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Die Gartenlaube (1863)/Heft 6

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[81]
Baffetto.
Novelle von Franz Freiherrn Gaudy.[1]


Unter den römischen Kaffeehäusern zweiten Ranges ist das Café Gnocchi eins der bekannteren. Es liegt an der Ecke der Via felice und Via di Porta Pinciana. Trotz dieser günstigen Lage in einem fast ausschließlich von Fremden bewohnten Viertel wird es doch weder von diesen noch von den Römern der bessern Classen eben sonderlich aufgesucht. Selten nur verirrt sich ein Maler auf seinem eiligen Gange nach dem Atelier in die unfreundliche, düstere Bottega, um seinen caffé dolcissimo schnell hinunter zu schlürfen und die Bajocchi auf den Marmortisch zu werfen. Desto stärker wird das Café dagegen von den zahlreichen Schwärmen der Modelle, welche auf dem Monte Pincio in der Nähe der deutschen Künstler horsten, besucht. Zu jeder Tageszeit findet man dort weißbärtige Greise, welche abwechselnd den heiligen Hieronymus und den Straßenbettler spielen, rothgekleidete Albanerinnen mit weißem Kopftuch und Korallenschnüren, Pifferari mit Dudelsäcken und der Pfauenfeder auf dem Hut, und Lumpe aller Art auf den ledernen Bänken herumrutschen und schwatzen, rauchen oder schlafen.

Unter der letzteren Classe, der Faulpelze, spielte Luigi Pastone oder der Baffetto[2], wie er von seinem langen, freiwachsenden Bart gewöhnlich genannt wurde, eine Hauptrolle. Seine Mutter war aus Genzano gebürtig und an einen dortigen Hirten verheirathet gewesen. Nach Luigi’s Geburt hatte man sie in das Haus des Prinzen Castrucci berufen, um dem neugeborenen Stammhalter des Geschlechts die Brust zu reichen. Späterhin hatte sich Anna Pastone in Rom niedergelassen und that sich bei Suppenvertheilungen in den Klöstern durch den größten Topf und die lauteste Stimme besonders hervor.

Ihr Söhnlein Luigi, oder in der Abkürzung Gigi, die einzige Frucht ihrer Ehe und der Held meiner Erzählung, erwuchs wie die Lilie auf dem Felde, ohne zu säen, ohne zu spinnen und vom himmlischen Vater dennoch gekleidet – wenn auch just nicht ganz so glänzend wie jenes blühende Symbol der Jungfräulichkeit. Seine Jugend war so ziemlich die aller römischen Straßenbuben; er bettelte, stahl – obwohl nur in den äußersten Nothfällen –, aß, wenn er etwas hatte, und wärmte sich an Fasttagen mit den Hunden im Sonnenschein. Wir sehen unseren Helden in den früheren Jahren bald auf dem Geländer der spanischen Treppe hinunterrutschen, bald während des Carnevals echte Confetti unter den Hufen der Pferde und zwischen den Rädern aufsuchen, bald bei Processionen neben den kerzentragenden Mönchen herlaufen und das herabtröpfelnde Wachs in Düten oder mit der bloßen Hand auffangen, bald auch als Kreuzträger, wenn die Knaben des Viertels sonntäglich in die Pfarrkirche getrieben wurden. Unter diesen und ähnlichen harmlosen Beschäftigungen erreichte Luigi das zwanzigste Jahr, war lang und schlank in die Höhe geschossen und stark und kräftig geworden – nur daß er fortwährend an einem verzehrenden Hunger, an einem noch peinigenderen Durst und einer an’s Fabelhafte grenzenden Arbeitsscheu litt.

Um diese Zeit war es, wo ein deutscher Künstler, der für sein Genrebild einen echten birbaccione[3] brauchte, auf der Piazza Barberina unsern Gigi auf dem Bauche liegend Karte spielen sah. Er machte ihm den Antrag, ob er ihm für drei Paul täglich Modell stehen oder vielmehr liegen wolle, ein Vorschlag, welcher von dem edlen Jüngling mit Freuden angenommen ward. Luigi folgte dem Maler in sein Studium, streckte sich lang auf die Erde, brauchte nichts zu thun, als eben nichts zu thun, und bekam für seine Mühe ein schönes blankes Apostelstück. Die Sache gefiel Pastone, und allmählich reifte in ihm der Entschluß, sich ganz diesem neuen Beruf zu widmen. Von Stund’ an ließ er sich Bart und Haare frei wachsen, nahm den Titel Baffetto an und verlegte seine Residenz nach dem Café Gnocchi, welches er nur verließ, um es gegen die Villeggiatur in den umliegenden Weinkneipen zu vertauschen.

Wir müssen eingestehen, daß Baffetto keinen Fehlgriff begangen hatte, als er sich für den Stand eines Modells entschied: er vereinigte beide Hauptrequisiten eines Lumpenlebens, Müßiggang und mühlosen Erwerb. In kurzer Zeit ward er unter den Künstlern bekannt und von ihnen gesucht, so oft es rasende Rolande, Räuber oder überhaupt Rabbiate und Hallunken zu malen gab. War keine Nachfrage nach Bösewichtern, so ließ sich Baffetto wohl auch herab, den Facchino zu spielen, einen Brief auf die Post zu tragen, einen Pudel zu scheeren oder sich sonst einer Beschäftigung zu unterziehen, die ihm eine halbe Stunde kostete und einen halben Paul einbrachte. Das Tagewerk war dann beendet – fünf Bajocchi klimperten in der Tasche, und davon ließ sich beim Friggitore ein Blatt Papier, angehäuft mit dampfendem Blumenkohl, bezahlen, eine Fogliette Albaner Weins, und beim Tabakshändler hinreichender Stoff, um die Bajoccopfeife bis zur sinkenden Nacht in Brand zu erhalten. Vor der Thür des Café Gnocchi mit über die Achsel geworfener Jacke sitzend, den Dampf gemüthlich vor sich hinblasend, mit jedem hübschen Mädchen auf der Straße sich neckend und wieder geneckt, fühlte Baffetto sich selig und hätte nicht mit dem Senatore von Rom getauscht. Alle Vorschläge, die ihm von Diesem oder Jenem gemacht wurden, ein solides bürgerliches Geschäft zu unternehmen, beantwortete er nur mit geringschätzigem, überlegenem Lächeln. Der Eckstein der Via Felice, setzte er wohl dann noch hinzu, sei ihm [82] ein zu alter Freund, als daß er ihm treulos werden könne. An seiner Seite habe er gelebt, an seiner Seite wollte er auch sterben. Welch ein nichtig Ding es aber um die Hoffnungen und Vorsätze der Menschen sei, sollte auch Baffetto erfahren.

Eines Nachmittags rüttelte ein kleiner Bube Baffetto aus der süßesten Siesta und schrie dem Verschlafenen in’s Ohr, er möge augenblicklich nach Haus kommen, mit seiner Mutter steh’ es gar übel, sie selber glaube keine Stunde mehr am Leben zu bleiben und verlange sehnlichst ihn vor ihrem Tode noch einmal zu sprechen. Lockern gleich in den untern Ständen die Familienbande zeitig genug, so brachte ihn diese Nachricht doch schnell genug auf die Beine. Keuchend stürmte er die engen Treppen hinan, trat in das niedere Dachstübchen, in welchem Frau Anna Pastone auf der mit Maisstroh gestopften Matratze lag, und rief gegen die Krante mit jenem halben Zorn, welcher bei rohen Gemüthern Schmerz oder Wehmuth bezeichnen und verhüllen soll: „Aber Mutter, was sind denn das einmal wieder für Einfälle? Sterben wollen – Sanguinaccio di Dio! Laßt Euch doch solche Gedanken vergehen.“

„Nein, nein,“ seufzte die Alte mit matter Stimme, „ich fühl’s wohl, mit mir geht’s zu Rande. Aber höre, Gigi, vorher muß ich Dir noch ein Geheimniß anvertrauen – merk’ auf: Du bist nicht mein Sohn, sondern der der Prinzessin Castrucci. Ich habe Euch Beide vertauscht, um meinem Kinde das reiche Gut zuzuwenden. Ach, Gigi, sei mir nur nicht bös – noch ist’s ja nicht zu spät, meine Sünde zu bekennen – es kann noch Alles gut werden.“

Baffetto fuhr verdutzt zurück und schüttelte, halb an der Möglichkeit der Aussage zweifelnd, halb daran glaubend, langsam den Kopf. „Hört einmal, Alte,“ hob er endlich an, „da habt Ihr einmal wieder einen verzweifelt dummen Streich gemacht. Ich – der Sohn des Principe – ach, geht doch – Ihr faselt. Und wenn ich’s nen wirklich wäre – wer glaubt’s mir denn? He?“

„Geh’ zum Pater Tommaso, Gigi, in’s Kloster Maria sopra Minerva. Er ist der Beichtvater der alten Principessa. Sag’ ihm – er möge gleich herkommen und mein Bekenntniß vernehmen – aber gleich. Geh – spute Dich – eh’s zu spät wird.“

„Je nun, wenn’s damit abgemacht wäre, den Pater wollen wir schon herbeischaffen. Aber hört, Mutter!“ rief er, in der Thür noch einmal sich umwendend, „zum Sterben ist’s ja noch immer Zeit. Geduldet Euch doch nur, bis ich mit dem Padre zurückkomme, sonst ist meine ganze Prinzlichkeit – pfüt!“

Der ehrwürdige Pater Tommaso ließ vor Schrecken seine Schnupftabaksdose fallen, als er Baffetto im Kreuzgange auf sich losstürzen sah; er wähnte, wie er späterhin erzählte, einen entsprungenen Tollhäusler vor sich zu haben, als dieser ihm mit entsetzlicher Brigantengrimasse vordeclamirte, wie er der eigentliche Principe Castrucci sei, wie seine Mutter, welche aber nicht seine Mutter wäre, im Sterben liege, und was nun dergleichen verwirrtes Zeug mehr war. Jemehr der Mönch sich retirirte, je hastiger stürmte Baffetto auf ihn ein – es brannte ihm auf den Nägeln. Beide schrieen aus vollem Halse, der Dominicaner um Hülfe, der noch nicht bestätigte Prinz nach einem Zeugen. Jede Minute Verzug konnte ihm die Fürstenkrone kosten, und um eine solche hat Mancher schon weit mehr Lärmen gemacht. Es verging wohl eine halbe Stunde, ehe sich die schreienden Parteien durch Intervention einiger fremden Mächte verständigen konnten, eine andere halbe Stunde, ehe sich der Padre auf den Weg gemacht, und alles Treibens des Kronprätendenten ohnerachtet noch eine dritte halbe, bis er die in der Via della Purificazione gelegne Wohnung der alten Anna Pastone erreicht hatte. Wider alles Erwarten war die Mutter nicht nur noch am Leben, sondern auch noch bei hinreichendem Bewußtsein, um ihr Bekenntniß in Gegenwart des Padre Tommaso und zweier Zeugen wiederholen zu können. Ja, sie schien sich sogar, nachdem sie jene Felsenlast von ihrem Gewissen gewälzt, neu belebt zu fühlen, indem sie unmittelbar nach dem Geständniß eine verzehrende Sehnsucht nach einer Schüssel Stockfisch mit Pomidori äußerte, und allen Warnungen zum Trotz die ihr nur zögernd gereichte Speise mit staunenswürdigem Appetit verspeiste.

„Wir sind alle, meine Kinder,“ begann der Mönch mit salbungsvoller Stimme, „Zeugen eines der außerordentlichsten Wunder gewesen. Ich zweifle keinen Augenblick, daß es San Domenico, der Stifter unseres heiligen Ordens, gewesen sei, welcher das Herz eines sündigen Weibes auf dem Todtenbette gerührt, sie zum freiwilligen Bekenntniß ihrer Schuld bewogen hat und sich erbarmungsvoll der unterdrückten Unschuld annimmt.“

„Mancomale!“[4] brummte hier Beifall nickend die unterdrückte Unschuld Baffetto in den Bart.

„Und,“ fuhr der Dominicaner fort, „daß es endlich die Wunderkraft des Heiligen sei, welche der reuigen Sünderin neue Lebenskräfte verleiht, um das glorreich begonnene Werk zur Verherrlichung des allerheiligsten Glaubens eben so glorreich zum Ziele zu führen. Preis ihm und Ruhm dafür durch alle Ewigkeiten. Amen! Somit nehme ich denn keinen Anstand, Euch, Eccellenza, mit dem Titel Eurer erlauchten Vorfahren als Prinz Castrucci von Castro San-Martino zu begrüßen. Ich ermahne Euch, dem Himmel und dessen Heiligen, vor Allem aber San Domenico für die Euch bewiesene Gnade auf den Knieen zu danken, und die Aufrichtigkeit Eurer Erkenntlichkeit durch reiche Gaben an die Armen, und besonders an die Zuflucht derselben, ich meine unser Kloster von Santa Maria sopra Minerva, zu bethätigen. Vor der Hand aber ersuche ich Ew. Excellenz, das Geheimniß Eurer erhabenen Geburt noch auf kurze Zeit zu bewahren, bis ich Zeit gehabt, Eure erlauchte Mutter, die Principessa Maria Castrucci, deren Beichtvater zu sein ich unwürdigerweise berufen bin, auf diesen überraschenden Fall vorzubereiten, und Euch in ihre Arme zu führen. Schon morgen schmeichle ich mir, mein Prinz, Euch als solchen in den Palast Eurer Väter geleiten zu dürfen.“

Mit einer tiefen Verbeugung wandte der Dominicaner sich zum Gehen, da erhaschte Prinz Baffetto den Scheidenden beim Aermel des fliegenden Gewandes und zischelte ihm heimlich zu: „Padre, es wär’ doch ein hübsches Ding, wenn Ihr mir noch heute auf Abschlag meiner Erbschaft ein Stücker zwei, drei Thaler geben wolltet. Mit dem Prinzwerden ist mir der ganze Nachmittag verloren gegangen. Da sollte ich bei dem deutschen Maler an der Ecke von Via Rafella Modell stehen – hätte meine drei Paoli verdient – sicher ist sicher – wenn mich die alte Principessa nicht mag, so bin ich um mein Geld.“

„Seid ohne Furcht, mein Sohn, Eure Mutter wird Euch nicht verleugnen, die fürstliche Erbschaft Euch nicht entgehen. Wohl bin ich nicht der Mann, über zeitliche Güter zu gebieten – in sofern Ihr aber einstweilen das Scherflein der Wittwe nicht verschmäht, so sei es Euch gar willig gereicht.“

„Zeigt her, Padre,“ rief ungeduldig der Prinz und starrte mit großen Augen auf das keine Lederbeutelchen, welches der Mönch hervorzog. „Zwei Papetti[5] – noch drei – macht einen Scudo – her damit – noch einen Paul – reicht just zu einer Flasche Orvieto. Nichts weiter? – Va bene. Bis morgen langen wir schon. Auf Wiedersehn, Padre. Elf Paul in der Tasche – per Bacco! da kann man schon den Signore spielen.“

Die verwittwete Prinzessin Maria Castrucci war eine ältlich-kältliche, vornehm-gedörrte Dame, gehörig geizig und über alle Maßen bigott. Sie war hochgewachsen und hager; ihre regelmäßigen Gesichtszüge hätten in früheren Jahren auf Schönheit Anspruch machen können, wenn sie nicht eben von jener verbissenen Galle und Hochmuth, und im Gegensatz wieder von frömmelnder Kriecherei gezeugt hätten. Nase lang und zugespitzt, der Mund mit häßlicher Faltendraperie und blassen Lippen, Wangen unmäßig geschminkt, das Haar gepudert, ewig den Rosenkranz zur Hand, in einen kleinen Divan gesenkt, auf welchem neben ihr nur noch der kurzathmige Leibmops Platz hatte, vor ihr auf einem niedrigen Tabeuret ein grobkuttiger Mönch oder ein geschniegelter Abbate.

Der Prinz Gaetano Castrucci, ihr bisher geglaubter Sohn, ein liebenswürdiger junger Mann und echter Cavalier, war von seinem aufgeklärten Vater sorgfältig erzogen und, den Sitten des römischen Adels gänzlich zuwider, schon frühzeitig in’s Ausland gesandt worden. Dort hatte er nun wohl freilich Mancherlei gesehen und gelernt, was mit den in der lieben Heimath als normal geltenden Grundsätzen collidirte; namentlich hatte die Priesterherrschaft ihren Nimbus in seinen Augen eingebüßt. Als der alte Principe Manlio Castrucci das Zeitliche gesegnet hatte, war Gaetano nach Rom zurückgekehrt, um sich der Verwaltung der ihm zugefallenen Güter zu unterziehen. Er fand seinen Palast in eine Synode von schwarzen, weißen, braunen, grauen, barfüßigen, beschuhten, bärtigen und glattkinnigen Mönchen verwandelt, und der letzte Kahlkopf hatte mehr darin zu sagen, als er selber. Vergeblich versuchte er alle Mittel, um das heilige Ungeziefer aus seinen vier Wänden zu bannen – er erkannte leider die Wahrheit des Sprüchwortes, [83] daß Wanzen zehnmal schwerer als Ratten, Pfaffen aber hundertmal schwerer als Wanzen zu vertreiben sind. In diesen Bestrebungen war er mit den geistlichen Gewissensräthen oft stark aneinander gerathen und hatte sich den Haß aller, besonders aber den des Beichtvaters seiner Mutter zugezogen. Auch mit dieser, die fest an ihrer geschornen Leibwache hielt, war Gaetano zerfallen und in der Ueberzeugung, daß er bei ihren Lebzeiten doch nichts ausrichten könne, nach Neapel gegangen, wo er die Stelle eines königlichen Kammerherrn bekleidete. Dort war es, wo er eine junge liebenswürdige Engländerin kennen lernte, ihre Neigung zu gewinnen wußte und sich mit ihr verlobte – ein Schritt, welcher den Bruch mit der Mutter und den Hausgeistlichen vollends unheilbar machte, denn Albions blonde Tochter vermochte weder mit ihrer Grafenkrone, noch mit den echten Perlen der fünf Nullen, welche hinter der Pfund-Sterlings-Ziffer zogen, den unseligen Makel, in einem andern Glauben aufgezogen worden zu sein, zu bedecken.

Pater Tommaso ließ sich bei der Prinzessin anmelden, nahm ihr gegenüber auf dem Rohrsessel Platz und begann hierauf mit gefalteten Händen und verdrehten Augen einen erbaulichen Sermon über wundersame Fügungen des Schicksals, den er endlich mit der Aufklärung schloß: „Euer Gebet, Eccellenza, ist erhört. Nicht daß eben jener verlorene Jüngling sich in Demuth bekehrt und sich zur apostolischen Demuth gewendet habe, sondern indem das wunderbare Bekenntniß einer zerknirschten Sünderin mir offenbarte, daß jener auf einem edlen Zweige sprossende Holzapfel nur durch einen schnöden Betrug auf das fürstliche Reis gepfropft ward. Ich will deutlicher sprechen: die Amme, Anna Pastone, gestand es ein, wie sie von sträflicher Habsucht geblendet die Säuglinge verwechselte, ihren eigenen niedrig gebornen Sohn an Euer Herz zu legen sich unterfing, und Euern adligen Sproß bis auf die jetzige Stunde in der Verborgenheit schmachten ließ. Jauchzet, Signora, preiset die Heiligen, daß der Himmel Euch von dem unwürdigen Sohne befreite. Doppelt beglückte Mutter! Euer echter wohlgebildeter Sohn seufzt nach dem Augenblick, wo er sich Euch zu Füßen werfen darf. Vergönnt mir das Glück ihn nach so langer Trennung in Eure Arme zu führen.“

Es dauerte eine geraume Weile, ehe die Prinzessin den Zusammenhang des Kindertausches und ihr harrendes Glück begriffen hatte. Der Mönch ließ aber nicht ab, bis der Casus Ihrer Durchlaucht einleuchtend wurde, und sie ohne Verzug einen Courier an Don Gaetano abfertigen ließ mit einem Schreiben, worin ihn Padre Tommaso mit höflichen, aber ziemlich kalten Worten ersuchte, sich gefälligst nach andrer Erbschaft, Mutter und Namen umzusehen, und ihm für die letztern vacant gewordenen Artikel Anna und Luigi Pastone in Vorschlag brachte.

Nachdem die fürstliche Beichttochter sich so bereitwillig gezeigt hatte, ihren bisherigen Sohn aufzugeben, äußerte sie das billige Verlangen, den Stellvertreter so bald als möglich zu sehen. Pater Tommaso fühlte aber gar wohl, daß Baffetto noch einiger leiser Retouchen bedürfe, ehe er seiner fürstlichen Mama mit Erfolg vorgeführt werden könne, vertröstete daher dieselbe auf den folgenden Morgen und legte ihr bis dahin zu zweckdienlicher Zerstreuung auf, ein Dutzend Rosenkränze abzubeten. Demüthig fügte die Prinzessin sich auch diesem Gebot.

Als der ehrwürdige Padre sich am folgenden Tage nach der Via di Purificazione begab, traf er die alte Anna Pastone frisch und munter, als ob ihr niemals ein Finger weh gethan hätte, auf der Thürschwelle den Rocken spinnend und erfuhr aus ihrem Munde, daß der nunmehrige Prinz Gaetano Castrucci oder Baffetto, wie wir ihn lieber noch fernerhin, um Mißverständnissen vorzubeugen, nennen wollen, des Nachts über nicht nach Hause gekommen. „Der Himmel mag wissen,“ schloß der unehrerbietige Bericht der Amme, „wo der Schlingel stecken mag.“ Kopfschüttelnd wandte sich der Pater nach dem Café Gnocchi, um seinen Schützling aufzusuchen, aber auch dort war er seit Jahren zum ersten Mal ausgeblieben. Niemand vermochte über den Vermißten bestimmte Auskunft zu geben, und nur eins der Modelle wollte gehört haben, daß der Baffetto sich am vergangenen Abend in der Fiaschetteria della Villeta in Orvieto übernommen, Schlägerei angefangen habe und darauf von den Gensdarmen arretirt worden sei.

Der Dominicaner erschrak heftig bei dieser Nachricht. Sehr kleinlaut begab er sich nach dem nächsten Wachthause und fand dort wirklich den Prinzen Baffetto in tiefster Selbstbetrachtung versunken unter der Pritsche schnarchend.

Das Fürwort des Priesters genügte, um die Freilassung des Arrestanten zu erwirken. Ungestüm riß ihn der Pater aus der Wache und begann in einer eindringlichen, wohlstylisirten Rede ihm vor allen Dingen die Pflichten seines erlauchten Stammes zu Gemüth zu führen. Nie fiel ein fruchtbarerer Samen auf steinigeres Land. Se. Durchlaucht stellten sich höchst ungebehrdig an, tobten und wetterten, und geruhten schließlich die Versicherung zu geben, daß, wenn sie nicht Abends in die Osterie gehen und sich toll und voll trinken dürften, der Kuckuck ein Prinz sein und der Mönch sich einen andern Narren aussuchen möge.

„Eilt dann wenigstens, Eccellenza, Euch anzukleiden, Eure Toilette für die Vorstellung zu ordnen.“

Baffetto guckte erst den Priester, dann sich selber mit großen Augen an. „Ankleiden? Ich? Bin ich’s denn nicht? He? – Hab’ ich nicht expreß für die Mama Prinzessin meine roth- und blaugestreifte Fascia[6] umgegürtet, und die rothe Wollkappe aufgesetzt? Was wollt Ihr mehr, Padre?“

„Euern Bart, mein Prinz, dieses häßliche, wild durcheinander wuchernde Gestrüpp, welches Euch das Ansehen eines Banditen verleiht, schneidet es ab.“

„Das sei ferner von mir,“ erwiderte Baffetto, „als der Januar von Maulbeeren. Jung und Alt kennt mich als Baffetto, und ein Baffetto ohne Bart ist wie ein Papst ohne Cardinäle. Und nun macht, daß wir an Ort und Stelle kommen, Padre. Mich verlangt nach meinem Palast und einem guten Frühstück.“ – Bald standen sie vor ersterem.

Hatte nun der Prinz schon die Geduld des Mönchs auf so harte Probe gesetzt, so that die Dienerschaft vollends das Ihrige, um sie zu erschöpfen. Der Schweizer verwehrte mit vorgehaltenem Rohrstock Baffetto den Eingang, und nachdem jener mühsam beschwichtigt worden, weigerte der Kammerdiener sich, einen Lumpen, wie Figura zeige, bei Ihro Excellenz anzumelden. Baffetto drohte mit seiner allerhöchsten Ungnade – der Cameriere bohrte ihm einen Esel. Es hätte nicht viel gefehlt, und Fürst und Unterthan wären einander in die Haare gerathen. Der Böse schien an diesem Tage mit vollen Händen Unkraut unter den Weizen zu streuen.

Was den Ueberredungskünsten des Padre nicht gelungen war, vermochte ein zur rechten Zeit dem Cerberus-Kämmerling in den Rachen geschobenes Fünf-Paulstück. Er verstummte, und die Thüren des Fürstengemachs öffneten sich.

Die Ueberraschung der Prinzessin beim Anblick ihres verlornen und wiedergefundenen Söhnleins war mehr großartig als angenehm zu nennen. Sprachlos lehnte sie sich in der Ottomane zurück und maß den Ankömmling, welcher mit pinselhaftem Lächeln seine rothe Mütze zerknüllte, mit kalten, durchdringenden Blicken. „Mit nicht geringer Befremdung,“ hob sie endlich langsam an, „machen wir die Bemerkung, daß das fragliche Subject weder mit den unserm Herzen so tief eingegraben Zügen unsers erlauchten, nunmehr verewigten Gemahls, noch mit unsern eignen auch nur die leiseste Aehnlichkeit trägt, und wohl eher den markirten Stempel einer höchst vulgären Persönlichkeit.“ – Der Pater rieb sich verlegen die Hände, ließ einige Worte von überraschenden Spielen der Natur fallen und wagte die Vermuthung, daß nach Fällung des entstellenden Bartwuchses sich ohnmaßgeblich die hochfürstlichen Familienzüge deutlicher herausstellen würden. Die Prinzessin wiegte nachdenkend den Kopf, schellte nach dem Kammerdiener und beauftragte diesen: Se. Excellenz den Principe Gaetano de’ Castrucci in seine Gemächer zu geleiten, dort aber ihn aus seinem Urzustande zu reißen und ihm ein menschliches, womöglich fürstliches Ansehen zu verleihen.

Baffetto ließ sich geduldiger abführen, als man es hätte vermuthen sollen. Die Prinzessin Mutter und der Dominicaner blieben zurück, um zu berathen, wie dem überaus rohen Juwel in kürzester Frist die unerläßliche Politur zu ertheilen sei.

Die Stunde zum Mittagsessen hatte längst geschlagen, und das Diner war bereits servirt, aber weder Prinz noch Kammerdiener ließen sich sehen. Der ausgesandte Maggior duomo[7] fand die Versöhnten in brüderlicher Eintracht mit sehr schmutzigen Karten, den Albumblättern, welche Se. Durchlaucht aus dem Café Gnocchi gerettet hatten, alla Zecchinetta spielend. Der Prinz war übrigens im Gewinn und in rosenfarbigster Laune. Nur widerstrebend und mit der Versicherung, baldigst Revanche zu geben, unterbrach er die Partie.

[84] Uebrigens hatte der Cameriere sein Möglichstes an Baffetto gethan – er war kaum wieder zu erkennen. Sein Gesicht war bis auf das kleine Stutzbärtchen auf der Oberlippe glatt wie seine flache Hand geworden, die Locken fügten sich in die vorgeschriebenen Spirallinien; Wäsche, Kleidung und was noch sonst den äußerlichen Menschen macht, und einstweilen aus der Garderobe des Exprinzen entlehnt war, stand in richtigem Verhältniß zu dem Uebrigen. Baffetto war ohnehin kein übles Bürschchen, und so geschah es denn, daß die Principessa ihr Wohlgefallen zu äußern, einige Aehnlichkeit in den Nasenflügeln mit denen ihres seligen Eheherrn zu finden geruhte, und ihm die Hand gnädigst zum Kusse reichte. Baffetto drückte sie herzhaft genug, um der Altezza einen hellen Schrei zu erpressen.

Im Allgemeinen muß man dem Prinzen Baffetto rühmend nachsagen, daß er sich unglaublich schnell in seine neue Stellung zu finden wußte, und dies um so leichter, weil einestheils zwischen dem Ton eines echt modischen Dandy und dem eines Eckenstehers wirklich keine so mächtige Kluft liegt, als man zu glauben geneigt sein möchte, anderntheils aber, weil bei Erlauchten das für Genialität gilt, was bei niedriggeborenen Erdensöhnen Flegelei heißen würde. Ließ sich daher der junge Prinz in der Zerstreuung oder durch allzu lebendig werdende Erinnerung an vergangene Zeiten verleitet mitunter einige Mißgriffe zu Schulden kommen, sprang er mit Federhut und Degen hinten auf seine eigene Staatscarosse statt in dieselbe, oder verlor er sich aus den langweiligen Conversazioni der Salons in das Erdgeschoß, um beim Takt des Bratenwenders mit irgend einer stämmigen Küchendirne den Saltarello zu tanzen, zog er wohl gar in Gesellschaften den zwängenden Frack aus, um ihn auf Birbaccioni-Manier über die Achseln zu werfen, und verkroch er sich in einen Winkel des Friedenstempels, um mit den dortigen Steinschneidern ungestört alla Mora zu spielen – so that dies der Liebenswürdigkeit des Naturkindes, wie er in der großen Welt hieß, noch keinen Abbruch, und machte ihn vielmehr in den Augen der Damen nur noch interessanter. In den Soiréen riß man sich um die naive Durchlaucht. Sein Glück bei den Frauen war entschieden, und schon sprach man von einer Vermählung mit der Tochter eines steinreichen Banquiers, welcher, mit Schwefelhölzchen anfangend, sich eine Herzogskrone erwuchert hatte. Pater Tommaso erntete von der sich mehr und mehr mit ihrem neuen Sohne versöhnenden Prinzessin die schmeichelhaftesten Danksagungen für seine segensreiche Einmischung, sein Kloster die splendidesten Dotationen. Die Dienerschaft hätte sich für den herablassenden Gebieter todtschlagen lassen, und auf der ganzen Welt waren nur zwei Personen mit jenem Tausche nicht zufrieden, nämlich erstens die alte Anna Pastone, welche sich in ihren sanguinischen Hoffnungen gewaltig getäuscht sah, indem Prinz Baffetto ihr die späte Anerkennung seiner fürstlichen Geburt und den dadurch entstandenen Verlust an Götterstunden, wie sie ihm jetzt zu Theil wurden, zum Verbrechen anrechnete und nichts von ihr wissen, ja sie nicht einmal vor Augen lassen wollte; zweitens aber der ehemalige Prinz Gaetano Castrucci oder Luigi Pastone, wie er nunmehr heißen sollte.

Dieser war just, als der Courier mit dem enterbenden Briefe an ihn abgefertigt wurde, im Gefolge seines Monarchen nach Sicilien hinüber gereist. Dem steten Wechsel seines Aufenthalts, so wie der mangelhaften Verbindung im Innern der Insel war es zuzuschreiben, daß jenes Schreiben erst nach Monatsfrist an seine Bestimmung gelangte. Es war ein zerschmetternder Schlag für ihn. In seiner bisherigen Stellung zu verharren, verwehrte ihm sein Stolz, er gebot ihm ferner freiwillig von dem Schauplatz abzutreten, noch ehe die Geschichte seines Unglückes ruchbar geworden sei. Augenblicklich reichte er seine Entlassung ein und reiste nach Neapel zurück. Seiner Verlobten als namenloser Abenteurer gegenüber zu treten, fühlte er sich unfähig, und so löste er denn mit blutendem Herzen die Verbindung, entband die Gräfin schriftlich ihres Worts und ließ sie nur aus unbestimmten Ausdrücken ahnen, daß ein unverschuldetes Unglück ihn zwinge, auf das Glück seines Lebens zu verzichten. Hierauf eilte er nach Rom mit dem Entschluß, von dort aus in’s Ausland zu gehen und in fremden Kriegsdiensten den Tod zu suchen.

Es war an einem jener schönen Wintertage, wie nur der römische Februar deren aufzuweisen hat, als der tiefgebeugte Gaetano in den Anlagen des Monte Pincio auf und nieder wandelte, und endlich in schwermüthige Gedankten versunken an der steinernen Balustrade stehen blieb und über das zu Füßen liegende herrliche Rom, dem er nun auf ewig den Rücken kehren sollte, die Augen gleiten ließ. Rom ist schon so schön, so unendlich schön in den Augen des Fremden, des zum ersten Male in dessen Herrlichkeit schwelgenden – um wie weit schöner aber in denen des Scheidenden, eines seine Vaterstadt auf immer Verlassenden!

Ein Bettelweib trat an Gaetano und flehte ihn um der Madonna willen um eine Gabe an. Schweigend reichte er ihr eine Silbermünze. Da faßte die Bettlerin den Geber in’s Auge, schrie hell auf und warf sich ihm zu Füßen: „Ihr seid es, Eccellenza!“ kreischte sie. „Und Ihr reicht mir ein Almosen, mir, der verlorenen Seele, der falschen Zeugin, die Euch um Alles, Alles brachte! Euch, der Ihr an meinem Herzen ruhtet, dem ich meine Brust reichte! Und für wen habe ich diesen Frevel auf mein Haupt geladen und meine ewige Seligkeit verwirkt? Für wen anders, als für meinen gottlosen, undankbaren Buben, der jetzt seine eigene Mutter verleugnet und von ihrer Sünde schwelgt! Eccellenza, Principe, um der Leiden des Heilands willen vergebt mir, auf daß ich ruhig sterben könne. Ich will ja Alles widerrufen – dem Pater Tommaso, der mich zu falschem Zeugniß angestiftet hat, ihm, der Principessa, aller Welt in’s Gesicht sagen, daß ich damals gelogen, daß Ihr der einzige wahrhafte Sohn des verstorbenen Herrn seid. O, erbarmt Euch Eurer armseligen Amme, Eccellenza! Gott, Ihr wißt nicht, wie schwer die Versuchung ist, seinem Kinde mit einem Worte Reichthum und Herrlichkeit zuwenden zu können, wie tief es schmerzt, einen undankbaren Sohn zu haben! Vergebt, Principe, vergebt einer armen Sünderin!“

Vergebens mühte sich Gaetano, seine ehemalige Amme zu beschwichtigen – sie fuhr fort, unter Thränenströmen die Brust zu zerschlagen, das Knie ihres Pflegekindes zu küssen und sich vor dem immer dichter herandrängenden Kreis der Neugierigen mit lauter Stimme zu beschuldigen, wie sie dem Einreden des Mönches Gehör gegeben, um durch ihren Sohn Baffetto den echten Sprößling der fürstlichen Ehe zu verdrängen.

In diesem Augenblicke rollte ein eleganter Wagen vorüber, in welchem ein ältlicher Herr und eine junge Dame saßen. „Dort ist er ja!“ rief die Letztere mit freudeleuchtenden Augen. „So leicht, Don Gaetano, glaubtet Ihr mir zu entschlüpfen? Habt Ihr gewähnt, daß Euer Unglück ein hinreichender Grund sei, mich zu fliehen? Stolzer Mann, so dachtet Ihr denn nur allein an Euch?“

Es war die Gräfin, welche schon in Neapel das Schicksal ihres Verlobten erfahren hatte und ihm in Begleitung ihres Vaters, mit dem festen Entschlusse, auch dem namen- und güterlosen Geliebten die Hand zu reichen, gefolgt war.

Ihr Edelsinn ward belohnt. Zu viele Zeugen waren bei dem freiwilligen Bekenntniß der alten Anna zugegen gewesen, als daß Pater Tommaso sie hätte einschüchtern und zum Widerruf bewegen können. Sie wiederholte ihre Aussage vor Gericht und enthüllte das ganze Gewebe der gegen Gaetano angesponnenen Intrigue. Feierlich wurde er in seinen Rang und seine Güter wieder eingesetzt, und Pater Tommaso in ein entferntes Kloster, ich glaube nach Palazzuola, versetzt. Die Prinzessin ging vor Verdruß, sich von ihrem Vertrauten hintergangen und den ungeliebten Sohn im Besitz seines vollen Erbes zu sehen, in das Stift der adligen Nonnen von Santa Eusemia.

Baffetto brach, als er seine Entthronung vernahm, in ein lautes Accidente! aus, resignirte sich jedoch mit bewunderungswürdiger Fassung und trat wiederum in den Privatstand zurück. Von Neuem thront er auf seinem geliebten Eckpfeiler an der Via Felice, hat sich den Bart wieder wachsen lassen, steht Modell, scheert zur Abwechselung Pudel und präsidirt nach wie vor im Café Gnocchi. „Als ich noch Prinz von Castrucci war,“ lautet der Anfang seiner meisten Erzählungen. Allen meinen Freunden, die nach Rom kommen, kann ich den Baffetto mit gutem Gewissen empfehlen. Er ist die gutmüthigste Haut von der Welt, anspruchslos und bescheiden, trotz seines vierwöchentlichen Fürstenstandes, und dienstfertig, ja sogar ehrlich, so oft nämlich seine Beinkleidertaschen nicht durchlöchert sind, und er dann in der Zerstreuung das ihm anvertraute Geld durch die Spalten schlüpfen läßt.

[85]
Deutschlands Barde und Brahmane.
Von Friedr. Hofmann.


Friedrich Rückert.

Wir waren lockenköpfige Gymnasiasten zur Blüthezeit der altdeutschen Röcke und der Ziegenhainer und jubelten, so ein Dutzend, aus Coburg’s Thoren, um den Schleusingern, d. h. den Zöglingen des Schleusinger Gymnasiums, einen Besuch zu machen. Fröhlich zogen wir die Lossau (jetzt Bahnhof) dahin und an dem nahen Dorfe Neuseß vorüber; selbst die dort linker Hand von einem wohlgepflegten Hügel herabschauende schwarze Grabsäule Thümmel’s, des Dichters der Wilhelmine, konnte keinen Schatten auf die sonnenhellen Gesichter unserer Schaar werfen. Da schweigt auf einmal das muntere Durcheinander des Gesangs und Gesprächs. Einer stößt den Andern an, Aller Augen richten sich vorwärts auf eine Gestalt, die einsam und gemessenen Schritts des Weges daher wandelt. Es ist ein hochaufragender Mann in einfacher dunkler Kleidung. Er schreitet langsam daher, die Hände auf dem Rücken; die langen Locken des sinnend gesenkten Hauptes ruhen auf den Schultern. Je näher wir ihm kommen, desto rascher schlagen die jungen Herzen. Er ist’s! Ich zitterte vor Seligkeit, ich jauchzte innerlich über den kecken Gefühlsausbruch meiner Genossen, die plötzlich wie aus Einem Munde das Lied sangen:

„Bedeckt von Moos und Schorfe
Ein Eichbaum hoch und stark“ –

aber mitsingen konnte ich nicht, sah ich doch zum ersten Mal in [86] meinem Leben einen großen Dichter! Da schritt er! Wie sein ernstes Antlitz sich mit dem Roth der Freude überzog, als der Gesang begann! Und gar der Blick, der unsern Gruß belohnte! Solche Augen hat kein anderer Mensch, ihr Blick umfaßt alles Herrlichste der Augen, von der begeisternden Hoheit der Manneswürde bis zur strahlenden Wärme der Mutterliebe. Ein solcher Blick war uns zu Theil geworden, er war wie eine heilige Weihe in uns gefahren und erfüllte unsere frischen Seelen den ganzen Tag.

Das war Freimund Reimar, der patriotische Dichter der „geharnischten Sonette“, das war Friedrich Rückert, der Sänger der „Oestlichen Rosen“ und des „Liebesfrühlings“, der Beherrscher der Weisheit und Dichtkunst des Morgenlands mit jener deutschen Sprachgewalt, die bereits über die „Makamen des Hariri“ ihren kühnen Sieg gewonnen hatte.

Giebt es ein schöneres Glück auf Erden, als ein geliebter Dichter seines Volks zu sein, und als das Bewußtsein, diese Liebe redlich verdient zu haben? – Beides, diese Liebe und dieses Bewußtsein, schmückte schon damals das Leben des jugendlichen Mannes, und sie sind die zwei Hälften seines Dichterkranzes geworden, der, dauernder als tausend Diademe, alle Stürme in den vielen wilden Bewegungen der Geister seiner Zeit überstand, von keinem neuen Streben verdunkelt, von keinem eigenen Fehl betastet wurde und nun auf des Greisen Locken als der reinste Schmuck glänzt, den in unseren Tagen ein Haupt in Deutschland trägt.

Das wahre Verdienst dieses großen Dichters, Gelehrten und Menschen um die Veredelung des deutschen Herzens, um die Bereicherung des deutschen Geistes, um die Verherrlichung des deutschen Lebens hat, trotz aller bisherigen Anerkennung, seine volle Würdigung erst noch zu erwarten. Denn wenn auch Friedrich Rückert in der That ist, was er eben genannt wurde, ein geliebter Dichter seines Volks, so ist er dies schon um das verhältnißmäßig Wenige, was bis jetzt nur von der Gesammtheit seiner Werke in das Volk gedrungen ist. Der Schatz, den dieser Dichter aus seinem eigenen Geist und aus dem vieler Völker geschöpft und in den kunstreichsten Gefäßen seiner Formenfülle aufgestellt hat, erschien gleichsam dem Volke (d. h. hier der großen Masse der Lesenden und Singenden) theils zu prächtig, zu „vornehm“, theils zu fremd, als daß es sich an denselben gewagt hätte. Dazu kam die lange schlimme Zeit der wohlgepflegten Verwässerung der Volkslectüre. Es ist eine alte und deshalb um so traurigere Erfahrung, daß in Zeiten politischer Erschlaffung jede gemeine Speculation zur Ausbeutung derselben herbeieilt und daß dabei leider die literarische und buchhändlerische nicht die letzte ist. Auch der wenig bemittelte Theil des Volks ist in seiner Masse ein reicher Käufer, aus dessen Schwächen und Liebhabereien von oben und unten Rechnung gemacht wird. Da findet die leichteste Waare Absatz; der Mensch ist aber so, daß in schlaffen Zeiten der leichte geistige Genuß bei ihm rasch zur lieben Gewohnheit wird und daß eine sehr kräftige Aufrüttelung dazu gehört, um ihn für Besseres wieder empfänglich zu machen. Seit den Befreiungskriegen haben wir drei solche Sumpfzeiten erlebt, nach 15, nach 30 und nach 48; sie waren stets die schlechtesten für die Würdigung der guten freisinnigen Dichter, während jede Zeit nationaler Erhebung ihnen neue Blüthentage des Wirkens und der Anerkennung brachte. Auch Rückert’s Werke haben diese Erfahrung gemacht. Sie wurden bei Seite geschoben, so lange die Schwäche in den Herzen des Volks zu Thron saß; es war, als schämte man sich vor ihnen, wie vor einem Spiegel der Wahrheit. Nur die Männer voll ernsten Strebens, die Frauen voll reinen Empfindens und die Jugend voll redlichen Feuers – sie hielten treu zu ihrem Dichter, und durch sie, eine rechte Leibgarde des ewig siegreichen wahren Genius, gewann er bei jedem neuen Aufschwung des deutschen Volksgeistes neuen Boden, neues frisches Feld des Wirkens.

Ein solcher neuer Aufschwung ist das hohe Glück unserer Tage. Abermals ist ein Sumpf überwunden, und männlicher, entschlossener, ernster, als je, hat das Volk die Bahn des nationalen und socialen Fortschritts betreten. Der Stolz ist wieder erwacht auf die Ehre, deutsch zu sein! Deutsch zu sein, ist wieder eine Tugend, ein Ruhm; die Männer der deutschen Ehre, von jeder Reaction sorglich in die Winkel, aus dem Gesichtskreis der Menge geschoben, werden im Triumph wieder auf die Sessel des Forums getragen; das deutsche Volk hat seinen Schiller, seinen Arndt, seinen Humboldt, seinen Uhland gefeiert, es feiert seinen Seume, seinen Jean Paul – und sie alle sind todt! Das deutsche Volk kennt seine große Schuld, es sehnt sich, endlich an Lebenden gut zu machen, was es so reichlich an denen verschuldet, die nun todt sind, und darum verlangt es die Feier seines größten Dichters unter allen noch lebenden, es verlangt die Bekränzung seiner letzten hohen Ehrensäule aus der ersten großen Kampfzeit des Jahrhunderts. Und dieses Verlangen des Volks ist’s, dem die Gartenlaube hiermit entspricht, indem sie das Bildniß Friedrich Rückert’s, der am 16. Mai 1863 sein fünfundsiebzigstes Jahr[8] vollendet, und diese Worte mittheilt, als ein bescheidenes Geleit zum Bilde.

Kehren wir nun zu unserem Anfang zurück. Damals, als Rückert’s Gruß unsere jungen Seelen so glücklich machte, war er ein blühender Mann am Ziel der Dreißiger. Er wohnte seit einigen Jahren als Professor in Erlangen, verlebte aber die Ferienzeit am liebsten in Neuseß bei Coburg, wo er durch seine Gattin Besitzer eines anmuthig gelegenen Landguts geworden war. Rückert hatte bis dahin ein geistig sehr bewegtes Leben geführt, und da gerade er nur Dichter ist, da all sein Anschauen, all sein Denken sich wie von selbst in Blüthen und Früchte der Dichtkunst verwandelt, so könnte der allumfassende Inhalt seiner Lyrik nicht wohl allgemein erkannt werden, wenn wir sein äußeres Leben hier ganz unberührt lassen wollten.

Von Haus aus zum Juristen bestimmt, entfloh Rückert dem Corpus juris auf das Gebiet der Philologie und der Kunst. Aber auch die Lehrerthätigkeit, die er als Privatdocent in Jena (1811) begann und als Gymnasiallehrer in Hanau fortsetzte, sagte ihm, wohl wegen der langen Pedantenzöpfe in den Schulhallen jener Zeit, nicht zu, und so ließ er sich bald als Privatgelehrter in Würzburg nieder. Hier traf ihn das große Jahr 1813. Finden wir in seinen Liedern schon seit 1810 den kühnen patriotischen Ton angeschlagen, so schleuderte er jetzt wahre Feuerbrände von Feindeshaß und Vaterlandsbegeisterung in das Volk, dem er zugleich die geduldete Schmach mit den glühendsten Farben malte. Seine „Geharnischten Sonette“, seine „Deutschen Lieder“, seine „kriegerischen Spott- und Ehrenlieder“ stellten ihn in die gleiche Kämpferreihe mit Arndt und Körner, nur daß er jenen durch Klarheit und die humoristische Frische des Volkstons, diesen an Natürlichkeit und durch entschiedene Originalität, und beide an Schwung, an der stählernen Festigkeit der Verbindung von Form und Inhalt übertraf, denn schon damals zeigte er den Meister in der Form, als der er nun einzig unter den Dichtern aller Nationen dasteht. Noch heute behaupten die genannten Zeitgedichte, sowie seine politische Komödie „Napoleon“ und sein „Kranz der Zeit“ den Werth geschichtlicher Quellen, denn ausgeprägter ist das Gesicht und Herz jener Zeit nicht zu finden, als in ihnen; sie können in ihrem Werthe nicht veralten; ja, viele haben noch heute volle Geltung. Möge eines der geharnischten Sonette hier für alle sprechen.

„Nicht mehr das Gold und Silber will ich preisen;
     Das Gold und Silber sank herab zum Tande,
     Weil würdiglich vom ernsten Vaterlande
     Statt Golds und Silbers ward erhöht das Eisen.
Wer Kraft im Arm hat, geh’ sie zu beweisen,
     Ein Eisenschwert zu schwingen ohne Schande,
     Es heimzutragen mit zerhau’nem Rande,
     Und dafür zu empfahn ein Kreuz von Eisen.
Ihr goldnen, silbren Ordenszeichen alle,
     Brecht vor dem stärkeren Metall in Splitter,
     Fallt, denn ihr rettetet uns nicht vom Falle.
Nur ihr, zukünft’ge neue Eisenritter,
     Macht euch hinfort zu einem Eisenwalle
     Dem Vaterland, das Kern jetzt sucht statt Flitter.“

So ganz erfüllt von der Herrlichkeit und begeistert für den Preis des deutschen Wesens war Rückert, daß er damals den Plan entwarf, den glanzreichsten Theil unserer Reichsgeschichte, die Zeit der Hohenstaufen, zum Gegenstand eines großen Epos oder eines Cyclus von Epopöen zu machen. Er ging an die Vorstudien dazu mit der Gewissenhaftigkeit eines deutschen Geschichtsforschers, und weil ihm die nöthigen Quellen in Deutschland fehlten, so verließ er im Herbste 1817 Stuttgart (wo er seit 1815 die Redaction des Morgenblattes [87] geleitet hatte) und eilte nach Italien. Aber nur zu bald trafen ihn in Rom die Nachrichten über die neue deutsche Misère, den Undank der Regierungen, die Demagogenriechereien und all den Jammer, der den kaum gehobenen Volksgeist von Neuem niederdrücken sollte. Da wandte der Dichter, verbittert, von seinem Verherrlichungswerke sich ab und zunächst den Minnesängern und der italienischen Volkspoesie, bald aber, nachdem er in Wien (1819) durch Hammer auf den Orient hingewiesen worden war, der umfassendsten Pflege der Völkerpoesie zu, indem er zu der Herrschaft über die Sprachen und Literaturen des Abendlandes, die alten wie die neuen, nun auch die des Morgenlands fügte.

Für diejenigen unserer Leser, welche Rückert’s Werke kennen, würde mit der Andeutung des äußeren Wegs für die Gestaltung der innern Thätigkeit des Dichters hier nun genug des Biographischen gegeben sein. Unser Artikel soll sich jedoch hauptsächlich an diejenigen richten, welchen der hohe Genuß, den ersten Gang durch die Prachthallen der Rückert’schen Poesie zu thun, noch bevorsteht. Diese müssen wenigstens zu einigen seiner Dichtungen näher herangeführt werden, damit wir der Freude sicher sind, ihnen durch diese Verlockung wirklich den Weg zu der Lebensverschönerung gewonnen zu haben, die sie in Rückert finden. Die Verlockung wird leicht, weil anzunehmen ist, daß alle unsere Leser einmal recht herzlich geliebt haben oder noch selige Liebesleute sind. Ihnen verrathe ich, daß Rückert im Jahr 1821 in Coburg einen Kranz von Gedichten lebte, der aus fünf Sträußen besteht, aber einen Kranz von so edlen reinen Kindern der heiligen Natur, daß bis heute Jeder, der diese Sträuße recht innig und sinnig angeschaut, sie schließlich an das Herz drückte als das liebste Kleinod unter den Schätzen der kleinodreichen Schatzkammer unserer Dichtkunst: das ist Friedrich Rückert’s „Liebesfrühling“. Er beschreibt darin zwar nur die allbekannte uralte und ewigneue Geschichte einer Liebe, aber es ist die Liebe eines Dichters, der mit dem glücklichen Auge seines scharfen Geistes die erotischen Auen vieler Völker ruhig, prüfend, sammelnd und sichtend durchforscht hat und nun plötzlich selbst mitten in dem eigenen Liebesgarten steht. Einem solchen Auge entgeht kein Blümchen, kein Hälmchen, wenn noch so klein und versteckt, und selbst das unscheinbarste schmückt seinen Strauß und vervollständigt den Kranz, weil der Liebesblumenmann es an seinen rechten Ort bindet. Und wie leise hört das Ohr seines Herzens, wie feine klingende Hauche hat er entdeckt und wie zart sie in Gestalt gebracht! Es ist ein wunderbares Buch! Wer selbst die Liebe durchgelebt, dem ist’s wie sein eigenes geheimes Tagebuch aus jener Zeit: es hat Alles verrathen! Alle hohe heilige Wonne vom Augenblick des ersten Findens bis zu dem des Ewigbindens, all die flüsternden Worte, das leiseste Lispeln, die fragenden Blicke, ja jede Schelmerei des köstlichen Glücks ist festgebannt, ist ewig festgehalten, und es spricht sie nicht blos der jubelnde Bräutigam, auch von den Lippen der Braut fallen die sinnigsten Gedankenblumen und Gefühlsblüthen, so daß man oft fast nicht zu sagen weiß, wer von Beiden das Lieben besser versteht. Ja, wie in Rückert Alles Wahrheit ist, so spricht sie auch offen aus den Worten:

Es reut mich jeder Liedeston,
Der auf’s verworrene Getriebe
Der Zeit sich wandt’ und nicht auf Liebe.
Die Liebe ist der Dichtung Stern,
Die Liebe ist des Lebens Kern;
Und wer die Lieb’ hat ausgesungen,
Der hat die Ewigkeit errungen.“

Wahrlich, es sollte in Deutschland keine Verliebten und keine Verlobten mehr geben, die nicht aus diesem ewig klaren Born der Liebe für ihren eigenen Bund die dichterische Verherrlichung schöpften. Um wie viel edler würde es bald in Tausenden von Herzen und Häusern aussehen!

Es ist ein hartes und schweres Ding, Rückert’s Werke neben sich liegen zu haben und einen kurzen, gedrängten Artikel über ihn schreiben zu sollen. Man muß das Blättern in den lieben Büchern sein lassen. Da winken die „östlichen Rosen“ und beweisen uns, daß Rückert in das Morgenland mit seinem kerndeutschen Herzen gegangen ist und daß es keinen höheren Wunsch hegt, als unter den fremden Schätzen die herrlichsten in’s Vaterland heim zu tragen zur Erhebung, Erbauung und zum Ergötzen seines lieben deutschen Volkes; und da winkt die „Amaryllis“, das liebliche, kunstreich gestaltete Vorspiel zum Liebesfrühling; und dort winkt wieder „Rodach“ mit seinem ehrwürdigen Superintendenten (Hohnbaum), und da wieder die italienische Beute an Sicilianen und Ritornellen, und dort locken Edelstein und Perle und hier die fünf Märlein für mein Schwesterlein. – – „Mach’s Buch zu!“ mahnt’s in mir. Ich thu’s und stoße dabei an „die Verwandlungen des Abu Seid“, jenen verwegensten Reimkampf in unserer ganzen Literatur, und klingend und schwingend, flirrend und klirrend stürzen sie auf „Nal und Damajanti“, die indische Erzählung, hin und schieben sie mir mitten auf mein Schreibeblatt, als ob sie sagen wollten: „Da, zeig’ uns nur Deinen Leuten und berichte ihnen, wie Rückert uns und euch ehrt, wie er wahrhaft „verdeutschet“ gleich einem zweiten Luther, und gleich einem zweiten Columbus immer neue Reiche des Geistes für die Herrschaft der deutschen Dichtkunst entdeckt und erobert.“

Was hilft alles Zureden? es geht heut nicht. Und euch soll man den Leuten erst zeigen? Steht ihr nicht von eurer Geburt her gleich so hoch, daß Alle euch sehen können, wenn sie sich nur entschließen wollen, die Augen aufzuthun? Ihr seid jetzt schon die Lieblinge aller wirklich Gebildeten, und werdet sammt euern andern stolzen Morgenlandscameraden bald die Lieblinge Aller werden, die der süße Brei der Alltagsunterhaltung anekelt, die nach Männerkost für ihren Geist trachten und die für die Schönheit, Kraft und Anmuth ihrer Muttersprache Herz und Sinn haben.

Wir folgen jetzt lieber jenem Studenten auf seinem Gang. Er trägt ein nagelneues Büchlein in der Hand; es ist wohl sein Erstling, und er wird ihn wahrscheinlich unserm Dichtmeister bringen. Richtig, da ist er in Neuseß, da geht er die Dorfgasse hinauf, da biegt er links ab, wo’s zwischen dem Lauter-Bach und der alten Gottesackermauer hingeht, und da steht er an der Pforte des gastlichen Dichterhauses. Er pocht bescheiden an, daß fast das Pochen seines Herzens lauter ist. Dennoch hat ein Frauenohr ihn gehört, eine freundliche Matrone öffnet ihm, sie weiß, wohin er begehrt, noch ehe er’s ausgesprochen, und sie führt ihn durch den Hausplatz zur entgegengesetzten Thür und ruft in den Garten hinein: „Fritz!“ Wie ihn das durchzuckt! Rufen liebe Stimmen ihm wohl auch so? Wie er’s noch denkt, tritt aus einer der Lauben die hohe Gestalt des Dichters hervor. Da hat er den Mann, für den seine Seele voll Verehrung ist.

Wer die Schilderungen gelesen oder es selbst erfahren hat, wie andere Literatur-Größen, und nicht blos namhafte französische, nur mit Hülfe gewichtiger Empfehlungen zugänglich und dann stets gerüstet sind, dem Besucher in einem auf den Eindruck sorgfältig berechneten ceremoniellen Nimbus entgegen zu glänzen, der wird sich freudig in das befreite Gemüth unseres Studenten hinein denken, als diesen nicht der berühmte Dichter und große Gelehrte in respectvoller Entfernung anhörte und abfertigte, sondern als der einfache deutsche Mann ihm zum Willkomm die Hand reichte und, zur Laube zurückkehrend, auf der Gartenbank das Plätzchen neben sich anbot. Wie glücklich fühlte sich da das Studentlein, wie hob es ihm die Brust, seinen Erstling in des Meisters Hand zu sehen, und wie mächtig drang sich ihm der Vergleich auf zwischen dem Benehmen Derer, die nur große Herren, und Derer, die große Menschen sind! Noch wirkte in ihm die Weihe nach von dem Blick, der vor Jahren den Gymnasiasten beseligt; nun saß das hohe Mannesbild, das seine jugendliche Phantasie seitdem mit allen Geistesstrahlen seiner Werke ausgeschmückt, leibhaftig vor ihm – so einfach, so bescheiden, so hausväterlich gemüthlich und doch in jedem Worte so edel, ganz und groß. Der Dichter sprach aus ihm durch die Reinheit und den Adel aller Anschauungen und die Klarheit und Wärme des Ausdrucks, der Gelehrte durch die Fülle des Wissens, die ungesucht, ohne fühlbaren Nachdruck, sich zu Dienst stellte, wenn sie gerufen ward, nicht, wie sie’s bei Professoren gewohnt ist, das Wort allein an sich riß. Es ist eine schwere Kunst, einen Reichthum von Gelehrsamkeit, wie Rückert ihn besitzt, so zu beherrschen, daß seine Wucht Niemanden drückt und Jedermann ihren Segen spürt. Auch darin ist Rückert Meister. Und wie der Dichter Alles besungen, was er gelebt hat, und wie nur Wenigen vergönnt ist, mit solchem Geiste mit den besten Geistern vieler Völker zu leben, so sind seine Werke der ganze Mann selbst und bieten der Welt eine Summe von Weisheit mit derselben herzerquickenden, erhebenden, rührenden und unnachahmlichen Liebe und Bescheidenheit, wie er dem Einzelnen dar.

Im Hause Rückert’s waltete das Glück des „Liebesfrühlings“ fort, und um die Laube schwärmte die junge Lust seiner Früchte, die liebliche Schaar der Kinder. Eines um das andere sprang herbei, mit den frischen Rosenwangen und den Augen des [88] Dichters, um den Vater um dies und das zu bitten, und der Blick auf jedes war ein Freudestrahl. Als der Student schied, begleitete ihn ein etwa zwölfjähriger Knabe durch den Garten zur Landstraße, an die dieser grenzt. War freilich zu vermuthen, daß sein kindlich zuthulicher Begleiter einmal ein Professor werden würde, das aber vermuthete er nicht, daß er mit der Zeit einen lieben Freund an ihm gewinnen und daß aus dem Knaben ein berühmter deutscher Geschichtsschreiber werden solle, der er jetzt ist: Heinrich Rückert.

Mein unvergeßlicher Lehrer, der große Geschichtsforscher Heinrich Luden in Jena, in dessen Arbeitszimmer ich manche fruchtreiche Stunde saß, erzählte mir einmal, als von den vielen damals auftauchenden Dichtern die Rede war, folgendes Geschichtchen: „Es stand ein Knabe am Fenster seiner hohen Wohnung und trieb ein kindisches Spiel. Er übergab Papierstückchen dem Zug des Windes und schaute ihnen nach, wie sie dahin wirbelten und bald da, bald dort hängen blieben oder in die Weite verschwanden. Lange sah der Vater dem Treiben des Knaben schweigend zu. Endlich fragte er ihn: Mein Kind, kann Dich das so sehr erfreuen? Komm, ich zeige Dir’s besser. Und nun nahm er ein Blatt Papier und heftete ein Holzstäbchen daran. So übergab er’s dem Winde. Und siehe, das Luftgefährt hatte gleichsam Kiel, Ballast und Steuer, nicht jeder kleine Windstoß wirbelte es hierhin und dorthin, sondern es hielt fest im großen Strom des Windes und verfolgte, wie nach einem bestimmten Ziel, in edler Schwingung seine Bahn. Sehen Sie, mein junger Freund, wie jene losen Blättchen erscheinen mir die leichten Dichter, die mit ihren ersten besten Gefühlen und Gedanken vor die Oeffentlichkeit hinlaufen; das Blatt mit dem Stäbchen zeigt mir einen Dichter, der von der Schwere reichen Wissens getragen wird und der im Strom der Zeit in immer edler Haltung ein würdiges Ziel verfolgt, und ein solcher Dichter ist unser Friedrich Rückert.“

Gerade das ist es aber, was von Rückert’s Wirken im Volke selbst am wenigsten erkannt und gewürdigt worden ist. Wie ich schon oben bemerkte, hielt das eigentliche Lesepublicum sich von Werken, wie das chinesische Liederbuch „Schi-King“, die „Morgenländischen Sagen und Geschichten“, „Erbauliches und Beschauliches aus dem Morgenlande“, die Heldengeschichte „Rostem und Seirach“, die „Brahmanischen Erzählungen“, Arbeiten, die eben so viel Triumphe des deutschen Geistes wie der deutschen Sprache sind, fern, weil es sie für zu fremd hielt und selbst den Versuch scheute, in sie einzudringen.[9] Es fürchtete sich vor der Mühe, die das Lesen gewöhnlicher Uebersetzungen macht, und dachte nicht daran, daß einem Rückert derlei rein unmöglich sind, daß er ihm nimmermehr einen Ballast von Gelahrtheit aufbürden, sondern ihm von seiner mühevollen Arbeit nur den belehrenden und erhebenden Genuß bieten könne. Erst „die Weisheit des Brahmanen“ packte wieder mit der Gewalt der geharnischten Sonette und des Liebesfrühlings die Herzen und ward in kürzester Zeit ein Volksbuch, „so viel Tiefsinniges und Klares, so viel deutsches Gemüth, so viel ergreifendes Gefühl, solche Erhabenheit der Bilder und solch einen Reichthum an tiefster Lebenserfahrung“ enthält es, so spiegelt sich in allen Sprüchen desselben „der tiefblaue Himmel der Weisheit“.

Mit dieser Dichtung kehrte, nach der Anschauung seiner Zeitgenossen, Rückert erst wieder nach Deutschland zurück. Sie konnten noch immer nicht einsehen und wollten sich aus den morgenländischen Werken nicht überzeugen, daß sein Herz es nie verlassen hatte. Und man hatte es doch so leicht, sich selbst persönlich eines Besseren zu belehren.

Um die Mitte der vierziger Jahre konnte man jeden Nachmittag, den die freundliche Sonne der milden Monate beschien, in Rückert’s Garten ein gar schönes Bild sehen. Da kam von Coburg her ein hoher, stattlicher Greis gewandelt, umspielt von fünf bis sieben keinen Hunden, seinen erheiternden Begleitern, und schritt dem Garten des Dichters zu. Dort empfingen ihn am traulichen Kaffeetisch zwischen den Blumenbeeten vor dem Hause Rückert, dessen Familie und die Gäste, die selten fehlten. Das war der Freiherr Karl August von Wangenheim, weiland Bundestagsgesandter und Staatsminister von Würtemberg, ein durch seine freie, hohe, edle, deutsche Gesinnung, wie durch Geist, Gelehrsamkeit und eine herrliche Luft und Kraft des Lebens so ausgezeichneter Mann, daß wir ihn unsern Lesern wohl einmal besonders vorführen müssen. Da saßen denn die beiden innigen Freunde, der Staatsmann, ein angehender Siebziger, neben dem nahen Sechziger, beide, Rückert im einfachsten, der ländlichen Ungezwungenheit angemessenen Hausgewand, die langen Pfeifen gemüthlich schmauchend, und um sie gereiht der reiche Kranz von des Dichters häuslichem Glück. Da wirthete seine edle Gattin, aus deren Augen noch derselbe warme Strahl drang, der einst aus ihres Freimund’s Seele den Liebesfrühling hervorgezaubert. Da schmückten den Kreis die Mädchen, die als liebliche Kinder den Studenten in der Laube umschwärmt hatten, als blühende Jungfrauen, und die Buben waren zu kräftigen Jünglingen und jungen Männern emporgeschossen. Aber des Kranzes Ehrenschmuck waren die beiden Alten.

Wangenheim lebte damals neu auf in der Freude über die dichterischen Erfolge seines Lieblingssohnes Paul, dessen treffliche Dramen „Lord Stafford“ und „die Abtrünnigen“ so eben die Bühnen beschritten hatten. Das hatte den ganzen Humor des jugendlich frischen Greises wieder geweckt, und es war eines Tages gar ergötzlich, wie er sich mit Rückert über die Darstellungen der menschlichen Leidenschaften und Schwächen durch Thiergestaltungen herumstritt. „Da hab’ ich neulich einen alten Löwen abgebildet gesehen, der griesgrämig und mit vielen großen Orden behängt in einem Winkel hockt. Sag’, Rückert, kann’s ein besseres Portrait von mir geben? Wenn’s Dich nicht zu sehr kränkte, müßte mein Paul einmal ein dramatisches Thierstück schreiben und mich als einen solchen alten abgesetzten Löwen verewigen, das gefiel’ mir am besten!“ –

Eines solchen Nachmittags entwickelte Wangenheim, während Rückert abwesend war, mir seine Ansicht über die Rückert’schen Dramen. „Die Leute verstehen ihn nicht, weil sie blos an’s Theater denken, nach dem Rückert ja gar nicht ausgeschaut hat. Er hat die Form des Drama gewählt, um dem Volk Geschichtsbilder zu malen mit lebendig hervortretenden Gestalten und zwar nur die größten Bilder aus den Wendepunkten des Gangs der Weltgeschichte. Da nehmen Sie „Saul und David“, es zeichnet die Blüthezeit des ersten Culturvolks, dem alle anderen den Grund und Boden aller Cultur, den Glauben an einen Gott, zu verdanken haben. Darauf der „Herodes“ mit Christus und der ganzen neuen Welt, die er geschaffen. Und in „Heinrich IV.“ sehen wir die christliche Priestergewalt auf ihrer höchsten Spitze, von der sie niedersteigen muß, und endlich den „Columbus“, der mit der Entdeckung von Amerika eine neue Weltordnung heraufbeschworen hat, in deren Entfaltung wir noch mitten drin stehen. Die Leute sollten diese Sachen nur recht fleißig lesen, sie würden daraus mehr mit fort nehmen, als aus Hunderten ihrer landüblichen Theaterabende.“ – So würdigen sich unsere Großen, denn auch Karl August von Wangenheim gehört, wie Rückert, zu den großen Männern des Volks.

Bekanntlich hatte König Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1841 den berühmten Dichter von Erlangen nach Berlin gezogen. Der kalte Boden des dortigen Lebens war jedoch nicht geeignet, daß Rückert in ihm Wurzel schlagen konnte. Er kehrte im Jahr 1848 für immer in sein trautes Neuseß zurück.

So steht denn an der Wiegenstätte seines Glücks nun auch der Ruhestuhl des Alten. Fern vom störenden Geräusch des Alltagslebens und doch am großen Strom der Zeit, hat er am grünen Ufer seine Hütte gebaut. Zwischen stillem Schaffen auf den alten lieben Fluren seiner geistigen Gebiete und in seinen Gärten lebt er hier die schönen Stunden seines Abends und schaut mit immer frischem, theilnehmendem Herzen in das Treiben der rastlosen Welt, ja, er wirkt selbst noch mit durch seine tüchtigen Söhne, die in fester, männlicher Gesinnung ihres Vaters und ihres Namens würdig sind.

Im Hause des Dichters ist’s freilich anders, ist’s stiller geworden; den einst so vollbelaubten Baum hat die Zeit entblättert. Als ich nach Jahren die liebe gastliche Stätte, diesmal am Arme meiner Gattin, die sich nach dem Anblick ihres Lieblingsdichters sehnte, wieder betrat, hatten zwei Hände vieles Leben daraus entführt: die Hand des Todes und die Hand der Liebe. Rückert’s Gattin war gestorben, der Kranz der Kinder zerstreut, jedes im glücklichen Nestchen seines eigenen Hausstandes. Nur Marie, des Vaters weiblich verfeinertes Ebenbild, war ihm als treue Pflegerin geblieben. Rückert selbst hat den Einflüssen der Jahre auf die Mehrzahl der Menschen Trotz geboten, noch ragt kräftig [89] das Haupt empor, aus den Augen leuchtet noch immer das Lebensfeuer des Dichters, und der Grundton seiner Seele, der aus allen seinen Werken hervortönt, die reinste, vollste Menschenliebe, die ihn vom höchsten heiligen Aufschauen bis zum donnernden Zorn und zum neckischsten Scherz leitet, spricht aus jedem seiner Worte und macht ein Viertelstündchen, bei ihm verlebt, zu einem Andenken für’s ganze Leben.

Möge sein Abendroth noch recht lange glühen und er noch freudig begrüßen, um was er in seiner Jugend so kräftig mitgerungen: ein glückliches Deutschland! Er hat das Seine redlich dazu gethan. – Wenn er am Fenster seiner Wohnung steht und auf die Landstraße hinüber blickt, die der rege Verkehr der Welt belebt, so kann er sagen: Dort zieht Keiner vorüber, der nicht eine Gabe von mir empfangen hätte. Ich gab den Jünglingen Lieder der Ehre, ich gab den Jungfrauen Lieder der Liebe, den Männern und Frauen gab ich Sprüche der Weisheit, ich habe die Greisen nicht mit Gebeten voll Trost und Erhebung vergessen, und den Kindern schenkte ich die Märchen zum Spiel. Er kann das Werk aller seiner Tage, nicht blos seinen Liebesfrühling, mit dem Geständniß schließen:

     „Ein Vollendetes hienieden
     Wird nie dem Vollendungsdrang,
     Doch die Seel’ ist nur zufrieden,
     Wenn sie nach Vollendung rang;
Ich bin mit dem zufrieden, was ich lebt’ und sang.“


Fürst und Bauer.


Alexander v. Humboldt sagt in einem Briefe an Varnhagen von Ense, indem er sich beklagt, daß er, der das Jahr 1789 erlebt, die Welt in solch jämmerlichem Zustande verlassen müsse, sich und Andern zum Trost, eben so schön als treffend: „Jahrhunderte sind Secunden in dem großen Entwickelungsprocesse der fortschreitenden Menschheit. Die ansteigende Curve hat aber kleine Einbiegungen, und es ist gar unbequem, sich in solchem Theile des Niederganges zu befinden.“ Dieses Gefühl der Unbeguemlichkeit im Welt- und Hofmanne wird freilich in poetischen Naturen zum unerträglichen Schmerze, und Lenau ruft: „Es ist verzweiflungsvoll, im ersten Grauen des Tages sterben zu müssen!“ Dieser tragische Ton zittert durch die ganze Weltgeschichte. Moses, der größte Mann seines Volkes, durfte das Land der Verheißung, in welches er es führte, auch nur sterbend aus der Ferne sehen, nachdem er vierzig Jahre mit ihm im Wüstenelend geschmachtet hatte. Wohl denen, die mit stoischer Seelenruhe die „Unbequemlichkeit“ ertragen, sich in solch’ einem Niedergange der Curve zu befinden. –

Man hat die öffentlichen Ereignisse in Kurhessen, die nun seit einer Reihe von Jahren immer unerquicklicher werden, wohl „das Trauerspiel in Kurhessen“ genannt; wir glauben, sie verdienen eher den Namen des „traurigen Spiels“, denn in der That ist es weniger ein Drama, das vor den unwillig staunenden Augen der deutschen Volksstämme dort aufgeführt wird, als vielmehr ein böses Spiel aristokratisch verhärteten Trotzes mit der vorschreitenden Entwickelung des staatlichen Lebens, das nicht nur in Kurhessen, sondern in ganz Deutschland, ja in der ganzen civilisirten Welt alle redlichen Gemüther verbittert. Die Behauptung, daß ein böser Fluch auf der Regierung dieses Landes laste, der sie immer weiter in das segenslose Wirrsal hinein treibe, hat Manches für sich, und man braucht gerade kein Fatalist zu sein, um sich mit einem geheimen Schauer der Worte Schiller’s zu erinnern:

„Das eben ist der Fluch der bösen That,
Daß sie fortzeugend Böses muß gebären.“

Wenn irgendwo, läßt sich diese fortzeugende Kraft der Unthat, die immer neues Unheil in die Welt setzt, in der kurhessischen Geschichte seit anderthalb Jahrhunderten klar und deutlich nachweisen. Man kennt genau die Stelle, wo der Blutstropfen aus dem Herzen des Volkes von der Hand seines Fürsten auf das weiße Blatt dieser Geschichte niederfiel, aus welchem sich nun der rothe Faden immer stärker anschwellend herausgezogen hat, wie aus einer Färberkiepe, anfangs dünn wie der Faden einer Spinne, jetzt stark wie ein Schiffstau. Und merkwürdiger Weise war der Fürst, der diese erste böse That beging, die so unheilvolle genetische Kraft entwickelt hat, durchaus kein böser Mensch, er war nur ein von Leidenschaft, Leichtsinn und verkehrten Begriffen von Souverainetät verblendeter.

Das Unheimliche dieses Knotens wird durch den Umstand erhöht, daß der, welcher die dunkeln Fäden zuerst zusammenknüpfte und ineinander schlang, durch welche Glück, Wohlstand und innerer Frieden eines trefflichen deutschen Volksstammes, einst unter den kaiserlichen Konradingern so blühend, für so lange Zeit unterbunden wurden, ein Volksfreund war und das Glück des Volks aufrichtig anstrebte (freilich nach jenen Begriffen, welche die „souveraine“ Färbung der Zeit tragen), daß gerade dieser Herrscher durch einen bösen Fehlgriff dem Staate den ersten Stoß versetzte, der zur Verhärtung und endlich zum unheilbaren Krebsschaden geworden ist.

Ist es nicht merkwürdig, daß die Ahnmutter des hessischen Fürstenhauses die heilige Elisabeth, die Landgräfin von Thüringen ist, die als Ideal der höchsten Liebe zum Volke und der Barmherzigkeit durch sechs Jahrhunderte wie ein heller Stern glänzt, und die das schöne herzliche Wort sprach: „Wir müssen die Menschen fröhlich machen, damit sie gut werden“? Und wirklich hat der Segen dieser echten Volksmutter ein halbes Jahrtausend auf ihrer fürstlichen Nachkommenschaft geruht und reiche Blüthen und Früchte gezeugt, aber seit anderthalb Jahrhunderten ist dieser Segen abhanden gekommen, seit ein Nachkomme dieser barmherzigen Volksfürstin, die dem Volke Alles gab und in freiwilliger Armuth lebte, die Söhne dieses Volkes zur Gewinnung eines schnöden Luxus und genußsüchtiger Ueppigkeit wie Viehherden verkaufte, damit sie sich für ihnen ganz fremde Interessen abschlachten ließen.

Das hessische Landgrafenhaus hat einst eine nicht geringe Anzahl ausgezeichneter und trefflicher Regenten gehabt, ja es war geradezu berühmt wegen der hohen Bildung und Humanität derselben.

Wenn Philipp I., der Großmüthige, der Ahn der noch bestehenden hessischen Fürstenhäuser, auch in Folge seiner derbsinnlichen Natur zu seiner fürstlichen Gemahlin noch eine „Zufrau“ nahm und durch solche Bigamie der Sache der Reformation, die er mit Wort und That so feurig unterstützte, merklich schadete, so war er doch als Fürst ein tüchtiger Mensch und tapferer Krieger, mit scharfem Verstand und Ehrlichkeit stets bereit, für das, was er als recht und gut erkannt, Leib und Leben einzusetzen. Ein Volksfreund ward er vom Volke hochgehalten, und Luther sagt mit Recht von ihm: „Er hat den gemeinen Mann an sich hangen.

In anderm Sinne war sein Sohn und Nachfolger, der Landgraf Wilhelm IV., der Weise, ein höchst achtbarer Fürst. Für seine Zeit (er regierte von 1567 bis 1592) ein hochgebildeter, ja sogar gelehrter Herr, war er dabei bieder, wohlwollend, menschenfreundlich, kräftig in der Ausführung seiner volksbeglückenden Pläne, mild, tolerant und einfach, wie wenig Fürsten seiner Zeit.

Noch ausgezeichneter tritt sein Sohn und Nachfolger, Landgraf Moritz der Gelehrte auf (1592–1627), unstreitig der gelehrteste Fürst, der gelebt hat, dabei einer der charaktertüchtigsten und wohlwollendsten, überhaupt von Kopf und Herzen ein sehr ausgezeichneter Mensch. Er bereitete nicht nur Arzneien, Oele und Essenzen, er schrieb auch gute Bücher (seine lateinische Prosodie erlebte sieben Auflagen); ebenso componirte er Musikstücke und Kirchenlieder und übte die Musik mit Leidenschaft.

Sein Plan war, nach dem Tode des Kaisers Matthias (1619) einen evangelischen Fürsten auf den Kaiserthron zu bringen und selbstverständlich Deutschland von Rom loszureißen. Jedenfalls wäre Moritz selbst, der sich zum einfachen Calvinismus bekannte, der würdigste deutsche Kaiser gewesen, und wahrscheinlich dachte er auch daran. Welch einem Flor wäre Deutschland unter ihm entgegengegangen! Zuerst wäre der unselige dreißigjährige Krieg vermieden worden, dieser vernichtende Orkan im Garten des deutschen Gemüths- und Geisteslebens. Nicht ohne den tiefsten Schmerz kann man daran denken, daß statt des genialen, gebildeten, hochsinnigen Moritz der beschränkte, bigotte, kleinliche Ferdinand von Oesterreich gewählt und der Landgraf das Opfer seiner deutschen Idee wurde. Mit allen ihm zu Gebot stehenden Mitteln unterstützte er die aufständischen Böhmen und deren jugendlichen König Friedrich, und selbst nach der unseligen Schlacht am weißen Berge, die Deutschland Jahrhunderte in der Entwicklung zurückwarf, machte Moritz die kräftigsten Anstalten, sich dem siegreichen Kaiser zu widersetzen. [90] Aber der Adel seines Landes fiel von ihm ab, und die Folge dieses Verraths war die schreckliche Verwüstung Hessens durch Tilly. Die Zerstörung und das Blutbad Mindens stehen als Schandpfahl in der Geschichte, sowohl der Mordbrenner und Mörder, als der Feiglinge, die ihren muthigen Herrn verließen und sich nicht wehrten. Moritz sah sich genöthigt, zu Gunsten seines Sohnes Wilhelm 1627 abzudanken, und starb fünf Jahre später in Armuth und Gram zu Eschwege, aber froh gerührt von des großen Schwedenkönigs aufgehendem Glanzgestirn, das ihn zu rächen versprochen hatte.

Ein eben so ehrenhafter charakterfester und tüchtiger Regent war sein Sohn Landgraf Wilhelm V. der Beständige, der einzige deutsche Fürst, der dem zur Rettung der Geistesfreiheit herbeigeeilten Schwedenkönig fest und muthig die Hand zum Bunde reichte, aber schon fünf Jahre nach dessen Tode, erst 35 Jahre alt, der vom wilden Kriegsleben hervorgerufenen Lungenkrankheit erlag, während sein Land von der siegreichen kaiserlichen Soldateska cannibalisch mit Feuer und Schwert verwüstet wurde. Doch nun trat seine Gemahlin als Schutzgeist des Landes auf, jene zweite heilige Elisabeth, die in der hessischen Geschichte und im Volksandenken gleich unsterbliche Landgräfin Amalie Elisabeth, die große Vormünderin-Regentin, der es Hessen-Kassel zu verdanken hat, daß es überhaupt noch ein Land ist. Als Vormünderin ihres Sohnes, des nachherigen Landgrafen Wilhelm VI., in der schlimmsten Zeit, welche Deutschland betroffen, unermüdlich thätig, umsichtig, groß, zwang sie ihren politischen Feinden Achtung ab und hat bei Mit- und Nachwelt das ehrenvolle Zeugniß erworben, daß sie nicht nur eine der ausgezeichnetsten politisch weisesten Fürstinnen, sondern auch eine der edelsten und hochsinnigsten Frauen gewesen. Wahrlich eine deutsche Frau, werth von den größten deutschen Dichtern gefeiert und verherrlicht zu werden!

Nie ist aber auch eine Fürstin treuer und herzinniger von einem deutschen Volksstamme verehrt und geliebt worden, als Amalie Elisabeth von ihren Hessen. Ihr ganzes seelisches Wesen spricht sich in einer von ihr in die Martinskirche in Kassel, in der sie begraben liegt, gestifteten Votivtafel aus:

„Beste Bürger!

Zur Ehre des höchsten Gottes lasse ich Euch dieses Zeichen und Ausdruck meines Wohlwollens zurück, weil die wahre Liebe sich bildlich nicht darstellen läßt, die ich zu Euch im Herzen trage.

Lebet glücklich! Sendet Eure Gebete zum Himmel für das Wohl Eurer Fürsten, damit unter ihrer gerechten Regierung Euch nichts fehle zum glücklichen Leben!“

Auch ihr Sohn war ein wackrer Regent, doch starb auch er, wie sein Vater, erst 34 Jahre alt, und seine Witwe Hedwig Sophie von Brandenburg wurde eine zweite wohlthätige Vormünderin-Regentin des hessen-kasselschen Landes.

Ihr Sohn ist nun endlich der Landgraf Karl, den wir in der Ueberschrift dieses Artikels meinen, wiederum einer der ausgezeichnetsten Fürsten Deutschlands, der im Gegensatze zu den kurzen Regierungen seines Vaters und Großvaters eine der längsten, eine dreiundfünfzigjährige (1677–1730) geführt, und dessen merkwürdiges Thun und Treiben sich im Andenken des hessen-kasselschen Volks sehr lebendig erhalten hat. Noch heut zu Tage erzählt der achtzigjährige Bauer der hessischen Hochebene mit großem Wohlbehagen seinen staunenden Enkeln die seltsamen Geschichten vom Landgrafen Karl, wie er sie selbst von seinem Großvater vernommen. Denn merkwürdiger Weise lebt dieser in so vieler Hinsicht merkwürdige Fürst gerade unter den Bauern seines Landes in großer Farbenfrische fort, eben weil er ein spezieller Bauernfreund gewesen und unter ihnen einen Liebling gehabt hat. Aber Karl war nicht nur ein Freund und Wohlthäter des Landvolks, er war auch ein tüchtiger, einsichtsvoller Regent und ein wohlwollender, kenntnißreicher, geistig vielfach hochbegabter, ungemein thätiger und Wissenschaft und Kunst eifrig fördernder Fürst, dem Kassel seine höchste Blüthenzeit verdankt.

Eine falsche Vorstellung von Fürstenwürde und -Größe hatte Karl, aus der das ganze Unheil seines Landes emporgewachsen ist; es war die krankhafte Anschauung seiner Zeit, die ihn bewältigte, daß Luxus, Pracht, Pomp nothwendige und unerläßliche Attribute der Fürstenherrlichkeit seien, und der ihm innewohnende rastlose Trieb, sich in ganz besondrer Weise auszuzeichnen, artete zur krankhaften Sucht aus, alle nur irgend aufzutreibenden Sonderbarkeiten in Natur, Kunst, Industrie etc. anzuhäufen. Aus diesem Triebe sind die Wasserkünste der Wilhelmshöhe (damals Karlsberg oder Winterkasten genannt), die großartigsten und berühmtesten der ganzen Welt, hervorgegangen, aus ihm ist das große Kunsthaus zu Kassel, dieses in seiner Art einzige Aggregat von Kunstgegenständen, Curiositäten und Bizarrerien aller Art, entstanden. Aber der Fürst des kleinen Landes wurde von diesem ausgearteten Triebe auch angespornt, Städte zu bauen, und Karlshafen giebt davon Zeugniß.

Zu all diesen prächtigen Dingen brauchte er Geld und immer Geld, und dieses stete Geldbedürfniß, aus jenem Triebe entsprungen, machte ihn zum Seelenverkäufer seiner Landeskinder. Hätte er, wie sein Ahn Wilhelm der Weise, die zinnernen Teller und was damit zusammenhängt, in Ehren gehalten, und wären seine Nachfolger ebenfalls so klug gewesen, dem Beispiele des Weisen zu folgen, es stände in Hessen-Kassel besser um Land, Volk und Fürsten. So hat es ein böses Verhängniß gewollt, daß es gerade der thätige, kenntnißreiche, wohlwollende, einsichtsvolle, langregierende Herr war, unter dessen Regierung der Silberblick der Hessengeschichte sich zeigt, daß gerade dieser Karl es sein mußte, der die erste große, mit nichts zu sühnende Sünde am Hessenvolke beging, die schmachvolle, unselige, als böses Gift in den Volksadern fortschleichende Verschacherung der wehrbaren Jugend seines Volks. Ja gerade dieser feingebildete, humane Landesfürst, der die von dem treulosen Ludwig XIV. von Frankreich ausgetriebenen Protestanten aufnahm und ihnen die vier neuen Straßen der Ober-Neustadt in Kassel erbaute, der ebenso den aus der Pfalz von der neuen Herrscherfamilie (der katholischen von Neuburg, nach Aussterben der protestantischen von Simmern) verjagten deutschen Protestanten Heimath und Heerd gewährte, dieser selbe Fürst verkaufte schon 1687 eintausend Stück seiner Landessöhne an die Republik Venedig zum Krieg gegen die Türken in Morea, um mit dem dafür erhaltenen Gelde seinem Luxustriebe zu genügen. Von dem genannten Jahre datirt die große hessische Blutschuld, die seit 175 Jahren giftige und faule Früchte genug getragen hat, und an der das Dichterwort in Erfüllung gegangen ist: – „alle Schuld rächt sich auf Erden.“

So bildet Landgraf Karl den Höhenpunkt der hessischen Fürstengeschichte. Bis zu ihm ist sie eine glänzend aufsteigende Linie mit wenigen und unbedeutenden Einbiegungen, zusammengesetzt aus einer Reihe leuchtender Fürstengestalten, Männern und Frauen, beide groß und herrlich, lauter ebenbürtigen Enkelkindern der heiligen Elisabeth und mit ihrem Segen begnadigt, würdig, daß ihre Bilder in einem deutschen Pantheon aufgestellt würden.

Nach dem Jahre, welches den Anfang der Blutschuld bezeichnet, beginnt erst leise, dann allmählich stärker die Einbiegung der Curve, bis sie tiefer und tiefer hinabsteigt. Als Landgraf Karl einmal Blutgeld geschmeckt hatte, wurde er, von seiner Baulust und seinem Curiositäteneifer angestachelt, immer lüsterner und begieriger darauf, und das zuströmende Geld fachte die Leidenschaften in ihm, statt sie zu befriedigen, nur noch heftiger an. Im spanischen Erbfolgekriege verkaufte er 9000 Landessöhne an die Seemächte (1702), vier Jahre später 10,500 Mann zum Gebrauch in Italien, endlich nach dem Utrechter Frieden (1713) nochmals 12,000 Hessen an England, welche mit ihrem Blute das englische Uebergewicht in Europa erkämpfen und befestigen mußten. Bei der Thronbesteigung des Königs Georg II. von Großbritannien (1727) stellte sich das überraschende Ergebniß heraus, daß der Landgraf Karl von Hessen-Kassel aus der englischen Staatskasse 240,000 Pfund Sterling (1,680,000 Thlr.) jährlicher Subsidiengelder für gelieferte Soldaten bezog. Davon sind die prächtigen Wasserkünste gebaut und die Curiositätensammlungen angelegt worden.

Und das that ein volksfreundlicher Fürst. Welch ein bizarrer Widerspruch! Wie kann man einem Volke freundlich gesinnt sein und es wie Schlachtvieh verkaufen! Aber das ganze achtzehnte Jahrhundert ist voll solcher Widersprüche und schroffer Gegensätze. Die Zeit liegt seit Jahrhunderten an der einen großen Lüge krank, daß die ungeheure Mehrheit der Menschen für die Befriedigung selbstischer Zwecke einer kleinen Minderheit da sei, und bis heute hat sie trotz aller Kämpfe und Krämpfe noch nicht von diesem verderblichen Wahne genesen können, welcher der Vater aller andern unzähligen Widersprüche und Unzulänglichkeiten ist.

Von Landgraf Karl’s wunderlicher Volksfreundlichkeit hat sich ein Beispiel als Sage im Volksmunde lebendig erhalten: sein eigenthümliches Verhältniß zu dem Bauer Hans Hooße zu Leimbach im Antriftthale, eine Stunde von der Festung Ziegenhain.

Dieser Hans Hooße, ein an Körper und Geist kräftiger [91] Mann, ein echter Prototyp des gesunden derben hessischen Bauernschlags, war sechszehn Jahre jünger als sein ihm so wohlgesinnter Landesherr und überlebte denselben 25 Jahre. Der Landgraf wurde 76, der Bauer 85 Jahre alt.

Hans Hooße’s gesunder Menschenverstand hatte manche gute Einsicht, zumal in die bäuerlichen Verhältnisse, und seine örtliche Stellung als wohlhabender Mann gab ihm vielfache Gelegenheit, diese Einsicht geltend und sich nützlich zu machen. Wegen dieser Verdienste und seines schlichten geraden Sinnes, seiner einfachen, aber tiefen Religiosität, seiner nie versiechenden Heiterkeit und eben so wenig ermüdenden Thätigkeit in seinem Dorfe und dessen Umgegend weithin geehrt und geachtet, durch seinen Wohlstand angesehen und einflußreich, mußte er die Augen des Landesherrn auf sich ziehen, der oft in dem nahen Ziegenhain bald allein, bald mit der fürstlichen Familie verweilte und nicht selten Leimbach zum Ziel seiner kleinen Ausflüge machte, oder das Dorf auf seinen großen Jagden besuchte. Dann pflegte er wohl in dem stattlichen Bauernhofe Hooße’s einzukehren und sich ein Stündchen mit dem freimüthigen, verständigen Bauersmanne zu unterhalten. Nachdem er aber eine unverkennbare Vorliebe für den redlichen, geraden und biederherzigen Landmann gefaßt, ließ er ihn auch von Zeit zu Zeit zu sich nach Ziegenhain und Kassel kommen, und es stellte sich ein eigenthümliches vertrautes Verhältniß zwischen dem gelehrten und leidenschaftlich unruhigen Fürsten und dem schlichten, ruhigen, besonnenen Bauer her, aus welchem der Erstere, zum Wohle seines Landes, mehr klare Einsicht in die Verhältnisse der arbeitenden Bevölkerung geschöpft haben soll, als aus allen grundgelehrten Auslassungen seiner Professoren zu Marburg und Rinteln. Hinsichtlich ihres heitern Temperaments paßten Fürst und Bauer trefflich zusammen; sie scherzten gern miteinander, und mehrere solcher meist drastischen und pikanten Scherze haben sich im Andenken des Volks erhalten. Auch liebte es der Landgraf, sich dem Landwirth zu vergleichen und zu sagen: Hans sei sein Muster, und er werde sich glücklich preisen, wenn man mit Recht von ihm sage, daß er sein Land so gut verwalte, wie Hans sein Bauerngut. Auch darin hatten die beiden in der äußern Lebensstellung so verschiedenen Männer Aehnlichkeit miteinander, daß jeder Vater von vierzehn Kindern und zärtlicher, gewissenhafter Familienvater war. Beide mußten auch bei weitem die Mehrzahl ihrer Kinder begraben lassen und kamen zu einander, um sich über solche herben Verluste selbander zu trösten.

In Bezug auf die Angelegenheiten der Landleute und die zur Verbesserung ihrer Lage zu machenden Einrichtungen hörte der Fürst stets erst die Ansicht und Meinung des ihm vertrauten Bauers, und dieser fand dadurch Gelegenheit, seinen Standesgenossen ungemein zu nützen. Man erzählt, daß zwei seiner Prinzen, die den Landgrafen nach Leimbach zu begleiten pflegten, und darunter der nachherige König Friedrich von Schweden, ein so großes Wohlgefallen an Hooße’s Wirthschaft gefunden, daß sie sich verabredet – Bauern zu werden. Wahrscheinlich wäre der gute Erbprinz im Besitz eines hübschen Bauerngutes, das er selbst bewirthschaftet, glücklicher gewesen, als im Besitz des schwedischen Königsthrons.

Von Hans zur Hochzeit mit seiner zweiten Frau eingeladen, vergnügte sich die landgräfliche Familie, besonders die edle Landgräfin Marie Amalie, eine Prinzessin von Kurland aus dem Kettler’schen Stamme, ungemein, so daß sie sich sogar in den ländlichen Tanz mischte. Die Fürstin ließ sich von dem vergnügten Bräutigam zum Reihen führen. Nun war dieser gerade ein Nationaltanz der Bauern an der Schwalm, „das Küsse-Süßchen“ genannt, weil der Tänzer der Tänzerin darin einen Kuß giebt. Hans hielt es doch für schicklich, vom Landgrafen erst die Erlaubniß zu solchem Kuß einzuholen.

„Umsonst laß ich die Landgräfin nicht von Dir küssen,“ versetzte der Fürst in der heitersten Laune. „Was giebst Du mir dafür?“

„Eine Metze voll Ducaten,“ entgegnete der Bauer rasch.

„Dafür lassen Sie sich von ihm küssen, Madame!“ rief Karl seiner Gemahlin lachend zu; und sie gehorchte.

Dem Spotte ward damit die Bemerkung nah gelegt, daß dem vielgerühmten Hessenfürsten für Geld nicht allein seine Landeskinder, sondern auch die Küsse der Landesmutter feil waren.

Hans bezahlte den ihm verkauften fürstlichen Kuß auf eine Weise, die auch in Bezug auf die verkauften Soldaten Nachahmung verdient hätte; vielleicht wäre dann der Fürst von all solchem Handel geheilt worden. Als er sich das nächste Mal in Ziegenhain befand, stellte sich der Bauer im Schlosse ein. „Hast Du mir die Metze voll Ducaten mitgebracht?“ fragte der Fürst.

„Das versteht sich!“ versetzte der Bauer und zog ein winziges silbernes Gefäß in Form einer Metze und mit einem silbernen Streichholz belegt, voller Ducaten hervor, das er dem Herrn schmunzelnd darbot.

„Die Metze ist verflucht klein!“ rief dieser erstaunt.

„Es ist das Ducatenmaß der Großen und Reichen zur Bezahlung empfangener Leistungen. Die Fruchtmetze des Bauern für Zins und Abgabe ist freilich größer. Durch den Verkaufsgegenstand hat mich Ew. fürstliche Gnaden aber zum vornehmen Mann gemacht.“

„Gut gesagt, vornehmer Bauer! Dein Witz gefällt mir und Deine Ducaten-Metze auch.“

Sie kam als willkommene Curiosität in das Kunsthaus des „curiösen“ Herrn. (So nannte man die Fürsten jener Zeit, welche ihre bizarren Gelüste auf Seltsamkeiten in ähnlicher Weise zu befriedigen suchten, wie Landgraf Karl, der curioseste von allen.)

Hans, in einem Hofconcert der fürstlichen Kapelle von Karl befragt, wie ihm die Musik gefalle, antwortete: „Sie ist schön, meine Kapelle macht mir aber doch schönere.“

„Die muß ich auch hören!“ rief der Landgraf lachend. „Bestelle sie auf morgen; ich komme.“

Sobald der Fürst des andern Tags auf Hooße’s Hofe abgestiegen war, schloß Hans das Thor und öffnete die Ställe. Da liefen denn bald Pferde, Rindvieh, Schafe, Gänse und Hühner, Hund und Katz wiehernd, brüllend, blökend, schnatternd, schreiend, bellend, miauend durcheinander, und die Lebendigkeit dieses natürlichen Concertes wurde durch die Leckerbissen erhöht, welche Hans jeder Thiergattung reichen ließ. Als nun die wohlaussehenden Mägde und Knechte fröhlich dazwischen lachten und Hooße’s Kinder jauchzend mit den Thieren schäkerten, da sagte der Bauer zum Fürsten: „Ich habe behauptet: meine Kapelle macht mir schönere Musik.“

„Mir auch!“ rief der Fürst freudig gerührt. „Ohne die Deinige hätt’ ich die meinige nicht. Du hast als braver Bauer gesprochen und Dein Wort gelöst.“

Fürst und Bauer, beide alt geworden, saßen in erhöhter Stimmung beim Becher. Der Landgraf trinkt dem Landmanne zu: „Ich möchte Dir eine Freude machen, Hans. Bitte Dir etwas aus, ich will’s gewähren, wenn ich kann.“

Scherzend antwortete dieser: „Ich habe von meinem Vater einen reichen adligen Zehnten auf das Klostergut Immichenhain ererbt, der Kuß der Frau Landgräfin hat mich geadelt, Ew. Gnaden fürstliche Gunst mich ausgezeichnet. Der Sache nach bin ich also ein Edelmann. Es fehlt nur die Form in der ausdrücklichen Erklärung Ew. fürstlichen Gnaden.“

„Die sollst Du haben!“ rief der Fürst in fröhlicher Weinlaune. „Sollst Junker Hans heißen, und dabei soll’s bleiben.“

Und dabei blieb’s wirklich. Der Bauer wurde von Allen „Junker Hans“ genannt, erhielt aber nie einen Adelsbrief. Sein ehemaliger Hof heißt heute noch „Junker Hansens Hof“.

Dieser deutsche Fürst und deutsche Bauer geben ein freundliches Bild, leider verunziert von den schon genannten bösen Schlagschatten.

Wie nachher unter Karl’s Enkel, dem katholisch gewordnen Landgrafen Friedrich II. (1760–1785) und Urenkel, dem ersten Kurfürsten Wilhelm, der hessische Seelenhandel im großen Styl etablirt wurde, so daß Napoleon decretirte: „Das Hessen-Kasselsche Haus hat seine Unterthanen seit vielen Jahren an England verkauft, und dadurch hat der Kurfürst so große Schätze gesammelt. Dieser schmutzige Geiz stürzt nun sein Haus;“ – wie aus diesen Schätzen des Blutgelds zum größten Theil das Haus Rothschild herausgewachsen ist, dieses traurige Bild ist bereits anderwärts geschildert worden.

L. St.
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Eine Muster-Orgel.


„Ist die Orgel von Silbermann?“ Diese Frage ist im Sachsenlande, dem Hauptwirkungskreise des Meisters, und auch wohl in weiteren Kreisen mit ziemlicher Gewißheit aus dem Munde von Laien zu erwarten, sobald das Gespräch auf eine ältere Orgel kommt, die irgend etwas Gutes aufzuweisen hat, sei es auch nur eine stattliche Außenseite. – Das Sprüchwort: „Kleider machen Leute“, ist auch auf Orgeln bezogen zum Wahrwort geworden, und noch heute, in der Zeit der höchsten musikalischen Kultur, in voller Kraft. Ein schmuckes Gehäuse mit vergoldeten Arabesken und wohlgenährten Posaunenengelchen nach dem Geschmack des vorigen Jahrhunderts ist ausreichend, ein solches Werk unserm obigen Altmeister zuzuschreiben, gleichviel, ob der Kern, den eine solche Decoration verbirgt, zu Silbermann’s Orgeln im grellsten Gegensatze steht, im Werthe zu seinen Werken sich verhält wie Blei zu Silber.

Es ist eine höchst merkwürdige Erscheinung, die mir in meiner Praxis oft begegnete, daß Orgeln, die ein entsetzliches Gewimmer erhoben, in den Kirchen noch lange geduldet und nicht selten sogar für Silbermann’sche Orgeln gehalten wurden. Die allgemeinere Kritik auf diesem Gebiete steckt bei aller musikalischen Ruhmredigkeit unserer Tage noch völlig in den Kinderschuhen.

Tausende von Werken aus dem vorigen Jahrhundert geben Zeugniß davon, daß Silbermann in weitem Kreise der einzige tüchtige Orgelbauer unter einem Heer von Pfuschern war. Als er seine ruhmvolle Bahn betrat, sagte ihm sein Verstand, daß ein Kunstwerk dieser Art nur aus den vorzüglichsten Materialien geschaffen werden müsse, wenn es Bestand haben soll. Seine scharfe Beobachtungsgabe ließ ihn bald die einfachsten Strukturen finden. Seiner unermüdlichen Energie gelang es, den Orgeln eine für jene Zeit musterhafte Intonation (Reinheit und Klangfarbe) zu geben. So lag es eigentlich mit in den damaligen Zeitverhältnissen, daß sein Ruhm sich schnell über ganz Deutschland und weiter noch verbreitete und sein Name als Orgelbauer eine fast beispiellose Popularität erlangte. Sein Verdienst ist in der That auch groß, allein sein Ruhm ist noch größer.

Silbermann wurde am. 4. August 1753 in der Orgel der katholischen Hofkirche zu Dresden, mit deren Intonation er soeben beschäftigt gewesen, vom Schlage getroffen todt gefunden.

Hundert Jahre später, 1857, ebenfalls im August, war in dem alten ehrwürdigen Dome zu Merseburg, über den stillen Gräbern einer langen Reihe von Bischöfen und regierenden Herzögen des ehemaligen Stiftes, ein unruhiges Treiben und Schaffen. Das freundliche Gotteshaus hatte ein unheimliches Aussehen angenommen. Wo das Auge den schönsten Schmuck der Kirche, den reichen Orgelprospect zu finden gewohnt war, traf es auf hohle, finstere Räume; die glänzende Außenseite dieses Werkes glich einem Skelet. Die Scene hatte wohl etwas ungewöhnlich Ernstes. Der Mann, welcher es so eben unternommen hatte, hier ein Kunstwerk von ungewöhnlichem Umfange aufzurichten, war noch jung und fast unbekannt, dabei so still und bescheiden, daß manches Haupt bedenklich geschüttelt wurde über das kühne Vertrauen, das man dem Werkmeister Friedrich Ladegast geschenkt hatte.

Kurz nach meiner Anstellung in Merseburg, Ostern 1848, hatte ich einen jungen Orgelbauer, Namens Ladegast, hier kennen gelernt. Er war gekommen, mir seine Noth zu klagen. Er hoffte durch mich als königl. Orgelrevisor ein Wort der Empfehlung zu erlangen, um das er früher vergeblich sich beworben. Seit Jahren in Weißenfels ansässig, war es seinen angestrengtesten Bemühungen nicht gelungen, einen Orgelbau zu bekommen. Die traurigsten Pfuscher waren ihm vorgezogen worden. – Sein fast jungfräulich schüchternes Auftreten, sein grundehrliches Gesicht mit dem intelligenten Auge, in das sich ein feuchter Glanz drängte, während er mir mit bebender Stimme sein Herz öffnete, weckten zwar meine Theilnahme, allein Hülfe konnte ich ja auch nicht gleich bieten. Welcher Sterbliche vermöchte denn das immer beim besten Willen? Es verging auch noch ein volles Jahr, ehe es sich fügte, daß der Graf Zech-Burkersrode ihm in dem Dorfe Geusa bei Merseburg den ersten kleinen Orgelbau anvertraute. – Die am 9. September 1849 stattgehabte Abnahme dieser Orgel erregte mein höchstes Entzücken. Ich fand ein in jeder Beziehung reizendes Werkchen. Und was für Opfer hatte Ladegast aus reinster Liebe zur Sache gebracht! Ein ganzes Clavier hatte er von seinen früheren Ersparnissen als Gehülfe hinzugefügt.

Dies Opfer sollte indeß bald gute Früchte tragen. Eine schnelle Folge von weiteren Orgelbauten überzeugte mich, daß Ladegast die Fähigkeit besaß, den höchsten Anforderungen der Kunst in zeitgemäßer Weise zu genügen. Die hiesige Königl. Regierung schenke dem jungen Meister ihr Vertrauen, das er denn auch durch die Vollendung der einundachtzigstimmigen Domorgel zu Merseburg auf die glänzendste Weise rechtfertigte.

An einem freundlichen Herbsttage, den 26 September 1855, füllten sich die Hallen des Domes mit einem Kreise von Kunstfreunden, die zum Theil aus weiter Ferne herbei gekommen waren, dem ersten großen Coucert auf dem nunmehr vollendeten Werke beizuwohnen. An der Ausführung desselben betheiligten sich eine Reihe der namhaftesten Künstler aus dem benachbarten Leipzig und Weimar, unter ihnen der gefeierte Meister Liszt, welcher dem der Vollendung entgegenreifenden Kunstbau schon längere Zeit hindurch mit dem lebhaftesten Interesse gefolgt war, mit einer Composition, die den Reichthum neuer, wunderbar schöner Klangfarben der Orgel in ein glänzendes Licht hob. Es stellte sich während des Musikfestes – denn zu einem solchen war die Feier durch die überraschend große Theilnahme gediehen – unter den vielen anwesenden Künstlern sehr schnell das allgemeine Urtheil dahin fest, daß hier wirklich neue Bahnen geöffnet, die alte Starrheit des Orgeltons, die der Herrschaft des Papstthums ähnlich, hier völlig gebrochen, an seine Stelle die anschmiegende Weichheit, welche bis dahin nur dem Orchester eigen gewesen, getreten war. Dies trat besonders zu Tage in der Verbindung der Orgel mit der Zaubergeige Eduard Singer’s, in dem Vortrage geistlicher Sologesänge, zu deren Begleitung der Orgelton bisher so ungelenk war, in der spätern Verbindung des Werkes mit Violoncell und Waldhorn, in dem glänzenden Ensemble von Sopran-Solo, Cello, Orgel und Harfe etc., und endlich in der majestätischen Totalwirkung des vollen Werkes, das bei aller Großartigkeit und Fülle des Tons den höchsten Adel bewährt und nie betäubend wirkt.

Diese Eigenschaften der Intonation sind es denn auch hauptsächlich, die den bedeutenden Fortschritt der auf Silbermann’schen Principien ruhenden Ladegast’schen Orgelbaukunst kennzeichnen. Bei aller Hochachtung für den Altmeister Silbermann und seine zum Theil noch in Jugendfrische erklingenden Werke muß es doch gesagt sein, daß keine Kunst der Registratur im Stande ist, ihnen eine solche Fülle wahrhaft poetischer und musikalisch durchaus neuer Klangfarben abzugewinnen, als hier geboten werden. Und diese Eigenschaften der Merseburger Domorgel haben denn auch ihre Anziehungskraft dauernd bewährt. Während Orgelvirtuosen in der Regel vor leeren Bänken oder einem keinen Kreise eingeladener Kunstfreunde spielen, sind die seit acht Jahren fortgesetzten Merseburger Orgelconcerte im eigentlichen Sinne des Wortes populär geworden. Die ersten Virtuosen und Sänger haben sich gern daran betheiligt. Sie sowohl als das kunstliebende Publicum kamen von nah und fern herbei, und gaben den Concerten stets einen festlichen Charakter.

Wichtiger jedoch als das ist die Bedeutung, welche die Ladegast’schen Orgeln für den Gottesdienst haben. Ein Geistlicher verglich einmal in einer Weihrede die Bestimmung der Orgel im Gottesdienste mit der bahnmachenden Thätigkeit des Täufers Johannes, der da spricht: „Bereitet dem Herrn den Weg! machet seine Stege richtig.“ –

Unsers Meisters Werke erfüllen diesen Beruf; sie können, durch den rechten Geist des Organisten beseelt, mehr sein als ein „tönendes Erz und eine kingende Schelle“; sie können in ihrer geheimnißvollen Sprache predigen, den Sturm des Herzens beschwichtigen, ihm Trost und Ruhe geben, sie können dem Worte Gottes den „Weg bereiten“. – Auch ist der gute Einfluß dieser Werke auf das Streben der Kunstgenossen des Meisters, der sich in hiesiger Gegend zeigt, ganz unverkennbar. – Sachsen ist seit Silbermann immer das gelobte Land der Orgeln gewesen. Diesen alten Ruhm scheint es zur Zeit erneuern und auch für die Zukunft befestigen zu wollen. Es kann kaum in irgend einem Theile Deutschlands jetzt ein so rühriges Leben in Beschaffung guter

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Die neue Orgel in der Nicolaikirche zu Leipzig.

[94] Werke für Kirchen zu finden sein, als hier, wo mit Ladegast sich noch eine Zahl sehr tüchtiger Meister zu bedeutendem Schaffen vereinigen, und unser Meister selbst in der jüngst vollendeten großen Orgel zu St. Nicolai in Leipzig einen neuen glänzenden Beweis seiner hohen künstlerischen Vollendung gegeben hat.

Nach den geschilderten Vorgängen in Merseburg konnte es nicht fehlen, daß der Stadtrath des benachbarten Leipzig bei dem in Aussicht genommenen Neubau der obigen Orgel Ladegast in’s Auge faßte. – In kaum drei Jahren hat die rüstige Thatkraft des Meisters diese Riesenorgel vollendet. Dieselbe hat, wie die heutige Abbildung der Gartenlaube zeigt, einen höchst imposanten Prospekt von einer Breite von 74 Fuß, in welchem ein Principal 32 Fuß und zwei dergleichen 16 Fuß von englischem Zinn stehen, ohne die kleineren, zur Ausfüllung dienenden Principale. Die größte Zinnpfeife, das tiefe (große) Contra-E[10] (32 Fuß) wiegt allein drei Centner.

Gespielt wird das Werk auf vier Manualen (Claviaturen nebst zugehörigen Pfeifen, Registerzügen. etc.) im Umfange vom großen C bis zum dreigestrichenen f und auf einem Pedal (Tastatur für die Füße), dessen Töne in Noten vom großen C bis zum kleinen f[11] zu bezeichnen sind. Diese Manuale kann man in mehrfacher Weise koppeln (d. i. durch einen Registerzug derart verbinden, daß durch Spielen auf einer Claviatur auch die nicht gespielten Alles mit vortragen): 1) durch drei „Wippen“-Koppeln kann jedes der Manuale mit dem Hauptwerke verbunden und von hier aus mit gespielt werden; 2) durch eine Gesammtkoppel kann vom untersten, dem Spieler zunächst gelegenen Manual aus gleichfalls das volle Werk gebraucht werden, und zwar vermittelst einer „pneumatischen“ (auf Winddruck beruhenden) Maschine, mit einer Leichtigkeit, als wenn man einen Concertflügel spielte. Sind alle Register im Gange, so können 3, durch 10 über dem Pedale angebrachte Metalltritte, die nur mit der Fußspitze leicht berührt zu werden brauchen, um ihre Wirkung zu thun, ganze Gruppen klingender Stimmen zum Schweigen gebracht, und so ein schnelles Verschwinden und Wiederanwachsen des Tons bewirkt werden. Es kann dies während des Spielens geschehen; auch bleiben sämmtliche Registerzüge dabei unberührt. – Es ist dies eine Einrichtung der höchsten mechanischen Vollkommenheit, wie denn überhaupt dieselbe sich über das ganze Werk, über alle Theile des Mechanismus erstreckt. – Auf die vier Manuale der Orgel sind die Stimmen dergestalt vertheilt, daß zum Hauptwerke 21, zum Oberwerke 10, zum Brustwerke 13, und zum Echowerke 13 gehören. Das Pedal hat 19 klingende Stimmen und 2 Koppeln, im Hauptwerk und Oberwerk. Mit Einschluß der 15 Nebenzüge hat das Werk im Ganzen 100 Registerzüge.

Die Disposition ausführlich mitzutheilen dürfte hier zu weit führen; es genüge die Bemerkung, daß der Baumeister auch in dieser Beziehung etwas durchaus Mustergültiges geliefert hat. Bei dem Reichthum derselben umfaßt sie Alles, was die alte und neue Orgelbaukunst aufzuweisen hat: von der klagenden vox humana bis zur donnernden Weltgerichtsposaune; von der winzigsten Mixturpfeife, gegen die ein Maikäfer ein wahrer Koloß ist, bis zu ihrem drei Centner schweren Urgroßvater, der seinen reichen Familiensegen nach Tausenden zählt. Hier fehlt kein Glied der großen Familie. Ihren Hauptgruppen nach zerfällt die Disposition in 15 Prinzipalstimmen, 28 Flötenregister, 11 Gambenstimmen, 9 Mixturen, 8 Quinten, 4 Terzen, eine kleine Septime, 5 aufschlagende und 5 durchschlagende Rohrwerke, mit einer Gesammtzahl von 5367 Pfeifen[12] – diese letzteren stehen auf 23 Windladen, für die 12 große Cylinderbälge den erforderlichen Wind geben. Außerdem hat die Orgel noch 5 Ausgleichungsbälge.

Auch für die oben erwähnte pneumansche Maschine ist das System der Cylinderbälge nach einer von Ladegast neu erfundenen Methode hier zum ersten Male in Anwendung gebracht worden, sowie denn überhaupt mancherlei sinnige Einrichtungen und Erfindungen des Meisters in dem Werke enthalten sind, deren genaue Beschreibung mehr die Sache der Fachblätter sein dürfte.

Der Charakter der Ladegast’schen Intonation wurde oben bereits im Allgemeinen bezeichnet. Es mag hier noch etwas Specielles über die Nicolai-0rgel zu Leipzig folgen. Eine jede Stimme, einzeln gehört, zeugt davon, daß ihr Meister vorzüglich zu charakterisiren versteht, daß er jedoch diese Seite seiner Kunst nur so weit verfolgt, als es sich mit dem höchsten Wohllaut, dem Geschmack eines feingebildeten Tonsinns vereinbaren läßt. Die Grenze des wahrhaft Schönen wird nie überschritten. Deshalb findet sich hier nichts Manierirtes, wie es bei so vielen modernen Orgeln – auf die ich später zurückkomme – der Fall ist. Die alte Starrheit und Herrschsucht des Tones nähert sich vielmehr dem orchestralen Charakter, dem von Menschenhauch beseelten Chor von Bläsern[13]. Man höre z. B. die durchschlagenden Rohrstimmen Oboe und Fagott, im Verein mit den milden Flötenklängen, und man wird zugeben müssen, daß solche Klänge ganz geeignet sind, uns in eine liebe, weihnachtsfrohe Stimmung zu versetzen. Andererseits spricht sich in Verbindung der „Flöten“ mit den dumpferen Farbentönen, dem ängstlichen Beben, dessen die Orgel fähig ist, eine rührende, eindringliche Klage aus, wie sie einer Charfreitagsstimmung den vollen Ausdruck giebt.

Ich habe das Wort „Stimmung“ gebraucht. Die Bedeutung desselben für die Sprache der Töne will ich hier nicht erörtern, jeder gebildete Kunstfreund kennt sie. Bei den größern Werken Ladegast’s, und besonders bei dem in Rede stehenden, ist die Möglichkeit gegeben, den mannigfachsten religiösen Stimmungen den präzisesten Ausdruck zu geben. Soviel über dieses Werk, das am 16. November 1862 zum ersten Male im Dienst des Allerhöchsten gespielt wurde. Eine besondere musikalische Festlichkeit, zu welcher dies vollendete Kunstwerk nicht weniger geeignet ist, als die Merseburger Orgel, hat in der Musenstadt Leipzig an demselben Tage nicht stattgefunden.[14]

Es wurde Eingangs darauf hingewiesen, welche Umstände zur Zeit Silbermann’s auf die schnelle Verbreitung seines Ruhmes günstig einwirkten. Bei Ladegast waren es andere Verhältnisse, die ihm nicht minder schnell die allgemeinste Anerkennung erwarben. Eine so grenzenlose Pfuscherei, wie sie vor hundert Jahren und neben Silbermann bestand, existirt heute Gott Lob nicht mehr. Damals besaß die protestantische Kirche neben der Orgel aber noch einen anderen Schmuck, der ihr heute abhanden gekommen ist: die Kirchenmusik. Alle mittleren Städte hatten früher ihre kirchlichen Gesangchöre, und wenn diese auch nicht immer Muster von Kunstinstituten waren, so gab es doch deren ganz vortreflliche. Die Schätze protestantischer Kirchenmusik jener Zeit erregen noch heute unsere aufrichtige Bewunderung. Unsere heutige Kirche ist in dieser Beziehung am Bettelstabe. Der Strom einer nüchternen, prosaischen Periode hat die herrliche Gesangkunst aus der Stätte ihres Ursprunges, der Kirche, hinausgeschwemmt. Jetzt fühlt man diese Lücke. Die große Einfachheit der heutigen Form des protestantischen Gottesdienstes strebt nach einem Ersatz, und dieses Streben äußert sich erkennbar in dem Aufschwunge der Orgelbaukunst innerhalb dieser Kirche. So große und vollkommene Werke, als in den letzten Decennien entstanden, gab es früher überhaupt nicht. Es ist, als ob die Orgel den abhanden gekommenen Schmuck der Kirchenmusik ersetzen, resp. übertragen solle.

In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nahm der Orgelbau einen eigenthümlichen Charakter an. Man forcirte damals den Ton und entwickelte oft mit wenigen Stimmen eine große Kraft. Das gefiel den Leuten eine Zeit lang und wurde sogar Mode. Doch wie alles Unschöne sich schnell überlebt, so geschah es auch hier. Die Rohheit des Tones konnte sich nicht lange behaupten; man nannte solche Instrumente mit Recht „Brüllorgeln“.

Wie wir bereits sahen, schlug Ladegast den entgegengesetzten Weg ein. Seine gehobene Künstlernatur appellirte an den besseren Geschmack unserer Tage. Er belebte seine Werke durch wahrhaft herzerhebende Klänge. An die Stelle der rohen Kraft trat die ideale Seite des Tons und zündete – zündete tief und nachhaltig. Dieser [95] Umstand war es, der mit einem Schlage die Künstlerwelt für sich gewann, der zahlreiche Kunstfreunde herbeizog, die zur schnellen Verbreitung seines Ruhmes beitrugen. Von nah und fern, „soweit die deutsche Zunge klingt,“ und darüber hinaus, aus Amerika, liefen Aufträge zu Orgelbauten ein, die natürlich nur zum Theil befriedigt werden konnten. Indeß was Ladegast dennoch in einer verhältnißmäßig kurzen Zeit geleistet, mag ein Vergleich darthun.

Silbermann erreichte ein hohes Alter. Die meisten seiner sechsundvierzig Werke, die er überhaupt schuf, sind von kleinem, oder nach heutigen Begriffen, von mittelmäßigem Umfange. Nur drei derselben haben drei Manuale nebst Pedal. Unter diesen zählt sein letztes Werk in der katholischen Hofkirche zu Dresden nur 46 Stimmen.[15]

Ladegast steht zur Zeit in seinem 43. Lebensjahre. Im Herbst 1849 sah ich sein erstes, im Herbst 1862 bereits sein sechsunddreißigstes Werk. Gewiß, eine staunenswürdige Thätigkeit, wenn man erwägt, daß 15 derselben ein Manual, 15 zwei Manuale, 4 drei Manuale, die obigen Riesenwerke aber 4 und 5 Manuale nebst Pedal haben, und daß sie alle von einer Sorgfalt zeugen, die derjenigen seines berühmten Vorgängers um keinen Deut nachsteht und hinsichtlich der Dauer nicht nachstehen wird.

Wenn Gott diesem thätigen Manne auch die Gnade eines so hohen Alters erweist wie Silbermann, der im 70. Lebensjahre starb, so dürfte es wohl möglich sein, daß ihm später eine gleiche Popularität zu Theil wird und kommende Geschlechter, wenn von guten Orgeln die Rede ist, mit der Frage bereit sind: „Ist die Orgel von Ladegast?“ –

D. H. Engel.


Blätter und Blüthen


Der Taranteltanz. Während meines mehrjährigen Aufenthaltes in Spanien und besonders in den südlichen Provinzen Murcia und Andalusien habe ich vielfach Gelegenheit gehabt, den Taranteltanz zu beobachten, und die von dem Insect gebissenen Personen auch tanzen sehen. Nur verhält sich die Sache etwas anders, als nicht naturwissenschaftlich Gebildete anzunehmen pflegen.

Die Tarantel (Lycosa tarentula) ist eine einen Zoll lange Spinne mit rothem Bauch und schwarz geflecktem Nacken. Sie findet sich im ganzen südlichen Italien, Spanien und der Berberei. Sie hat, die Größe abgerechnet, das Aussehen der Hausspinne. Ihre Brust sieht aus wie Schildkrot. Die Augen aller anderen Spinnen sind hart, schwarz oder roth, die der Tarantel aber weich und fallen nach dem Tode zusammen, gelblich weiß, glänzend und funkelnd, wie die Augen der Katze bei Nacht. Vier stehen im Viereck und vier kleinere in einer geraden Linie am vorderen Rande der Stirn. Sie gräbt in lehmigen, sumpfigen Boden senkrechte Höhlen, welche sie ganz ausfüllt. Man fängt sie dadurch, daß man einen Stroh- oder Grashalm in ihre Höhle steckt und sie damit kitzelt, worauf sie augenblicklich in denselben beißt und sich so verbeißt, daß man sie damit herausziehen kann. Hauptsächlich ist sie des Nachts thätig und geht dem Fange von Insecten nach. Daß sie auch andere Thiere umbringen soll, ist mir nicht bekannt. Die Tarantel ist leicht reizbar und gleicht in dieser Beziehung dem Scorpion, wird auch in Spanien nebst dem Scorpion weit mehr als alle stechenden Kerbthiere gefürchtet.

Dem Biß der Tarantel folgt ein heftig stechender Schmerz, ähnlich wie dem Bisse einer Hornisse oder Wespe. In kurzer Zeit schwillt der gebissene Theil an, wird roth, die Röthe dunkler und geht zuletzt in Blauroth über. Der Schmerz hält ungefähr zwölf Stunden an, geht aber ohne weitere Folgen vorüber. Gestorben ist noch Niemand davon.

Noch heutigen Tages ist der Aberglaube bezüglich des Taranteltanzes in Spanien, sowohl unter Vornehmen als Geringen, allgemein verbreitet. Die Leute sagen, der von einer Tarantel Gebissene müsse tanzen, er möge wollen oder nicht; und sobald jemand gebissen wird, ruft man einige Musikanten mit Guitarren herbei und läßt sie den Tanz, welchen man Tarantela nennt, spielen. Der Kranke wird aufgefordert zu tanzen, die Musiker spielen den Tanz immer rascher und rascher, und der unglückliche Tänzer macht verzweifelte Sprünge, bis er zuletzt, in Schweiß gebadet, ermüdet hinsinkt.

In der Provinz Murcia hatte ich zuerst Gelegenheit, einen derartigen Taranteltanz mit anzusehen. Der Mann war vor ungefähr einer halben Stunde von der Tarantel gebissen worden. Je eifriger er tanzte, um so aufmunternder erschallten die Beifallsbezeigungen und Aufforderungen der Zuschauer. Ich rief den Kranken zu mir heran, und er leistete ohne Weiteres Folge. Ich unterbrach also seinen Tanz, ohne weitere Folgen, ganz willkürlich. Ich besah mir die gebissene Hand, und da ich beständig etwas Salmiakgeist bei mir führte, so machte ich, ohne ihn weiter zu fragen, einen kleinen Kreuzschnitt in die Geschwulst und rieb ihm etwas Ammoniak ein. Der auf die Operation folgende Schmerz ließ ihn noch einige, wenn auch nicht gerade Tanzsprünge machen, dann aber setzte er sich ruhig hin, und in kurzer Zeit waren die Schmerzenssymptome, sowohl die des Bisses, als die der Operation, verschwunden.

Durch noch einige wiederholte derartige Operationen kam die Tarantela bei dem Landvolke der Provinz Murcia in kurzer Zeit in Mißcredit. Man überzeugte sich bald, das die agua fuerte des deutschen Arztes ganz andere Wirkungen äußere, als die Musik, und zog bald die vernünftig angewandte Arznei dem Mittel vor, welchem nur durch Ueberlieferung des Aberglaubens Jahrhunderte lang sich erhalten hat. Die sogenannten Gebildeten, d. h. die Leute, welche sich zu den Vornehmen zählen, ließen sich freilich von ihrem theurem Wahn nicht so schnell abbringen und widersprachen hartnäckig den Erzählungen, welche ihnen die durch mich Geheilten machten. Auch einige der hochstudirten Señores medicos konnten sich nicht entschließen, an jene neue Heilmethode zu glauben. Sie versicherten, daß das Ammoniak wohl bei Schlangenbissen und Insektenstichen wirksam sei, dagegen aber beim Bisse der Tarantel sicher nichts helfe; da gebe es nur ein einziges Mittel, und dieses wäre eben die Musik und möglicherweise auch das durch den in der glühenden Sonne abgehaltenen Tanz hervorgerufene Schwitzen des Leidenden. Ob diese Herren den Grundsatz unserer Homöopathen „mundus vult decipi“ theilten, oder ob sie, wie diese, von naturgemäßer Behandlung keinen Begriff haben, lasse ich dahingestellt. Uebrigens will ich bemerken, daß auch die wirklichen oder sogenannten Homöopathen, welche Spanien beglücken, bei Tarantelbissen Musik anstatt ihrer sonst gebräuchlichen „Nichtse“ verordnen. Ich theile dies hauptsächlich aus dem Grunde mit, weil ich Herrn Sanitätsrath Arthur Lutze in Cöthen und seine Glaubensgenossen auf dieses von Herrn Medicinalrath Dr. Larius in Madrid, früheren Postsecretair, besonders in Schwung gebrachte Heilmittel aufmerksam gemacht haben will, da es ja doch in Deutschland alle zehn Jahre einmal vorkommt, daß wenigstens ein von der Kreuzotter Gebissener in die Hände der betreffenden Herren Homöopathen fällt. Vielleicht könnte Herr Sanitätsrath Arthur Lutze durch Musik noch größere Wunder bewirken, als durch den in Kisten eingepackten und 20–30 Meilen versandten „starken Willen“.

Dr. med. R. Brehm.


Eine höchst merkwürdige elektrische Erscheinung. Die feuchte Luft ist bekanntlich ein guter Leiter für die Elektricität, und daher gelingen z. B. auf Cayenne in der so feuchten Luft elektrische Versuche fast gar nicht. Da nun im größten Theile der nordamerikanischen Freistaaten die Luft sehr trocken ist, so zeigen sich dort die auffallendsten elektrischen Erscheinungen. Geht man z. B. in New York mit schleifenden Füßen auf dem mit Teppichen belegten Fußboden der durch Luftheizung erwärmten und ausgetrockneten Zimmer, so wird der Körper so elektrisch, daß von ihm auf die berührten Thürklinken oder auch auf eintretende Personen Funken überspringen und daß leichte Kleider, die man trägt, benachbarten Gegenständen sich nähern. Es ist daher auch möglich, daß Personen durch die atmosphärische Elektricität in einen elektrischen Spannungszustand versetzt werden, in welchem sie eine große Reizbarkeit und Exaltation zeigen, so daß sie bisweilen unzurechnungsfähig erscheinen.

Professor Loomis in New-York hat darüber eine Reihe interessanter Thatsachen gesammelt, aber den merkwürdigsten Fall theilte mir kürzlich ein Freund, der Chef-Redakteur des New-York Demokrat und Direktor der deutschen Hoboken-Akademie, Herr Dr. Douai, in folgender Weise mit: „An einem der letzten Tage (4. August d. J.) schlug hier während einer ziemlich stillen, mehr wetterleuchtenden Gewitterentladung der Blitz in das Haus eines meiner Bekannten auf Staten-Island, aber ohne zu zünden. Die Familie saß beim Abendbrode, als der betäubende Schlag erfolgte und die Familienglieder eine Feuerkugel sich um einen Zinnkrug auf dem Tische schlängeln sahen. Die Hausfrau war getroffen worden. Sie war zwar auffällig ruhig und gefaßt, zeigte auch keine Spur von Verletzung, aber Tages darauf begann sie zu klagen. Ihre Verdauung war gestört und sie war in einer solchen elektrischen Spannung, daß, so oft man sie berührte, elektrische Schläge von beiden Theilen empfunden wurden. Ihre Hoops (Reifrock) verursachten ihr heftige Schmerzen, besonders beim Entfernen derselben. Es konnte nur ihr Schwager sie anrühren, ohne ihr Krämpfe zuzuziehen, und wenn er ihre Hand in der seinigen hielt, schlief sie allmählich ein. Als der Arzt, ein kräftiger, energischer Mann, wenige Schritte vom Bette entfernt und ihr den Rücken zukehrend, eine Medicin in einer Schale umrührte, empfand er und sie einen heftigen elektrischen Schlag. Am dritten Tage starb sie im Augenblicke des Aderlasses an einem kurzen Krampfanfalle. Die Luft war auch mehrere Tage nach dem Blitzschlage noch fortwährend elektrisch gespannt und gewitterhaft.

Nach meiner Ansicht hätte die Kranke nichts retten können, als der häufige Gebrauch von warmen Bädern, um durch das gut leitende Wasser den elektrischen Spannungszustand ihres Körpers, welcher dem regelmäßigen Stoffwechsel bei der organisch-elektrischen Thätigkeit entgegenwirkte, zu vermindern und endlich aufzuheben.

Ph. Spiller.


Eine deutsche Bocksbeutelei. Es war nach den Befreiungskriegen, als der Kampf gegen das aus dem Französischen verderbte Wort Mamsell losbrach. Die Tochter anständiger bürgerlicher Familien ließen es sich wohl gefallen, nicht mehr Mamsells, sondern Fräulein genannt zu werden, nur die Junker und ihr Anhang widersprachen; sie meinten, anständige [96] bürgerliche Mädchen könnten höchstens beanspruchen, daß das Wort Jungfer oder Jungfrau ihrem Namen vorgesetzt werde. Aber wer nicht blind war, konnte schon vor vierzig, funfzig Jahren sehen, daß nicht mehr der bloße Adel, sondern lediglich die höhere Geistesbildung den höhern Schichten der staatsbürgerlichen Gesellschaft beigezählt zu werden berechtigte. – Wenn wir nun vor mehr als vierzig Jahren das Bastard-Wort Mamsell aus unserer herrlichen Sprache ausmerzten, sollte es da nach Verlauf eines Schwabenalters nicht an der Zeit sein, das Wort Madame ebenso abzuwerfen? Sollte nicht jede verheiratete Deutsche sich damit hinreichend geehrt finden, wenn ihrem Namen das schöne deutsche Wort Frau vorgesetzt wird? meinetwegen in manchen Fällen noch verziert mit dem Beiwort gnädig, obwohl es an der Zeit wäre, auch dies in den meisten Fällen jedes Sinnes baare Wort als abgestorben anzusehen, gleich den leidigen Wörtern wohl-, hoch- und wohl-, hochwohl-, hoch- und wer weiß wie noch geboren. Doch nun zu der eigentlichen Bocksbeutelei!

Unsere Frauen lassen sich schon längst das Wort Frau gefallen, aber doch mit einem – oft über alle Begriffe abgeschmackten – Zusatz, als: Frau Doctor A., Frau Director B., Frau Regierungsrath C., Frau Forstmeister D. etc. Abgeschmackt sind diese Zusätze, weil sie unwahr sind, denn Frau General E., Frau Amtmann F. etc. ist der weibliche General E., der weibliche Amtmann F., oder Frau Kreisphysikus G. ist die zum Kreisphysikus ernannte Frau G. – Die Sache wird auch nicht besser, wenn man Frau Generalin E., Frau Amtmännin F., Frau Lieutenantin M. etc. sagt, und man kann sich dabei durchaus nicht auf die Ausdrücke Frau Prinzeß (Prinzessin) Georg, Frau Fürstin Liegnitz, Frau Gräfin Hahn, Frau Baronin Staël etc. beziehen; denn die Frau Prinzessin G. ist die geborene (oder dazu erhobene) Fürstin, welche die Frau des Prinzen G. geworden ist; ebenso ist es mir der Frau Fürstin, Frau Gräfin etc. und allen andern von der Geburt oder dem Stande abhängigen Titelwörtern; aber die Frau des Doctor N. ist weder durch Geburt noch durch Promotion die Frau Doctor oder Doctorin, noch weniger die Frau Doctern; vielleicht ist auch der Herr Doctor nur gekauft.

Man meine nicht, daß es selber eine Bocksbeutelei sei, gegen diese im ganzen Volke gang und gäbe Benennung solcher Frauen, die an betitelte Männer verheirathet sind, zu kämpfen; denn geben die Frauen erst nichts mehr auf Titelworte, so werden sich auch die Männer schämen, nach Titeln, Orden, Standeserhöhungen – was ja oft den Frauen zu Gefallen erst geschieht – zu haschen. Das steht doch fest, die kommenden Geschlechter werden nur und am nachhaltigsten von ihren Müttern, also von Frauen erzogen; haben also unsere Frauen durch und durch deutsche, edle, einfache Sitten sich eingelebt, so werden auch die künftigen Männer deutscher, edler und einfacher sein. und nun noch Eins! Wenn man eine anständige Gesellschaft, die aus Frauen und Männern besteht, anreden will, so klingt die Anrede: geehrte Frauen und Herren! jedenfalls besser, als: meine Damen und Herren!

Dixi.


Ein Seitenstück zu „Rothschild’s Jagd“. Fast die gesammte Presse des cultivirten Europas schenkte der großen Jagd, welche der französische Börsenkönig seinem Kaiser veranstaltete, eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit. Die französischen Journale wußten nicht genug Worte zu finden für die Pracht, welche Rothschild bei dieser Gelegenheit entfaltete, und für die Leutseligkeit, mit welcher ihm ihr Kaiser begegnete. Die englischen Blätter ergossen sich in beißendem Witz, und die deutschen belächelten und bespöttelten – den gastfreien Juden. Gerade der deutschen Presse, gerade die reactionären Blätter der preußischen Metropole fehlt alles Recht, solche zur Ehre des Regenten gegebene Feste für ihre Zwecke zu benutzen, gerade sie sollten auf die Geschichte ihres Königshauses zurückblicken, dann würden sie finden, daß die preußischen Könige, die alten Stammhalter des preußischen Regentenhauses, es nicht verschmähten, sich von ihrem Juden fètieren zu lassen. Freilich ist noch ein himmelweiter Unterschied zwischen der Rothschild’schen „Jagd“ und den Fèten der Berliner Juden. Rothschild lud Napoleon freiwillig zum Jagen ein; die preußischen Könige meldeten sich ungebeten bei ihren Juden und nöthigten dieselben zu einem Aufwand, den sie sonst wohl füglich hätten bleiben lassen.

Das Fest, welches wir als Seitenstück zur Rothschild’schen „Jagd“, unseren Lesern vorführen wollen, versetzt uns in die preußische Hauptstadt und in das letzte Lebensjahr des zweiten preußischen Königs, Friedrich Wilhelm I. Er war bekanntlich nicht nur ein ausgemachter Gegner alles Aufwandes, sondern sogar von einer Sparsamkeit besessen, die oft an’s Unglaubliche grenzte, wie sich das namentlich aus seiner Korrespondenz mit seinem „ungerathenen“ Sohne, dem großen Friedrich, deutlich ergiebt. Freigebig war er nur, sobald es sein Heer betraf – um dieses so glänzend wie möglich aufmarschiren zu lassen, scheuete er die größten Summen nicht und war ihm keinerlei Steuer zu hoch – wenn es darauf ankam, gekrönten Häuptern zu imponiren. Um sich und seinem Hofe eine Kurzweil zu verschaffen, wurde die Berliner Judenschaft in Contribution gesetzt: auf besonderen Befehl mußte in dem in der Spandauer Straße gelegenen Hause des bekannten Juweliers und Münzmeisters Veitel Ephraim am 7. Januar 1740 ein großes Fest stattfinden. Kommt der bei dieser Gelegenheit „auf höchsten Befehl“ entfaltete Luxus dem der Rothschild’schen Jagd auch nicht gleich, so müssen die Verhältnisse und Persönlichkeiten, der hohe Gast und der einäugige Gastgeber in Betracht gezogen werden. Soviel ist gewiß, Ephraim hatte Alles prächtig arrangirt. Das Haus war zu beiden Seiten mit kostbaren Teppichen behangen und das Innere desselben gleichsam in einen türkischen Bazar verwandelt. In dem einen Zimmer hatten verschiedene jüdische Kaufleute allerhand Brabanter Spitzelt feil, in einem andern waren Galanteriewaaren ausgelegt; dem gegenüber befand sich ein Saal mit reichen französischen Stoffen. In einem vierten Zimmer hatte der Juwelier selbst mit Juwelen seinen Stand. Von da trat man in zwei Säle, von denen der eine mit reichgestickten Kleidern, der andere mit feinen und seltenen Schildereien aus Italien und Holland ausgeputzt war. Vom Eingang des Hauses bis zum Ende des großen Hofes waren die Fußböden mit prächtigen Brabanter Tapeten belegt, die Wände mit Orangerien bekleidet und mit vielen hundert Lampen und Lichtern illuminirt. Auf dem Hofe zur rechten Hand waren die Zimmer zur „unterthänigsten“ Aufwartung für die königlichen Herrschaften kostbar meublirt. Nachmittags gegen 3½ Uhr gelangte die königliche Familie in Begleitung der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Herrschaften und vieler Standespersonen vor Ephraim’s Haus, an dessen Eingänge sie von dem „riesenhaften“ Juden und seinen galanten Söhnen empfangen wurden. Nachdem sie einige Erfrischungen angenommen hatten, schritten sie zur Besichtigung der für sie ausgelegten Kostbarkeiten und geruhten einige als Geschenk huldvoll entgegen zu nehmen, andere durch Kauf an sich zu bringen. Sodann wohnten die hohen Herrschaften einer Festlichkeit bei, welche von Ephraim „auf besondern Befehl“ seiner Gäste mit dem königlichen Besuche in Verbindung gebracht worden. Es war die eheliche Verbindung eines von dem reichen Ephraim erzogenen jüdischen Waisenpaares. Die Trauung fand nach damaligem Gebrauch auf freiem Hofe unter einem mit Silber und Gold gewirkten Trauhimmel statt. Nach beendeter Feier begann der Tanz der jungen Leute, dem die „höchste Gesellschaft“ noch einige Zeit zuschauten und sich dann nach Hofe zurück begaben.

Dieses Fest wurde von der königlichen Familie gewiß schneller vergessen, als die Jagdlust des Königs von den Juden. Friedrich Wilhelm war ein besonderer Freund der Sauhetze. Im Jahr 1729 wurden allein in der Mark und in Pommern 3602 wilde Schweine erlegt. Bei seinem Geize wollte er seine Beute auch versilbern und kam daher auf den originellen Einfall, der Judenschaft eine große Menge wilder Schweine zuzutheilen. Da er wußte, daß die Juden ihrem Religionsgesetze zufolge sich des Genusses des Schweinefleisches enthielten. so verordnete er zugleich, nach erfolgter Zahlung das Wild an die Armenhäuser und das große Hospital zu schicken.

M. K.
Kleiner Briefkasten.

A. in W. Der „Hermann“ erscheint wöchentlich in London und verdient Ihre Sympathien vollständig.


  1. Unter dem Nachlaß dieses schon im Jahre 1840 in der Blüthe der Mannesjahre gestorbenen liebenswürdigen Dichters fand sich die obige noch ungedruckte Novelle, die, als eine letzte Gabe desselben, der nicht geringen Zahl seiner Verehrer sicher willkommen sein wird.
    D. Red.
  2. Diminutiv von baffi, Schnurr- und Knebelbart.
  3. Lump.
  4. So mußt’ es kommen!
  5. Papetto, ein 2 Paulstück, von denen 5 auf einen Scudo romano gehn.
  6. Baumwollener Gurt der Römer niedrer Stände und des Landvolks.
  7. Maggior duomo, der Aelteste unter der Dienerschaft.
  8. Rückert ist nicht, wie bisher angenommen und verbreitet worden, im Jahre 1789, sondern schon 1788, bekanntlich in Schweinfurt, geboren. – Unser Portrait Rückert’s ist allerdings schon vor zwanzig Jahren gezeichnet, aber es ist das beste vorhandene und von der Hand seines Freundes und Gevatters Karl Barth, eines Mannes, der sich als Kupferstecher, Zeichner und Dichter Ruf erworben und zu den Menschen gehörte, die, um ihres großen innern Werths willen, sich auch durch nur wenige Werke unvergeßlich machen. Eine vortreffliche Büste Rückert’s besitzen wir von dem Bildhauer Ernst Conrad in Hildburghausen.
  9. Rückert’s Thätigkeit auf diesem Felde verdient eine eingehendere Behandlung, als wir in dem obigen Artikel ihr widmen könnten. Wir werden der Darstellung derselben deshalb in einem Artikel über die Dichtkunst des Morgenlandes einmal einen besondern Raum bieten.
    D. Red.
  10. Bekanntlich wird die ganze umfangreiche Tonreihe in verschiedene Ortaven getheilt, welche von unten nach oben die Namen: große Contra-, Contra-, große, kleine, eingestrichene, zwei-, drei- und viergestrichene Octave führen.
  11. Die Merseburger Domorgel hat den Tonumfang vom großen C bis zum dreigestrichenen g, außerdem am Rückpositiv noch ein fünftes Manual und selbstständiges Pedal, mithin im Ganzen fünf Manuale und zwei Pedale.
  12. Die Merseburger Domorgel hat deren 5686 und 37 Stahlstäbe, mithin 5723 klingende Körper.
  13. Professor Töpfer in Weimar, den ich für den intelligentesten Orgelkenner halte, war zur Privatbesichtigung dieser Orgel in Leipzig und äußerte über die Intonation: „das ist mir allerdings ganz was Neues.“
  14. Wohl aber einige Wochen später ein von bedeutenden einheimischen und auswärtigen musikalischen Kräften unterstütztes Concert, welches in dem musikübersättigten Leipzig eine so unerhörte Theilnahme fand, daß Hunderte vor den Thüren zurückgewiesen werden mußten.
    D. Red.
  15. Silbermann’s 46. und letzte Orgel mit eben so viel Stimmen, wurde ihm mit 20,000 Thaler bezahlt. Ein noch heute beispiellos hoher Preis, ganz abgesehen von der seit 100 Jahren erfolgten Entwertung des Geldes. Ein Vergleich mit der Summe, welche für Ladegast’s 85stimmige Nicolai-Orgel in Leipzig contractlich festgestellt ist, würde dies überraschend beweisen, wollte ich die Indiscretion so weit treiben.