Die Gartenlaube (1865)/Heft 47
[737]
No. 47. | 1865. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)
„Hochwürdiger Herr Caplan.“ rief Fräulein Amélie, „lassen Sie diesen wenn auch mißlungenen, doch gutgemeinten Empfang Ihnen ein Beweis sein, wie sehr wir Alle die Wichtigkeit des Augenblicks erkennen, da ein neuer Streiter einzieht in dieses Haus, ein neuer Arbeiter in dem Weinberge des Herrn! Mehrere fromme Seelen in der Gemeinde haben all’ ihre Hoffnungen auf Sie gebaut und vertrauen, daß Sie wirken werden für die wahre Frömmigkeit, für die Lauterkeit und Reinheit der Herzen, die ja täglich und stündlich mehr verschwindet in dieser argen Welt … Nehmen Sie darum als ein Zeichen unserer Hoffnungen dieses von mir und jenen frommen Seelen gesammelte Scherflein und lassen Sie es den Grundstein werden, einen Tugendbund zu gründen, der mitten in dem Verderben der Welt noch ein Häuflein Getreuer vereine und durch die Sündfluth trage, wie die Arche Noah! Seien Sie wie die Taube, die mit dem Oelzweig der Verheißung …“
„Mein Fräulein,“ erwiderte Isidor, sie unterbrechend und etwas bei Seite tretend, daß ihm an ihr vorüber der Weg offen stand, „seien Sie überzeugt, daß ich das besondere Vertrauen, das mir erwiesen werden will, vollkommen erkenne und zu würdigen weiß, aber halten Sie mich nicht für unhöflich, wenn ich offen erkläre, daß ich solche prunkhafte Kundgebungen nicht liebe! Ich habe einen ernsten Weg vor mir, auf welchem mir vor Allem stille Sammlung ziemt … Zürnen Sie auch nicht, wenn ich ebenso Ihr Geschenk zurückweisen muß und bekenne, daß ich kein Freund von Bünden und Conventikeln bin! Tugend ist die Lebensaufgabe jedes Menschen, die ganze Menschheit soll daher ein Tugendbund sein und wenn sie es nicht ist, bietet ihr die Kirche, der Glaube die Mittel, es zu werden … Geben Sie Ihre Spende würdigen Armen, dürftigen Kranken oder wenden Sie es der Schule zu, und Sie haben mehr gethan, als wenn Sie ein Bündlein stiften, das nur zum frommen Hochmuth der Einen, zu Spott und Haß der Andern und endlich zu Hader und Zwietracht führt …“
Die Stubenthür ging auf, der Pfarrer erschien und begrüßte den neuen Hülfspriester, der ihm in das Zimmer folgte.
Eine Secunde noch stand das Fräulein unbeweglich, das Kissen auf den erstarrten Händen; nur der funkelnde Blick verrieth, daß Leben in ihr war. Sie klemmte heftig die Unterlippe zwischen die Zähne, dann fuhr sie mit dem Seidenbeutel in die Tasche, schleuderte, unbekümmert um die feine Stickerei, das Kissen in die Ecke und rauschte grimmig die Treppe hinauf.
Bald darauf verließen die beiden Geistlichen das Gebäude, der Pfarrer, um einen Besuch bei dem benachbarten Gutsherrn zu machen, Isidor, um zum ersten Male in die Dorfschule zu gehen, deren Besuch und Ueberwachung ihm übergeben worden war.
Franzi hatte sich inzwischen an die Rückseite des Hauses geflüchtet und saß auf einer Bank unter dem Laubengange des obern Stocks, eine mächtige Schüssel mit Aepfeln neben sich, die sie schälte und zerschnitt. Die Thränen waren aus ihren Augen verschwunden, aber es schwebte noch über denselben wie ein Regengewölk, das jeden Augenblick bereit ist, neue Tropfen herabzuschicken. Es war ein freundlicher Anblick, sie so geschäftig zu sehen, während vom Laubgange herab ein Taubenpaar zu ihr herniedergurrte, neugierig genäschige Hühner furchtlos herantrippelten, um an den Obstschalen zu picken, und von dem kleinen Pfuhle jenseits des Obstangers einige Enten laut schnatternd und mit vorgestreckten Hälsen eilig herbeiwackelten – sie kannten alle die gewohnte, freundliche Pflegerin und wollten sie begrüßen. Diese aber bemerkte sie kaum; so sehr war sie in ihre Arbeit oder in ihre Gedanken vertieft, daß sie zuletzt der erstern vergaß und den halbgeschälten Apfel und das Messer in den Händen sinken ließ.
Ueber den Weg her kam Kathrin, den Melkkübel in der Hand, um ihn am Brunnen blank zu scheuern.
Sie blieb einen Augenblick stehen. „Ich glaub’ gar, Du hängst den Kopf,“ rief sie dann nähertretend; „etwa gar, weil die Fräul’n Dich wieder einmal ang’fahrn hat? Ich mein’, Du könntest es schon bald gewohnt sein und Dir nichts mehr d’raus machen!“
„Ja, wenn ich das könnt’!“ seufzte Franzi. während Kathrin den Melkkübel auf die Bank stellte, um ungestörter plaudern zu können. „Ich bring’s nit zuwegen und es kommt mich so hart an, weil sie sonst alleweil so gut gewesen ist mit mir … und jetzt kann ich ihr gar nichts mehr recht machen …“
Kathrin trällerte halblaut den Anfang eines Schnaderhüpfels. „Das könnt’ ich Dir schon sagen, warum das so ist,“ sagte sie dann, „das ist der Alte-Jungfern-Humor!“
„Geh’ doch, Du ungute G’sellin,“ erwiderte Franzi. „Wenn das so wär’, warum bist Du alleweil gut aufgelegt? Bist Du nit auch …“
„Ein’ alte Jungfer? Ja, Gott Lob, und in allen Ehren … aber bei Unsereinem ist das ganz was Andres. Ich arbeit’ mich aus, rechtschaffen, alle Tag’, aber die so viel sitzen und nichts thun, die kommen auf allerhand Gedanken und können’s nit verwinden, wenn das Bissel Schönheit einmal dahingeht!“
[738] „Du hast eine recht böse Zung’, Kathrin, das ist bei der Fräul’n gewiß nit so …“
„Net?“ fragte die Dirne und rückte traulich näher. „Sag’ einmal, wie lang ist es denn her, daß sie nicht mehr so gut mit Dir ist? Daß Du ihr nichts mehr recht machen kannst? Ist es nit seit der Priminz, seit ich Dir das Kranzel aufgesetzt hab?“
„Ja, ja,“ sagte Franzi nickend, „die Zeit wird wohl zutreffen …“
„Na also – siehst’, daß ich Recht hab’! Das war der erste Verdruß, daß Du Kranzeljungfer ’worden bist und sie nit …“
Franzi lachte hell auf wie ein Glöckchen … „Was Du bös bist!“ rief sie. „Dazu ist die Fräul’n ja doch …“
„Zu alt, meinst Du? Auf das kommt’s nit an. Der zweit’ Verdruß war, daß der – Moosrainer Isidor, will ich sagen, der junge Herr, den Ehrentanz mit Dir gemacht hat und nit mit ihr, sie hat einmal ein Augenmerk auf ihn …“
Franzi erglühte, wie eine Antlas-Rose … „Das sind schon wieder gotteslästerliche Reden,“ flüsterte sie, „ich mag nichts mehr hören …“
„Derenthalben wird’s doch nit anders!“ lachte Kathrin. „Warum hätt’ sie sonst überall herumgered’t im Dorf, daß sie es dahin bringen will, daß der Herr hier bei uns bleibt? Warum hätt’ sie ihm einen solchen Empfang gemacht, der ihr fein sauber in’s Wasser gefallen ist? Warum hat sie Dich ganz vorn hingeschoben, als damit der Herr, der Dich als Kranzeljungfer g’sehn hat, Dich im Stallgewand sehen soll, dieweil sie dabeigestanden und auf’putzt g’wesen ist, wie der Pfingstl?“
Die Hausglocke ertönte und oben im Gange wurden rasche Tritte hörbar.
„Sie kommt!“ rief Kathrin. „Da nehm’ ich meinen Kübel und mach’ mich fort, sie braucht’s nit zu merken, daß wir sie ein Bissel ausgericht’t haben …“
Sie verschwand. Franzi fuhr mit beklommener Emsigkeit in ihrer Arbeit fort; nach wenigen Augenblicken stand das Fräulein schon vor ihr und schnauzte sie an, was sie hier mache.
„Was Sie mir angeschafft haben,“ antwortete sie ruhig, „ich schäle die Aepfel zu den Kücheln …“
„Dummes Ding.“ rief das Fräulein keifend und entriß ihr die Schüssel, daß die Aepfel zur Erde kollerlen, „kannst Du nicht verstehn, was ich sage? Warum soll ich heute, an einem simpeln Werktage, Aepfelküchel backen? Ist das Haushalten nicht theuer genug? Geht nicht schon Geld genug auf?“
Franzi las ruhig die Aepfel auf. „Aber Fräul’n,“ sagte sie schüchtern, „Sie haben es doch angeschafft und haben gesagt, es wär’ wegen …“
„Pack’ Dich in Deinen Stall!“ schrie die Andere entgegen. „Nichts habe ich gesagt, vom nächsten Feiertag habe ich gesprochen. Es wäre wohl der Mühe werth, so viel Aufhebens zu machen wegen eines solchen …“
Sie verstummte, denn die nach der Küche führende Thür ging auf und an der Schwelle stand eine hagere Gestalt in einem langen, schwarzen, sehr abgetragenen Rocke, mit einst weiß gewesener Halsbinde und einem unförmlichen Hute, dessen Krempe der Mann mit behenden Fingern im Kreise herumlaufen ließ. Das Gesicht war von scharfgeschnittenen, gemeinen Zügen und das Haar verrieth, obwohl es bäurisch kurzgeschoren war, seine brandrothe Farbe nur zu deutlich.
„Ei, sieh da, der Herr Schullehrer!“ rief das Fräulein, plötzlich umgewandelt, mit dem freundlichsten Lächeln. „Sie kommen ja zu ganz ungewohnter Zeit … ist denn die Schule schon aus …?“
„Nein, hochgebornes, höchstgeehrtes Fräulein,“ antwortete der Schullehrer mit tückischem Augenblinzeln, „aber ich habe mich auf einen Augenblick losgemacht … der neue Herr Caplan ist drüben, und da wollte ich in aller Geschwindigkeit dem Herrn Pfarrer …“
„Ah, ich verstehe Sie …“ rief nähertretend das Fräulein, „schade nur, daß Hochwürden Herr Onkel nicht zu Hause sind; aber ich bin da. Sagen Sie mir, was Sie zu sagen haben, ich werd’ es bestellen, wie er heimkömmt … Hab’ ich es errathen? Betrifft es den neuen Caplan? Er macht auch drüben, auch in der Schule verkehrte Sachen?“
„Schauderhafte!“ seufzte der Schullehrer wie zuvor. „Er verfährt in einer Weise, wie sie hier zu Lande noch nie dagewesen, – so lang’ eine Schule besteht … Hochgebornes, höchstgeehrtes Fräulein, es sind bald zehn Jahre, daß eine hohe, reichsgräfliche Gutsherrschaft für Belohnung treuer Dienste, so ich dem jungen Herrn als Kammerdiener auf Reisen und auch in sonstigen Dingen geleistet, mich auf den Schuldienst loci präsentirt hat: es ist ein gutes Plätzchen, das seinen Mann nährt, und ich befinde mich in dem bequemen Hause und den Grundstücken, die dazu gehören, wie der Fisch im Wasser, aber wenn dieser neue Herr Caplan noch einmal in meine Schule kommt, dann nehme ich den Hut untern Arm, hänge den Schlüssel an den Nagel und gehe auf und davon …“
„Erzählen Sie doch,“ drängte das Fräulein, indem sie den Erregten am Arm faßte und in das nahe Gemüsegärtchen führte. „Kommen Sie da herein, da sind wir ungestört, und damit Niemand erräth, wovon wir reden, geben Sie sich den Anschein, als wenn Sie mir Etwas an meinen Pflanzen und Samen bemerken wollten …“
„Vortrefflich!“ sagte der Schullehrer, geschmeidig nachschlüpfend, und bückte sich, der Weisung gemäß, zu den Kohlköpfen nieder; „es würde mich auch umbringen, wenn ich es nicht erzählen dürfte. Zuerst, wie der Herr in’s Schulzimmer kam, da wollt’ ich ihm eine Ehre anthun und ließ die Kinder den Katechisi aufsagen und den schnurrten sie her, daß es nur so eine Lust war. Ich denke, wie’s vorbei ist, nun wird das Lob nicht ausbleiben, aber statt dessen fängt er die Kinder zu fragen an, ob sie das, was sie auswendig gelernt hätten, auch verständen, und setzt ihnen und nebenbei auch mir auseinander, daß das Denken die Hauptsache sei beim Lernen … Er hatte die Weber’s Hanne vorgenommen und wollte ihr das Denken lernen … Höchstgeehrtes Fräulein, die dickköpfige Weber’s Hanne und meine Bauerntölpel alle … und denken!“
„Schön, recht schön! Das sind ja herrliche Grundsätze für einen Caplan!“ rief giftig das Fräulein. „Aber weiter, weiter!“
„Es ging dann bald nicht mehr weiter,“ fuhr der Lehrer fort. „In der hintern Bank fingen ein paar Buben zu raufen an, des Wirths seiner und der Steiger Lenz. Die beiden Schlingel können kaum über den Tisch heraussehen, aber sie haben eine Feindschaft aufeinander, wie ein paar Große, und wo sie nur können, prügeln sie sich durch. Ich hab’ daher gleich meinen Haslinger hervorgeholt und wollt’ ihnen tüchtig über die Köpfe … da … ich hab’ gemeint, der Schlag müßte mich rühren auf dem Fleck … da nimmt mir der Herr Caplan den Stock aus der Hand, läßt die beiden Lümmel vor sich hinkommen, den einen rechts und den andern links, und mir sagt er, die Kinder müsse man mit Liebe ziehen … ich bitte Sie, Fräulein, kann man so was ruhig anhören? Den Hinterpolster gehörig ausgeklopft, wer nicht pariren will, das ist die wahre Liebe!“
„Und die Buben?“
„Die haben ihn angeschaut, wie die Kuh das neue Thor, dann hat er angefangen, ihnen zu erzählen, daß er auch einmal in dieser Stube gesessen und ein Bauernbub’ gewesen sei, wie sie, und daß er noch jedes Kind gern habe, das da zu Hause sei, und daß sie einander auch gern haben sollten, und hat ihnen die Geschichte erzählt von David und Jonathan … Da hab’ ich’s nicht mehr ausgehalten, ich hab’ gesagt, es wär’ mir übel, und das war auch wahrhaftig nicht gelogen … ich machte, daß ich fortkam, und sah nur noch unter der Thür, daß die Buben zu flennen anfingen und der neumodische Friedensstifter ihre Hände ineinanderlegte …“
„Es ist genug,“ rief das Fräulein, „ich werde dem Herrn Onkel, wie er nach Hause kommt, Alles gehörig auseinandersetzen … Es ist klar, wir haben uns Alle in diesem Menschen getäuscht … er ist ein Freigeist, vielleicht gar …“
„Ein zerstörender Wurm mitten in dem Herzen der gesunden Pflanze,“ sagte der Lehrer, über eine Kohlstaude gebückt … „den muß man zertreten …“ Er nahm den Wurm vom Blatt, schleuderte ihn zu Boden und zertrat ihn im Kies des Weges. „Meine ganze Hoffnung ruht auf Ihnen, hochgebornes, höchstgeehrtes Fräulein; Sie vermögen Alles! Befreien Sie mich, befreien Sie die unverdorbene Jugend von diesem heimlichen Freimaurer … Und ach,“ fuhr er mit zärtlichem Augendrehen fort, „wenn Sie auch meiner andern geheimen Wünsche nicht vergessen wollten … Die Behausung eines Dorfschullehrers ist zwar nicht würdig, daß solcher Glanz in sie einziehe, allein ein Wort von Ihnen verschafft mir eine Lehrerstelle in der Stadt, und dann dürfte ich vielleicht hoffen, daß diese seine Hand aus ihrer Höhe herniederreicht und ihren innigsten Verehrer zu sich emporzieht …“
[739] Der zärtliche Bewerber sprach diese Worte, indem er dem Fräulein eine ausgewachsene Salatdolde vorhielt und wie erklärend daran herumdeutete.
Mit gezierter Verschämtheit nahm sie die Dolde in Empfang, als wär’ es eine jungaufbrechende Rosenknospe, und wandte sich zum Gehen. „Ich habe das Gelübde gethan, meine Tage in jungfräulicher Reinheit zu verleben, und es ist sündhaft von Ihnen, einen so frommen Entschluß erschüttern zu wollen; aber wenn es so der Wille Gottes sein sollte, würde es Sünde sein, ihm zu widerstreben!“ –
Der Pfarrer war bei dem Gutsherrn zu Tisch geblieben und kam erst zum Abendessen zurück. Die beiden Geistlichen nahmen es gemeinsam ein; nachdem abgespeist war, erschien das Fräulein und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Es war das ihr Hausrecht, sowohl als Verwalterin wie als Verwandte des Hausherrn. Sie war wieder so freundlich und lächelnd wie am Morgen; der Anblick des hübschen jungen Mannes hatte sie wieder in etwas besänftigt und entwaffnet, und sie schwankte noch, ob sie ihrem Grimm sofort freien Lauf lassen oder dem Frevler Zeit lassen solle, sich eines Andern zu besinnen. Während eines allgemeinen gleichgültigen Gesprächs, in welches Isidor einige anziehende Mittheilungen aus der eben erst verlassenen Hauptstadt verflocht, neigte sie sich immer mehr zur Milde, und es war eine Art von Vermittlungs-Versuch, daß sie von der Schule zu sprechen begann, das dort Vorgefallene erzählte und über die Neuerungen des Caplans in einem leichten spöttischen Tone sich erging. Sie war dabei mit häuslicher Arbeit beschäftigt, indem sie ein schadhaftes Stück Leinen ausbesserte. Isidor hörte gelassen zu und versuchte einigemal, das Gespräch auf etwas Anderes zu bringen, aber je zurückhaltender er sich benahm, desto muthiger drang sie vor und rückte ihm zuletzt geradezu mit Fragen auf den Leib.
„Sie antworten nicht, Herr Caplan?“ sagte sie. „Das beweist, daß Ihre Gründe auf so schwachen Füßen stehen, daß Sie deren Widerlegung fürchten und sich deshalb mit denselben nicht herauszutreten getrauen. Ich bleibe dabei, daß die Pädagogik mit ernster Strenge weiter kommt, als mit schwächlicher Güte…“
Isidor neigte sich etwas über den Tisch und zeigte mit dem Finger auf die Näherei. „Diesen Lappen sollten Sie hierher setzen, mein Fräulein,“ sagte er.
Sie lachte auf. „Das hieße geradezu, wie man im Sprüchwort sagt, den Flecken neben das Loch setzen!“ rief sie. „Nein, das sehe ich schon, bei der Näherei dürfen Sie nicht mit reden, davon verstehen Sie nichts …“
„Was schadet das?“ fragte er unbefangen entgegen. „Es kommt wohl öfter vor, daß Jemand über Dinge mit spricht, die er nicht versteht …“
Die Getroffene saß einen Augenblick wie unbeweglich, dann stieß sie mit funkelnden Augen den Stuhl zurück, daß er zu Boden schlug, eilte aus der Stube und warf die Thür hinter sich in’s Schloß, daß das Haus in den Grundvesten erbebte.
„Ei, ei, mein junger Herr,“ sagte der Pfarrer, „was machen Sie denn? Stören Sie mir doch den Hausfrieden nicht, der geht mir über Alles! Wer das Regiment der Liebe so eifrig verficht, der sollte mehr Nachsicht haben mit den Schwächen der Menschen!“
„Ich bekenne mein Unrecht,“ entgegnete Isidor beschämt, „und werde es morgen auch dem Fräulein gegenüber thun, eine augenblickliche Aufwallung des Zorns und Unmuths riß mich dahin … es ist die Gemüthsregung, die ich leider noch immer nicht völlig zu beherrschen vermag. Meine Rechtfertigung kann ich nur darin suchen, daß ich durch den vorausgegangenen Spott gereizt war!“
„Spott? Du lieber Gott, das müssen Sie so scharf nicht nehmen! Das ist nun einmal die Manier meiner Nichte … an die werden Sie sich schon gewöhnen. Muß man sich doch an so gar Manches gewöhnen im Leben!“
„An nichts, was den Grundsätzen eines Mannes widerspricht. Eh’ ich an Solches mich gewöhne, will ich zu Grunde gehen!“
Der Pfarrer sah ihn gütig an. „Sehen Sie, junger Herr,“ sagte er, „das könnt’ ich nun auch übelnehmen, aber ich thu’s nicht, weil mir Ihre Frische und Natürlichkeit gefällt! Na, neue Besen kehren gut; werden auch anders reden, wenn Sie einmal Ihre Fünfzig auf dem Rücken haben, und werden wie ich einsehen, daß es nichts Besseres giebt, als die Ruhe! Meine Nichte hat ihre schlimmen Seiten, aber ich bin an sie gewöhnt und bin ihr Verpflichtungen schuldig … Sehen Sie, meine Pfarrei ist mit großer Oekonomie verbunden … wie hätte ich die übernehmen können, ein armer Taglöhnerssohn, der schon seine Studien nur mit Noth, Entbehrung und Geduld durchmachen mußte? Ein Bruder meines Vaters hatte studirt, war ein hoher Beamter geworden und hatte glücklicher Weise seiner einzigen Tochter ein Vermögen hinterlassen, das für sie nicht ausreichte, für mich aber mehr als genug war. So nahm ich sie zu mir und es war uns Beiden geholfen. Ich bin noch immer ihr Schuldner … die Zeiten sind allzu schlecht, das Getreide hat keinen Preis … das ist das Unglück!“
Isidor erhob sich. „Ich habe kein Recht, hier eine Meinung auszusprechen,“ sagte er, „aber das weiß, das fühle ich, daß ich eine solche Stellung nicht ertrüge …“
„Du lieber Gott, Gewohnheit thut viel,“ entgegnete der Alte, „und Nothwendigkeit noch mehr! … Weiß wohl, die Jugend hat allerlei schöne Träume, ich habe sie auch gehabt; aber das Leben zertrümmert all’ das bunte Spielzeug, daß man froh sein muß, wenn man eine Scherbe retten und als Erinnerung in einen Winkel flüchten kann! Also thun Sie mir den Gefallen, Herr Caplan, und stören Sie mir den Hausfrieden nicht … und jetzt gute Nacht, ich muß noch mit dem Baumann reden, der fährt morgen mit Haber auf die Schranne … vielleicht kann er doch auch ein paar Scheffel Korn mitnehmen …“
Das war der erste Abend im Pfarrhause.
Wohl versuchte es Isidor, am andern Tag seine Unart gut zu machen, seine Entschuldigung wurde mit kalt ablehnender Höflichkeit angehört, aber das Verhältniß war und blieb gestört. Der Herbst machte dem Winter Platz, ohne daß Besonderes vorfiel und hierin sich Etwas änderte. Isidor, viel beschäftigt, war artig, aber gemessen; das Fräulein ging mit einer Miene herum, in welcher verhaltener Grimm lauerte, wie ein Gewitter am Horizont, das nur eines Windzuges bedarf, um loszubrechen. Eine Menge kleiner Vorfälle dienten, wie Wetterleuchten die Lage zu beleuchten. Isidor’s Gesundheit hatte sich noch immer nicht befestigt, und als der Winter mit besonderer Strenge eintrat, zeigte sich ein Brustleiden mit quälendem Husten, das eine gefährliche Wendung nehmen konnte und darum Vorsicht erheischte. Der Arzt verordnete leichte Speisen, die Haushälterin verweigerte sie, weil der Caplan nichts anzusprechen habe, als die gewöhnliche Kost; der Leidende sollte zu verschiedenen Zeiten Thee trinken, das Fräulein schlug die Bereitung als zu mühsam ab; die Winterkälte war in dem großen Caplanei-Zimmer doppelt empfindlich, sie gab täglich nur ein bestimmtes vorgezähltes Maß von Holzscheiten, mit denen ausgereicht werden mußte. Mehr als einmal war Isidor, durch seine Kränklichkeit besonders reizbar, nahe daran, in Zorn aufzulodern, umsomehr, als die Absichtlichkeit dieser Quälereien offen zu Tage lag; aber er bezwang sich und half sich durch Vermittlung seiner Eltern, denn vom Pfarrer war Hülfe nicht zu erwarten. Dieser stand ganz unter der Gewalt des Fräuleins und war ihr gegenüber vollständig ohnmächtig; wagte er einmal einen schwachen Versuch des Widerstands, so endete der Auftritt immer mit Weinen, Geschrei und der trotzigen Erklärung, der Herr Onkel solle ihr Geld herauszahlen, dann wolle sie ihm nicht mehr im Wege sein.
Franzi kam Isidor fast nie zu Gesicht; geschah es, so war die ganze Begegnung von seiner Seite ein freundlicher Gruß, von ihr eine ehrerbietige stumme Verbeugung.
So kam Weihnachten heran.
Isidor war in seiner Stube, der Stunde harrend, wo der mitternächtliche Gottesdienst, die Christmette, beginnen sollte. Sinnend trat er an’s Fenster und schaute in das blitzende Sterngewimmel der kalten Winternacht, von dem die Freude der Himmel herniedersteigen sollte, und auf die schneebedeckten Dächer der Bauernhäuser, aus deren niedrigen Fenstern röthlicher Schimmer auf den davor aufgehäuften Schnee fiel und all die Erdenfreude verkündete, die dahinter sich vorbereitete. Plötzlich störten eilende Tritte auf dem frostknarrenden Wege ihn aus seinen Gedanken, die Hausglocke ertönte heftig gezogen und eine jammernde Weiberstimme verlangte nach dem Geistlichen. Es war die Magd aus der Schmiede, die mit der Nachricht kam, die Schmiedin liege im Sterben, sie habe einen Streit mit Vigili gehabt, der mit Thätlichkeiten geendet. Nach wenig Augenblicken eilte Isidor dem Schmiedehause zu.
Als er zurückkam, war der Pfarrhof leer; alle Anwohner befanden sich bei dem Gottesdienst in der Kirche, aus welcher das Hosiannah der Orgel feierlich herübertönte. Erst nach mehrmaligem Klopfen wurde geöffnet und Franzi stand vor ihm, ebenfalls zum Kirchgang gerüstet.
[740] Ueberrascht blieben Beide einen Augenblick wortlos; die hoch erhobene Lampe in des Mädchens Hand warf ihren vollen Schein auf das liebe Gesicht und die herzigen Kinder-Augen.
„Du noch hier?“ fragte Isidor. „Ich dachte Dich längst in der Kirche.“
„Wär’ auch längst schon dort,“ antwortete sie schüchtern, „aber die kranke Kuh war so elend, daß ich ihr noch einen warmen Trank angebrüht hab’ … ich will’s jetzt noch nachholen und denk’ unser lieber Herrgott nimmt den Willen für’s Werk; wenn man seine Schuldigkeit thut, ist es ja auch ein Gottesdienst … nicht wahr?“
„Gewiß, und nicht der geringste … aber ich finde, Du siehst blässer aus, als früher … Du hast wohl von dem Vorfall in der Schmiede gehört und Dich um des Vigili willen geängstigt?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Es ist auch nicht so sehr schlimm, die Leute machen gar zu gern aus einer Mücke einen Elephanten … Die Schmiedin hat eine Schramme am Hals, die heftig blutete, aber Gefahr ist nicht dabei … Ich bin auch nur darum so lange dort geblieben, um zwischen dem aufbrausenden Burschen und der hartnäckigen Frau Frieden zu stiften. Es sind ein paar harte Steine, die da auf einandertreffen, aber ich hoffe, sie haben sich wirklich ausgesöhnt!“
„Gewiß,“ sagte Franzi innig und sah zu ihm empor, „wenn Sie reden, Hochwürden Herr Isidor. da geht Einem das Herz auf …“
„Meinst Du? Ich wollte, mein Bewußtsein könnte Dir Recht geben – aber jetzt leuchte mir in meine Stube. Es ist grimmig kalt und mich schüttelt es, wie Fieberschauer; ich fürchte, ich habe mich erkältet …“
Schweigend ging sie die Treppe hinan und öffnete das Zimmer; eisige Luft strömte ihnen entgegen, die Wände schimmerten vom Frost und an den Fenstern waren Eisblumen aufgeschossen. Sie zündete die Studirlampe an und zog den Schirm herab, grüne Dämmerung lagerte sich über das nächtlich einsame Gemach; unwillkürlich standen Beide sich zögernd gegenüber.
Es war etwas zwischen ihnen, was an’s Licht drängte.
„Du bist doch traurig,“ sagte Isidor, „ich seh’ es jetzt ganz deutlich … Warum?“
„Kann wohl sein,“ flüsterte sie, „zumal heut, wo für Alles ein Freudentag ist und … kann wohl sein, daß es mir heut besonders schwer auf’s Herz gefallen ist, daß ich ein Findelkind bin, daß ich meine Eltern nicht einmal kenn’ und keine Menschenseel’ hab’, die sich um mich annimmt …“
„Keine Menschenseele, sagst Du? Ist das recht? Hast Du nicht mich? Ich bin Dein Bruder, Franzi, und will an Dir handeln wie ein Bruder! Ich versprach es schon meinem Vater, Alles zur Entdeckung Deiner Eltern zu thun, und will nicht ruhen, bis es mir gelungen ist … Hast Du gar keine Spur von ihnen, gar keinen Anhaltspunkt?“
„Nichts, als das Ring’l da … ich heb’ es sonst heilig auf und zeig’ es keinem Menschen … aber heut zum heiligen Abend hab’ ich’s angesteckt …“
„Zeige doch,“ erwiderte Isidor und betrachtete den unscheinbaren Silberreif. „Kein Zeichen daran, als ein paar halb verwischte Buchstaben; ich will sie bei Tag betrachten, wenn Du mir den Ring anvertraust …“
„Gern,“ rief sie rasch, „Alles, was Sie wollen … Alles.“
In Isidor’s Herzen wallte es heiß empor. „So bist Du mir gut, Franzi?“ sagte er heiß und innig.
Sie erwiderte nichts, aber sie erglühte über und über und sträubte sich nicht, als er ihre Hand erfaßte und sie leise näher zog; sein Gesicht senkte sich zu ihr herab, daß er die Gluth ihrer Wangen fühlte … da ermannte sich der gute Geist in ihm; er ließ ihre Hand los und trat zurück.
„Auch ich bin Dir gut,“ sagte er, „wie einer Schwester …“
Sie sprach wieder nichts, aber sie fühlte wie ihr das Blut zum Herzen zurückdrängte, mit dem Worte war es ausgesprochen, was sie in ihrer schuldlosen Unbefangenheit nie geahnt hatte: die Liebe, die sie für den Jugendfreund empfand, war nicht die einer Schwester …
Sie schritt der Thür zu. „Es ist so kalt,“ sagte sie dort, „das könnte Ihnen schaden, Herr Isi … Herr Caplan; ich will Feuer anschüren …“
„Thu’ das, mein Kind … und gute Nacht … meine gute treue Schwester, gute Nacht!“
Er war allein; das beglückende Bewußtsein, sich selbst besiegt zu haben, durchglühte ihn, daß er die Kälte nicht mehr empfand; die schimmernden Wände und Fensterscheiben schienen wie brennende Freudenkerzen …
Bald ward draußen der Schritt des Mädchens hörbar und das Poltern des Holzes, das sie zu Boden warf … aber im nämlichen Augenblick erscholl auch die keifende Stimme der Haushälterin.
„Komm’ ich endlich dahinter,“ schrie sie, „wer der Dieb ist im Hause? Ist es mir doch im Geist vorgegangen, daß ich früher fort bin aus der Kirche! So also geht es im Hause zu? Weg vom Ofen, schlechte Person!“
Franzi war wie versteinert. „Ich bin keine Diebin,“ stammelte sie, „und keine schlechte Person …“
Mehr hatte Isidor im Zimmer nicht gehört; schon hatte er die Thür geöffnet und stand erregt der Zürnenden gegenüber. „Beruhigen Sie sich, Fräulein,“ sagte er, „es geschah auf mein Verlangen. Ich bin zu unwohl, um im kalten Zimmer schlafen zu können, und werde Ihnen morgen das Holz ersetzen …“
„So?“ rief das Fräulein, die immer mehr außer sich gerieth. „Auch das noch? Sie selber verleiten die Ehhalten und unterstützen sie gegen die Herrschaft? Und warum ist die Person nicht in der Mette? Ist wohl absichtlich daheim geblieben, um ungestört zu sein?“
„Himmel und Erde!“ rief Isidor, dessen Stirnadern schwollen, „kein solches Wort mehr gegen meine Schwester, oder …“
„Schwester?“ höhnte das Fräulein. „Ist das so geschwind gegangen? Eine lüderliche Dirne ist sie und wenn sie nicht über die Stiege hinuntereilt, zeig’ ich ihr mit dem gestohlenen Scheit den Weg!“
Franzi schrie auf; die Wüthende hatte wirklich ein wuchtiges Scheit ergriffen und es zum Schlage erhoben, aber Isidor fing den Arm auf und entrang es ihr. Außer sich wollte sie sich mit den Händen auf das Mädchen stürzen – da stieß Isidor mit voller Manneskraft sie zurück, daß sie taumelte, mit dem Kopfe an die Wand schlug und heulend und blutend zu Boden stürzte.
Isidor stand wie versteint; zu seinen Füßen kniete das Mädchen und betete und weinte verwirrt durcheinander in unsäglicher Herzensangst.
An der Treppe erschien der vom Gottesdienst heimkehrende Pfarrer, hinter ihm tauchte das rothe Haar und das lauernde Auge des Schullehrers empor.
„Wahrlich,“ sagte der Pfarrer, indem er voll Würde und nicht ohne Bewegung näher trat, „größeres Leid, als durch einen solchen Anblick konnte mir nicht bereitet werden … Bedauernswerther junger Mann … wissen Sie, was Sie gethan? Blut ist durch ihre Hand vergossen worden, Sie sind irregulär: ich werde darüber an das Ordinariat berichten … bis der Bescheid kommt, suspendire ich Sie … ich enthebe Sie Ihres Amts und verbiete Ihnen als einem Unwürdigen jede priesterliche Handlung! Morgen werden Sie den Pfarrhof verlassen, ich kann nichts, als im Gebet Ihrer gedenken!“
An einem rauhen Herbsttage des Jahres 1765 fuhr ein Wagen aus Frankfurt am Main zur Allerheiligen-Pforte hinaus. In demselben saßen der ehrenwerthe Buchhändler Fleischer mit seiner Gattin und ein junger Mensch von sechszehn oder siebzehn Jahren, der indeß geistig und körperlich seinem Alter vorausgeeilt schien. Seine Gestalt war ziemlich groß, kräftig und wohlgebildet, das Gesicht wunderbar anziehend und interessant. Feine geistreiche Züge, die Stirn weit und hochgewölbt, wie ein Tempel des Genius, die Nase leicht gebogen, der Mund mit der vollen Oberlippe wie zum Kuß geschwellt und die braunen Augen von herrlichem Glanz erfüllt, die ganze Welt klar erfassend und poetisch wiederspiegelnd. Er hieß Wolfgang Goethe und war der Sohn des Herrn
[741][742] „Rath Goethe“ zu Frankfurt a. M., sah aber der genialen Mutter weit ähnlicher, als dem etwas nüchternen, pedantischen Vater. Nachdem er einen guten Unterricht genossen, Vielerlei gelernt, auch manche Allotria getrieben, reiste er jetzt in guter, befreundeter Gesellschaft nach der berühmten Universitätsstadt Leipzig, um sich auf den Wunsch seines Vaters dem Studium der Jurisprudenz zu widmen.
Vor hundert Jahren, wo es bekanntlich noch keine Eisenbahnen gab, war eine Reise von Frankfurt am Main nach Leipzig keine Kleinigkeit und es fehlte auch nicht an Abenteuern. Der Weg war schlecht, vom Regen der Boden aufgeweicht und es dunkelte bereits, als sich der schwerbepackte Reisewagen zwischen Hanau und Gelnhausen langsam die Höhe hinaufschleppte. Der junge Goethe wollte, trotzdem es schon finster war, lieber zu Fuß gehen, als sich der Gefahr aussetzen, umgeworfen zu werden. Da plötzlich erblickte er auf seiner nächtlichen Wanderung in der Tiefe eine Art von wundersam erleuchtetem Amphitheater. Unzählige Lichter blitzten und flimmerten zu ihm empor, unruhig auf- und niederschwebend, gleich einem Geisterreigen. Waren es warnende Irrlichter, welche aus dem alten Steinbruch aufstiegen, oder eine leuchtende Elfenschaar, die den künftigen Dichter grüßte?
Dem poetischen Wunder folgte die prosaische Wirklichkeit nach; der Weg wurde immer schlechter, bis endlich im spätern Verlauf der Reise der Wagen in der Gegend von Auerstädt stecken blieb. Da half kein Rufen und kein Schreien um Hülfe, Niemand kam und die Reisenden mußten aussteigen und selbst die Hand anlegen, um die versunkene Equipage wieder flott zu machen; dabei strengte sich der angehende Student so sehr an, daß sich die Bänder seiner Brust übermäßig ausdehnten und er eine lange Zeit andauernden Schmerz empfand. Jedoch wurden diese Strapazen bald vergessen, als Goethe gerade zur Meßzeit glücklich in Leipzig anlangte. Er war jung, lebenslustig, auch fehlte es ihm nicht an Geld und Empfehlungen. Vor Allem aber besaß er den frischen Muth der goldenen Jugend und eine hinreißende Liebenswürdigkeit, durch die es ihm leicht wurde, nicht nur die Herzen der Frauen, sondern auch den Beifall und die Anerkennung sogar älterer und bedeutender Männer zu gewinnen.
Leipzig selbst gefiel ihm mit seinen schönen, hohen Gebäuden und reinlichen Straßen, die er nach allen Richtungen, besonders gern im Mondenschein durchstrich, wenn sie halb beschattet, halb beleuchtet ihn zu einer nächtigen Promenade einluden. Auch die Bewohner mit ihrem feinen Ton, ihrem gesitteten Wesen und anständigen Manieren sagten ihm zu. Mit Recht galt Leipzig vor hundert Jahren für eine der ersten Städte in Deutschland und war tonangebend für Literatur, Sitte und Mode. Lessing, der daselbst gelebt, rühmte, daß man hier die Welt im Kleinen sehen kann, und Goethe selbst sagte später in seinem Faust: „Mein Leipzig lob’ ich mir, es ist ein klein Paris und bildet seine Leute.“ Der Handel blühte, die berühmten Messen zogen eine große Menge von Fremden aus allen Weltgegenden herbei, tüchtige Männer lehrten an der Universität und in den bürgerlichen Kreisen herrschte allgemein Wohlstand und eine in dem übrigen Deutschland seltene Bildung.
Einstweilen sah sich Goethe nach seiner Ankunft nach einem passenden Quartier um, das er in dem Hause „zur großen Feuerkugel“ am Neumarkt fand. Er bezog daselbst zwei artige Zimmer auf dem Hofe, ließ sich von dem Rector Magnificus Ludwig in die Zahl der akademischen Bürger aufnehmen und, wie es der Brauch in jener Zeit verlangte, in die „bairische Nation“ als Student inscribiren. Darauf zog er sein bestes Tressenkleid an, das der Bediente seines Vaters, ein ehemaliger Schneidergeselle, verpfuscht hatte, und stattete dem Herrn Professor Böhme, dem er empfohlen war, seine erste Visite ab. Dieser nahm den jungen Studenten freundlich auf und stellte ihn seiner Gattin, einer kränklichen, zarten und feingebildeten Dame, vor. Sie nahm sich seiner freundlich an, lehrte ihm Piquet und l’Hombre, tadelte seinen Frankfurter Dialekt und seine unmodische Garderobe, die er gegen eine neue vertauschen mußte, übte aber vor Allem einen günstigen Einfluß auf seinen Geschmack aus, so daß er eines Tages alle seine mitgebrachten Versuche, „Poesie und Prosa, Pläne, Skizzen und Entwürfe sämmtlich zugleich auf dem Küchenheerde verbrannte.“
Bald langweilten ihn auch die Collegien, selbst der berühmte Gellert, vor dem seine leidenschaftliche Prosa keine Gnade fand, genügte ihm nicht. Seine Hefte verzierte er mit Caricaturen, und als die „köstlichsten Kräpfeln“ in der Nähe des Professors Winkler ihm warm aus der Pfanne entgegendufteten, war es um seine juristischen Studien geschehen. Dagegen interessirten ihn die naturwissenschaftlichen Gespräche einiger Mediciner, mit denen er gemeinschaftlich bei den Hofrath Ludwig den Mittagstisch einnahm, und regten ihn zum Nachdenken an. Vorzugsweise aber beschäftigte er sich mit Literatur, Kunst und dem Studium des Alterthums, wovon Herr Professor Böhme in seinem Haß gegen Alles, was nach schönen Wissenschaften schmeckte, nichts wissen wollte. Nebenbei besuchte er die bessere Gesellschaft, Bälle, Concerte, Assembléen, wo er tanzte und einem „gnädigen Fräulein“ die Cour schnitt, das ihn durch ihre Koketterie „avec un air hautain“, wie sein Freund Horn in einem Briefe nach Frankfurt berichtet, zu bezaubern schien. Trotzdem aber fühlte er sich „einsam, ganz einsam“ und litt an jener eigenthümlichen Melancholie, welche die Jugend umschwebt, wie die aufgehende Morgensonne von Dünsten und Wolken umschwebt wird.
Das wurde freilich anders, als sein Freund und Landsmann Schlosser nach Leipzig kam, dem zu Liebe er in dem kleinen Hause am Brühl Nr. 79 bei dem Weinhändler Schönkopf speiste. Die Frau war eine geborene Frankfurterin aus guter Familie und ihre Tochter, welche die Gäste bediente, ein reizendes Mädchen von neunzehn Jahren, mit freundlichen ansprechenden Zügen, frisch und natürlich, ohne jede Koketterie, gut und verständig, sanft und gefühlvoll. Bald hatte sich Goethe in das holde Käthchen verliebt, und sie erwiederte mit unschuldiger Zärtlichkeit seine Neigung. Beide sangen gemeinschaftlich die Lieder von Zachariä am verstimmten Clavier, spielten auf dem Liebhabertheater den „Herzog Michael“ von Krüger, wobei ein zusammengeknüpftes Schnupftuch die Stelle der in dem Stücke auftretenden Nachtigall vertrat, und verstiegen sich sogar bis zu Lessing’s „Minna von Barnhelm“, worin sie natürlich die Hauptrolle übernahmen und unter fremder Firma der eigenen Neigung um so unbefangener folgen konnten. Es war eine schöne Zeit, als die Geliebte ihm täglich den goldenen Wein kredenzte, in dem sich ihr holdes Bild spiegelte, als sie unter den Gästen ihn vor allen durch ihre zärtlichen Blicke und ihr geheimes Lächeln auszeichnete.
Zu der Liebe gesellte sich noch die Freundschaft, indem sich Goethe zu dem zehn Jahre älteren Schlosser, der später sein Schwager wurde, trotz der Verschiedenheit ihres Alters und Wesens hingezogen fühlte. Mit ihm besuchte er die bis jetzt vernachlässigten Leipziger Notabilitäten, zuvörderst den damals hochberühmten und später mit Unrecht geschmähten Professor Gottsched, der im „goldenen Bär“ bei dem Buchhändler Breitkopf wohnte. Die Freunde ließen sich, wie Goethe selbst erzählt, bei dem angesehenen Gelehrten melden. Der Bediente führte sie in ein großes Zimmer, indem er ihnen sagte, der Herr würde gleich kommen. Wahrscheinlich hatten sie eine Gebehrde, die derselbe machte, nicht verstanden, so daß sie glaubten, er habe sie in das anstoßende Zimmer gewiesen. Sie traten herein und erlebten die sonderbarste Scene, denn in diesem Augenblick erschien Gottsched in der entgegengesetzten Thür, ein großer, breiter, riesenhafter Mann, in einem gründamastnen, mit rothem Taffet gefütterten Schlafrock, das ungeheure Haupt kahl und ohne Bedeckung. Dafür sollte jedoch sogleich gesorgt sein, denn der Bediente sprang mit einer großen Allongenperrücke auf der Hand – die Locken fielen bis auf den Ellenbogen – zur Seitenthür herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockener Miene. Gottsched, ohne den mindesten Verdruß zu äußern, hob mit der linken Hand die Perrücke von dem Arm des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so daß dieser, wie es im Lustspiele zu geschehen pflegt, sich zur Thür hinaus wirbelte, worauf der Herr Professor seine Gäste gravitätisch zum Sitzen nöthigte und einen ziemlich langen Discurs mit gutem Anstande durchführte.
Nachdem Schlosser Leipzig verlassen hatte, um eine Stelle als Geheimsecretair bei dem Herzog Friedrich von Würtemberg anzunehmen, schloß sich Goethe nun um so inniger an die Geliebte an. Beide waren jung und schön, aber die Jugend und der Lenz sind auch am meisten von Stürmen bewegt und erschüttert. Trotz seines Glückes war Goethe damals mit sich zerfallen, seine dichterischen Leistungen genügten ihm nicht mehr, er zweifelte an seinem Talent, und doch trug er bereits unbewußt in seiner Brust eine Welt, die nach Gestaltung rang, faßte ihn ein Sehnen nach Unsterblichkeit und führte ihn weit über den friedlichen Kreis eines immer beschränkten Liebesglückes hinaus. Unzufrieden mit sich selbst, verstimmt über sein nutzloses Treiben, ließ Goethe seine Launen an der unschuldigen [743] Geliebten aus, indem er sie mit seiner Eifersucht quälte, mit seinen Widersprüchen kränkte. Bald hatte sie einen oder den andern Gast zu freundlich angesehen, zu viel mit dem gesprochen und mit jenem gar gelacht; bald fand er sie zu heiter, dann wieder zu traurig, bald zu nüchtern, bald zu schwärmerisch, sie sollte nicht mit Andern tanzen, ohne ihn nicht in Gesellschaft gehen. Heute schmollte er mit ihr und zeigte ihr keine freundliche Miene, morgen überhäufte er sie mit seiner Zärtlichkeit, mit Aufmerksamkeiten und Geschenken.
Eines Tages hatte sein Betragen dem armen Mädchen Thränen entpreßt; er selbst irrte unmuthig über sich im Freien umher, wie er gewöhnt war. wenn er Reue empfand. Er schlug den Weg durch das Thor nach dem Rosenthal ein. Da erblickte er zufällig eine junge Linde, in deren glatte Rinde er den Namen der Geliebten im vergangenen Herbst eingeschrieben hatte. Jetzt war es Frühling und der frische Saft quoll aus dem noch nicht verharschten Einschnitte hervor und benetzte gleichsam mit unschuldigen Pflanzenthränen den Namenszug seines Mädchens. Der stumme Vorwurf rührte sein Herz und seine Augen füllten sich mit Thränen. Eilig kehrte er zu ihr zurück, um ihr sein Unrecht doppelt und dreifach abzubittcn. Das gute Käthchen verzieh ihm und ein halb geraubter, halb gern gegebener Kuß besiegelte die Versöhnung.
Aber dergleichen ungestüme Ausbrüche wiederholten sich immer häufiger, besonders seitdem der Doctor Kanne, ein bescheidener und ehrenwerther Mann, die Weinstube besuchte und sichtlich sich um Käthchens Gunst bewarb, ohne jedoch von ihr aufgemuntert zu werden. Es kam zu wahrhaft erschütternden Auftritten, zu schrecklichen Scenen, in denen sich seine ganze leidenschaftliche Natur offenbarte. Mit unendlicher Geduld ertrug sie seine Laune, bis sie endlich, wenn auch mit blutendem Herzen, sich von ihm losriß.
Jetzt erst fühlte er, was er an ihr besessen und durch eigene Schuld verloren hatte. Um so heißer wurde seine Liebe, um so wilder seine Leidenschaft und er ließ kein Mittel unversucht, um sie wieder zu versöhnen. Bitten und Schwüre, Thränen und Versprechungen wurden nicht gespart, weinend sank er zu ihren Füßen und gelobte Besserung. Aber es war zu spät! Er hatte ihre Neigung verscherzt; das kluge Mädchen mochte wohl eingesehen haben, wie gefährlich die Liebe eines Dichters, wie wandelbar und jeder Berechnung spottend das Herz des Poeten sei. Sie selbst litt unaussprechlich, allein sie blieb fest und gegen alle seine neuen Versuchungen unerschütterlich. In seiner Verzweiflung stürzte sich Goethe in einen Strudel wilder Zerstreuungen, um seine Liebe zu vergessen. Dazu kam noch, daß seine mütterliche Freundin, die sanfte Professorin Böhme, nach langer, schmerzlicher Krankheit gestorben war, so daß er ihre warnende Stimme nicht mehr hören konnte. In wilder Gesellschaft brachte er seine Tage und Nächte zu, im Kreise ausgelassener Männer, unter denen „der wunderlichste aller Käuze“, sein neuer Freund Behrisch, der Hofmeister eines jungen Grafen, sich besonders hervorthat. Mit ihm wurden allerlei lustige Suiten unternommen, kecke Streiche ausgeführt, das Philisterthum verspottet, die Pedanterie der Professoren in lustigen Versen verhöhnt und ein gewisser Garten besucht, wo Goethe einige Mädchen kennen lernte, die jedoch besser als ihr Ruf waren. Trotzdem übte der Sonderling Behrisch mit seinem scharfen, negirenden Verstand und seinem originellen Wesen einen vortheilhaften Einfluß auf den jungen Dichter aus. Er hatte einen Widerwillen gegen alles Rohe, sein Späße waren barok, aber niemals trivial; auch besaß er, da er um Vieles älter war, eine seltene Menschenkenntniß, gediegene Kenntnisse und einen unerschöpflichen Humor, so daß er gleichsam der Vorläufer des ihm jedoch weit überlegenen Merck wurde, dem sich Goethe in seinem späteren Leben zu so großem Danke verpflichtet fühlte.
Vortheilhafter als dieser Umgang wirkte die Bekanntschaft mit der Familie des Buchhändlers Breitkopf, die sich durch Bildung und Talent auszeichnete, vor Allem aber Oeser’s, des Directors der unlängst gegründeten Zeichen- und Bauakademie, Unterricht, der ihm das Verständniß für Kunst eröffnete und das Ideal der Schönheit erschloß. Durch ihn wurde er mit den Verdiensten Winckelmann’s bekannt, lernte er Lessing’s unsterblichen „Laokoon“ erst würdigen, der wie „ein Lichtstrahl aus düsteren Wolken“ in seine Seele gefallen war. Er selbst versuchte sich in kleinen Zeichnungen und Radirungen, die ihn mit dem Kupferstecher Stock und dessen Familie in Berührung brachten, den späteren Freunden Schiller’s, so daß hier gleichsam ein prädestinirter Anknüpfungspunkt zwischen den beiden größten Geistern Deutschlands sich im Voraus bildete. Außer diesem Kreise ausgezeichneter Menschen lernte Goethe noch in Leipzig den Kreissteuereinnehmer Weiße kennen, den glücklichen Dichter beliebter Theaterstücke und Opern, den jungen Eschenburg, der sich durch sein Wissen unter den Studirenden vortheilhaft auszeichnete, ferner Zachariä, den humoristischen Dichter des „Renommisten“, welcher in Leipzig seinen Bruder besuchte und mit ihm bei Schönkopf speiste. Dagegen versäumte es Goethe, den durchreisenden Lessing zu sehen, weil er es in seinem stolzen Selbstgefühl verschmähte, von ferne zu stehen, und doch als unbekannter junger Mann keinen Anspruch machen konnte, dem berühmten und hochverehrten Schriftsteller näher zu treten.
Ein solcher Umgang und die davon empfangenen Eindrücke waren wohl geeignet, seine Leidenschaft zu läutern und zu klären. Er begann bereits in Leipzig dasjenige, was ihn erfreute und quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild oder Gedicht zu verwandeln und darüber mit sich selbst abzuschließen. So entstand hier seine „Laune der Verliebten“, worin er seine eigene Liebe zu Käthchen, seine Eifersucht und alle der Geliebten zugefügten Qualen im Gewande der Dichtung erscheinen ließ. sich selbst anklagend und bereuend; so schuf er „die Mitschuldigen“, ein Gemälde der sittlichen Verirrungen jener Frankfurter Gesellschaft, in der er selbst gelebt. Auch zu der früheren Geliebten trat er in ein reineres Verhältniß, indem er mit der Zeit ihr Freund wurde. An die Stelle der wilden Leidenschaft war die aufrichtigste Achtung getreten, und ruhig schrieb er ihr aus Frankfurt, als er die Nachricht von ihrer Verlobung mit dem tüchtigen Kanne erhielt: „Nur im Traume erscheint mir manchmal mein Herz wie es ist, nur ein Traum vermag mir die süßen Bilder zurückzurufen, so zurückzurufen, daß meine Empfindung lebendig wird; ich habe es Ihnen schon gesagt, diesen Brief sind Sie einem Traume schuldig. Ich habe Sie gesehen, ich war bei Ihnen, wie es war, das ist zu sonderbar, als daß ich es erzählen möchte. Alles mit Einem Wort, Sie waren verheiratet. Sollte das wahr sein? Ich nahm Ihren lieben Brief und es stimmt mit der Zeit überein; wenn es wahr ist, o so möge das der Anfang Ihres Glückes sein!“
Zu dieser geistigen Krisis gesellte sich noch die körperliche, um mit der Zeit eine vollständige Genesung herbeizuführen. Der Schmerz auf der Brust, den er sich auf der Reise zugezogen, war durch einen Sturz vom Pferde noch vermehrt worden. Die verkehrte Anwendung des Rousseau’schen Naturevangeliums, kalte Bäder und ein hartes Lager mit leichter Decke, zogen ihm hartnäckige Erkältungen zu, während der häufige Genuß des schweren Merseburger Biers und des Kaffees nach Tisch sein Blut verdickte, sein Gehirn verdüsterte. Die Natur half sich selbst durch einen heftigen Blutsturz, sodaß er mehrere Tage zwischen Tod und Leben schwankte. Zugleich hatte sich eine Geschwulst am Halse gebildet, welche mit einem langwierigen Leiden drohte.
Sogleich eilten seine zahlreichen Freunde herbei, vor allen der treffliche Langer, nachheriger Bibliothekar in Wolfenbüttel, ein bedeutender Mann, der den vortheilhaftesten Einfluß auf den Leidenden ausübte, indem er ihn zugleich zu der Schönheit der alten Classiker und der Erhabenheit der Bibel hinleitete, ihn leiblich pflegend und geistig aufrichtend. Noch nicht vollständig genesen, nahm Goethe von Leipzig Abschied, um in das Vaterhaus zurückzukehren. Nicht wenig hatte er seinem bisherigen Aufenthalte zu danken; er hatte hier die bedeutendsten Anregungen für sein ferneres Leben empfangen, Natur und Kunst waren ihm näher getreten durch den Umgang mit der Ludwig’schen Tischgenossenschaft und Oeser’s Unterricht. Sein Geschmack wurde durch die mütterliche Freundin geläutert, seine Menschenkenntniß durch den wunderlichen Behrisch geweckt. Vornehmlich aber hatte er in Leipzig das deutsche Bürgerthum in seiner Tüchtigkeit kennen und achten gelernt, in Käthchen das schlichte, einfach, natürliche Bürgerkind geliebt, das er später in seinen schönsten Schöpfungen zu verherrlichen und zu verklären gesucht. Nicht den aristokratischen Kreisen seines nachfolgenden Lebens, sondern den bürgerlichen Elementen in ihrer inneren Gesundheit, den bedeutenden Männern und holden Frauen des gebildeten deutschen Mittelstandes hat Goethe das Beste zu verdanken, was er sich selbst und uns geleistet hat.
[744]
Ein österreichisches Natur- und Culturbild, von Friedrich Hofmann.
Man wird es heute kaum für möglich halten, daß in einem Alpenthale, bei welchem die Grenzen der industrie- und verkehrreichen Länder Steiermark, Kärnthen und Krain zusammenstoßen und das selbst über sechshundert Einwohner zählt, viele Jahre lang gegen dreihundert dem Strafgesetz verfallene oder entwichene Menschen das freieste und großartigste Räuberleben führen konnten. Um diese Möglichkeit zu begreifen, müssen wir in das „Nachtquartier“ vordringen, wo der „Mond“ ihre „Sonne“ war.
Wer, sei es von Wien her über den Sömmering, oder von Triest her über den Karst, die bezwungene, wilde Gebirgsnatur auf den kühnsten Schienenwegen an sich vorüberstürmen ließ, der gelangt im grünen Steiermark in ein Thal, wo er freudig aufathmet und gern verweilt: das Thal von Cilli oder das Santhal, wie es nach seinem Hauptflusse genannt wird. Man braucht hier nur zu der nahen Terrasse des „armen Capuzinerklösterleins“ jenseits der San am Abhang des Nicolaibergs emporzusteigen, um nicht nur den Anblick über das stundenweit gen Norden, Osten und Westen hin sich ausbreitende und von sanften Hügeln durchzogene Thal zu genießen, sondern zugleich schon hier zu einer Riesenburg „freier Flüchtlinge“ hingelockt zu werden, denn als Rahmen des Thalbildes ragt am Horizont eine ununterbrochene Reihe von Alpen-Zügen, -Rücken und -Köpfen, bald waldbedeckt, bald starrer Fels, bald in weichen Linien, bald in der weißröthlichen Felsenpracht der südlichen Kalkalpenkette empor – nach rechts hin die waldigen Höhen, die nach Ungarn und Croatien hinüberstreichen, gerade vor uns das Bachergebirge mit meilenweiten Urwäldern über den Marmorlagern, aus denen einst die Römer die Paläste ihrer großen Stadt Claudia Celleja bauten, auf deren Fundamenten jetzt das kleine Cilli steht; zur Linken aber beginnt eine wilde Bergwelt, vor welcher der heilige Kreuzberg und die heilige Ursula mit ihren weißen, hellleuchtenden Wallfahrtskirchen jeden frommen Christenmenschen zu warnen scheinen, dort drohen die sägeförmigen Zinken, Pyramiden, Nasen, Hörner und Zacken der Kalkfelshäupter so reizend zu uns herüber, daß wir den Pater Capuziner, der just am Marterkreuz beim Thor der Klostermauer gebetet hat, fragen: „Was sind das für herrliche Berge?“
„O,“ sagt er und blickt uns, den Zeigefinger vermahnend erhoben, groß an, „das ist ein abscheuliches Gebirg, wohin kein Mensch reist. Sie heißen’s zwar die Untersteierische Schweiz und der Fluß da unten, die San, kommt dorther, aber gehen Sie ja nicht dorthin, denn wenn auch das Sulzbacher Thal, das jene schiechen Berge einschließen, schon ein zwölf bis vierzehn Jahre her vom großen Raubgesindel durch das kaiserliche Militär gereinigt ist, so finden’s ja doch nichts dort, als einsame Steige und schreckliche Felsen.“
Ein abscheuliches Gebirg, wohin kein Mensch reist, einsame Steige und schreckliche Felsen, und zu alledem noch jüngst der Sitz einer großen Räuberbande – bedarf es einer weitern Empfehlung zum Besuch desselben für Jeden, der die vom Touristenschwarm plattgetretenen Straßen scheut? Die Leute in Cilli halten es jedoch noch heute immerhin für gerathen, in die Sulzbacher Alpen sich nicht allein, sondern nur in Gesellschaft und nicht ganz unbewaffnet zu wagen.
Von Cilli bis eine Stunde vor dem Markt Laufen folgt man der alten Poststraße von Graz nach Laibach; sie biegt dann nach Süden ab, während der Weg nach Sulzbach westlich weiter geht. Je näher an Laufen, desto mächtiger treten die Gebirgsriesen uns entgegen, aber erst später zeigt es sich, daß sie nur die Thürme einer großen, schier uneinnehmbaren Veste sind, in deren Außenwerken man schon von Sausen an wandert und zwar längere Zeit ohne es zu wissen, weil anfangs die himmelhohen Wälle dieser Burg vor lauter Wald nicht zu sehen sind. Zwei Stunden lang führt der schmale Weg die San entlang, bald hart an dem Felsenufer des schäumenden und tosenden Bergwassers hin, bald an steilen Abhängen aufwärts in immer unheimlichere Einsamkeit. Da, eine plötzliche Windung des Weges – und vor uns liegt das Dorf Leutschdorf und jenseits desselben trotzt uns eine ganze Seite der Veste entgegen; dort der 7422 Fuß hohe Thurmberg Oistritza, von dem aus als unübersteiglicher Wall der Roßberg quer über das Thal hinzieht, während im Süden die Karnitza und im Norden die Raducha, beide weit über 6000 Fuß hohe, felsenstrotzende Eckthürme dieser Alpenburg bilden.
Hier, in Leutschdorf, hat jeder Reisende sich ehrlich zu gestehen, ob er eines schwindelfreien Kopfes Herr ist; wer zum Schwindel neigt, muß, wenn er mit in das Innere der Felsenburg dringen will, hier ein Pferd besteigen und im Bette der San hineinreiten. Die Uebrigen setzen zu Fuß ihren Weg fort, der gleich außerhalb des Dorfs über einen Steg auf das linke Ufer der San springt und nach ungefähr einer Stunde vor einer ungeheuren Naturbastei stehen bleibt. Der Logerfels gebietet hier Halt! Nur wer sich aufs Klettern versteht, benützt die in das Gestein gehauenen Stufen und erklimmt die Höhe. Oben führt der Steig am Eingang zu einer Höhle vorüber, die noch unerforscht sein soll, obwohl der Volksmund behauptet, sie reiche bis nach Kärnthen hinüber und habe im Fellachthale ihre Mündung. Jenseits derselben senkt sich abermals unser Pfad steil zur dunkelgrünen San mit ihren blüthenweißen Schaumspitzen hinab, um den Wanderer bis vor den letzten Felsenwall zu geleiten. Abermals gilt es, über zweihundert Fuß hoch am Felsen hinanzuklimmen, die San unter uns im Abgrund, und nirgends sehen wir die Möglichkeit, weiter zu kommen. Da zeigt sich endlich eine Spalte in der außerdem unübersteiglichen Felswand. Tritt man näher, so hat man ein Naturthor vor sich, das dreizehn Fuß hoch und drei Fuß breit ist; und wenn wir etwa sechs Fuß weit in ihm vorschreiten, stehen wir vor einem tiefen Felsenriß, wie vor einem letzten Wallgraben, über welchen ein schmales Bret führt. Dieses Bret ist die Zugbrücke zur Festung. Auf der ganzen steiermärkischen Seite ist kein anderer Zugang in das Sulzbacher Thal möglich, als durch diese Spalte, die das Volk wegen ihrer Aehnlichkeit mit einem Nadelöhr die Nadel (wendisch: jigla) nennt, und im Bette der San, das jedoch leicht durch Felsbrocken und Baumstämme undurchdringlich zu machen ist, wenn der von längeren Regen, Gewittern oder vom Schneeschmelzen angeschwollene Bergstrom nicht selbst die Benützung seines Bettes verbietet. Wer jenseits des Abgrunds stehend das Bret wegnimmt, hat die einzige Zugbrücke des Bollwerks aufgezogen.
Wir eilen über den schwindelnden Steg – und sind in der verrufenen Räuberburg. Unwillkürlich verfällt hier die Gesellschaft, sollte sie bis dahin noch so heiter gewesen sein, einem plötzlichen eigenthümlichen Ernst. Zugleich wächst mit jedem Schritte das Staunen vor der Größe dieser Festung, denn erst nach anderthalbstündigem Marsche erreicht man den Mittelpunkt des Thals in dem Dorfe Sulzbach, einer zerstreuten Gruppe von etwa achtzehn Häusern. Des Dorfes alte Pfarrkirche ist der heiligen Maria in Sulzbach geweiht, die während der langen Räuberzeiten ohne Zweifel manches wunderliche Gebet um Hülfe und Beistand zu hören bekommen hatte. Ein zweites Dorf des Thals ist das zum Heiligen Geist, von der halben Größe Sulzbachs. Die übrigen Häuser der Gemeinde liegen zerstreut an den Hängen des Gebirgs; im Ganzen zählt man deren etwa achtzig.
Wer die Räumlichkeit dieser Riesenveste und ihre Hochgebirgswälle weiter kennen lernen will, muß dem Ursprung der San nachforschen. Dies führt zunächst in eine Felsenschlucht, in welcher der wilde Bach uns donnernd entgegenstürzt und kaum Platz läßt zu schmalen Pfaden, die oft von einem Ufer zum andern, doch stets auf sicheren festen Stegen, übergehen. Diese Wanderung währt über eine Stunde; aber sie gestattet über all die bewaldeten Vorberge hinüber den Blick auf den nördlichen Hauptwall, welcher das Sulzbacher Thal von Kärnthen trennt durch den siebentausend Fuß hohen Ouschowa (Schafberg) und seinen langgestreckten Rücken; noch imponirender tritt er uns am Ausgang der Schlucht gegenüber, wo er vom tiefen grünen Grund einer breiten Matte in seiner vollen Pracht zum Himmel strebt. Auf dieser Matte liegt ein stattliches Bauerngut, dessen Besitzer „der Logarbauer“ heißt; neben dem Gehöfte bricht vom Schatten uralter Erlen bedeckt die San unter einem Felsblock hervor. Boden- und Quellenkundige behaupten jedoch, daß hier nur eine Stätte der Wiedergeburt der San sei; um zum eigentlichen Ursprung derselben vorzudringen, muß man an der westlichen Wand des urwaldgekrönten Felsenwalles hinanklimmen und dies führt uns vor das großartigste [745] und erhabenste Felsgebilde der gesammten Alpenwelt; aus grünem Vorgrund von Matten und Waldhügeln gipfelt sich ein Amphitheater von Felsen empor, so riesig, so thurmartig, so gestaltenreich und schwindelhoch, daß wir lautlos nur hinaufschauen und Gott danken, der uns bis hierher geführt hat. Dieser Anblick allein ist viele Tagereisen, Mühen und Gefahren werth. Die weitgereistesten Männer finden nur in den Pyrenäen europäische Seitenstücke zu diesem Naturwunderbau. Hier betritt man den Hochwald, um sich zu einer Stelle emporzuarbeiten, die eine Uebersicht der ungeheuren Festungswerke gewähren soll, deren Unbezwingbarkeit mit jedem Schritte mehr einleuchtet. Nach zwei Stunden mühseligen Kletterns über Steingeröll und Holzriesen und einer halben Stunde weiteren Steigens steht man vor der Bergwand Okreschel (Rundung), von welcher eine Cascade etwa fünfzig Fuß hoch herabstürzt. Hier überschauen wir das ganze Panorama der Sulzbacher Hochgebirge, der ununterbrochenen Wälle und himmelaufragenden Thürme dieser – Räuberburg! Zur Linken zeigt uns jetzt die Oistritza ihr Doppelhaupt, näher rücken uns die Pyramiden und Kronenzacken des Kotschna-Gebirgs, die bis zu 8580 Fuß aufragen, aber Alles überstrahlt die Hoheit und Pracht der Rinka, der über 9000 Fuß hohen Jungfrau dieser Berge, die noch kein Sterblicher bestiegen hat.
So sehen wir nach allen Seiten, nach Steiermark, nach Kärnthen und hier nach Krain hin, die Festung der Sulzbach sturmfrei geschlossen. Nur wenige (im Ganzen vier), ebenso beschwerliche wie gefährliche Alpensteige führen aus dem Thal nach Kärnthen und Krain, und auch sie scheinen mehr als Ausfallpforten für die Räuber, denn für den Verkehr mit jenen Nachbargegenden da zu sein. Die nur den kühnsten Bergsteigern zugänglichen Plateaus der meilenweiten Wälle dieser Felsenburg sind bedeckt mit undurchdringlichem Urwald und belebt von Urwalds-Thiergeschlechtern, die sich einer vollkommen amerikanischen Freiheit erfreuen.
Nachdem somit der Leser einen Blick in die Fels- und Urwaldburg von Sulzbach gethan, wird er die Möglichkeit erkannt haben, daß hier Zustände sich ausbilden konnten, wie sie Schiller’s jugendfeurige Phantasie für „die böhmischen Wälder“ kaum großartiger ersonnen hat. Dazu gehörte allerdings, daß die Bevölkerung des Thals selbst für ein der staatlichen Ordnung feindseliges Treiben empfänglich war oder durch die Vortheile, die es ihr bot, gemacht wurde. Abgeschlossen vom großen Verkehr der Welt, auf niederster Bildungsstufe stehend und durchschnittlich arm, vermochte sie mit ihrem moralischen Fonds der Verführung schon an sich kaum zu widerstehen, hier half aber außerdem die angeborene Gutmüthigkeit des Alpenvolks über die letzten Bedenken hinweg, denn die große Mehrzahl und wahrscheinlich überhaupt die ersten Schaaren der zu ihr Geflüchtetnn bestanden aus Deserteuren und der Recrutirungspflicht Entwichenen. Diese vor ihren Verfolgern sicher zu stellen, hielt man für ein gutes Werk; solchen Söhnen der Wildniß gilt die Obrigkeit nicht als Beschützer, dessen Gebote dem allgemeinen Wohl dienen, sondern als eine feindliche Gewalt, die man sich allezeit fern halten muß.
Dieser wilde Begriff vom Staat gab den Sulzbachern frühzeitig das klügste Mittel ein, ihr Thal und seine Gehöfte möglichst vor dem Besuch von Gensd’armen zu sichern. Sie wußten aus Erfahrung, daß die häufigste Veranlassung dazu die Steuereintreibung gab, und deshalb besorgten sie dieselbe unter sich selbst und schickten das Geld stets pünktlich zu den bestimmten Terminen an die Behörde, gewiß auch eine seltene Erscheinung im österreichischen Staate. Aber die Sicherheit gegen die Obrigkeit, die dadurch im Thale fühlbar wurde, mochte nun die Hauptveranlassung sein, daß auch die vom Gesetz verfolgten Verbrecher aller Art dort ihre Zuflucht suchten. Hatten bisher die Flüchtlinge meist als Arbeiter in den Holzschlägen und als Wildschützen ihr Brod verdient, so kam jetzt als neuer Erwerbszweig der Raub dazu, zu dem bald von verwegenen Führern auch mancher in dieser Beziehung vorher Unbescholtene verlockt wurde.
Solche Raubzüge wurden Jahre lang mit ebensoviel List wie Kühnheit ausgeführt. Ihre Ausfallpforten, die selten von anderen Menschen betretenen Bergpfade nach Kärnthen und Krain benützend, brachen sie aus dem Dunkel der Wälder und der vielen Höhlen des Gebirgs oft meilenweit bis zu den Heerstraßen des großen Verkehrs vor und wußten stets ihre Flucht nach dem Raubanfall so geschickt einzurichten, daß kein Verdacht auf ihre große Räuberburg fiel. Die Straße von Graz nach Laibach mit dem großartigen Verkehr zwischen Wien und Triest war zu Zeiten durch die vielen nächtlichen Raubanfälle förmlich berüchtigt, so daß Gensd’armerie und Militär zur Sicherheit derselben aufgeboten werden mußte; dennoch fiel der Verdacht eher auf Croaten und Zigeuner, als auf die „freien Flüchtlinge“ von Sulzbach. Drang aber ja einmal die bewaffnete Macht in das Thal, um Haussuchung anzustellen, so gingen die Warnrufe und Warnzeichen von Berg zu Berg, von Haus zu Haus, und nie fand man etwas Anderes, als die „friedlichen Bewohner“ und ihr unverdächtiges Eigenthum. Die Burg war groß genug, um eben so viel Tausende zu beherbergen, als Hunderte in den reichlich verproviantirten Höhlen und Schluchten und auf Urwaldhöhen, wohin nur der Wildschütze den Gemsenpfad kannte, des Gesetzes und seiner Wächter lachten. Wurden sie aber auf frischer That überfallen und verfolgt, so scheuten sie auch kein Mittel der Vertheidigung. Im Jahr 1839 wollte eine Schaar Soldaten aus Kärnthen in das Thal eindringen, um Recrutirungspflichtige dort auszuheben; diesen widersetzten sich die „freien Flüchtlinge“, indem sie mächtige Felsbrocken von den Höhen auf sie hinabschleuderten. Viele dieser Kärnthner fanden den Tod und kein Lebender kam ohne schwere Wunden davon. Dennoch wurde dem Unwesen nicht schon damals ein Ende gemacht, ja es scheint sogar von dieser Zeit an, wo man von der Gefährlichkeit der Bevölkerung der Sulzbacher Gebirge endlich überzeugt sein mußte, die Unbezwinglichkeit dieser Räuberburg zum festen Glauben bei dem Volke und selbst bei den Behörden der benachbarten Provinzen geworden zu sein.
Dieser Glaube war aber nicht weniger fest bei den „freien Flüchtlingen“ selbst. Ihr Uebermuth kannte bald keine Grenzen mehr und gedieh zu seiner höchsten Blüthe, als im Jahre 1848 die Sage von der großen Freiheit draußen im Reiche und sogar in Wien bis in das Thal von Sulzbach gedrungen war. bei dem Sulzbacher Begriff vom Staat nahm natürlich auch der von der neuen großen Freiheit eine ganz eigenthümliche Gestalt an. Die „freien Flüchtlinge“ hielten sich nunmehr für berechtigt, ihr freies Leben auf Kosten Anderer fortzuführen, da es ja zugleich ein Kampf gegen die „herrische“ Obrigkeit war. Am hellen Tage fielen sie in bewaffneten Hausen in Kärnthen ein und brandschatzten die Ortschaften. Dies wagten sie nach und nach immer großartiger, dehnten ihre Razzias bis Windisch-Kappel und Schwarzenbach, ja schließlich bis Bleyburg aus, das trotz seiner zwei Gerichte und eintausend Einwohner sich der Räuber Execution unterwerfen mußte. Das wären die goldenen Tage von Sulzbach: „ein Leben voller Wonne!“
Allein nicht so bald, als die Kunde von der großen Freiheit, war die Kunde von der großen Reaction in das Thal gekommen; hier schwärmte man noch in der üppigsten Freiheit, während sie „draußen im Reich“ schon wieder begraben war. Dieser Irrthum half die Sulzbacher „freien Flüchtlinge“ in gar zu große Sicherheit einwiegen, sie versäumten die alten Vorsichtsmaßregeln, und dies führte auch für sie den tödtlichen Schlag herbei.
Am 17. December 1851 hatte sich eine Patrouille von drei Gensd’armen von Kappel in Kärnthen nach Sulzbach gewagt; der Warnungsruf muß diesmal unterblieben sein, denn sie fanden mehrere Deserteure, fesselten sie und führten sie ab. – Kaum hatten sie jedoch den Gebirgswall überstiegen und den jenseitigen Weg nach Kappel eingeschlagen, so fielen über sechszig der „freien Flüchtlinge“ über sie her, schlugen mit Haken und Cepinen (Griesbeilen mit Haken zum Heben und Schleppen der Holzblöcke) auf sie ein, verstümmelten sie auf das Grausamste und stiegen als Sieger mit den befreiten Gefangenen in ihre Burg zurück. Das war ihr letzter Triumph.
Von den drei Gensd’armen hatte einer sich noch bis Kappel hingeschleppt, die beiden andern waren von einem Hammerschmied, der des Weges kam, aufgefunden und ebendahin gebracht worden. Die Folge der Anzeige dieses Ueberfalls war der Beschluß, endlich einmal „in der Sulzbach“ gründlich aufzuräumen. Nachdem die Behörden der drei Provinzen Kärnthen, Krain und Steiermark die diesmal ungewöhnlichen Maßregeln geordnet, setzten sich Anfangs Januar 1852 mit der verstärkten Gensd’armerie bedeutende Militärmassen gegen die Felsenburg von Sulzbach in Marsch, von Cilli aus Abtheilungen des Infanterie-Regiments Prinz Emil von Hessen, um über Leutschdorf den uns bekannten Weg in das Thal zu verfolgen, und von Kärnthen aus mehrere Compagnien vom Infanterie-Regiment Wimpfen, die über Sappel vordrangen.
[746] Der Ernst dieser Maßregeln war dem Thal nicht verborgen geblieben und er wirkte so nachhaltig auf die Schaar der Flüchtlinge, daß wahrscheinlich nicht wenige die einzige noch militärfreie Seite, die nach Krain hin, zur Flucht benützten und von den übrigen keine Vertheidigung ihrer unüberwindlichen Räuberburg versucht wurde. Die Soldaten hatten überdies mit den Terrainschwierigkeiten schon hinlänglich zu kämpfen, ehe die furchtbaren Wälle hinter ihnen lagen.
Auch im Thale, nachdem Sulzbach und Heiligengeist stark besetzt waren, zeigte sich kein anderer Widerstand, als den die Natur den Haussuchungen und Streifzügen entgegensetzte. Mit Steigeisen ausgerüstet, zogen Gensd’armen und Soldaten zu diesen Expeditionen aus; die einzelnen, wie Schwalbennester an den Hängen klebenden Häuser sind oft in guter Jahreszeit schwer zugänglich, geschweige in dieser winterlichen Zeit; dennoch blieb nicht die kleinste Hütte undurchforscht und überall zerrte man angstschlotternde Resultate aus den Winkeln hervor. Gleichwohl erschien nach Verlauf der ersten Woche der Erfolg all dieser müh- und gefahrvollen Züge noch verhältnißmäßig ungenügend; man hatte einundneunzig Flüchtlinge, darunter dreiundfünfzig Militärpflichtige, in Gewahrsam gebracht. Kälte und Hunger wurden jedoch bald gute Verbündete der Soldaten, der aus Schluchten und Höhlen aufsteigende Rauch mußte der Verräther der dorthin Geflüchteten werden, und ehe die nächste Woche verging, hatte man noch einhundert fünfundsechszig Deserteure in Ketten und Banden gelegt, sechs längst steckbrieflich verfolgte schwere Verbrecher fand man in einer auf Monate verproviantirten und trefflich befestigten Höhle, aber auch sie ergaben sich, trotz ihrer starken Bewaffnung, jetzt ohne Widerstand. Andere Strolche und Ausweislose stellten sich freiwillig. So konnte denn zum guten Ende die stattliche Schaar von zweihundert sechsundfünfzig „freien Flüchtlingen“ unter ebenso stattlichem militärischen Geleite von dem romantischen Schauplatz ihrer nichtsnutzigen Romantik abziehen. Eine angemessene Besatzung blieb noch längere Zeit im Thale, um eine neue Ansammlung solcher Freien zu verhüten, und bis zum Herbst 1856, wo ich Untersteiermark verließ, ist kein Anzeichen irgend welcher Unsicherheit im Thale von Sulzbach öffentlich bekannt geworden.
Was die Männer von Sulzbach selbst zu dieser „Epuration“ ihres Thales sagen? Nichts, denn sie trauen Keinem, der ein „herrisches“ Gewand trägt, auch wenn er ihre wendische Sprache spricht; nur ein unwillkürliches Achselzucken läßt ihre Ansicht errathen, daß „die schönen Tage von Sulzbach“ vorüber seien.
Niemand kann es bestreiten, daß eine Apotheke die Heimstätte manigfachen Schwindels ist. Wenn ein anderer Kaufmann – und als solchen müssen wir den Apotheker doch immerhin betrachten – uns etwas Falsches oder Gefälschtes verabreicht, wie z.B. statt Rindsmarkpomade nur gefärbtes und parfümirtes Schweineschmalz, statt Klauenfett nur Baumöl giebt etc., so können wir dann ohne Zweifel gegen ihn klagbar werden, ihn wohl gar wegen Betrugs zur Rechenschaft ziehen lassen. Dies ist aber keineswegs mit dem Apotheker der Fall; er verkauft tagtäglich eine große Menge von Stoffen – die er gar nicht mehr in der Apotheke fuhrt, bei ihm ist der Schwindel also gleichsam ein gesetzlich privilegirter. Dies geschieht ganz einfach in der Weise, daß er die Käufer ausfragt: wozu, gegen welche Uebel sie dies oder jenes Mittel, das sie fordern, gebrauchen wollen, und ihnen dann nach eigenem Gutdünken oder meinetwegen nach seinen etwaigen medicinischen Kenntnissen etwas beliebiges Aehnliches, dahin Wirkendes, nicht etwa als Ersatz dafür, sondern als das Erlangte selbst verabreicht.
Treten wir in eine Apotheke, um dies Geschäft einmal in seiner Wirklichkeit zu betrachten. Es versteht sich von selbst, daß wir hier nicht von jeder Apotheke ohne Ausnahme sprechen können – allein in wie vielen Apotheken diese Art von Geschäft alltäglich vor sich geht, davon können sich die Leser leicht selbst überzeugen.
Ein altes Mütterchen wünscht Aalbeeren oder Aalbesinge; sie braut daraus ein Wundertränklein gegen Gicht, Gliederreißen und dergleichen. Man hielt früher die sogenannten schwarzen Johannisbeeren (Ribes nigrum Lin.) in den Apotheken, welche außer mit den beiden obigen Namen auch noch als Ahl- oder Gichtbeeren vielfach gekauft wurden. Jetzt ist man aufgeklärter geworden; man weiß, daß die (übrigens ekelhaft nach Wanzen riechenden) schwarzen Johannisbeeren ein unwirksames, mindestens überflüssiges Arzneimittel sind, und hat sie daher längst aus den Apotheken verbannt. Allein verabreichen, verkaufen muß man die Aalbesinge doch, wie würde es sonst um das Vertrauen des Publicums aussehen?! – Man giebt daher getrocknete Blau- oder Fliederbeeren. Die alte Frau kennt und schätzt ihre geliebten, „wunderwirkenden“ Aalbeeren viel zu sehr, um den ihr gespielten Betrug nicht zu merken, allein was soll sie machen? Sie schleicht seufzend davon, seufzend und murrend darüber, daß man jetzt auch beinahe nichts mehr „echt“ in den Apotheken bekommen kann.
In dieser Weise wollen wir jetzt das Verzeichnis vieler Volksheilmittel einmal durchnehmen, um die Leser vor den Selbst- und fremden Täuschungen in Betreff einer großen Menge von sogenannten Arzneien warnen zu können. Alle die sogenannten „obsoleten“, d.h. veralteten und in den gesetzlichen Arzneimittellehren bereits gestrichenen, aber doch noch zum Verkauf in den Apotheken vorräthig gehaltenen Gegenstände, lassen wir vorläufig bei Seite; wir gehen nur auf die näher ein, welche in Wirklichkeit nicht mehr existiren, also von vornherein fälschlich verkauft werden. Uebrigens ist die Uebervortheilung armer und unwissender Leute hierin viel bedeutender, als man für gewöhnlich annehmen mag. Eine Tabelle alles Dessen, was gar nicht vorhanden ist und doch alltäglich und allstündlich, und nicht blos von den dümmsten und unwissendsten, sondern leider auch noch oft genug von den sogenannten gebildeten Leuten für schweres Geld eingekauft wird, sollte daher eigentlich in jeder Dorfschuule, in jedem Gasthofe, ja in jeder Schul- und Familienstube zur Warnung ausgehängt werden.[1]
Jener curiose Liebhaber wünscht Apfelblüthen (zum blutreinigenden Thee); er erhält dafür weiße Akazien-, oder rothe Granatblüthen. Man muß zugestehen, daß der Apotheker hiermit in der That ein Opfer bringt, indem er diese beiden, ebenfalls längst obsoleten Blüthen noch vorräthig hält – wenn er nämlich statt dieser Ersatzmittel nicht etwa noch andere, billigere Ersatzmittelchen anzuwenden weiß. Als Alfrankenschalen giebt’s zerkleinerte Pomeranzenschalen, als „Allerlei Gewürz“ meistens blos gröblich zerstoßene Englischgewürzkörner. Dann verlangt Jemand Anisschwamm, als welcher ihm Lärchenschwamm oder wohl gar ein etwas angedufteter Feuerschwamm verabreicht wird. Er braucht ihn gegen Brustbeschwerden – nun, wohl bekomm’s! Apfelsalbe hält man jedenfalls für eine recht milde, aus Apfelsaft oder Apfelmus bereitete Einreibung; jawohl, man empfängt gewöhnliche Wachs- oder sogenannte Rosensalbe, unter Umständen auch wohl bloßes, gelblichgefärbtes Schweineschmalz.
Attichwurzel wird auch unter dem Namen Cermelwurzel gefordert und gegen Harn- und andere Beschwerden gebraucht; früher hielt man für die zahlreichen Liebhaber wirklich die Wurzel dieses Flieders vorräthig, jetzt giebt man statt dessen die Eberwurz – Carlina – oder auch wohl beliebiges anderes Wurzelwerk. Es wird Augenthee gefordert und Huflattichblätter – Farfara – werden verabfolgt; inwiefern die Wirkung dieses sehr dienlichen Husten- und Brustbeschwerden-Heilmittels sich auch auf die Leiden des Auges erstrecken kann, darüber wagen wir kein Urtheil abzugeben. Als Bachbungen verabreichte man früher in Wirklichkeit jenen bekannten Ehrenpreis – Veronica Beccabunga –; jetzt werden sie noch wohl verkauft, doch niemals mehr eingesammelt. Auch Bärenklau und Bärenkraut hatte man früher als ein wirkliches Etwas in den Apotheken; jetzt giebt man statt ihrer, sowie auf die Namen Buchsbaum-, Buxbaum-, Sandbeer-, Preißel- auch Breißelbeerblätter und -Kraut ganz einfach Bärentraubenblätter – Uva ursi – oder auch beliebiges anderes Kraut- und Blätterwerk. Baummoos könnten sich die Leute wohl selbst einsammeln, wenn sie’s durchaus als Arznei gebrauchen wollen; allein sie müssen es ja aus der Apotheke holen und erhalten dort irgend ein handliches
[747] Ersatzmittel. Berbeeren, Beritzen, Rhabarberbeeren nennt man die zum Abführen gebrauchten Berberitzen, statt deren die Käufer jetzt meistens Heidel- oder Fliederbeeren erhalten, welche bekanntlich jener Wirkung keineswegs entsprechen. Als Bergkümmel muß der Dillsamenvorrath der Hausfrau herhalten – zwei Quentchen für einen Sechser, wovon das ganze Pfund nur wenige Groschen kostet! Statt Bertramblumen – Pyrethrum, die Matterpflanze des Insectenpulvers – giebt’s in den meisten Apotheken römische Camillen. Für Bisamkörner – früher Semen Abelmoschi – erhält man jetzt grobgestoßene Gewürzkörner oder dergleichen. Als Bisamstorchschnabel – ein Geranium – wird irgend ein beliebiges, mit einem Gedanken von Moschus angeduftetes Kraut gegeben.
Wir müssen hier die Leser auf einen Umstand aufmerksam machen, der leicht die Ursache zu einem Mißverständniß werden könnte. Wenn wir nämlich bei zahlreichen Beispielen immer auf den Gegensatz des Früher zum Jetzt hingewiesen, so wolle man daraus keineswegs den Schluß ziehen, daß wir etwa die ganze Fülle der alten ausrangirten Arznei- und Volksheilmittel früherer Zeiten wieder in die Apotheken zurückwünschen. Nein, im Gegentheil, auch wir erachten es als ein wahres Glück für das Wohl der Menschheit, daß dieser Wust und dies Zopfthum mindestens zum größten Theile bereits hinabgeschwunden und verbannt sind. Allein wenn in Wirklichkeit das Licht der Aufklärung und Wahrheit hier, wie auf allen Gebieten des menschlichen Wissens, immer höhere Erfolge erringt, immer größere Siege feiert – ist es dann nicht ein Frevel, diese Wohlthaten andern Menschen absichtlich vorenthalten, sie im Irrthum erhalten zu wollen, um sie ausdeuten zu können? Das ist, ohne Uebertreibung, in diesem Falle das Verhältniß des Apothekers dem Publicum gegenüber. Oder sollte man wirklich glauben wollen, daß der Apotheker in der Achtung der Menschen sinken oder ihr Zutrauen einbüßen würde, wenn er ihnen offen und ehrlich die Wahrheit sagte? Doch weiter.
Statt Bruchkraut, welches noch oft genug gefordert wird, giebt man feingeschnittenes Bärlappkraut. Mindestens ist das erstere – Herniaria – in keinem Preisverzeichniß der Droguisten, also auch wohl in keiner Apotheke so leicht mehr zu finden. Das Ersatzmittel aber, von dem Dr. Mohr sagt: „Ich habe noch von Niemandem erfahren können, wozu dieser Körper in der Heilkunst nutzbar wäre; Oekonomen versicherten, man könne ihn als Pferdestreu gebrauchen,“ wird auch noch als Harnkraut, Schlangenmoos, Sautanne und Teufelsklau vielfach gekauft und in mystischer Weise gegen allerhand Krankheiten gebraucht. Das Kraut der Brunnenkresse wird als Volksheilmittel, mit Milch abgekocht, gegen Brustwassersucht, gegen Scorbut und zur Salbe gegen den Milchschorf der Kinder angewandt. Dennoch hat es jetzt wohl kein einziger Apotheker mehr vorräthig, weil es längst ausgemerzt ist. Aber in jeder Apotheke wird es wohl zu erhalten sein – man versuche es nur!
Ihnen schließen sich eine Anzahl von Volksheilmitteln an, welche nur noch eine sprachliche Bedeutung haben: „Fette Henne“, Fiebermoos, Finger- und Fünffingerkraut, Fünfblatt, Gänsefuß, Gänserich, Glaskraut, Hasenklee, Hühnernessel, Kälberkropf, Kachinkawurzel, Canarienholz, Körbelkraut, Kratzel- und Rahmbeeren, Lab-, Läuse-, Lebens- und Peterskraut, Mauseöhrchen, Meer- und Seebohnen, Meerhirse, Nesselblüthe, Ohnblatt, Osterblumen, Parakresse und deren Tinctur, Stechlaub, Stechpalmenblätter, Steinsamen, Stempelienöl, Theriakwurzel, Todtenbein, Wassericht, Wasserkresse, Wegetritt und Wegwart. Sie werden sämmtlich noch, wenn auch seltener, gekauft und gegen diese oder jene Uebel gläubig gebraucht; da sich aber an sie gar keine bestimmten Begriffe mehr knüpfen, so ist die Wahl passender Ersatzmittel völlig dem Ermessen und Belieben des Apothekers überlassen. Daß sie in alter Zeit dennoch sämmtlich thatsächlich vorhanden waren, braucht kaum hinzugefügt werden.
Etwas Anderes ist’s mit den folgenden; für sie stehen die Ersatzmittel mindestens so ziemlich allgemein fest. Als Grasspiritus durch Theriakgeist erhält man zusammengesetzten Angelicaspiritus, als Hasensprung präparirte Austerschalen; Hauswurzelsaft – Rosenhonig; Hederichsaft – Altheesyrup; Hypocistensaft – Vogelbeermus; Johannisblumen – Frühlingsprimelchen; Canarienholz – weißes Sandel- oder Wachholderholz; Karmelitergeist und -Wasser – Kölnisch Wasser oder Melissenspiritus; Kornblumenwasser – gemischtes Rosenwasser; Kropfschwamm – kleine Schwammfetzen; Lilien- und Lilen-, auch Lindenbaum- und Mai-Oel – weißes Baum- oder Provenceröl; Lindenkohle – Kohlenpulver, ob von Buchen, Eichen, Fichten etc. ist thatsächlich sehr gleichgültig; Nachtschattenöl, auch Ritterspornöl – gekochtes Bilsenkrautöl; Nachtschattenwasser, auch Roggenblüthenwasser – Fliederwasser; Nußöl – Mohnöl; rothe Ochsenzunge – Alcannawurzel; Osterluzeiwasser – aromatisches Wasser; Ostritz- und Ostritschenwurzel – Meisterwurzel; Pfaffenröhrlein und Pfefferröslein – Löwenzahnkraut, das sich Jeder leicht selbst sammeln könnte; Polnischer Hafer, Polsken Hafer und Rautensamenpulver – Mutterkümmelsamen, im letztern Falle gepulvert; Rettigtropfen – Löfselkrautspiritus; Rußnußöl – Petroleum; Scharbockskraut – Wolverleikraut; Scharpion- und Scorpionöl – Lein- oder Provenceröl, in dem ein Stückchen von einem Ohrwurm (früher Scorpion) liegen muß, Storchensalbe – unser liebes bekanntes Schmalz; Schwalbenwasser – Fenchelwasser.
Dies Alles – noch einmal sei ganz besonders Gewicht auf diese Wahrheit gelegt – existirt also sammt und sonders in Wirklichkeit gar nicht mehr in den Apotheken, das Geld dafür ist daher weggeworfen. Außerdem giebt es noch eine außerordentlich bedeutende Anzahl von Arzneimitteln der mannigfachsten Art, welche, nach gewissenhafter Prüfung der betreffenden Behörden, als wirkungslos oder doch überflüssig aus dem gesetzlichen Arzneimittelschatz ausgemerzt worden sind, die sich aber als Haus- und Volksheilmittel noch allenthalben erhalten haben. Auf dieselben, welche der Apotheker nur noch gleichsam dem Volke zu Gefallen führt, kommen wir ebenfalls zu sprechen.
In Betreff der Ersatzmittel für die oben angeführten Stoffe sei noch Einiges bemerkt. Es steht fest, daß der Apotheker unter allen jenen Namen den unwissenden Leuten gerade das in die Hand drücken kann, was er will. Mit den Kräutern, welche fein zerschnitten oder gar gestoßen werden, sowie mit vielerlei anderen Gegenständen, welche die Zubereitung unkenntlich macht, ist dies ja auch so leicht. Als Beispiel hierfür wollen wir nur noch einige Thatsachen hervorheben. Der gemeine Hederich, dessen unschuldiges Kräutlein früher unter dem Namen Herba Herderae als Arzneimittel gebraucht wurde, jetzt aber bereits längst als durchaus wirkungslos aus den Pharmakopöen gestrichen ist, wird dennoch alljährlich von den Apothekern in großen Massen aufgekauft. Getrocknet, feingeschnitten und gesiebt geht das gute Kraut wohlgemuth unter folgenden Namen in die Welt: Bingelkraut, Braunelle, Brennnessel, Edel-, Eisen-, Finger-, Fünffinger-, Gänsekraut, Gänsefuß, Gänserich, Gottesheil, Gundermann, Gundelrebe, Fünfblatt, Nessel-, Sannickel-, Saunickel-, Taschen- und Todtenkraut, Osterblume, Udram und Utram, und wenn ein guter Kunde zufällig alle diese zweiundzwanzig und noch verschiedene ähnliche Namen dazu fordert, so erhält er zweiundzwanzig, resp. noch mehr saubere, niedliche Tütchen mit ebensovielmal einem Pröbchen von demselben Kraut gefüllt. Für diese Bemühung muß er freilich eine verhältnißmäßig recht erkleckliche Summe bezahlen; dafür trinkt er aber auch seinen zweiundzwanzigfach heilsamen Thee – und der Himmel wird schon helfen!
Aehnlicher Weise werden eine ganze Reihe der gewöhnlichsten und möglichst billigen – Kräuter mit großem Erfolge (für den Apotheker nämlich) benützt. Das allerwärts auf dem Sande wuchernde liebliche Feldthymiankraut wird als: Feldpolei, Lab-, Feldkümmel-Kraut, Marienbettstroh, „Unserer lieben Frauen Bettstroh“ und Quendel verabreicht. Auch das Stiefmütterchenkraut muß als Dreifaltigkeits- und Freisamkraut, Tausendschön u. s. w. herhalten. In dieser Weise könnten wir noch eine große Anzahl von unseren einheimischen Kräutern herzählen, für welche die Armuth in blindem Wahn ihr sauer erworbenes Geld fortwirkt, während sie mit geringer Mühe sie sich selbst einsammeln könnte.
Wenn nun aber bereits nach diesen Darlegungen jeder denkende Mann und Menschenfreund mit Entrüstung und Abscheu diesem Treiben gegenüber erfüllt werden muß, um wie viel mehr wird dies noch der Fall sein, wenn er hört, daß in den Apotheken noch alltäglich als Graswasser, Tremseeblumenwasser u. s. w. gewöhnliches destillirtes Wasser, als Canarien-, Vermächtniß- etc. Zucker gewöhnliches Zuckerpulver verabfolgt wird, daß man, um nur für die imaginären Namen: flüssiges Altelor-, Cager-, Durchwachs-, Glieder-, Litt-, Nerven-, Schwülken-, Recksehnen-, Riew-, Schwalben-, Upstochs- Upstocks-, Vertheilungs- etc. Oel einen Gegenstand zu haben, expreß bloßes, gewöhnliches Brenn- oder Rüböl grün färbt – und daß man dies Alles thut, „natürlich nur um das Vertrauen des Publicums sich zu erhalten“, nebenbei freilich wohl auch, um ein wenig reich zu werden.
[748] Wenn man dabei aber bedenkt, daß dies entsetzliche Unrecht fast ausschließlich nur den ärmsten und leidenden, also bedauernswerthesten Theil der Menschheit trifft, dann wird man hoffentlich unser Beginnen, dem mittelalterlichen Zopfthum der privilegirten Apothekerei einen Fetzen nach dem andern kaltblütig herabzureißen, nicht mit ungünstigen Augen ansehen. Möchten wir auch nur entfernt ähnliche Erfolge erreichen, wie Dr. Bock auf dem verwandten Gebiete sie so reich gewonnen hat, welche unermeßliche Fülle des Segens könnte ihnen dann folgen!
Nr. 2. Die Faber’sche Bleistiftfabrik in Stein.
Eine Stunde von der altberühmten Handelsstadt Nürnberg entfernt liegt an der Rednitz das freundliche und schmucke Dorf Stein. An beiden Seiten des Flüßchens erheben sich weitläufige Gebäude mit hellen Fensterreihen, dampfenden Schloten,
weiten Arbeitsräumen. Wir haben ein ausgedehntes Fabriketablissement vor uns. Inmitten zweier großer Parks mit geschmackvollen Anlagen, Gewächshäusern und Wintergarten, einem herrlichen See, prächtigen Baumgruppen zeigen sich zwei elegante Wohnhäuser, von denen namentlich das eine durch die Höhe seiner Lage und die Eigenthümlichkeit seiner Bauart sich auszeichnet, ein wirklich fürstlicher Wohnsitz. Ueberall begegnen dem Auge Wohlstand, Behaglichkeit und ein geschäftiges Treiben.
Auf dieses Dorf Stein weisen die ersten Spuren deutscher Bleistift-Fabrikation hin; schon im Jahre 1726 erwähnen die dortigen Kirchenbücher bei Gelegenheit der Verehelichungen der „Bleistiftmacher“. Ebendaselbst kommen später „Bleiweißschneider“ und „Bleiweißschneiderinnen“ vor. Hier siedelte sich auch vor nunmehr fast hundert Jahren Caspar Faber an und begann das Jahr darauf ebenfalls die Fabrikation von Bleistiften. Ein schlichter, einfacher Mann, hatte er mit dem Drucke der äußeren Verhältnisse zu kämpfen; sein ganzer Besitz bestand damals in einem kleinen an der Rednitz gelegenen Hause, das von einem Gärtchen umgeben war. Ein noch in der Familie aufbewahrtes gerichtliches Inventar vom Jahre 1786 führt den kleinen Besitzstand der Familie getreulich auf und schließt mit einem Baarvermögen von „neunundfünfzig Gulden“.
Der Umfang seines Geschäfts war ein gar bescheidener, der Absatz der gewonnenen Produkte sehr gering und nur local, da der kaufmännische Geist und Betrieb ihm nicht fördernd zur Seite standen. Nach Nürnberg und Fürth wurden die während der Woche gefertigten Bleistifte an jedem Sonnabend in einem Korbe getragen, doch dient der Umstand, daß sie gut bezahlt wurden, zum Beweis für ihre schon damals anerkannte Güte. Das Verhältniß zwischen dem Producenten und dem consumirenden Publicum war zu jener Zeit wenig geregelt; denn um die Fabrikanten in völliger Abhängigkeit zu erhalten, gestatteten ihnen die Kaufleute nicht, ihre besseren Producte mit ihren Namen zu zeichnen, sondern schrieben ihnen fremde Namen und nichtssagende Zeichen, wie Harfe, Sternchen und dergleichen, vor.
Der Handel Nürnbergs, von dem, wie gesagt, die Bleistift-Fabrikation [749] Fabrikation ganz und gar abhing, stand aber längst nicht mehr auf seiner früheren Höhe. Die kunstsinnigen, brauchbaren Erzeugnisse waren verschwunden und hatten Waaren Platz gemacht, deren Ruhm nur darin bestand, beispiellos billig zu sein. Das Bestreben, ohne Rücksicht auf Brauchbarkeit und Güte nur wohlfeil zu fabriciren, war zum Erbübel geworden, das vom Ahnen auf kommende Generationen in üppiger Weise fortwucherte. Die edlere Bedeutung der Bezeichnung „Nürnberger Gut“ war in die stehende und höhnende verwandelt: „Nürnberger Waare“, ja es war dahin gekommen, daß man in der ganzen Geschäftswelt annahm, in Nürnberg könne gar nichts Gutes gearbeitet werden.
Unter solchen Verhältnissen verkümmerte natürlich auch die Bleistiftfabrikation. Es geschah nicht selten, daß Fabrikate in die Welt hinausgeschickt wurden, welche das äußere Ansehen von Bleistiften hatten, indem das Holz an den beiden Endflächen mit Graphit getupft war, gleich als befände sich eine Bleieinlage darinnen, während man doch blos ein unbrauchbares Stück Holz vor sich hatte. Solche Pioniere, von der Nürnberger Fabrikation in das Ausland hinausgeschickt, mußten freilich deren gänzlichen Verfall herbeiführen, denn es ist schwer, das einmal verscherzte Vertrauen und die einmal verlorene Achtung wieder zu gewinnen.
So tief war die Nürnberger Industrie herabgesunken, als vor noch nicht dreißig Jahren der gegenwärtige Besitzer des oben erwähnten Etablissements, Johann Lothar Faber, geb. am 12. Juni 1817, ein Mann von vorzüglicher Bildung und rastloser Thätigkeit, als Mensch gleich ausgezeichnet wie als Geschäftsmann, die väterliche Fabrik zu Stein übernahm und aus ihr bald ein Etablissement schuf, welches nicht nur als die bedeutendste Bleistiftmanufactur dasteht, die überhaupt existirt, sondern dessen Fabrikat auch allgemein als das vorzüglichste anerkannt ist und in die ganze civilisirte Welt geht.
Als neunzehnjähriger Jüngling war er zu seiner ferneren kaufmännischen Ausbildung nach Paris gegangen. Hier, wo sich im größeren Gesichtskreise sein industrieller Blick weitete und allerhand Projecte reiften, durch die er das väterliche Geschäft umgestalten und heben wollte, traf ihn nach einem dreijährigen Aufenthalte mitten in seinen Plänen und Ideen plötzlich und unerwartet die Nachricht von dem Tode seines Vaters. Rasch unternahm er noch eine vorher schon zur Bereicherung seiner Kenntnisse und Erfahrungen projectirte Reise nach London und kehrte im August 1839 in die Heimath zurück. Nun galt es, alle über das Wesen der Industrie gewonnenen Ideen zu verwerthen und zu verwirklichen.
Der Zustand der väterlichen Fabrik war ein höchst unbefriedigender; sie beschäftigte kaum noch einige zwanzig Arbeiter und ihr jährlicher Umsatz betrug etwa zwölftausend Gulden. Sollte für die Fabrik jene glänzende Zukunft, wie Faber sie in Paris im Geiste sich ausgemalt hatte, wirklich eintreten, so galt es einen Kampf – und der war nicht leicht – mit den alten, verkehrten Grundsätzen zu bestehen, mit dem schleppenden Gang der früheren Zeit zu brechen und nach dem Verfall der Nürnberger Industrie, die sich vom Weltmarkte zurückgedrängt sah, den Grundstein einer neuen zu legen, die allein im Stande wäre, Nürnberg seinen alten Ruhm wieder zu erobern.
Bis jetzt waren die Bleistifte nur in verhältnißmäßig wenigen und billigen Sorten fabricirt worden. Faber sah sich alsbald veranlaßt, auch feinere Sorten mit entsprechenden Preisen einzuführen. Allein wie erging es ihm! Als er sein neues verbessertes Fabrikat den Nürnberger und Fürther Kaufleuten das Groß (zwölf Dutzend) zu fünf Gulden anbot, fanden sie diesen Preis zu theuer und einer derselben richtete sogar die Frage an ihn: „Ob er wohl Silber in die Bleistifte hineinmache, da die theuersten Bleistifte in Nürnberg nicht mehr als drei Gulden kosteten?“ Heute verkauft Faber seine feinsten und besten Bleistifte zu sechszehn, ja selbst bis zu fünfundzwanzig Gulden, und dieser Preis stuft sich ab bis zu dem billigsten, welcher zweiundvierzig Kreuzer für das Groß beträgt, so [750] daß durch diese reiche Auswahl jedes Bedürfniß befriedigt und jeder Concurrenz begegnet wird.
Der mißliche Anfang schreckte Faber nicht ab; er arbeitete unermüdlich fort, seine Bleistifte auf eine immer höhere Stufe der Vollkommenheit zu bringen, auch zeichnete er seine verbesserten Fabrikate und namentlich seine neuen sogenannten Polygrades-Bleistifte, die sich besonders in der Künstlerwelt den größten Ruf erworben haben, alle mit der Firma der Fabrik. Da dieselben jedoch durch die erhöhten Preise, welche die mehr und mehr verbesserten Qualitäten zur Folge haben mußten, bei den Nürnberger Kaufleuten nur wenig Abnahme fanden, so bereiste er selbst ganz Deutschland, Rußland, Oesterreich, Belgien, Holland, Frankreich, England, Italien und die Schweiz und knüpfte mit allen bedeutenden Städten des In- und Auslandes directe Handelsbeziehungen an, die bei der fortwährenden Verbesserung seines Fabrikates ihm bald eine befriedigende Abnahme und eine immer steigende Nachfrage verschafften, bedeutend genug, um sich über die beschränkte Sphäre localer Interessen zu erheben.
Die beinahe zahllosen Beschäftigungsarten, welche den Bleistift in Anspruch nehmen, machten nach und nach ein großartiges Assortiment nothwendig, von dem langen Staffelei-Bleistift bis zum kleinsten Etui-Stift. Die Aufgabe der Fabrikation hatte sich, da man vielfach mit dem Ausland in Verbindung getreten war, schon bedeutend höher gestellt, und der verschiedene Geschmack, selbst die verschiedenen Sitten der consumirenden Bevölkerungen wollten in Betracht gezogen sein. Faber that dies Alles, und so ist der Ruf seiner Fabrikate in alle Welttheile gedrungen, und nicht nur der weitverbreitete Gebrauch derselben ist es, der ihre Güte gewährleistet, sondern insbesondere die Stimme der Männer, welche die höchsten Anforderungen an das Fabrikat stellen. Die Architekten und Ingenieure bedienen sich nicht leicht eines anderen als des A. W. Faber-Stiftes; auch die gesammte Künstlerwelt hat längst den A. W. Faber’schen Bleistift für den besten Zeichenstift erklärt. Männer wie Cornelius, Kaulbach, Bendemann, Lessing, Horace Vernet haben sich in diesem Sinne ausgesprochen.
Ebenso wurden dem Faber’schen Fabrikate auf allen großen Gewerbausstellungen der neuesten Zeit der Preis vor sämmtlichen ähnlichen Erzeugnissen, die besten aus Wien, Frankreich und England nicht ausgenommen, zuerkannt. Dank den Bemühungen Faber’s behauptet jetzt Nürnberg vor allen Ländern in der Bleistiftfabrikation den unbestrittenen Vorrang. Wie bedeutend aber dieselbe ist, geht daraus hervor, daß nach der Angabe des Professors Flegler gegenwärtig in Nürnberg gegen zwanzig Bleistiftfabriken in Thätigkeit sind, welche mit viertausendfünfhundert bis viertausendachthundert Arbeitern jährlich gegen zweihundertundsechszehn Millionen Bleistifte im Werthe von etwa drei Millionen Gulden erzeugen. Die umfangreichste und größte darunter aber ist die Fabrik in Stein, welche den bedeutendsten Umsatz hat und allein fünfhundert Arbeiter beschäftigt. – Auch in Amerika hatten sich Faber’s Bleistifte einen großen Markt zu eröffnen gewußt. Dies veranlaßte Faber ein Haus in New-York zu gründen und dessen Leitung seinem jüngsten Bruder zu übertragen, während ein anderer Bruder seit dem Jahre 1840 am Nürnberger Hause mit betheiligt ist.
Wie in der amerikanischen Handelsmetropole, so wurde auch in Paris ein Haus gegründet, und zwar nicht nur um den bedeutenden Verkehr mit Frankreich und den Nebenländern zu leiten, sondern auch um den feinen Geschmack und die ansprechende Eleganz der Franzosen, welche jedem an sich guten Producte noch zum besonderen Vortheil gereichen, zu vermitteln. Ebenso ward auch den Bedürfnissen Englands, Indiens und Australiens durch Errichtung einer Agentur in London Rechnung getragen. Mit der Verbreitung der Fabrikate nach außen hält die innere Entwicklung des Etablissements Schritt. Ebenda, wo einst das kleine Häuschen der Voreltern stand, erheben sich jetzt die Fabrikgebäude diesseits und jenseits der Rednitz. Da die Wasserkraft dieses Flusses theils unzureichend, theils zu unbeständig war, mußte der Dampf zu Hülfe genommen und eine große Maschine aufgestellt werden. Fast jedes Jahr erforderte einen Neubau. Dabei wurde vorzüglich darauf Rücksicht genommen, die Gebäude geräumig und hell herzustellen und der Gesundheit der Arbeiter Rechnung zu tragen. Auf diese Weise erfuhren nach und nach alle Räumlichkeiten mit Rücksicht theils auf die immer zunehmende Production, theils auf die Anforderungen, welche die Gesundheit des Arbeiters und der Schönheitssinn überhaupt stellen, bedeutende Erweiterungen und Umwandlungen im Grundbau, so daß selbst der Charakter der ganzen Ortschaft ein wesentlich anderer geworden ist. Das früher verwahrloste Dorf hat ein neues Ansehen gewonnen; der Dampf der Kamine verkündet weithin ein reges industrielles Leben, und das frühere Bild der Dürftigkeit hat einer gewissen Wohlhabenheit Platz gemacht.
Besonders verdient hierbei hervorgehoben zu werden, daß auch die sittlichen Verhältnisse der Arbeiter ein Gegenstand unablässiger Sorge Faber’s sind. Im Interesse derselben wurden vor Allem Fabrikstatuten verfaßt, welche dem vorzüglich tüchtigen oder im Lebensalter vorangeschrittenen Arbeiter Gelegenheit boten, sein Einkommen zu vergrößern, indem ihm unter bestimmten Voraussetzungen eine Lohnerhöhung zugesichert ist. Nicht minder errichtete er eine Arbeiter-Sparcasse, die schon sehr viel Gutes gestiftet hat, und gründete daneben eine Bibliothek, welche, dem Arbeiter und seiner Familie zugänglich, sich einer sehr fleißigen Benützung erfreut.
Ferner wurde ein großes Gebäude in schönen äußeren Verhältnissen zu Arbeiterwohnungen erbaut und andere Gebäude in Arbeiterwohnhäuser verwandelt. Die Häuser selbst enthalten einzelne, für sich abgeschlossene Wohnungen, die den Familien um eine geringe Miethe einen weit angenehmeren Aufenthalt als die meisten Wohnungen in den Städten gewähren. Dabei findet indeß keinerlei Zwang statt, die Häuser stehen Jedem offen und die im Interesse der Gemeinschaft eingeführte Hausordnung ist von der Art, daß ihr Jeder mit Freude nachkommt.
Machen wir jetzt einen Gang durch die Fabrik und sehen wir uns die Art und Weise der Fabrikation des Bleistiftes an. Unsere Wanderung führt uns zunächst in den Raum, wo die Rohmaterialien, Graphit und Thon, geschlemmt werden, die alsdann zum Trocknen in Pfannen kommen. Von da wird das Material auf die Mühlen gebracht, welche Tag und Nacht im Gange sind und auf denen die aus Graphit, Thon etc. zusammengesetzte Masse in nassem Zustande feingemahlen wird. Nach dem Mahlen wird die Masse in eigens dazu bestimmten Oefen getrocknet. Jetzt beginnt die Bearbeitung des Bleies selbst. Wir betreten einen großen, hellen Saal; ein Theil der Arbeiter macht, wie wir sehen, aus der trockenen Masse durch Anfeuchtung mit Wasser einen Teig, welcher in feuchtem Zustande in den Cylinder der Presse kommt, wo er durch ein am Boden des Cylinders befindliches Kupferplättchen, das in der Mitte eine Oeffnung von beliebiger Form und Stärke hat, gepreßt wird. Das durch den Cylinder gepreßte Blei legt sich ringförmig auf und wird von anderen Arbeitern auf Breter in gerade Richtung gelegt und an einem mäßig warmen Orte getrocknet. Noch ehe das Blei indeß vollkommen ausgetrocknet ist, wird es in Stäbchen von der Länge der zu verfertigenden Bleistifte geschnitten. Nach dem Trocknen erfolgt das Ausglühen in eigens dazu construirten Oefen; es geschieht in luftdicht verschlossenen Kästchen von Thon oder Eisen, in welche die Bleistäbchen wagrecht eingelegt werden.
Der nächste Saal, in den man uns geleitet, ist von dem Brausen und Schwirren des Maschinenwerkes erfüllt. Hier wird das Holz geschnitten, gesägt und gehobelt. Ein Block Florida-Cederholz – von acht bis vierundzwanzig Zoll im Durchmesser und von zehn bis fünfzehn Fuß Länge – wird zunächst durch eine Gattersäge in Stücke von der Bleistiftlänge quer zertheilt, die einzelnen Stücke werden vermittelst kleiner Circularsägen zu Bretchen zerschnitten und diese auf besonderen Maschinen glattgehobelt. Hinter den Hobelmaschinen befinden sich die Nuthenmaschinen, auf denen durch kleine Circularsägen aus den glattgehobelten Bretchen die Nuthen und Deckel gemacht werden. Hierauf beginnt das Einleimen der Bleistäbchen in das Holz. An jedem Leimtische sitzen drei Arbeiter, von denen der eine die Nuthen und Deckel mit Leim bestreicht, der andere die Bleistäbchen in die Nuthen einlegt und der dritte, nachdem die Deckel aufgelegt sind, die Bleistifte ordnet. Sodann werden diese in eine Presse gebracht und dicht nebeneinander durch Schrauben fest eingepreßt.
Die soweit fertigen Bleistifte sind alle viereckig und kommen nun in den Arbeitersaal der Hobler. Hier werden sie zu gleicher Länge vermittest feiner Circularsägen gebracht und durch die Hobelmaschinen, welche sie in viereckiger Form aufnehmen, rund oder auch sechseckig, viereckig, dreieckig und oval gehobelt.
Die weiteren Arbeiten verichten Mädchen. In dem einen Saale geschieht das Poliren, worauf jeder Bleistift vermittelst einer [751] Hebelpresse mit dem Fabrikzeichen gestempelt wird; dann kommen die Bleistifte in den Saal, wo sie gebunden und verpackt werden. Sie werden zu Dutzenden zusammengebunden, mit Etiquetten versehen und dutzend- oder großweise eingepackt.
So bringen uns diese acht Säle, die wir durchschreiten, die Bleistiftfabrikation in ihren hauptsächlichsten Momenten zur Anschauung. Durch vollständige Beherrschung des Materials gelang es Faber, so viele Härtegrade zu erzeugen und ein so bedeutendes Assortiment herzustellen, daß jedes Bedürfniß bei der großen Auswahl der Fabrikate seine Befriedigung findet. Die feinsten Sorten insbesondere übertreffen nach dem Urtheile der Sachverständigen selbst die besten englischen Cumberlandstifte durch ihre stets gleichbleibenden Härtegrade, durch ihre größere Festigkeit und Haltbarkeit, sowie durch die größere Reinheit des Bleies. Sie besitzen überdies einen solchen Grad von Milde und Zartheit, mit der sich das Blei auf dem Papier aufträgt, daß sie auch in dieser Beziehung jeden Vergleich mit den Cumberlandstiften aushalten. Ueberdies wurden neben vielen anderen Verbesserungen, welche sich auf das Aeußere beziehen, die schönsten und zweckmäßigsten Formen für die Bleistifte feinerer Gattung ersonnen und eingeführt, und in neuester Zeit auch die sogenannten Künstlerstifte erfunden, welche sich rasch die allgemeinste Anerkennung erwarben und die übrigen Fabrikanten bald zur Nachahmung veranlaßten.
So weit war die Fabrik gediehen, ihre Erzeugnisse entsprachen den höchsten Anforderungen, ihr Ruf war festgegründet, da eröffnete sich unerwartet eine neue günstige Aussicht. Es war gefunden, wonach die Engländer so lange gesucht hatten und was eine vollendete Fabrikation immer noch bedurfte, um noch mehr zu leisten, als bisher möglich war: eine neue Graphitgrube war entdeckt: Alibert, Kaufmann erster Gilde von Tabasthus in Sibirien, hatte nach langen Nachforschungen in einem Zweige der Gebirgskette von Saian auf der Höhe des Felsengebirges Batougol vierhundert Werst westlich von der Stadt Irkutsk, nahe an den Grenzen von China, ein primitives Lager von Graphit aufgefunden. Die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, welcher Alibert Proben seines Graphits zur Analyse vorlegte, erklärte, daß derselbe ganz die nämlichen Bestandtheile und die nämlichen Eigenschaften besitze, d. i. ganz von derselben Natur sei, wie der Cumberlandgraphit. Alibert ging nun nach England. Er besuchte die versiechende Graphitgrube von Cumberland und überzeugte sich mit eigenen Augen von der Erschöpfung und dem Verfall derselben. Dann ließ er Proben seines Graphits von den bedeutendsten englischen Bleistiftfabrikanten untersuchen und erhielt von diesen einstimmig das Urtheil der Petersburger Akademie bestätigt, indem sie die Qualität dieses sibirischen Graphits ausgezeichnet und in keiner Weise der des Cumberlandbleies nachstehend erklärten.
Achtjährige Arbeit und ein Capital von einer Million Franken hatte es Alibert gekostet, bis er sein Unternehmen mit diesem allerdings unerwarteten Erfolge gekrönt sah. Er dachte nun daran, das neuentdeckte Material der Bleistiftfabrikation nutzbar zu machen. Nach der gewonnenen Ueberzeugung, daß die Faber’sche Fabrik die größte jetzt existirende sei und die meiste feine Waare in die civilisirte Welt versende, wandte er sich an diese mit dem Vorschlag zu einem Vertrag, in dessen Folge er seinen Graphit zur Fabrikation von Bleistiften nur an sie allein abgeben werde. Faber überzeugte sich, daß der neuentdeckte Graphit dem echten und besten Cumberlandgraphit an Güte gleichkomme, und ging auf den Vorschlag Alibert’s bereitwillig ein, nach welchem aller Graphit, der aus den siibirischen Minen kommt, zum Zwecke der Bleistiftfabrikation jetzt und für alle Zukunft einzig und allein nur an die Faber’sche Fabrik geliefert werden darf. So kommt denn in Folge des von der russischen Regierung 1856 bestätigten Vertrages jetzt der Graphit, welchen die Fabrik verarbeitet, aus dem fernen Sibirien; sorgfältig in Holzkisten verpackt, wandern die Graphitblöcke auf dem Rücken der Rennthiere eine ungeheure Gebietsstrecke, auf der keine Spur von einer Straße zu finden ist, bis zum nächsten Hafen, um von dort den weiten Seeweg nach Europa zu machen, oder sie werden lediglich auf dem Landwege zur Fabrik geschafft.
Auf der letzten internationalen Ausstellung zu London fand sich dieser sibirische Graphit in der russischen Abtheilung in großen Blöcken – bis zu achtzig Pfund Schwere – und modellirt in Büsten unter dem Namen „Graphit Alibert“ und zog als etwas Neues die größte Aufmerksamkeit auf sich.
Im September 1861 feierte die Fabrik ihr hundertjähriges Jubelfest, und wohl durfte ihr Besitzer mit einer inneren Genugthuung auf den Anfang und das nun Gewonnene zurückblicken. Wie den noch rüstigen Mann seine Familie in inniger Liebe umgiebt, so zeigte sich bei jenem Feste auch die Anhänglichkeit und Dankbarkeit, mit der ihm seine Arbeiter ergeben sind, in schlichter, aber rührender Weise. Daß dem Chef eines so großartigen Etablissements bei solcher Gelegenheit auch die äußeren Ehrenbezeigungen vom König seines Landes und von der Stadt Nürnberg nicht ausblieben, braucht unsern Lesern nicht umständlich erzählt zu werden. Freilich müssen wir beklagen, daß er nicht den Muth und das Selbstgefühl des freien Bürgers besaß, den ihm von seinem Monarchen ertheilten Adel abzulehnen, denn der strahlendste Orden, die glänzendste Auszeichnung, welche der thätige Mann empfangen konnte, wiegt unsers Erachtens leicht gegen das erhebende Bewußtsein, so viel Gutes geschaffen und so große Erfolge errungen zu haben – Erfolge, welche seine kühnsten Jugendhoffnungen weit überflügeln dürften.
Napoleon und die voltaische Säule. Humphry Davv, der ausgezeichnete britische Chemiker, hatte eine die ganze gelehrte Welt in Staunen und Aufregung versetzende Entdeckung gemacht. Im November 1806 hielt er vor der sogenannten „Königlichen Gesellschaft“ in London zuerst eine Vorlesung über die chemischen Wirkungen der Elektricität, in der er darlegte, daß die ungemeine Kraft der galvanischen Elektricität alle bis dahin für unzerlegbar gehaltenen Stoffe dennoch zerfetzen und damit zur Kenntniß der wirklichen einfachen Körper oder wahren Elemente, der Bestandtheile alles Irdischen, führen müsse. Weitere Versuche bestätigten dies, und bereits in zwei weiteren Vorlesungen, am 12. und 19. November 1807 konnte er jener Gesellschaft sichere Ergebnisse über die Zerlegung der Alkalien, zunächst der Soda und der Pottasche, mittheilen.
Diese wichtige Entdeckung war allmählich auch bin zu dem wissenschaftlichen Publicum den Continents gedrungen; man beschäftigte sich namentlich mit den so merkwürdig erscheinenden Eigenschaften dieser Alkalien-Metalle, welche, in’s Wasser geworfen, eine Feuererscheinung hervorbringen und das Wasser zersetzen sollten, und, wie fast sämmtliche hervorragenden Chemiker aller Nationen, so sprachen sich auch die französischen, besonders Gay-Lussac und Thénard, sofort Davy’s Ansicht beipflichtend, dahin öffentlich aus, daß man alle Alkalien (und ebenso sämmtliche Erden) hinfort für nichts Anderes, als eine Verbindung ihrer Metalle mit Sauerstoff anzusehen habe.
Auch Napoleon’s Adlerblick war diese Entdeckung, obwohl ihm doch so fernliegend, nicht entgangen, und wenn er ihre ganze Bedeutung auch wohl nicht zu ermessen vermochte, so ahnte er die außerordentliche Wichtigkeit derselben doch vielleicht. Aber er konnte keineswegs die Freutde darüber empfinden welche die Männer der Wissenschaft ohne Ausnahme, gleichviel welcher Nationalität sie auch angehörten, dabei erfüllen mußte. Ihn ärgerte es vielmehr nicht wenig, daß gerade ein Engländer, ein Angehöriger des ihm in den Tod verhaßten Volkes, diesen Triumph errungen hatte – und diesen Verdruß gab er den Chemikern von Paris im vollsten Maße zu erkennen.
Die Vorwürfe den allgewaltigen Imperators suchte man mit der Vorstellung abzuweisen, daß ihnen, den Pariser Chemikern, ja gar nicht die Gelegenheit zu derartigen Entdeckungen geboten sei, da es durchaus an den genügenden Apparaten und besonders an den voltaischen Säulen von genügender Größe, Kraft und Energie fehle.
„Bah!“ hatte der erzürnte Kaiser erwidert, „Bah! construiren wir sofort solche Säulen und noch viel größere, als die der englischen Chemiker, allons!“
Und jetzt ließ er große, ja wahrhaft ungeheure voltaische Säulen zur Erzeugung massenhafter Elektricität erbauen und beaufsichtigte selbst die Ausführung derselben. Der große Feldherr und Politiker wußte sich die Zeit zu erübrigen, um das sonst doch so kleinlich erscheinende Treiben der Chemiker zu verfolgen. Ja, er war in der That ein so großer Staatsmann, daß er auch die Bedeutung der Chemie, mindestens in Bezug auf Schießpulver, Salpeter etc., also die Bedürfnisse seiner Kriegshülfsmittel-Laboratorien, wohl zu würdigen wußte. Tagtäglich sprach er in dem chemischen Laboratorium vor und man konnte ihm unschwer die Ungeduld anmerken, mit der er dem Beginn der Experimente entgegensah.
Endlich war der Tag gekommen. Die gewaltigen Säulen waren vollendet, die Maschinerien wurden in Bewegung gesetzt, die elektrischen Batterien geladen und bald war Alles für die beabsichtigten Versuche in Bereitschaft gesetzt. Die Koryphäen, nicht blos der Chemie, sondern auch anderer Zweige der Naturwissenschaft, ja fast der gesammten gelehrten Welt von Paris waren versammelt. Endlich trat auch der Kaiser ein und, was schon damals selten der Fall war, ein liebenswürdiges und zugleich erwartungsvolles Lächeln umspielte seine ehernen Züge.
[752] So hatte diese Wissenschaft selbst den größten Mann der Zeit, nebst seiner glänzenden Umgebung, zur Theilnahme an ihrer Thätigkeit zu erregen vermocht – obwohl sie damals bekanntlich die Kinderschuhe sich noch keineswegs ausgetreten hatte. Unter allen den hier versammelten würde dem unbefangenen Blick ein junger Mann, der Assistent eines der bedeutendsten Chemiker, aufgefallen sein, ein noch jugendlicher Mensch mit langem, pechschwarzem Haar, welches wirr das schmale, fast aschfarbene Antlitz umflatterte, in dem wiederum die großen, dunklen Augen gar seltsam düster brannten. Zu dergleichen Beobachtungen hatte jetzt jedoch Niemand Muße, denn die gespannteste Aufmerksamkeit Aller war ja auf die sich vorbereitenden Experimente gerichtet. François Bossé, wie er hieß, drängte sich immer in die Nähe des Kaisers und dieser wich, wie unwillkürlich, seiner unheimlichen Erscheinung stets scheu aus.
Jetzt sollten die Experimente beginnen. In großen Tiegeln, über furchtbarem Feuer, sollte geschmolzenes und glühendes Aetznatron dem ungeheuern Einfluß der galvanischen Elektricität ausgesetzt werden. Alle Zuschauer drängten sich neugierig heran, um von den Erscheinungen des interessanten Vorgangs auch nicht das Geringste zu verlieren. Plötzlich stellt sich François Bossé mitten in den schmalen Durchgang, der für den Kaiser offen geblieben, und dieser muß, um schnell heranzukommen, dem zudringlichen Menschen wieder ausweichen; – da, urplötzlich donnert die gewaltige Kraft der voltaischen Säule los (der Kaiser ist dem Leitungsdraht zu nahe gekommen) und, von der ganzen, furchtbaren Gewalt des elektrischen Stromes getroffen, stürzt er zusammen, leblos zur Erde.
Der große Imperator Frankreichs, der Welten erobert, Throne gestürzt und neue gestaltet, dessen allmächtiger Wille Fürsten, Könige und Herzoge geschaffen, vor dem Kaiser und Gewalthaber gezittert und sich um seine Freund- und Bruderschaft gedrängt, er, der unumschränkte Herr und Gebieter fast der gesamten Erde – er liegt da im Staube; seine allgewaltige Menschenmacht konnte ihn nicht schützen vor einem Funken der Naturkraft!
Napoleon ward gerettet. Zwei Hülfsarbeiter in dem chemischen Laboratorium hatten François Bossé beobachtet und waren in sein finsteres Geheimniß gedrungen. Ein glühender Republikaner und von einer hoffnungslosen Liebe vollends seiner klaren Ueberlegung beraubt, hatte er den wahnsinnigen Plan des Kaisermordes, bei dieser Gelegenheit, gefaßt. Während er alle Vorbereitungen zur Ausführung der That noch mit der größten Umsicht und Ueberlegung in’s Werk gesetzt, da umdüsterte sich bereits sein Geist, denn sein schwacher, wohl zu zart organisirter Kopf war den lange andauernden Aufregungen, der in’s Ungeheuere entfachten Spannung nimmer gewachsen. Darum ward es jenen Beiden auch sehr leicht, seine Absichten zu durchschauen – und zu vereiteln.
Gerade zur rechten Zeit vermochte der eine unbeachtete Famulus einen Theil der elektrischen Leitung zu unterbrechen, so daß der Kaiser nur von einem verhältnißmäßig schwachen Strome getroffen wurde; hätte dies nicht geschehen können, so würde Napoleon unfehlbar verloren gewesen sein.
Der nach dem anscheinend gänzlichen Gelingen seiner That vollends wahnsinnig gewordene Mensch stürzte sich, als er später Napoleon zu Pferde sah und seinen Geist zu erblicken wähnte, in die Seine.
Die hier erzählte Thatsache ist wenig in das Publicum gedrungen.
Man sagte: der Kaiser sei dem Leitungsdraht unvorsichtiger Weise zu nahe gekommen, habe aber, außer einer kurzen Ohnmacht, keinen Schaden weiter genommen. Thatsächlich ist es aber – daß Napoleon seitdem nie wieder ein chemisches Laboratorium betreten hat.
Rossini und seine Verehrer. Rossini ist trotz seines vorgerückten Alters meist sehr jovialer Laune und man erzählt sich manche witzige Aeußerung von ihm. Er bewohnt für gewöhnlich eine reizende Villa in Passy bei Paris oder hält sich auch wochenlang in Paris selbst auf. Von früh an bis zwei Uhr Nachmittags arbeitet er oder empfängt Besuche in seinem Schlafzimmer; dann geht er entweder vor seiner Villa oder, wenn er in Paris ist, in der Orleansgalerie des Palais Royal spazieren.
Ein Fremder, welcher dorthin gegangen war, um den berühmten Componisten zu sehen, konnte dem Wunsche nicht widerstehen, mit ihm zu sprechen. Er nahm all’ seinen Muth zusammen, redete ihn an und drückte ihm, so gut es gehen wollte, seine Freude aus, einen so großen Mann zu sehen.
Rossini reichte ihm die Hand und meinte lächelnd: „Betrachten Sie mich, so lange Sie Lust haben; fürchten Sie nicht, mich irgendwie dadurch zu geniren. Gehen Sie rund um mich herum, wenn Sie wollen!“ –
Ein anderer Fremder, der ihn zu Hause aufsuchte, fand ihn ziemlich verdrießlich, da er seit dem Erwachen schon zehn bis zwölf Empfehlungsbriefe zu schreiben, eine Masse Photographien zu unterzeichnen und zu adressiren und eine ganze Schaar von Albums mit einigen Tacten seiner musikalischen Handschrift zu verzieren gehabt. Als er den Besucher eintreten sah, rief er:
„Gott, wie unangenehm ist doch die Berühmtheit! Was für glückliche Leute sind die Charcutiers!“ (Fleischwaarenhändler).
„Warum sind Sie keiner geworden?“ entgegnete scherzend der Fremde „Sie hatten es ja sehr leicht, diesen Stand zu erlernen, als Sie in Ihrer Kindheit in Bologna bei einem Charcutier in Pension waren.“
„Ich hätte es schon gewollt,“ erwiderte Rossini, „allein es ging nicht – meine Schuld war es nicht, aber ich wurde schlecht berathen.“
Dabei lachte er recht herzlich und seine üble Laune war verschwunden; er erzählte dem Besucher im Laufe der Unterhaltung auch noch eine sehr nette Anekdote von Chopin, die ihn höchlich amüsirte.
Chopin war bei irgend einem Bankier zu Tische geladen, einem jener wenig zartfühlenden, geldstolzen Menschen, welche einen Künstler stets dazu nöthigen möchten, den Preis seiner Mahlzeit zu bezahlen.
Beim Aufstehen vom Tisch drängte ihn die Herrin des Hauses mehr als nöthig, sich an’s Clavier zu setzen, und sagte wiederholt:
„Spielen Sie uns doch Etwas!“
„Ach, Madame!“ entgegnete Chopin, „ich habe ja so wenig gegessen.“
Dichterstiftungen. Aus einem trefflichen Werke, das soeben ein Mitarbeiter der Gartenlaube, Otto Glagau, über Fritz Reuter und dessen Dichtungen veröffentlicht hat und auf welches wir demnächst ausführlicher zurückkommen, entnehmen wir die nachstehende Stelle, die wir zunächst der gesammten deutschen Schriftstellerwelt zur Beherzigung empfehlen.
– – Sehr fraglich bleibt es, ob Dichterstiftungen ein Bedürfniß sind, ob sie nicht mehr Schaden als Nutzen bringen. Wir glauben nicht, daß die Nation die Pflicht hat, für die Existenz ihrer Schriftsteller zu sorgen. ebensowenig, wie für den Unterhalt ihrer übrigen Mitbürger. Wenn Jene etwas leisten können, wird es ihnen gar nicht schwer fallen, ihren Erwerb zu finden und sich gegen Mangel in Alter und Krankheit zu schützen; denn trotz der zahllosen Concurrenten aller Grade ist die Nachfrage auf dem literarischen Markte noch immer größer als das Angebot, und die Honorare sind heute zehnmal höher als zu den Zeiten von Goethe und Schiller. Das mag sehr prosaisch klingen, aber es ist nichtsdestoweniger – wahr. Ueberhaupt muß man sich des verrotteten Vorurtheils entwöhnen, daß es der Würde den Genius widerstrebe, zu arbeiten, zu zählen und zu rechnen. Das sind nur verkommene Genies, deren ganze Genialität in ihrer Liederlichkeit besteht. Wahre Genies dagegen, wie Kant und Goethe, sind ganz praktische haushälterische Leute gewesen. – Es ist eine alte Wahrheit, daß im Kampfe mit dem Leben das Talent oder Genie sich erst als solches ausweise, stähle und bewähre. Wer darin untergeht, verdient seinen Untergang. Andrerseits haben wir aus neuerer Zeit viele Beispiele, daß gerade die Fülle von Lohn und Ehre, die man über ein heraufkeimendes Talent ausgeschüttet, dieses gelähmt, erstickt hat. Alle jene Pensionäre haben seit ihrer Pensionirung nichts mehr oder doch Unbedeutendes geschaffen.
„Auf der Höhe!“ Berthold Auerbach’s neueste Schöpfung: „Auf der Höhe“, hat sich eines ungewöhnlichen Interesses seiten der gebildeten Lesewelt zu erfreuen gehabt; es dürfte daher vielen willkommen sein, auf die eingehende Würdigung des erwähnten Romans, die gründlichste von allen bisher erschienenen, aufmerksam gemacht zu werden, welche die letzte Nummer der „Deutschen Blätter“ der Feder einen unserer schärfsten und geistreichsten Kritiker, der Ludwig Walesrode’s, verdankt.
Herausgegeben
vom
Elegant brochirt. Preis 12 Ngr.
Mit dieser Schrift empfängt das Publicum eine populäre Darstellung der Pflege und der Erhaltung der Zähne, als das Resultat geläuterter Ansichten und Erfahrungen wahrer Sachverständiger. Die immer lauter werdenden Klagen über die so augenscheinlich sich steigernde Verderbniß der Zahne machten es den Vertretern dieser Specialwissenschaft zur Pflicht, den für das Wohl ihrer Kinder wahrhaft besorgten Eltern und Erziehern diesen zuverlässigen Wegweiser in die Hand zu geben, der schon als Preisschrift die Bürgschaft eines bestimmten Werthes in sich trägt.
- ↑ Möge vorläufig die „Gartenlaube“ diesen Zweck erfüllen!