einer blonden Locke vom Haupte der todten Marie.

Max Ring.



[40]
Der Schmuck des Meeres.
Von Carl Vogt.
I.


„Welch’ sonderbares Fahrzeug liegt denn dort?“ sagte einer meiner Freunde, mit dem wir einst in heiterer Gesellschaft über die reizende Bucht von Villafranca bei Nizza setzten, um dann in dem Schatten der hohen Oelbäume von St. Hospice den Sonntag zu verbummeln und eine Fischsuppe von selbstgeangelten Klippfischen, Langusten und Tintenfischen zu verzehren, „welch sonderbares Fahrzeug! Seht einmal das große lateinische, Hauptsegel und den kleinen Fock, die sie aufgezogen haben, obgleich sie vor Anker zu liegen scheinen, und das senkrechte Bugspriet, das wie ein Kamm hervorsteht und oben eine Weltkugel mit ein paar Heiligenfiguren darüber zu tragen scheint. Ich glaube gar, unten daran sind zwei große Augen gemalt! Wollen wir es nicht näher ansehen?“

„Es ist eine Koralline,“ antwortete der Abbé, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen, „eine kleine Tartane, die zur Korallenfischerei gestern hier angekommen ist – arme Leute! Sie werden noch Zeit genug haben, sie zu sehen, denn sie bleiben ein paar Wochen hier, fischen gar nichts, verzehren das Bischen, was sie bei sich haben, und werden am Ende die Koralline versetzen oder verkaufen müssen, um Reisegeld nach Hause zu finden!“

„Sie wollen den großen Korallenbaum holen, Herr Abbé,“ sagte unser Fährmann“, „Sie wissen ja, der da unten in der tiefen Grotte am Mont Alban steckt!“

„Warum nicht gar, Gennajo,“ antwortete der Abbé „habt Ihr ihnen denn nicht gesagt, daß nichts da sei und daß noch kein Mensch eine Spur von dem verzauberten Korallenbaume gesehen hat? Stellt Euch vor, Ihr Herren, daß da unten in einer Tiefe von hundert Faden ein Korallenbaum in einer Grotte stecken soll, dick wie ein Eichbaum, der seine Aeste herausstreckt, wenn keine Gefahr droht und sie geschwind zurückzieht, wie ein Tintenfisch, wenn ein Netz in die Nähe kommt. So geht hier die Sage und man kann sie unseren Dickköpfen nicht ausreden,“ fügte er in gutem Französisch hinzu, damit ihn der Fährmann nicht verstehe, „und sie glauben ebenso fest daran, wie an die Madonna, weil sie sich eingeredet haben, das Korall[1] sei in dem Wasser weich und biegsam und werde erst vor Schreck hart, wenn es an die Oberfläche gezogen werde!“

„Wo kommen sie denn her, Gennajo?“

„Von Torre del Greco,“ antwortete dieser, „und der Patron hat sich zwei recht große Augen vorn an den Bug malen lassen, um anzuzeigen, daß er tiefer in’s Wasser sehen könne, als die Anderen. Er will nicht eher wieder fort, als bis er den Korallenbaum gefischt hat, der ihn reich machen soll.“

Der Abbé tauchte die Hand in’s Wasser und ließ die Tropfen durch die Finger laufen, als suche er kleine Meerthierchen abzusieben. „Sie wollen an Bord der Koralline, Professor,“ frug er, „Sie werden heute nicht viele Carmarine[2] finden. Ich sehe keine Courants in der Bucht!“

Die Gelegenheit durfte aber doch nicht versäumt werden. Ich suchte Bekanntschaft mit dem Patron der Tartane zu machen, einem älteren Manne mit wettergefurchtem Gesichte, der anfangs zwar mit äußerstem Mißtrauen jeder Frage auswich, später aber etwas mehr kirre wurde. Denn hier kam es ja nicht darauf an, den Ort zu verheimlichen, wo sie fischten, noch die Concurrenten zu täuschen, da keine vorhanden waren. An den Küsten von Algier, besonders in dem östlichen Theile der Regentschaft bei Bona, bei la Calle, wo mehrere hundert Korallinen aus Neapel, Toscana, Sardinien und Sicilien ihre Fischerei treiben, hängt Alles von der Geschicklichkeit des Patrons ab, sogenannte Korallenbänke, das heißt, unterseeische Felsen aufzufinden, auf welchen Korallen angesiedelt sind, und den Ort, wo er diese gefunden hat, seinen Concurrenten zu verbergen. Viele dieser Leute besitzen eine außerordentliche Geschicklichkeit, weit draußen im Meer, wo sie kaum die Küste noch erblicken können, ohne Compaß noch Fernrohr, einen beschränkten Raum wieder und immer wieder aufzufinden, wo in der Tiefe eine neue, noch nicht ausgefischte Bank liegt, welche starke Korallenstämme enthält, und die Kosten, welche von ihnen aufgewendet, die Lügen, welche aufgetischt, und das Schweigen, welches beharrlich den Fragen entgegengesetzt wird, sind nach dem Sprüchwort ebenso unergründlich, wie die Tiefe, in welche sie ihre Netze senken. Hier aber waren diese Vorsichtsmaßregeln, wie der Patron wohl einsah, vollkommen unnöthig. Jedes Kind in Villafranca kennt die Stelle an der Felswand des Mont Alban, wo der zauberische Korallenbaum in der Grotte sich befinden soll, und die Bucht selbst läßt sich so leicht übersehen, daß keine Möglichkeit der Verheimlichung ersichtlich war.

Es war eine kleine Koralline von höchstens fünf Tonnen. Größere, bis zu sechszehn Tonnen Gehalt, gehen an die afrikanische Küste, wo jetzt die schwunghafteste Fischerei getrieben wird und nach den letzten Nachrichten etwa vierhundert Fahrzeuge, meist aus Neapel, zum Betriebe ihres Gewerbes angekommen sind. Der Patron war selbst Besitzer seines Fahrzeuges; sein Junge, ein Bursche wie ein Affe gelenkig, war Schiffsjunge und drei Matrosen halfen zur Handhabung des Netzes und der Segel. So waren sie, gelockt von der Sage von dem wunderbaren Korallenbaume, aus dem Süden heraufgekommen, ohne Compaß noch Schiffsbuch, mit keinem anderen Proviant versehen, als der unvermeidlichen Galetta (weißes Biscuit) und Wasser, denn gekocht wird an Bord einer Koralline nie, und wenn ein paar Zwiebeln und einige Stockfische in einem besonderen, nur dem Patron zustehenden Verschlusse sich finden, so gilt dieser für einen Lebemann und Feinschmecker!

Harte und schwere Arbeit haben diese Fischer, ärgere, als die eines Galeerensclaven! Hinten an dem Schiffe hängt das Netz, an einem dicken Tau befestigt, welches über eine Winde läuft, die von den Matrosen gehandhabt wird. Der Patron sitzt am Steuer, die eine Hand hält das Tau, welches an seinem Schenkel herabläuft, häufig auch, wo es genauer Fühlung bedarf, auf das Bein selbst genommen wird, das eine Lederschürze gegen die Reibung schützt.

Das Netz selbst ist ein seltsames Ding. Ein Holzkreuz aus zwei dicken, je nach der Größe des Schiffes sechs, zwölf und mehr Fuß langen Stäben zusammengesetzt, an denen erst die eigentlichen Netze hängen. In der Mitte, wo die Stäbe sich kreuzen, ist in einem kleinen Beutel ein gewaltiger Stein, eine Kanonenkugel, ein Bleistück angebracht; jetzt wird dieses Gewicht meistens durch ein Eisenkreuz ersetzt, dessen gleichlange Arme aber hohl sind und die Holzstäbe aufnehmen können, so daß zugleich ihre Festigkeit vermehrt wird. Die Flatternetze, welche eigentlich den Fang besorgen und an dem Stabkreuze aufgehängt sind, bestehen theils aus großmaschigen Stücken, aus fingerdicken Fäden zusammengesetzt, theils aus alten Sardellennetzen, die zum gewöhnlichen Fischfang nicht mehr brauchbar sind; sie hängen oft zwanzig und mehr Fuß lang herab, und je verwickelter sie sind, je leichter sie sich im Wasser in eine Menge von Flocken und Netzstücken auflösen, desto besser entsprechen sie ihrem Zwecke. An den größeren Netzen werden zwischen den Armen des Holzkreuzes noch Taue gespannt, an welchen ebenfalls solche Flatternetze hängen, und in der Mitte, unter dem Steine oder dem Eisenkreuze, sind die längsten Flatternetze angebracht, welche von den Fischern scherzweise „der Fegfeuer-Schwanz“ genannt werden. So sieht denn die ganze Maschine einem gewaltigen Wallkopfe ähnlich, wie ihn die Matrosen zum Waschen des Deckes brauchen. Die Flatternetze zerreißen ziemlich leicht – haben sie nichts Anderes zu thun, so sind die Matrosen beständig beschäftigt, aus einem großen Vorrath von Hanf, alten Seilen und Netzen neue anzufertigen, wobei sie eine melancholische Barcarole singen oder Galetta kauen – fast glaube ich, sie kauen selbst im Schlafe. Unser Patron hatte noch ein anderes Instrument, eine Art einarmigen Löffels, aus einem langen Arme bestehend, der am Ende einen breiten Eisenring mit seitlichen Löchern trug, unter welchem Flatternetze aufgehängt waren; am anderen kürzeren Ende war eine Kanonenkugel befestigt, die den langen Arm wagerecht hielt. Damit wollte er in die Grotte dringen und den Korallenbaum von der Wurzel losreißen. Aber das Ding machte ihm viel Schwierigkeiten, denn die Strömungen drehten es trotz [41] der beiden Taue, an denen es hing, beständig herum, so daß der Löffel nach dem Meere hin sich stellte, und der geringste Wind verwirrte Seile und Löffel derart, daß das Aufwinden eine schwierige Sache wurde.

Sobald der Korallenfischer sich auf einer Bank glaubt, wird das Netz ausgeworfen. Bei ruhiger See breiten sich die Flatternetze nach allen Seiten aus und langsam sinkt die Maschine auf den Boden, oft in eine Tiefe von sechszig bis hundert Faden. Die Segel werden nach dem Winde gestellt, der Patron faßt das Tau, die Matrosen stehen an der Winde, an den Rudern oder den Zugseilen der Segel, um jeden Befehl augenblicklich ausführen zu können. Es gilt, die auf dem Boden festsitzenden Korallenstämme in die Flatternetze zu verwickeln, sie abzubrechen, auszureißen oder selbst mit den Felsstücken, an denen sie festsitzen, in die Höhe zu winden. Hat das Netz gefaßt und eingesackt, so wird das Steuer

Korallen-Netz von der Seite.

entbehrlich, der Patron beschäftigt sich nur mit dem Tau. Das Schifflein, vom Winde oder den Rudern langsam, aber mit Anstrengung getrieben, springt vor- und rückwärts, je nachdem das Netz unten faßt oder losläßt. Der Patron fühlt am Tau jeden Widerstand, jede einzelne Bewegung, er commandirt in einem fort: „Laßt los!“ „Vorwärts!“ „Links!“ „Rechts!“ „Laßt nieder!“ Die Arbeit ist anstrengend, den Burschen läuft der Schweiß über den Rücken herunter. Zuweilen bleibt das Netz stecken in Klüften, so daß man von allen Seiten her den Zug versuchen muß, um es zu lüften; dann wieder sucht man in eine Schlucht, unter einen überhängenden Felsen hineinzukommen, denn da wachsen die schönsten und werthvollsten Stämme! So ist denn ein jeder solcher Zug – und man wiederholt ihn wohl zwanzig Mal im Tage – eine Reihe der lebhaftesten Scenen, der mannigfachsten Manöver und der wechselndsten Stellungen der Mannschaft, wohl werth, im Bilde vervielfältigt zu werden.

Endlich glaubt der Patron, daß das Netz hinlänglich gearbeitet habe; Die Matrosen, die beständig im Tacte durch die Zähne pfeifen, greifen zu den Speichen der Winde, mit einem letzten Ruck wird das Netz losgerissen und unter einem monotonen Gesange heraufgewunden. Alle Augen spannen sich nach dem Orte, wo es erscheinen soll, endlich sieht man, noch tief unten, einen Schein – es kommt! Spielen die Flatternetze weit auseinander, so ertönt ein leiser Fluch der Verwünschung von den Lippen des Patrons: „Dio grazia! Maladetto!“ Hängen sie schwer beladen herab, so malt sich immer größere Spannung in seinen Zügen. Nun glänzt es vielleicht roth herauf. „Santissima!“ seufzt halblaut der Patron, und die Männer arbeiten eifriger, denn der Patron sitzt in der Nähe der Winde, und wer sich lässig zeigt, bekommt zum Mindesten ein Scheltwort, wenn nicht einen Fußtritt oder einen Faustschlag auf den nackten Rücken. Endlich ist es heraus! Es wird mit Vorsicht an Bord gehißt und nun heißt es, die Korallenstücke aus den Fäden zu lösen! Eine Menge von andern unterseeischen Producten sind ebenfalls losgerissen worden. Da hängen andere, werthlose Hornkorallen, worunter eine Art, die sogenannte „schwarze Hand“ der Fischer, eine schwarze Hornkoralle, die bei ihnen deshalb so beliebt ist, weil sie an denselben Stellen wächst wie das Edelkorall und große Stücke dieser Hornkoralle mit Sicherheit anzeigen, daß die Bank seit langer Zeit nicht ausgefischt worden ist; da hängen Muscheln aller Art, Kammmuscheln, Löffel-Austern, Schlangenkopfmuscheln, Seescheiden und Schwämme von allen Farben, eine Welt organischer Formen, um die sich der Korallenfischer nur insofern kümmert, als er mit großer Geschicklichkeit, während er die Fäden entwirrt, zugleich die Muscheln aufbricht und ihren Inhalt hinabschluckt. Sonst aber wird alles Heraufgebrachte mit Verachtung in das Meer zurückgeschleudert, nur jedes, auch das kleinste Edelkorallstückchen mit äußerster Sorgfalt erlesen und sogleich in die Kiste gesteckt, deren Schlüssel der Patron neben dem Reliquientäschchen an einem Bande um den Hals trägt. Er jubelt heimlich, wenn er ein schönes Stück findet, denn der Werth der Korallen nimmt mit der Größe fast in geometrischer Proportion zu; vielleicht auch verspricht er seinen Matrosen einen Extralohn, denn sie erhalten, für eine ganze Campagne von sechs Monaten, höchstens dreihundert Francs, meist weniger, Lohn.

Wenn aber das Netz leer heraufkommt, wenn es gar hängen bleibt und trotz der verschiedenen Instrumente, die man zu diesem

Korallen-Netz von oben.

Zwecke an Bord hat, sich nicht wieder loseisen läßt, was immerhin ein Schaden von mehreren hundert Francs ist, dann wehe den Armen, die doch nicht minder gearbeitet, nicht minder geschwitzt und gedarbt haben! Die Ungunst des Himmels und aller Heiligen haben sie allein verschuldet, sie müssen arbeiten, bis die erschöpfte Natur den Dienst versagt. Lacaze-Duthiers, der im Auftrage der französischen Regierung die Korallenfischerei an den Küsten Algiers untersuchte und während dreier heißer Jahre weit umfassende Untersuchungen angestellt hat, die den Gegenstand vollständig erschöpfen (ich entlehne seinem im vorigen Jahre erschienenen Buche manche Angabe und die Originale der Holzschnitte), erzählt ein haarsträubendes Beispiel von der Hartherzigkeit eines Patrons und seiner Frau.

„Ein armer junger Matrose berieth mich als Arzt. Er kam von der Fischerei zurück mit heftigem Fieber; seine Füße waren geschwollen und mit Wunden bedeckt; er wollte lieber sein Verdienst aufgeben, als wieder an Bord gehen. ‚Ich bin noch zu jung, um so elend zu sterben,‘ sagte er mit dem wehmüthigen Accent und der ausdrucksvollen Geberde des Italieners. Ich bat die Frau des Patrons, den armen Kerl in’s Spital zu schicken. ‚Wie soll denn mein Mann fischen, wenn er keine Matrosen hat?‘ war die Antwort dieser hübschen, achtzehnjährigen Frau, die dabei ihr Kind herzte, das sie auf den Armen trug. Man mag daraus entnehmen, bis zu welchem Grade die Gier nach Gewinn bei manchen Korallenfischern jedes menschliche Gefühl abstumpft und wie sehr der Ruf ihrer Grausamkeit verdient ist. Bei so entsetzlich harter Behandlung weiß man jedoch nur von wenigen an Bord verübten Verbrechen; der Gebrauch des Messers ist, wie es scheint, verboten. Doch wurde im Jahre 1862 in Folge einer Verschwörung ein Patron von seiner Mannschaft gebunden, in den Raum geworfen und das Schiff nach Italien zurückgesteuert; bei Bonifacio wurde aber die Koralline aufgebracht und zur Fischerei zurückgeführt.“ … So viel Elend, Jammer und Mißhandlung, um Hals und Arme der Schönen zu schmücken!

Die Korallenfischerei ist kein geringer Erwerbszweig. Frankreich hat, zufolge eines Vertrages mit dem Bei von Tunis, die [42] Aufsicht über das ganze Gebiet von Tripolis bis zu der Grenze von Marokko. Man hat natürlich, wie die große Nation es nicht anders kann, Reglements über Reglements erlassen, System nach System abgenützt, und das Resultat ist jetzt, daß trotz der französischen Herrschaft der ganze Erwerbszweig, Fischerei, Handel und Bearbeitung, in den Händen der Italiener ist. Die Korallinen kommen mit den Frühlingstagen von Torre del Greco bei Neapel, von Sicilien, Sardinien und Genua, stellen sich an verschiedenen Küstenplätzen ein, bezahlen die Abgaben und Kosten, die sich für eine große Koralline auf etwa vierhundertfünfzig Francs belaufen, und fischen bis zum Eintritt der Herbststürme. Die kleinen Schifflein liefern täglich, die großen alle vierzehn Tage oder monatlich ihren Ertrag an den Rheder ab, der ebenfalls ein Italiener ist, oft mit seinem eigenen Boote nur für die Saison kommt, oft aber auch in Algerien, namentlich in Bona und la Calle ansässig ist. Bei diesem wird das Korall sortirt, in Kisten verpackt und nach Neapel, Livorno oder Genua spedirt, wo es bearbeitet und in den Handel gebracht wird. Nach den Berechnungen von Lacaze-Duthiers kostet die erste Ausrüstung einer großen Koralline mit zwölf Mann Besatzung etwa viertausendfünfhundert Francs, während die jährlich wiederkehrenden Kosten für Bezahlung und Ernährung der Mannschaft, Ersatz der Geräthschaften, Abgaben etc. etwa eilftausend Francs betragen mögen. Man rechnet, daß eine große Koralline mit fünf Centnern Korall etwa auf ihre Kosten kommt, mit sechs Centnern oder dreihundert Kilos aber, je nach der Qualität des Koralls, zwei- bis dreitausend Francs Gewinn abwirft. Nach den Zeitungsnotizen sind vorm Jahre vierhundert Korallinen von den italienischen Küsten abgegangen; rechnen wir, daß diese dreihundert großen Schiffen entsprechen, so müssen also eintausendfünfhundert Centner Korall im Jahre 1865 gefischt worden sein, wenn die Rheder nur auf ihre Kosten kommen sollen, und eintausendachthundert Centner, wenn einiger Gewinnst bleiben soll. Unserer Berechnung zufolge würden also fast viertausend Korallenfischer alljährlich von Italien nach Algerien segeln, um dort den Grund des Meeres auszubeuten. Der mittlere Verdienst eines Mannes, den er fast vollständig zurückbringt – denn für den Trunk am Lande und sonstige kleine Ausgaben sorgt er meistens durch einige Korallenstücke, die er dem Patron wegstipitzt – beträgt dreihundertachtzig Francs für die Saison von sechs Monaten. Der Arbeitslohn dieser Mannschaft beläuft sich also etwa auf anderthalb Millionen Francs, die der Bevölkerung der italienischen Küstenstrecken zu Gute kommen.




Eine Herberge der Geächteten.


Es ist ein eigener poetischer Reiz, der trotz alles Elends und Kummers der Verbannung Diejenigen umschwebt, welche ihrer Gesinnungen wegen ihr Vaterland fliehen müssen. Solcher Unglücklichen und doch um ihres Leidens für eine gerechte Sache willen Beneidenswerthen hat seit bald tausend Jahren kein Land mehr gesehen, als die kleine Schweiz, die es von jeher nicht nur als eine Pflicht betrachtete, sondern als ein Recht förmlich in Anspruch nahm, politische Flüchtlinge zu beherbergen und gegen Verfolgungen zu schützen. Erst in neuester Zeit hat ihr in dieser Beziehung Amerika, und theilweise auch England, den Rang abgelaufen, während die monarchischen Staaten des europäischen Festlandes wohl schon viele Flüchtlinge geliefert, aber noch wenig oder keine solche aufgenommen haben – Beides aus sehr naheliegenden Gründen. Namentlich theilen Deutschland und Rußland sich in den wenig beneidenswerthen Ruhm, niemals einem politischen Flüchtling Asyl gewährt zu haben. Es ist gewiß nicht sehr übertrieben, wenn wir sagen, daß die Geschichte der in der Schweiz Zuflucht suchenden politischen Verbannten eine kleine Weltgeschichte bilden würde; denn in einer solchen Flüchtlingsgeschichte müßten nothwendig alle irgendwie wichtigen politischen Umwälzungen der europäischen Staaten Erwähnung finden. Einige Beispiele sollen dies über allen Zweifel erheben.

Der erste Flüchtling von Bedeutung, den die Schweiz aufnahm, war der berühmte italienische Reformator und Märtyrer Arnold von Brescia. Wegen seines Eiferns gegen die Fäulniß der Kirche auf einem Concil in Rom als Ketzer verdammt, floh er im Jahre 1141 über die Alpen, wurde in Zürich aufgenommen und beschützt und fand mit seinen hellsinnigen Lehren großen Anklang in Stadt und Landschaft. Als er aber nach vier Jahren die Rückkehr in sein Vaterland wagen zu dürfen glaubte und in Rom eine Republik errichtete, befleckte der große Friedrich Barbarossa, vom Papste zu Hülfe gerufen, seinen Ruhm dadurch, daß er den Mann des Volkes verbrennen und seine Asche in die Tiber werfen ließ. Wahrlich, wenn der vielbelobte Hohenstaufe nach der Volkssage wieder aus dem Kyffhäuser erstünde, er würde sicherlich ganz anders handeln, als gutmüthige Schwärmer sich denken. Die „Gartenlaube“ würde er jedenfalls sofort vernichten! Und vom Standpunkte mittelalterlichen Kaiserwahnes hätte er ganz Recht!

In der Reformationsperiode empfing die Schweiz zwei Flüchtlinge von sehr verschiedenem Charakter, obschon von demselben Vornamen. Beide gehörten dem deutschen Adel an, nur war der Eine ein durch Aussaugung des Volkes reichgewordener Fürst, der Andere ein durch die Verfolgungen von Seiten Vornehmer arm gewordener Ritter. An Geist war dagegen der Fürst sehr arm, der Ritter sehr reich. Es waren, um uns kurz zu fassen: Herzog Ulrich von Württemberg, der sich umsonst anstrengte, mit Hülfe der Schweizer sein Land wieder zu erobern, und Ulrich von Hutten, dessen kranker Leib und müder Geist auf der lieblichen Insel Ufenau im Zürchersee eine Ruhestätte fanden. Den beiden Extremen, deren Aufenthalt in der Schweiz eine besondere Darstellung reichlich beschäftigen könnte, folgten die Opfer der französischen Hugenottenkriege, unter ihnen der von der katholischen Inquisition seines Vaterlandes vertriebene und in seinem Asyle Genf selbst zum protestantischen Inquisitor gewordene dämonische Charakter des Reformators Calvin. Fernere Glaubensgenossen dieser Flüchtlinge trieb unter Ludwig des Vierzehnten eiserner und blutiger Despotie die Aufhebung des Edicts von Nantes nach Helvetiens Gauen. Als dann in Frankreich die revolutionären Ideen aufzuflammen begannen, mußte auch ihr größter Prophet auf der Insel eines Schweizersees, wenn auch nicht sterben, doch das Brod der Verbannung essen, und noch jetzt ist J. J. Rousseau’s Zimmer auf der St. Peters-Insel im Bieler-See der Wallfahrtsort aller Bewunderer jenes Apostels der Demokratie. Wie er, der die Grundsätze der französischen Revolution in seinem „Contrat Social“ zuerst ausgesprochen, ein Schweizer (Genfer), so war dies auch der, welcher umsonst den Ausbruch des Vulcans zu dämmen suchte, der Finanzminister Necker; ja einer der blutigsten Schreckensmänner der französischen Revolution, Marat, war ebenfalls Schweizer, er stammte aus dem jetzigen Canton Neuenburg. Manche Verfolgte der Schreckenszeit, Märtyrer des Königthums, Märtyrer der Freiheit und Märtyrer der Anarchie (unter ihnen nicht zu vergessen der Sohn eines berüchtigten Schreckensmannes, des proteusartigen Egalité, Louis Philipp, der spätere König), flohen nach der Festung zwischen Alpen und Jura, und hart an ihren Grenzen, die ihm leider zu erreichen nicht vergönnt war, starb im dumpfen Kerker des Schlosses Joux der Neger Toussaint Louverture, der Hayti zu befreien versucht hatte.

Während aber im Westen Europas ein Volk seinen Monarchen tödtete, wurde im Osten ein Volk gemordet. Der edelste Held desselben, der ahnend „Finis Poloniae“ gerufen, fand bei Solothurn ein Asyl, und zu Kosciuszko’s Grab wallen noch fort und fort trauernde Söhne dieses unglücklichsten der Völker. Die Zahl der Flüchtlinge endlich, welche die Revolutionen des gegenwärtigen Jahrhunderts nach der Schweiz getrieben, ist Legion; wer zählt die Völker, nennt die Namen? Deutsche, Franzosen, Italiener, Spanier, Griechen, Polen, Russen, Ungarn etc., auch ein Schwede, nur einer, aber ein König. Und ein anderer dieser Flüchtlinge lenkt jetzt die europäische Politik!

Gelangen wir endlich zum Gegenstande, der uns heute speciell beschäftigen soll. Die englische Revolution ist eine eigenthümliche Erscheinung; mir kommt sie vor wie ein Steinrelief, während die [43] französische Revolution an ein farbensattes, vorherrschend blutrothes Gemälde erinnert. Jene hartgesottenen, Psalmen singenden und Bibelsprüche hersagenden und wieder wie das Donnerwetter dreinschlagenden Krieger Cromwell’s mit ihren Kanonenstiefeln, Büffelkollern, Korbdegen und Knebelbärten, wie stechen sie ab von den ebenso todverachtenden, aber die Marseillaise und das Ça ira kreischenden, rasirten Sansculotten mit unaussprechlicher Costumirung! Ueber ein Jahrzehnt herrschte in England dies republikanische Muckerthum, mit den unaussprechlichen ellenlangen Namen seiner Bekenner. Doch zählen die englischen Republikaner auch eine Reihe der edelsten und ehrenwerthesten Charaktere zu den Ihrigen – so den unsterblichen Milton, den nordischen Dante – die sich vom pietistischen Schwindel fern hielten. Zu ihnen gehörte auch der Generallieutenant Edmund Ludlow, ferner Say, Lisle, Broughton u. A. Alle hatten im Gerichte über Carl den Ersten gesessen, Say als Vicepräsident, Broughton als Secretär, der dem gestürzten Könige das Todesurtheil vorlesen mußte.

Als der Verräther Monk sein Vaterland wieder den wortbrüchigen Stuarts und namentlich dem sitten- und charakterlosen Carl dem Zweiten überlieferte, flohen die überzeugungstreuen Männer, während die Masse, die das Muckerspectakel mitgemacht, dem gekrönten Wüstlinge zujubelte, theilweise nach dem Auslande; die, welche dies nicht thun konnten oder wollten, verfielen dem Henkerbeile. Ludlow gelangte mit einigen Genossen 1660 nach Genf. Die größte Besorgniß um ihr Schicksal erfüllte sie, als sie vernehmen mußten, daß einige ihrer Schicksalsgenossen von der Republik (!) Holland aus Handelsrücksichten an das englische Königthum ausgeliefert worden seien. Die Nachbarschaft des ihren Grundsätzen feindlichen und den Stuarts ergebenen Frankreichs verstärkte ihre Besorgniß. Genf war damals von einem engherzig calvinistischen Krämergeiste beherrscht und theilte seine Bevölkerung auf indisch-ägyptische Weise in mehr und weniger berechtigte Kasten. Der Syndik (Bürgermeister) versprach zwar den englischen Flüchtlingen, wenn etwa Reclamationen in Bezug auf sie einlaufen sollten, sie sogleich davon zu benachrichtigen und, wenn es etwa gerade Nacht wäre, sie durch das Wasserthor (das auf den See führende) hinaus zu lassen. Von einem Schutze der Verfolgten aber war keine Rede. Ein Schutzgesuch, das wider ihren Willen von ihren Genfer Freunden dem Rathe eingegeben wurde, scheiterte an dem Widerstande eines hochgestellten Bankiers, dem die Krone Englands bedeutende Summen schuldete. Die Flüchtlinge, denen der Syndik nun auch jene erste Zusage länger zu halten sich weigerte, fuhren jetzt auf dem schönen Leman nach dem Gebiete des Cantons Bern. Dieser umfaßte zwar von seinem jetzigen Gebiete blos den südlich von der Jurakette liegenden Theil, dafür aber die westliche Hälfte des jetzigen Cantons Aargau, welche die Berner im fünfzehnten Jahrhundert Oesterreich, und den ganzen jetzigen Canton Waadt, den sie im sechszehnten Savoyen abgenommen hatten. Dieses gesammte Gebiet gehorchte einer Anzahl „regimentsfähiger“ Geschlechter der Stadt Bern. Ursprünglich war diese demokratisch organisirt, aber die Räthe hatten nach und nach dem Volke die Besetzung ihrer Stellen abgeschwindelt und mit der Zeit dieselben sogar in ihren Familien erblich und lebenslänglich zu machen gewußt. Solcher „regimentsfähigen“ Familien gab es dreihundertundsechszig; in der That befanden sich jedoch damals blos achtzig im Besitze der Rathstellen, die durch Todesfälle auf zweihundert herabschmelzen, aber nicht mehr als zweihundertneunundneunzig betragen durften und ganz ungescheut von Vätern an Söhne und Schwiegersöhne, von Brüdern an Brüder vergeben wurden. Trotz dieser herrschenden Corruption thaten die Berner Patricier so viel für das materielle Wohl des Volkes und für Kunst und Wissenschaft, daß sich daran manche Demokratieen oder constitutionelle Monarchieen ein Beispiel nehmen könnten. Auch bezüglich des Schutzes, den Flüchtige suchten, sind jene Patricier mit Recht in neuerer Zeit manchen im Jahre 1849 gegen fremde Mächte allzu geschmeidigen Staatsmännern als Muster entgegengestellt worden.

Unsere englischen Flüchtlinge, deren sich namentlich der Berner Prediger, Dekan Heinrich Hummel, welcher in Oxford und Cambridge studirt hatte und daher die Sprache seiner Schützlinge vollkommen verstand, und der „Seckelmeister“ (Finanzminister) Steiger energisch annahmen, ließen sich nun theilweise in Vevey, theilweise in Lausanne, den berühmten Glanzpunkten des unvergleichlichen Sees, nieder. Die Stadtbehörden und das Volk wetteiferten, ihnen mit Wohlwollen, ja mit Begeisterung entgegen zu kommen.

Nach altschweizerischer Sitte wurde ihnen der beim Empfange eidgenössischer Gesandtschaften übliche „Ehrenwein“ gereicht, und die Beamten versicherten sie, „daß die Leiden, welche sie für die Freiheit ihres Vaterlandes erduldet haben, der Hauptbeweggrund der ihnen bewiesenen Dienstbeflissenheit seien.“ In den Kirchen wurden ihnen besondere Ehrenplätze angewiesen. In diesem freundlichen Asyle überraschte sie der Besuch eines der berühmtesten und ehrenwerthesten ihrer Gesinnungsgenossen, der für seine Liebe zur Freiheit später im Vaterlande seinen Kopf dem Henkerbeile darbieten mußte. Es war der gefeierte Algernon Sidney, der aus Italien, wo er seit der Restauration der Stuarts Zuflucht gesucht, durch die Schweiz reiste, um nach Flandern zu gelangen und in der Nähe Englands zu gewärtigen, ob er seinem Vaterlande von Nutzen sein könne. In Bern stattete er persönlich der Regierung seinen wärmsten Dank für den seinen Landsleuten gewährten Schutz ab und forderte diese auf, dasselbe ebenfalls zu thun. Ludlow begab sich deshalb mit zweien seiner Genossen nach Bern und drückte der Regierung, da er weder Französisch noch Deutsch geläufig sprechen konnte, in einem französisch abgefaßten Briefe seinen Dank aus. Mit dem guten Prediger Hummel konnten die Verbannten dagegen in ihrer geliebten Muttersprache verkehren. Der Schultheiß, das Haupt Berns, an Rang und Macht damals wohl nur dem Dogen von Venedig vergleichbar, empfing die Fremdlinge freundlich und die Regierung gab ihnen ein Ehrengastmahl, bei welchem sie selbst sich durch drei ihrer Mitglieder vertreten ließ. Die Engländer mußten diesen Würdenträgern die Geschichte des Sturzes ihrer Partei erzählen, die mit großem Interesse angehört wurde, und an ihrer Seite öffentlich die Kirche besuchen, wobei der „Großwaibel“ (eine Art Herold der Republik) mit dem Amtsstabe voranschritt.

In Vevey am Genfersee wieder angekommen, erfuhren die Flüchtlinge, daß ein Irländer, Namens Riardo, angeblich im Gefolge der Herzogin von Orleans, in Turin angelangt sei, um einen Anschlag gegen ihr Leben auszuführen. Zugleich gab sich die französische Regierung dazu her, von Bern die Auslieferung der englischen Republikaner zu verlangen. Briefe aus Turin, Genf und Lyon setzten diese wiederholt von „Mordanschlägen kecker Banditen“ in Kenntniß. Nun wurde Riardo auch im Waadtlande gesehen. Als der Hauswirth Ludlow’s und seiner Gefährten am 15. November 1663 früh in die Kirche ging (es war Sonntag), bemerkte er am Seeufer ein Boot mit vier Schiffern, das, die Ruder gerüstet, wie zur Abreise bereit war. In der Nähe standen und saßen sechs Männer in Mänteln. Er erzählte dies sofort seinen Gästen und hatte inzwischen auf dem Wege auch erfahren, daß zwei Menschen von verdächtigem Aussehen sich in der Nähe seines Hauses aufgestellt und vier andere scheu herumblickend den Marktplatz durchstreift hätten. Ludlow besichtigte ohne Furcht das Schiff selbst, dessen Boden er dicht mit Stroh bedeckt fand, unter welchem sein Wirth Waffen versteckt witterte. Zugleich erfuhr man, daß an allen anderen Kähnen des Städtchens die Weidenschlingen zum Festhalten der Ruder durchschnitten seien. Ehe man jedoch eine Maßregel ergreifen konnte, waren die Banditen in dem verdächtigen Boote nach dem savoyischen Ufer hinüber gefahren. In der Folge erfuhr man, daß Riardo diese Bande angeführt, Nachts nach Vevey gebracht, in verschiedenen Wirthshäuser logirt und für sie Alle bezahlt habe. Die Behörden der Stadt waren im höchsten Grade entrüstet über dieses Attentat und boten den Engländern Nachen und alle möglichen Sicherheitsmaßregeln an. Die Wirthe mußten täglich alle die bei ihnen ankommenden Fremden genau angeben und den Privatleuten wurde die Beherbergung jedes Menschen, für den sie nicht gut stehen konnten, untersagt. Auch die Regierung von Bern befahl den Landvögten des Leman-Ufers, die Engländer auf jede Weise zu schützen und alle aus Savoyen kommenden Schiffe untersuchen zu lassen.

Bald gelangten neue Warnungen an Ludlow und die Mittheilung, daß die Meuchelmörder sich öffentlich äußerten, ihr Werk der Schande abermals zu versuchen, und daß es hauptsächlich auf ihn abgesehen sei. Er verschmähte indeß den ihm ertheilten Rath, ein anderes Asyl zu suchen, und vertraute unbedingt den Behörden von Vevey, die seine Wohnung sogar befestigen ließen und im Nothfalle Sturm zu läuten versprachen. Aus England erhielt er Briefe mit der Meldung: „Riardo sei an den Hof gekommen, um über das Mißlingen seines Unternehmens zu berichten; der König habe ihn nicht nur sehr gut empfangen, sondern ihm auch den Auftrag [44] gegeben, weitere Versuche hierin zu machen; auf seiner Reise durch Frankreich habe derselbe die Herzogin von Orleans besucht.“ Auch aus Frankreich wurde an Ludlow berichtet, „der König von England habe an den von Frankreich geschrieben, er werde sich niemals in Sicherheit glauben, so lange die Hauptverräther am Leben seien, und ihn daher ersucht, daß er ihm behilflich sein möchte, Jene, die sich über das Meer, und besonders die, welche sich in die Schweiz geflüchtet haben, verhaften oder tödten zu lassen.“ Als sich dann einer der Meuchelmörder nach Morges am Genfersee wagte, ließ ihn der Berner Landvogt verhaften und in dem bekannten Schlosse Chillon verwahren. Am Neujahrstage 1664 wurde er dort in Gegenwart der dazu eingeladenen Bedrohten verhört und bekannte, daß sich die beiden savoyardischen Edelleute de la Broette und du Fargis unter der in Vevey gelandeten Bande befunden hätten und daß einer der von ihnen gedungenen Schiffer die Weidenbänder der Kähne durchschnitten habe, um jede Verfolgung der nach gelungener That Fliehenden unmöglich zu machen.

Von den Gönnern der englischen Flüchtlinge in Bern hierauf gewarnt, das gefährlich gelegene Vevey zu verlassen, wo Ludlow hartnäckig blieb, siedelte dessen Freund und Schicksalsgenosse Lisle nach Lausanne über und rannte in sein Verhängniß. Nachdem er erst wenige Tage dort geweilt, verfügte er sich eines Morgens nach der Kirche St. François. Eben wollte er eintreten, als ihn auf der Schwelle der Dolch des auf ihn lauernden Banditen in’s treue Herz traf und ihn sogleich todt niederstreckte. Mit dem Rufe: „Es lebe der König!“ entfloh der Mörder. Ungeachtet des Preises von dreihundert Pfund Sterling, den die Berner Regierung auf seinen Kopf setzte (derselben Summe, die von der englischen Regierung auf Ludlow’s Kopf gesetzt war), konnte man seiner nicht habhaft werden. Dafür wurde ein anderer der Bande ergriffen und in Yverdon enthauptet.

Von da an lebte Ludlow unbelästigt in Vevey. Mit inniger Freude vernahm. der gesinnungstüchtige Patriot, wie im Jahre 1688 der letzte in England regierende Stuart, Jakob der Zweite, mit seinem Volke in unheilbaren Widerspruch gerathen, verdienter Weise gestürzt wurde. Von dem siegreichen Nachfolger (zugleich Schwiegersohn und Neffen) desselben, Wilhelm dem Dritten von Oranien, hoffte der Verbannte Gerechtigkeit und kehrte in sein inniggeliebtes England zurück; achtundsechszig Lebensjahre hatten bereits sein Haupt gebleicht, neunundzwanzig Jahre Verbannung seine Kräfte erschöpft, aber noch schwärmte sein Herz jugendlich für die Göttin seiner Träume, die Freiheit. Doch, er rechnete umsonst auf Fürstengunst für einen – Demokraten. Es wurde gegen ihn intriguirt, und Eduard Seymour, ein Hauptbeförderer der Revolution zu Gunsten König Wilhelm’s, übergab diesem eine Zuschrift der Kammer der Gemeinen, worin die Verhaftung des „Königsmörders“ Ludlow verlangt wurde. Schmerzlich enttäuscht und mit gebrochenem Herzen mußte der siebenzigjährige verfolgte Patriot zum zweiten Male dem Vaterlande den Rücken wenden und gelangte nach mannigfachen Mühen und Gefahren wieder in sein treues Vevey. Nicht lange überlebte er seine Enttäuschung. Im Jahre 1693 empfing die dortige Kirche St. Martin seine müden Gebeine, benetzt von den Thränen seiner im Elende treu ausharrenden Gattin Elisabeth Oldsworth und seiner treuen Freunde vom Genfersee. Seine ehrenvolle Grabschrift ist noch heute zu sehen. Eine über der Thür seines Wohnhauses angebrachte Inschrift dagegen wurde im Jahre 1821 von einer fanatischen monarchischen Engländerin, welche das Haus kaufte, vernichtet. Ludlow’s im Exile verfaßte und der Regierung von Bern gewidmete Memoiren in drei Bänden erschienen bald nach seinem Tode zu Vevey im Druck.

Indessen hatte die Nemesis nicht versäumt, die Stuarts zu treffen. Der Enkel des gestürzten Jakob, Eduard, welcher sein Exil, das er in Frankreich zubrachte, zu verändern wünschte, wurde von der französischen Regierung, derselben, welche das Asyl der Republikaner in der Schweiz angefochten hatte, im Jahre 1748 an die Regierung von Freiburg im wärmsten Tone und angelegentlich zur Gewährung eines Asyls empfohlen. Der Canton Freiburg, dessen Hauptstadt, wie die gleichnamige im Breisgaue, und wie später Bern, den Herzogen von Zähringen, welche damals beinahe die ganze heutige Schweiz beherrschten, ihren Ursprung verdankte, war von dem Gebiete Berns auf allen Seiten umgeben. Die Verfassung war derjenigen der letztgenannten Stadt ähnlich, oder vielmehr eine Carricatur von ihr; denn die regierenden Familien thaten nicht nur nichts für geistige Ausbildung ihrer Unterthanen, sondern sogen diese auf die unverschämteste Weise aus und reizten sie auch gegen das Ende des Jahrhunderts hin zu einem blutigen Aufstande.

Kaum hatte der englische Gesandte in der Schweiz, Furenby, vernommen, daß sein französischer College den Sohn des englischen Kronprätendenten in Freiburg unterzubringen suchte, ja daß die Regierung des letztern den fürstlichen Flüchtling „königliche Hoheit“ titulirte, so beschwerte er sich bei dieser Regierung schriftlich und verwahrte sich gegen den Aufenthalt „dieses jungen Menschen“ in der Schweiz und gegen die Aufnahme eines „den britischen Unterthanen verhaßten und durch Großbritanniens Gesetze geächteten“ Geschlechtes. Auf den langen und breiten Brief des Gesandten, aus dem wir nur wenige Sätze anführten, erwiderte aber die Regierung von Freiburg, trotz ihres kleinen Gebietes und trotz ihrer politischen Corruption, kurz und bündig folgende Zeilen: „Monsieur! Der Brief, den Sie unterm 8. dieses Monats, unserem Kleinen und Großen Rathe zu schreiben sich die Mühe gaben, schien uns in seinen Ausdrücken so wenig angemessen und gegen einen selbstherrlichen Staat so wenig schicklich, daß wir ihn nicht beantworten zu sollen glauben, um so mehr, als die Art und Weise, wie dieser Brief sich ausdrückt, uns gar nicht bewegen kann, Sie, Monsieur, über die Verfassung unseres Staates und seine Souveränetät zu berathen. Ihre dienstwilligsten Schultheiß, Klein und Großer Rath der Stadt und Republik Freiburg.“ (Datum 10. Sept. 1748.)

So wahrte selbst in der verstocktesten Aristokratenzeit die kleine Schweiz ihr Asylrecht gegen die mächtigsten Reiche zu Land und zur See, und zwar zu Gunsten von Flüchtlingen der verschiedensten Parteien. Und wir sind überzeugt, wenn heute das riesige Rußland gegen das Asyl der zahlreich in unsern Städten Zuflucht suchenden Polen einschreiten wollte, es erhielte denselben Bescheid. Möge aber einst eine Zeit erscheinen, in welcher Freiheit und Recht überall so herrschend geworden sind, daß es weder Flüchtlinge, noch Exile mehr giebt und daß dann auch folgerichtig keine Asyle mehr nöthig sind!

Otto Henne-Am Rhyn.




Ein Kleinod der Romantik.


„In einem tiefen, grünen Thal
Steigt auf ein Fels als wie ein Strahl.
Drauf schaut das Schlößchen Lichtenstein

Vergnüglich in die Welt hinein.

Es war Sonntag. Auf dem Rathhause in der alten schwäbischen Stadt Reutlingen glänzten die warmen Strahlen der Herbstsonne. Die schlanken Thürme sahen freundlich auf den Marktplatz und in die stillen Straßen hinab, als uns ein kleiner, gemietheter Wagen rasselnd über das holperige Steinpflaster zur Stadt, den Weg nach Schloß Lichtenstein hinausfuhr, denn diesem sollte ein Besuch gemacht werden. Vor dem Thore rüstete sich eine Schaar Schwalben, mit lautem Gezwitscher unruhig hin- und herfliegend, zum Abschiede. Ein kalter, aber sonniger Herbstmorgen lag draußen auf den thaufeuchten, dampfenden Fluren, die sich zu beiden Seiten der Fahrstraße ausdehnten. Knorrige Obstbäume mit fruchtschweren Aesten drängten sich hie und da dichter zu Gärten zusammen, aus denen rothe Dächer freundlich entgegenwinkten. Ich freute mich schon im Voraus auf den Anblick des durch Wilhelm Hauff’s herrliche Erzählung so bekannt gewordenen Lichtensteins und versetzte mich still in jene mit den Blüthen der Romantik durchflochtene eiserne Zeit, die der Dichter schildert.

Da lag vor uns die breite Heerstraße, auf welcher der schmucke Ritter Georg von Sturmfeder dahingeritten war, um nach langer, [45] schwerer Krankheit seine Braut, das schöne Fräulein von Lichtenstein, zu besuchen. Eben sahen die ersten Häuser Pfullingens herüber, jenes Städtchens, vor dem das Bärbele des Pfeifers von Haardt, die junge, treue Pflegerin des Ritters Georg, von diesem vor Herz- und Liebesweh thränenden Auges Abschied nahm. Auch der Gasthof zum Hirsch steht noch da, dessen geschwätzige Wirthin den Ritter durch die unwahre Erzählung von der Untreue seiner Braut so sehr beunruhigt.

Schloß Lichtenstein.
Nach der Natur gezeichnet von Robert Aßmus.

Hinter den letzten ärmlichen Häusern des Dorfes Oberhausen hält unser Wagen. Da sehen wir oben auf der Bergkette, die [46] den Hintergrund der Landschaft schließt, von dem dunkelgrünen Laubteppich aufsteigend, das Ziel unserer Wanderung, dessen Anblick Justinus Kerner schildert als

„Ein Bild, wie wenn die Wolke bricht,
Die Burg erscheint in blauer Luft,
Als wie erbaut aus Mondenlicht
Zur Leuchte dieser Felsenkluft.“

Jetzt geht’s zu Fuße weiter. Der Fuhrmann beschreibt uns freundlich den rechts sich hinaufziehenden schmalen Bergpfad, als den Weg zum Lichtenstein.

„Ist’s denn noch weit, bis dort hinauf?“

„Ha! so ei Stündle hätt’ de Herre wohl noch z’ steige.“

Es ist ein gar stiller, schattiger Waldweg, der uns aufnimmt. Je höher wir auf der bewaldeten Bergwand kommen, um so steiler wird der Pfad, aber auch um so herrlicher die Aussicht. In den einzelnen Lichtungen, die sich vor uns öffnen, tritt das Schloß auf seiner Höhe immer deutlicher entgegen. Ziegen klettern an der Bergwand behend auf und ab und lassen sich die frischen, saftigen Gebirgskräuter der schwäbischen Alb vortrefflich schmecken.

Unter hohen Buchen fortschreitend, steigen wir höher und höher und erreichen bald das Forsthaus Lichtenstein, das so recht inmitten der Waldeinsamkeit liegt. Und jetzt sind wir auch vor unserem Ziele angelangt! Schnell geht’s in den Schloßpark hinein. Der hohe, runde Burgthurm steigt majestätisch über den Wipfeln der Buchen empor. Die kleine Zugbrücke ist überschritten, die Burgpforte aber verschlossen. „Läuten wir.“

Eine steinalte, gebückt stehende Frau öffnet.

„Grüß Gott, Mütterchen!“

„Hätt’ de Herre Einlaßkarte?“ fragte sie mit dünner Stimme.

„Da haben wir’s!“ platzte ich heraus. „Wir können nur gleich wieder, umkehren, denn hier hilft Bitten nichts. Gar Mancher hat hier schon Kehrt machen müssen, der ohne Einlaßkarte vor das Schloß kam. Daß wir auch nicht daran dachten!“[3]

Doch da hatte mein Freund schon ein Billet, das er, wie er mir später erzählte, schon vorher auf das Entgegenkommendste und in höchst aufmerksamer Weise vom jetzigen Besitzer des Schlosses, dem Grafen Wilhelm von Würtemberg, aus Ulm erhalten. Und so traten wir ein.

„Se komme grod recht, junge Herre!“ sagte das Mütterchen, während sie ein Stöckchen vom Boden aufhob, um ihre Pfauhennen weiter zu hüten. „’s ischt ebe G’sellschaft komme und do kennt Se sich das Schloß z’samme ansehn.“

Richtig! Vor der Wohnung des Schloßverwalters erblickten wir ein paar junge würtembergische Artilleriefähndriche und einen kleinen, dicken, alten Herrn, der sich mit dem Schloßverwalter lebhaft unterhielt.

„Bevor i de Herrschafte das Schloß zeige,“ begann der Schloßverwalter, „führe i Se nach der Trinkhalle.“

„Was, giebt’s hier oben auch einen Gesundbrunnen?“

„Nei, dösch net. De Trinkhalle hat ihren Namen von de dort aufgestellte, alterthümliche Trinkgefäße.“

Der Weg zu ihr geht durch die Schloßanlagen zwischen grünen Hecken hindurch, aus denen uns aus Thon geformte Gnomen entgegenlachen.

Die im unteren Geschoß aufgestellten, aus verschiedenen Jahrhunderten stammenden Schießwaffen interessiren namentlich die uns begleitenden beiden jungen Artilleristen, welche jene am liebsten gleich in praxi probiren möchten. Uns fesselte mehr der eine Treppe hoch gelegene Trinksaal. Zahlreiche, uralte Trinkgefäße, aus denen gar mancher tapfere Cumpan mit derbem Witz gezecht, stehen auf einer Etagère, welche an der den Bau tragenden Säule befestigt ist. Der alte Herr lacht herzlich über einen mächtigen Humpen, den er soeben in der Hand hält und auf welchem der ironische Spruch eingegraben ist: „Das Saufen macht den Leib schwer.“

„Nun, wie wär’s? Ob wohl Einer unter uns den Krug auf Einen Zug leert?“ fragte mein Begleiter.

„Das würde wohl eine schwere Aufgabe sein. Unsere Vorfahren konnten eben mehr als wir trinken.“

„Ah, sieh nur, da auch ein Spruch auf das deutsche Lied und die deutsche Einigkeit: ,Tönt ein teutsches Lied von Nord, find in Süden seinen Port; was Politik, was Herrenland, wo teutsches Lied, da Vaterland‘.“

„Aus diesem Fenschter sehe Sie dort drübe, auf dem vorspringende Felse, die Trümmer der alten Römerburg, welche hier einscht gestanden habe soll, und rechts davon ischt die vom Grafen Wilhelm aufgestellte Büschte des Dichters Hauff,“ erklärt der Schloßverwalter. „Aber meine Herrschafte, wenn’s g’fällig ischt, gehe wir nach dem Schlosse!“ setzte er drängend hinzu.

Bald standen wir auf der über einen tiefen Felsspalt sich spannenden Zugbrücke der Burg. Der Castellan erzählte, daß von jenem Schlosse, welches der Dichter Hauff in seiner romantischen Sage schildert und worin der 1513 durch den schwäbischen Bund aus seinem Lande Vertriebene unglückliche Herzog Ulrich von Würtemberg Zuflucht und Pflege gefunden haben soll, mit Ausnahme des Brückenkopfs, nur die Fundamente vorhanden seien, auf denen sich das jetzige Schloß erhebt. Auf den Grundfesten des alten 1802 als baufällig abgebrochenen Schlosses, da, wo später ein Försterhaus errichtet wurde, hat Graf Wilhelm von Würtemberg im Jahre 1842 von dem unlängst in hohen Jahren verstorbenen Heideloff das jetzige Schloß erbauen lassen. Es ruht auf einer, gleich einem mächtigen Thurme achthundert Fuß über dem Honauer Thale und der Albstraße einzeln aufsteigenden Felsennadel, die nur durch diese Zugbrücke mit der Albebene verbunden ist. Von unten aus hat das Schloß das Aussehen, als müsse es jeden Augenblick in’s Thal hinabstürzen.

Treten wir nun in dies Schloß ein, um das die Sage ihren unverwelklichen Kranz geflochten, auf dessen Stätte einst das holde Fräulein von Lichtenstein wie eine liebliche Fee waltete, die Hauff so poetisch mit allem Zauber weiblicher Anmuth schildert.

„Dös ischt die Waffenhalle, auch Tyrnitz genannt,“ belehrte der Castellan, nachdem wir die Freitreppe zur Burg hinaufgegangen waren; „die Waffen, welche Sie hier aufgestellt sehen, sind wie alle übrigen im Schlosse aufgestellten alten Gegenstände vom Grafen selbst g’sammelt.“

Es ist ein prächtiger Rüstsaal mit vielen Armaturstücken aus den verschiedensten Zeiten: Hellebarden, Partisanen, Lanzen, Schwerter, Dolche, Rüstungen etc., darunter manches höchst kunstvoll gearbeitete Stück.

In dem stillen Raume der kleinen Burgcapelle, durch deren gothische, mit Glasmalereien geschmückte Fenster das Tageslicht nur matt hineinfällt, werden wir fast andächtiger gestimmt, als in einem großen Dome.

„I führe Sie jetzt nach dem Hirschzimmer, das Sie ganz besonders interessiren wird, weil es vollständig reschtaurirt und genau ebenso hergerichtet ischt, wie es sich vor dreihundert Jahren zur Zeit des alten Lichtenstein befand. Aber, bitte, treten Sie immer auf die schwarzen Fliesen (der Fußboden ist schachbretartig quadrirt), weil die weißen erscht geschtrn neu gestriche wurde.“

„Also vorgesehen, meine Herrschaften!“

Die eben so lange wie breite Hirschstube hat ihren Namen von dem alten, in den Felsen eingehauenen Gelaß der ehemaligen Hirschstube und dient als Versammlungs- und Speisesaal. Auch hier sind in den Fenstern alte Glasmalereien angebracht. Auf die Wände sind al fresco Figuren und viele Denk- und Trinksprüche gemalt, darunter auch der von der Partei des Herzogs Ulrich häufig gebrauchte Spruch: „Hie gut Würtemberg allweg“.

„Ei, da ist ja oben an der Decke ein Champagnerkelch befestigt, wie wir ihn von solcher Höhe noch nie gesehen.“

„Jo, ’s ischt e selt’nes Stück, das der Graf von seinen Reisen mitgebracht. Der Kelch mißt in der Höhe nicht weniger als vier Fuß.“

Unser Führer zeigt uns nun eine Menge anderer Zimmer, von denen wir nicht begreifen können, wie sie alle in der kleinen Burg Platz gefunden: die Königsstube, das Wappenzimmer, den großen Rittersaal u. a.

Im Musikzimmer verweilen wir länger.

„Hier ischt e altes Clavier mit Glockengeläute.“ Kling, klang, tönt’s, wie der Castellan die betreffenden Tasten anschlägt.

Dann kam das Zimmer mit den Todtenmasken historisch-berühmter Männer wie Cromwell, Robespierre, Napoleon etc. an die Reihe und endlich stiegen wir in den einhundertundzwanzig Fuß hohen Thurm, sahen noch die auf diesem als kleines Thürmchen gebaute Sternwarte und befanden uns schließlich auf der Zinne [47] des Burgthurmes. Welch’ herrliches Panorama lag da mit einem Male vor und unter uns ausgebreitet!

In einer Tiefe von mehr als achthundert Fuß dehnt sich in sonnigem Grün eine Thalwiese aus, durch die munter der Waldbach der Echatz strömt. Der Kirchthurm und die Häuser von Honau, welche jene zum Theil umrahmen, blicken aus dem Grün wie lichte, glänzende Punkte hervor. Rechts und links umlagern das Thal waldbekränzte Bergketten, Höhen der schwäbischen Alb, die sich weit in’s Land hineinziehen und aus denen hier und da starre, nackte Felsen heraustreten. Weiter in der Ebene liegen grüne Triften mit lachenden Dörfern und Obstpflanzungen, während nördlich in der Ferne und in bläulicher Färbung sich der hohe Bergrücken der Achalm bei Reutlingen erhebt, hinter dem sich der Horizont mit den Stuttgarter Höhen im zartesten Farbenduft schließt.

Wie weit kann das Auge schweifen! Wir möchten uns nicht trennen von diesem Punkte, wo aus der herrlichen Natur das Gottesauge uns so recht in die Seele sieht, das Herz aufgeht in freudiger Erhebung. Es war unendlich still und geheimnißvoll da oben. Eben klang eine Glocke herauf, deren fromme Töne durch die feierliche Sonntagsstille zitterten, eine andere Glocke antwortete und bald klangen ihrer mehrere in tiefen und hohen Stimmen aus Nah und Fern, aber alle aus dem Thale empor. Jene alte Zeit, wie sie Hauff schildert, schien wieder erwacht zu sein.

Man könnte, in dem Anblick dieser wundervollen, romantischen Landschaft versunken, davon träumen, da unten zwischen den grünen Baumwipfeln in lichter Gestalt das schöne Fräulein von Lichtenstein mit dem Gebetbuche in der Hand am Arm des Ritters Georg von Sturmfeder zur Kirche schreiten zu sehen.

Die Mondsichel war inzwischen am Himmel aufgetaucht und erinnerte an die Rückfahrt. Bald nahmen uns die Schatten des Waldes auf. Wieder trat in seinen Lichtungen, jetzt vom Mondlichte silbern beschienen, das Schlößchen hervor, und oft noch sahen wir uns nach demselben um und sandten ihm freundliche Grüße.




Blätter und Blüthen.


Die Kindererziehung in Beispielen. I. Das Lügen. Auf demselben Corridor mit mir, im dritten Stock eines weitläufigen Hauses, in welchem acht Familien aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zusammenwohnten, hatte ein Rechnungsrevisor sein bescheidenes Quartier aufgeschlagen. War ich nun schon erstaunt, eines Tages aus den sonst so stillen Räumen einer correcten Häuslichkeit die unzweideutigsten Anzeichen übermäßiger Aufregung zu vernehmen, so wurde ich’s noch mehr durch das Erscheinen des Revisors selbst in meinem Zimmer – wir kannten uns kaum – in welches er, ohne Umstände, Rath und Hülfe verlangend, stürmisch eindrang. Sein Söhnchen hatte – gestohlen, und zwar im Garten des Herrn Rechnungsraths; er hatte ein junges Bäumchen der ersten Früchte beraubt, war auf der That ertappt worden und leugnete jetzt hartnäckig sein Vergehen.

Nachdem ich den verzweifelten Vater, der den Fehltritt seines Sohnes wegen der besonderen Umstände offenbar zu hart beurtheilte, einigermaßen beruhigt hatte, forderte ich ihn auf, mir den Knaben herüberzuschicken. Das versprach er, rief aber von der Thür mir noch einmal zu: „Schonen Sie ihn ja nicht.“ Diese Worte mißfielen mir und ich konnte nicht umhin, etwas scharf zu erwidern, ich würde seinen Sohn mit Liebe und Sanftmuth behandeln. Er kam wieder zurück, klopfte mir mit einem hochmüthigen Lächeln, das Leuten seines Amtes eigen zu sein pflegt, auf die Schulter und sagte: „Wenn Sie einmal Kinder haben, lieber Herr Doctor, so fürchte ich, daß Sie dieselben verwöhnen werden.“

Verwöhnen? dachte ich, als er hinausgegangen war – vielleicht. Aber ich werde sie so unendlich lieb haben, und sie mich, daß sie nie etwas thun, was mich betrüben kann. Sie werden mehr Freiheit haben, als andere Kinder; aber sie werden an Herz und Gemüth, an Größe der Gesinnung, ebenso gut und vielleicht besser sein, als die Kinder mancher andern Leute. Erzieht denn die Strenge allein? Ist dies denn der Weg zum Herzen der Kinder, wenn man sie, wie dieser Revisor, durch Prügel zum Geständniß eines Fehlers bringen will? Strafe während der Untersuchung! (Ich war damals zwanzig Jahre jünger, allein der Hauptsache nach denke ich heute noch ebenso.) Und was ist das Motiv zu seiner strengen Erziehungsweise in diesem Fall? Die Liebe zu seinem Kind, welches er auf den rechten Weg zurückzubringen, das er für das Gute und Rechte vor allen Dingen wieder zu gewinnen trachtet? Keineswegs, es ist der Aerger und Zorn, daß ihm der Junge bei seinem Vorgesetzten den Streich gespielt, es ist die Furcht vor dem Urtheil der Menschen – wie bei den meisten Erziehern, – was ihn zur Härte und Lieblosigkeit fortriß.

Als der Knabe, den ich seines muntern und offenen Wesens halber gern leiden mochte, bei mir eintrat, überraschten mich sein erhobener Kopf und eine gewisse wortkarge Bestimmtheit der Rede, die nur hin und wieder durch den Ueberrest eines heftigen Schluchzens unterbrochen wurde. Sollte dieses Kind, dachte ich, so starrköpfig oder ein so vollendeter Heuchler sein?

„Du hast Deine Eltern schwer betrübt,“ fuhr ich härter heraus, als ich vorhatte, „und dem Herrn Rath, welcher die ersten Früchte jenes Bäumchens morgen auf der landwirthschaftlichen Ausstellung vorlegen wollte, eine Freude verdorben. Und dazu leugnest Du noch hartnäckig, obgleich Du auf der That ergriffen wurdest?“

„Ich leugne es nicht, daß er mich ergriffen hatte; aber ich riß ihm aus und warf ihm seine Birnen vor die Füße.“

„So, und zu dieser Ungezogenheit glaubtest Du wohl ein Recht zu haben?“

„Nein, aber er hat mich einen Dieb und Galgenvogel genannt, der einmal im Zuchthaus sterben würde.“

„Aber Du hattest ja auch gestohlen.“

„Nein, die Birnen hatte mir ein Camerad gegeben, den ich nicht nennen werde. Ich dachte mir’s gleich, daß sie von dem Bäumchen wären, und so war es auch; denn als ich über die Mauer stieg, hingen noch zwei da von derselben Art, die ich in der Tasche hatte.“

„Warum sagtest Du aber Deinem Vater nichts davon, daß ein Anderer die Birnen genommen hätte?“

„Weil – (hier zögerte er mit der Antwort) – weil er mich nicht anhören wollte und immer schrie: ,Du lügst,‘ und mich mit Gewalt zwingen wollte, etwas zu gestehen, was ich nicht gethan hatte.“

Es kostete mich viele Mühe, den eigentlichen Thäter herauszubringen, und es gelang mir nur gegen die feste Zusage der Verschwiegenheit. Es war nämlich Niemand anders, als das Söhnchen des Rechnungsraths selber, der Freund und Spielgenosse des Angeschuldigten; jener hatte, nachdem er einen Theil der Früchte verzehrt, in der Angst seines Herzens, als er anfing, die Folgen seines Leichtsinns zu ahnen, die übrigen Birnen dem Sohne des Revisors geschenkt.

Meine Geschichte wäre hier zu Ende – denn der Leser könnte sich den Schluß, wie der Gekränkte gerechtfertigt und der naschhafte Hausdieb, der im Uebrigen ein sehr braver Junge war, gestraft wurde, selber machen – wenn nicht ein interessanter Zwischenfall dazugetreten wäre. Ich hatte kaum den Eltern August’s – so hieß mein Schützling – die Sache umständlich mitgetheilt und auch den Namen des Thäters ihnen genannt, welcher aber verschwiegen bleiben sollte, was der Vater ganz in der Ordnung fand, die Mutter hingegen durchaus mißbilligte, als sich die Frau Rechnungsräthin selber melden ließ. Ich hatte mich mit dem Revisor, der etwas ängstlich schien, ob seine Frau die hohe Ehre eines solchen Besuchs auch hinreichend zu würdigen wüßte, in das benachbarte Zimmer zurückgezogen, von wo ich eine für mich sehr merkwürdige Scene deutlich wahrnehmen konnte. Die Frau des hohen Vorgesetzten drückte in weitschweifigen, übertreibenden Redensarten ihr Bedauern über das Unrecht aus, welches dem guten August widerfahren sei; ihr Söhnchen habe ihr unter vielen Thränen Alles gestanden. Da nun aber Geschehenes nicht zu ändern sei, so dächte sie, man ließe jetzt die Sache, wie sie wäre; denn sie möchte um Alles in der Welt nicht, daß ihr Gemahl erführe, wer die Birnen abgepflückt. Er würde gewiß ganz außer sich gerathen, sie wolle ihm daher das Vergehen Fritzchens lieber ganz verschweigen, um ihm eine Unannehmlichkeit zu ersparen. „Ach, Sie wissen ja, Madame,“ fügte sie zum Schlusse hinzu, „wie viel wir armen Frauen allein tragen und geheimhalten müssen, damit nur unsere guten Männer, denen der Beruf Aerger und Verdruß genug bringt den Tag über, geschont werden.“ (Diese Dame hatte wirklich den ausgesprochenen bedenklichen Grundsatz, den man oft erwähnen hört und hinter dem sich unter dem Schein der Selbstverleugnung und Schonung des andern Theils viel Unheil verbergen kann.)

Die Frau des Revisors war eine von jenen glücklichen Naturen, welche den guten Tact, überall das Rechte zu thun und zu sagen, mit auf die Welt bringen. Sie schwieg eine Weile, dann erwiderte sie gelassen und bestimmt, ihr Sohn habe zwar anfangs seinen Freund nicht verrathen wollen, da dieser aber selbst sein Vergehen gestanden, so habe sie die Ueberzeugung, die Frau Rechnungsräthin werde ihr eigenes Kind nicht in einer Lüge bestärken. Außerdem könne es ihr nicht gleichgültig sein, daß ihr August vor dem Herrn Rechnungsrath in einem so übeln Verdacht bliebe. Dabei beharrte sie auch ungeachtet eines wiederholten Versuchs der anderen Dame, die immer schärfer und hitziger wurde und sich zuletzt mit einigen impertinenten Knixen rasch empfahl.

Glücklicherweise war dem Revisor der ganze Vorfall entgangen, sonst hätte er gewiß intervenirt. Er hatte sich über eine neueingelaufene Rechnung hergemacht und mit scharfer Feder und blutrother Tinte die Fehler angestrichen, brummend und in sich hineinredend mit dem gleichen Behagen, mit welchem eine Katze spinnend ihre Beute verzehrt.

Nach einigen Stunden kam eine höfliche Botschaft vom Rechnungsrath, August möge den andern Tag hinüberkommen, wenn der Teich gefischt werde; Fritz habe seine Strafe erhalten und wünsche seinem Freund das Unrecht abzubitten, das ihm durch seine Schuld widerfahren sei.

Die Moral meiner Erzählung liegt auf der Hand. Ich will nur noch einige Rathschläge beifügen.

Wenn Du ein Kind im Verdacht hast, daß es gelogen hat und hartnäckig auf der Unwahrheit besteht – das Letztere ist selbstverständlich der gefährlichere Fehler – so vergewissere Dich vor allen Dingen gründlich, ob Du Dich nicht irrst. Auf keinen Fall nimm ohne Weiteres die Lüge als gewiß an. Oft lügt ein Kind aus Leichtsinn, in der Uebereilung oder aus Furcht vor harten Strafen. Nimm es nicht leicht mit der Lüge; sie verdirbt den Charakter durch und durch. Manche Eltern scheuen aus Bequemlichkeit eine weitläufige Untersuchung und erleichtern dadurch das Lügen.

[48] Laß keine Unwahrheit ungerügt, aber bleibe vor Deinen Kindern auch jederzeit der Wahrheit selber treu. Lache nicht über schlaue Winkelzüge und Schwindeleien, mit denen geistesgewandte Kinder die Wahrheit zu umgehen suchen, sondern nimm es in Sachen der Wahrheit allemal streng und genau. Eine große Versuchung zum Lügen liegt in der Klatschhaftigkeit, Zwischenträgerei und Naseweisigkeit mancher Kinder, wenn man ihre Neuigkeiten und Urtheile über Andere anhört, oder gar ihnen Anleitung giebt, Nachbarn und Verwandte auszuhorchen und das Erfahrene zu hinterbringen.
X.




Woher nahm Goethe den Stoff zu „Hermann und Dorothea“? Die mannigfachen Vereine und Gesellschaften Zürichs pflegen den Jahreswechsel durch die Herausgabe eines sogenannten Neujahrsblattes zu bezeichnen. Das Neujahrsblatt des züricherischen Waisenhauses bringt nun diesmal die Fortsetzung und den Schluß der letztes Jahr begonnenen Darstellung jener dem vorigen Jahrhundert angehörenden grausamen Verfolgung der protestantischen Salzburger und ihrer Ausweisung. Die gewaltsame Vertreibung der Protestanten, nachdem alle Schreckmittel, sie zum Abfall von ihrem Glauben zu bringen, nichts gefruchtet hatten, fand mitten im Winter 1731–1732 statt. Gegen dreißigtausend Seelen, der Kern der Bevölkerung, verließen Salzburg. Ueber dem einst so blühenden, vielbevölkerten Lande lag jetzt die Stille des Friedhofs, und die Worte des Fürstbischofs Firmian, des Verfolgers, waren jetzt erfüllt: „Ich will keine Ketzer in meinem Lande haben, und wenn Dornen und Disteln auf den Aeckern wachsen sollten.“ In anziehender Weise schildert der Verfasser die Reise der armen Emigranten in die fremde Welt, das Mitleiden, das sie in den evangelischen Ländern erweckten, die werkthätige Liebe, die ihnen daselbst entgegenkam, und wie das Geschick einer dieser vertriebenen Salzburgerinnen es war, was Goethe den Stoff zu seiner herrlichen Dichtung „Hermann und Dorothea“ gab. Die Geschichte dieser Jungfrau lautet also:

„Dieselbe zog mit ihren Landsleuten fort, ohne zu wissen, wie es ihr ergehen, oder wo sie Gott hinführen würde. Als sie nun durch das Oettingische reisten, kam eines reichen Bürgers Sohn aus dem Altmühlthal zu ihr und fragte sie, wie es ihr in hiesigem Lande gefalle? Sie gab zur Antwort: ,Herr, ganz wohl.‘ Er fuhr fort, ob sie denn bei seinem Vater dienen wolle. Sie antwortete: ,Gar gern, sie wolle treu und fleißig sein, wenn er sie in seine Dienste annehmen wolle,‘ und nannte ihm alle die Bauernarbeit, auf die sie sich verstehe. Nun hatte der Vater seinen Sohn oft gemahnt, daß er doch heirathen möchte, wozu er sich aber bisher nie hatte entschließen können. Da aber die Salzburger Emigranten durch die Altmühl zogen und er dieses Mädchens ansichtig wurde, gefiel ihm dasselbe. Er ging daher zu seinem Vater, erinnerte diesen, wie er ihn oft zum Heirathen angespornt, und entdeckte ihm dabei, daß er sich nunmehr eine Braut ausgesucht hätte; er bäte, der Vater möchte ihm nun erlauben, daß er dieselbe nehmen dürfte. Der Vater fragte ihn, wer dieselbe sei. Er gab ihm zur Antwort, es sei eine Salzburgerin. Wollte ihm aber der Vater nicht erlauben, daß er dieselbe nehmen dürfe, so werde er auch niemals heirathen. Als nun der Vater nebst seinen Freunden und dem herzugeholten Prediger sich lange vergeblich bemüht hatte, ihm solches aus dem Sinne zu reden, es ihm aber doch endlich zugegeben, so stellte dieser seinem Vater die Salzburgerin vor. Das Mädchen wußte aber von nichts Anderem, als daß man sie zu einer Dienstmagd verlangte, und deswegen ging sie auch mit dem jungen Manne nach dem Hause seines Vaters. Dieser hingegen stand in dem Gedanken, als hätte der Sohn der Salzburgerin sein Herz schon eröffnet. Daher fragte er sie, wie ihr denn sein Sohn gefiele und ob sie ihn heirathen wolle. Weil sie nun davon nichts wußte, so meinte sie, man suche sie zu äffen. Sie fing darauf an, man solle sie nur nicht foppen! Zu einer Magd hätte man sie verlangt, und zu dem Ende sei sie seinem Sohne nachgegangen; wolle man nun dazu sie annehmen, so wolle sie allen Fleiß und alle Treue beweisen und ihr Brod schon verdienen, foppen aber lasse sie sich nicht. Der Vater aber blieb dabei, daß es sein Ernst sei, und der Sohn entdeckte ihr dann auch die wahre Ursache, warum er sie nach Hause geführt, nämlich: er habe ein herzliches Verlangen, sie zu heirathen. Das Mädchen sah ihn darauf an, stand ein klein wenig still und sagte endlich: ,Wenn es sein Ernst sei, daß er sie haben wollte, so sei sie es auch zufrieden und so wolle sie ihn halten, wie ihr Auge im Kopfe.‘ Der Sohn reichte ihr hierauf ein Ehepfand; sie aber griff sofort in den Busen, zog einen Beutel, darin zweihundert Ducaten staken, und sagte, sie wollte ihm hiermit auch einen Brautschatz geben. Folglich war die Verlobung richtig.“




Warnung. Aus Louisville in Kentucky (Vereinigte Staaten von Nordamerika) geht uns die nachstehende Mittheilung zu, die wir ihrer Wichtigkeit wegen unsern Lesern nicht vorenthalten wollen:

Vor einigen Wochen wurde hier in Louisville ein Verein in’s Leben gerufen, der den Zweck hat, einen Theil der deutschen Einwanderung nach Kentucky abzuleiten, und wird in Kurzem seine Agitation dafür in den verschiedenen Hafenplätzen beginnen.

So sehr ich nun selbst dafür bin, daß in der Folge recht viele Deutsche nach Kentucky kommen, so sehr bin ich dagegen, daß es jetzt geschieht; überhaupt möchte ich die Deutschen vor einer Massen-Einwanderung nicht blos nach Kentucky, sondern nach dem ganzen Süden warnen. Ich war in den Jahren von 1849 bis 1851 in Texas, von da ab wohne ich in Louisville in Kentucky und habe nur zu oft Gelegenheit gehabt, den zähen Charakter unserer Sclavenhalter kennen zu lernen, um an den Bestand der gegenwärtig erheuchelten Loyalität zu glauben. Auch ist die Sclaverei in Kentucky noch nicht todt, noch bestehen alle die Sclaverei betreffenden Gesetze und werden im Innern streng durchgeführt; wurde doch selbst hier in Louisville einer meiner Freunde, der Friedensrichter ist, verklagt und zur Bürgschaft angehalten, um sich im nächsten Januar vor einem höheren Gerichte zu verantworten, weil er in einer einen Sclaven betreffenden Klage nicht im Sinne des Sclaverei-Codex entschied. Noch hält und vermiethet man Sclaven und peitscht lustig drauf los; auch ist es nicht selten, daß heimkehrende farbige Soldaten, die ihre Familien besuchen, todtgeschossen werden; noch rauben und morden Guerillas im Lande, selbst in der Nachbarschaft unserer Stadt. Der treue, eingeborene Unionsmann ist auf dem Lande seines Lebens nicht sicher, um so weniger der frisch Eingewanderte, der Landessprache Unkundige; höchstens würde man ihn, wenn es doch mit der afrikanischen Sclaverei ein Ende nehmen sollte, als den modernen Sclaven dulden, den man nicht zu füttern und zu kleiden braucht und dessen Arbeitskraft man darum noch profitabler ausbeuten könnte. Einen solchen Plan eröffnete mir vor Kurzem ein Sclavenhalter, dessen Sclaven sich selbst frei machten und der mich ersuchte, ihm mehrere deutsche Landarbeiter zu verschaffen.

Die Sclaven-Barone sind trotz der Verluste im Kriege noch nicht mürbe geworden; man lasse sie daher noch eine Weile den Mangel an Arbeitskräften recht fühlbar empfinden, man lasse sie den großen Landbesitz aufgeben und denselben auf den Markt bringen, bevor man die Deutschen zur Einwanderung einladet.

Jedenfalls finden die deutschen Auswanderer gegenwärtig in Illinois, Wisconsin, Minnesota, Missouri und Kansas eine billigere und bessere Heimath und dabei Hülfe und ein herzliches Willkommen zum größten Theil von Landsleuten.

Das Verlangen nach deutscher Einwanderung von Seiten der Amerikaner ist hier noch kaum bemerklich, und richtet sich lediglich auf Handarbeiter, nicht aber auf Landansiedler. Sie wollen deutsche weiße Sclaven für die verlorenen Schwarzen, nicht aber freie Männer neben sich dulden.

Erst wenn der Hochmuth und der Stolz der Sclaven-Barone gebrochen sind, wird es Zeit sein, den Strom der Einwanderung nach dem Süden zu leiten.

Es würde mir lieb sein, wenn die deutschen Zeitungen hiervon Notiz nehmen wollten.
J. C. Kosiol.




Wie Verdi sich seine Einsamkeit bewahrt. Verdi, der berühmte italienische Maestro, verweilt gegenwärtig in Paris, wo er ein sehr hübsches Haus in den Champs-Elysés bewohnt. Er ist eifrig damit beschäftigt, die letzte Hand an die Composition einer neuen Oper, „la Forza del Destino“ zu legen, wird aber dabei unaufhörlich von unwillkommenen Neugierigen gestört, was ihm natürlich sehr lästig ist.

Einer seiner Freunde kam kürzlich eben dazu, wie Verdi seinem Bedienten den Auftrag gab, ihn vor den zudringlichen Besuchern zu bewahren, hörte die Anweisungen mit an und erzählte dieselben folgendermaßen wieder:

„Wenn Jemand klingelt,“ sagte Verdi, „so öffnest Du und sprichst, ich sei sehr krank. Besteht der Fremde aber darauf, mich zu sehen, so führst Du ihn in das Rauchzimmer, wo ich eine große, angekleidete Puppe mit dem Gesicht nach der Wand gekehrt auf das Sopha gelegt habe. Dort nöthigst Du den Besucher zum Niedersetzen, sagst ihm, daß ich schlafe, und setzest Dich neben ihn, mit der Bitte, sich ja recht still zu verhalten und mich nicht zu stören.

Nach Verlauf von höchstens einer Stunde wird der Fremde ungeduldig und geht fort, um, wie er sagt, später wiederzukommen. Dann nimmst Du die Puppe und legst sie in derselben Weise auf das Sopha im kleinen Salon, wo der Kamin so unausstehlich raucht; kommt der Besucher noch einmal wieder, so fängst Du dieselbe Komödie wieder von vorn an und setzest sie fort, bis er durch das lange Warten ungeduldig, vom Rauch belästigt und Deiner dummen Gesellschaft überdrüssig wird, das Haus verläßt und schwört, es nie wieder betreten zu wollen und mich ruhig sterben zu lassen, ohne einen Finger zu rühren.“

Dieses Mittel dürfte allerdings probat sein, um Störungen abzuhalten.




Allen Freunden der modernen Literatur, der Kunst und Gesellschaft empfehlen wir angelegentlichst die

Europa.
Chronik des modernen Culturlebens.
Wöchentlich ein Heft von 32 zweispaltigen Quartseiten.
Preis vierteljährlich 2 Thlr.

Die „Europa“ ist anerkanntermaßen für jetzt das einzige deutsche Blatt, welches sich bestrebt, einen Ueberblick des gesammten modernen Culturlebens zu geben, und sich die Aufgabe stellt, die Erscheinungen der allgemeinen Literatur, sowie die Erzeugnisse der Kunst auf allen ihre Gebieten, theils durch ausführliche Artikel und Auszüge, theils durch kürzere Mittheilungen, sowohl in möglichster Vollständigkeit als auch in größte Schnelligkeit zur Kenntniß des Publicums zu bringen. Sie wird auch künftig in ihren Anstrengungen zur Erreichung dieses Zieles nicht nachlassen.

Bei der anerkannten Bedeutung unseres Blattes kann selbstverständlich kein deutscher Lesecirkel die „Europa“ entbehren. In kleineren Orten und Gesellschaften, die ein Interesse an Literatur und Kunst nehmen, würde es das Gerathenste sein,

wenn sich eine Anzahl von drei oder vier Theilnehmern zu einem Abonnement auf die „Europa“ vereinigte.
Ganz besonders aber dürfte sich den Abonnenten des jetzt eingegangenen „Morgenblatts“ die „Europa“ als Ersatz empfehlen.
Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Koralle? Das Korall? Wer’s weiß, wird’s wissen! Aber alle Mittelmeer-Völker, von denen doch die Kenntniß der Substanz und der Name kommt, sagen das Korall.
  2. Der Nizzaer Ausdruck für Quallen und ähnliche schwimmende, durchsichtige Seethiere.
  3. Das Innere des Schlosses und seine Anlagen haben bisher nur Wenige gesehen, da dasselbe dem allgemeinen Zutritt verschlossen ist. Wir glauben deshalb, daß der gegenwärtige Aufsatz, welcher theilweise als eine Illustration zu Hauff’s Lichtenstein gelten kann, unseren Lesern um so willkommener sein wird.