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Die Gartenlaube (1863)/Heft 5

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[65]
Der Ring des Salomo.
Prolog zu Lessing’s „Nathan der Weise“.
Von Ludwig Storch.


Tief aus des Ostens heil’ger Morgenfrühe
Tönt eine Sage, wie aus Kindermund,
Und doch voll hohen Sinns uralter Weisheit
Und Gleichniß der Entwicklung unsres Geistes:

5
Das Märchen von dem Ring des Salomo.

Des Ringes werden wir noch heute froh.

An diesen Ring – so flüstert das Gedicht –
Gebunden war der Weisheit höchster Schatz
Und ob der Geisterwelt gewalt’ge Herrschaft.

10
Der Siegelring des weisen Königs war

Der Talisman, der jedes Uebel abhielt
Und seinem Herrn zur größten Macht verhalf.
Denn der verstand nicht nur der Vögel Wort;
Der Dichtung Zauber und der Weisheit Hort,

15
Der Liebe Süße und der Eintracht Segen,

Sie haben – sagt man – in dem Ring gelegen.

„Auch hatt’ er die geheime Kraft, vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder,

20
Daß ihn der weise König darum nie

Vom Finger ließ und die Verfügung traf,
Auf ewig ihn bei seinem Hause zu
Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring
Von seinen Söhnen dem Geliebtesten

25
Und setzte fest, daß dieser wiederum

Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,
Der ihm der liebste sei, und stets der liebste
Ohn’ Ansehn der Geburt, in Kraft allein
Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde.“

30
Nun werdet ferner ihr aus Nathan’s Munde

Erfahren, wie’s der große Meister Lessing
Hinein gelegt, daß jenes Ringes Schatz
An einen Vater dreier Söhne kam,
Die alle drei er gleich sehr zärtlich liebte.

35
Und so geschah’s, daß er mit schwachem Herzen

Der Söhne jedem seinen Ring versprach,
Den Andern unbewußt. Sein Wort zu halten,
Ließ heimlich solcher Ringe er noch zwei
Verfertigen, dem echten täuschend ähnlich,

40
Und giebt nun jedem Sohne Ring und Segen,

Um ruhig sich vom Thron in’s Grab zu legen.

Als dies geschehen, tritt mit seinem Ringe
Ein jeder Sohn hervor und nimmt die Herrschaft
Des Hauses und des Reichs sofort in Anspruch.

45
Und jeder schwört, sein Ring nur sei der echte,

Weil er vom Vater selber ihn empfangen.
Doch da mit Zuversicht ihn keiner trägt,
So äußert sich die Kraft des echten nicht.
Und wie auch jeder mag den seinen preisen,

50
So kann doch keiner je sein Wort beweisen.


Die Brüder hassen und verfeinden sich
Und treten klagend vor den Richterstuhl.
Doch statt des Spruchs, den er nicht geben kann,
Ertheilet guten Rath der brave Richter.

55
„Nehmt nur die Sache, wie sie liegt. Hat von

Euch jeder seinen Ring von seinem Vater,
So glaube jeder sicher seinen Ring
Den echten. Möglich, daß der Vater nun
Die Tyrannei des Einen Rings nicht länger

60
In seinem Hause dulden wollte. Und gewiß,

Daß er Euch alle Drei geliebt und gleich
Geliebt, indem er zwei nicht drücken mögen,
Um Einen zu begünstigen. – Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen

65
Von Vorurtheilen freien Liebe nach!

Es strebe von Euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag
Zu legen, komme dieser Kraft mit Sanftmuth,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun,

70
Mit innigster Ergebenheit in Gott

Zu Hülf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei Euern Kindes-Kindeskindern äußern,
So lad’ ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird

75
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen

Als ich und sprechen: Geht!“
 So weit hat Lessing
Durch seinen Nathan uns das sinn’ge Märchen
Erzählen lassen. Aber er verschwieg,

80
Daß es der Ring des Salomo gewesen. –

Erlaubt nun mir, der ich den Namen nannte,
Daß ich’s fortspinne und zu Ende führe,
So gut ein Mensch von heute dies vermag!

Der Ringe einer erbte auf den Teut,

85
Der zog mit seinem Stamm aus Morgenland

Gen Abend und ward unser Aeltervater.
Man glaubt, daß er den echten Ring besessen.
Und weiter – wird erzählt – vermehrte sich
Der Ringe Zahl, und Tausende von Enkeln

90
Besaßen Ringe und wohl Jeder meinte,

Daß er des echten Rings Besitzer sei,
Da gab es neuen Streit, und manche Hand
Troff von des Bruders Blut. Unsel’ger Hader,
Den selbst des echten Rings Besitzer nicht

95
Vermocht zu stillen, weil mit Zuversicht

Er nie getragen ward. Das deutsche Volk
War nah daran an diesem Streit zu sterben,
Oder doch zu verkümmern und verderben.

Sieh, da vererbte sich der echte Ring

100
An eines schlichten Pfarrers großen Sohn.

Der wurde sich der alten Kraft bewußt,

[66]

Die an den Ring gebunden ist, und gleich
Dem Salomo ward er ein Herr der Geister
Und hoher Weisheit, deutscher Weisheit Meister.

105
Ohn’ Ansehn der Geburt, in Kraft allein

Des Rings ward er der Fürst in unsern Reih’n.

Mit starker Hand, ein neuer Hercules,
Wirft er den fremden Wust aus unterm Hause,
Der massenhaft da lagerte, dann gleich

110
Beginnt er frisch des Deutschthums neuen Tempel,

Den deutschen Tempel Salomo’s, zu bauen,
Das Cultushaus des Geists, der Wissenschaft.
Die rang sich los aus ihrer alten Haft,
Um sich nach Sonnenhöhen umzuschauen.

115
Seit diesem Siegestage wich allmählich

Der schwere Schlaf von unsern Augenlidern,
und wir erwachten, von der Hand berührt,
Die unser Elend und den Weg uns zeigte.
Zur Burg des Lichtes aus der Nacht des Wahns.

120
Ja, Brüder, Lessing wurde unser Führer,

Der Vater des neustrebenden Geschlechts,
Auf unsrer Bahn der Wahrheit und des Rechts.
Und der so stark den Weg voran uns ging,
Sagt selbst, besaß er nicht den echten Ring?

125
Doch seht, auch Er, der Held, der weise Schöpfer

Des neuen deutschen Geistes, hat der Ringe
Unzähl’ge hinterlassen; doch nicht mehr
Zum Streit verführt uns eines Rings Besitz.
Vielmehr soll sich des Vaters hoher Geist

130
An uns nun offenbaren. Wer besitzt

Nicht heute einen Ring? Wer hat den echten,
Allein gebietend hohen Geistesmächten?

Ja, sie sind alle echt; er weihte sie
Mit seinem Geiste, taufte sie mit Feuer.

135
Die Zwietracht schickt sich an das Feld zu räumen.

Wir streiten nicht um Namen mehr. So nennt
Die Ringe, wie ihr wollt und wie ihr könnt:
Der Lieb’, des Wissens, Glaubens, der Erkenntniß,
Humanität, des Deutschthums Ringe. – „Name

140
Ist Schall und Rauch umnebelnd Himmetsgluth –“

Ist nur die Sache einfach, wahr und gut.

Die Sache ist’s, die That, die große, schöne,
Zu der, o Volk, der beste deiner Söhne,
Zu der uns unser Salomo berief. –

145
Als noch der größte Theil des Volkes schlief,

Da glänzt der Talisman an seiner Hand,
Mit dem er dich geweckt, mein Vaterland!

Und welches ist die That, die er verlangt,
Die alle edlen Geister mit ihm fordern,

150
Beseelt von der gewalt’gen Kraft des Rings?


Daß jeder seinen Ring nicht einzeln trage,
Daß wir vielmehr an einem großen Tage
Die deutschen Ringe in einander schlingen
Und eine Kette bilden von den Ringen.

155
Daß jeder Ring ein Glied der Kette sei,

Die unser Volk umschließt frisch, fröhlich, frei!

Fahrt fort und bringt die Ringe um die Wette!
Und das giebt keine neue Sclavenkette.
Die Kette ist’s der Einigung zu Schutz

160
Und Trutz, die ausschließt allen Eigennutz.

Der starke Reif, der unter Riesenfaß
Zusammenhalte, drin das edle Naß,
Der neue Wein, die Panacee, soll gähren
Und lagern und zum Feuertrank sich klären.

165
Die Ankerkette sei sie unsres Schiffs,

Mit der wir an der Tiefe fest uns halten,
Wenn wir im Meer getrotzt des Sturms Gewalten,
Und nun des Hafens sichere Bucht erreichen
Und an der Zukunft grünes Ufer steigen.

170
Dann wird sie Windekette, der wir uns

Getrost vertraun, um uns zur Gipfelhöh’
Des reinen schönen Menschenthums zu heben.
O Sonnenschönheit! Heil’ges Menschenleben!

In solchem Kreis, wie er uns nie umfing,

175
Wir schmieden selbst den starken Zauberring,

Den keine Macht der Welt vermag zu brechen,
Den tück’sche Selbstsucht nie vermag zu schwächen.
Das ist der echte Ring des alten Weisen.
Jetzt aber ist er von gestähltem Eisen.

180
Und jeder trägt ihn nun mit Zuversicht,

Und darum fehlt die alte Kraft ihm nicht.
Mit ihm beherrschen wir das Reich der Geister
Und werden selbst der Zukunft Herr und Meister.
Denn er ist A und O im Alphabet,

185
Und keine Kraft, die seiner widersteht.


Nun eifre jeder seiner unbestochnen,
Von Vorurtheilen freien Liebe nach,
Und tilge so des alten ungerochnen,
Des unglücksel’gen Bruderkampfes Schmach.

190
Nun strebe jeder von uns um die Wette,

Die Kraft des Ringes in der neuen Kette
An Tag zu legen, komme dieser Kraft
Mit jeder herrlichen Errungenschaft,
Mit Sanftmuth, herzlicher Verträglichkeit,

195
Mit Wohlthun, unserm Bruderbund geweiht,

Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hülf’! Und alle Selbstsucht wird zu Spott,
Die unsern Ring zu brechen sich befleißt;
Denn in uns braust der Liebe Riesengeist.

200
Die tausend tausend Jahre sinb vorbei.

Die Liebe macht uns einig, stark und frei.
Der Richter spricht nicht: Geht! Er spricht nun: Kommt!
Und jeder thue, was dem Ganzen frommt!

So Lessing’s Erbschaft froh zum Opfer bringe

205
Dem Vaterland! So ineinander schlinge,

Mein Volk, und schmiede Deine Eisenringe
Zum großen Ring, zur starken Eintrachtskette,
Daß sie uns aus der Schmach zum Heile rette!
Auf! Bilde muthig, fest und trotzig so

210
Den neuen Ring des alten Salomo!



Die Tochter des Fälschers.
Von Carl Heigel.
(Schluß.)


9.

Seit jenem Abend, jenem unglücklichen Abend nach Günther’s Begräbniß, war der Friede aus dem Pastorhause gewichen. Nicht daß heftige Auftritte zwischen Mutter und Sohn erfolgten! Mit stillschweigender Uebereinkunft ward Amanda’s Name nie mehr genannt. Aber trotzdem lag ein Bann auf dem Hause, ein Schatten auf Allen, welche darin aus- und eingingen. Wer früher kummerbeladen die Schwelle betrat, verließ sie wohlberathen, getröstet und erheitert. Das war vorüber! Wohl übte Reinhold mit demselben Eifer seine Pflicht, aber nicht mehr mit dem gleichen Segen! Ach, wie schwer auch erschienen ihm jetzt diese Pflichten! Er mußte zum Gebet, zur Frömmigkeit ermahnen, während sein eigen Gebet vergiftet war. Denn ob er vor der Gemeinde oder in Einsamkeit den Geist zu Gott erhob, immer blieb es beim ohnmächtigen Versuch. Die Lippen beteten, allein die Gedanken stürzten vom Himmel zurück und irrten mit verzweiflungsvoller Hast auf Erden und suchten und verfolgten ein Mädchenbild; nicht das liebliche, heitere Mädchen, das einst seine Stunden versüßte, sondern ein Weib, arm, heimathlos, Kummer und Elend preisgegeben – von ihm.

Von der Kanzel herab starrten seine Augen auf den leeren Platz, wo sie einst lauschend saß, und sein Geist zauberte die blasse, abgehärmte Gestalt hin. Wenn er den Bund eines jungen, glücklichen Paares segnete und sie zur Treue in Freud’ und Leid, im Glück und Unglück, im Leben und Tod ermahnte, brannte ihn der Gedanke an seine Treue, die Leid und Unglück nicht überdauerte! Wenn er Jemanden begrub, führte der Weg am Grab des Mannes vorüber, dessen Tochter er das Herz brach und die zu lieben er dennoch nicht aufhören kann. Sein Amt, ehedem sein Stolz, war jetzt sein Fluch; er wurde blaß und elend unter diesen Qualen, wie das Mädchenbild, das ihn bei Tag und Nacht verfolgte.

Niemand in der Stadt wußte von Amanda’s Schicksal seit ihrem räthselhaften Verschwinden, Niemand sprach von ihr in Reinhold’s Gegenwart. Doctor Michaelis, der nach der erzählten Unterredung das Pastorhaus und seine Bewohner hartnäckig mied, zog im Frühling für immer von hinnen, und Reinhold sah in seiner Abreise – seit Günther’s Tod im trägen, glatten Fluß des Kleinstädterlebens das einzige Ereigniß! – nicht die Befreiung von einem unbequemen Widersacher, sondern das Hinschwinden der letzten [67] Hoffnung, die Geschichte seines Herzens jemals versöhnungsvoll zu schließen. Die Superintendentin jedoch, die kluge, stolze Frau, verlor trotz der blassen Wangen, trotz der zunehmenden Düsterkeit ihres Sohnes die Zuversicht zur Heilkraft der Zeit nicht. Was sind ihr unsichtbare, unblutige Wunden! Warum soll der Schmerz um ein armes, kindisches Mädchen nicht zum Schweigen gebracht werden können? Hat sie selbst doch Eltern und Gemahl verloren und ist aufrecht geblieben! Manchmal blickte sie ihren gramgebeugten Sohn fast höhnisch an, indem sie daran dachte, wie anders sie einen so nichtssagenden, erbärmlichen Fall wie Herzweh zu verwinden wußte!

Die Schatten, welche auf dem Pfarrhaus ruhten, wurden immer finsterer. Selbst der Kanarienvogel in Reinhold’s Wohnstube schien von der Schweigsamkeit angesteckt. Er sang nur selten mehr, verstummte zuletzt ganz und lag eines Morgens todt im Bauer. „Du hast ihn in der letzten Zeit zu füttern vergessen!“ sagte trocken die Superintendentin.

Des Rendanten Sterbetag jährte sich. Frau Reinhold saß wie gewöhnlich am Fenster, las in der Bibel oder blickte auf den stillen Platz hinab. Ihr Sohn aber ließ sich durch die Magd entschuldigen, schloß sich in seine Stube ein und erschien nicht zu Tisch. „Wegen der Günther!“ dachte sich die Greisin, voll Entrüstung über die Sentimentalität der Männer.

Er saß über Actenbündeln, welche Gemeindesachen betrafen. Doch bemühte er sich vergebens, seine schwermüthigen Gedanken durch Arbeit fern zu halten. In der vierten Stunde des Nachmittags warf er die Feder fort und eilte in’s Freie.

Noch war in diesem Jahr kein Schnee gefallen. Heute wirbelten die ersten Flocken, zergingen jedoch, sowie sie den Boden berührten. Ein stürmischer Wind wehte über die kahlen Gefilde, und ruhlos flogen die Wolken. Auf Feldwegen umging Reinhold die Stadt, um den Krümmungen des Flusses nachzuschreiten, bis zum Hügel, welchen das fürstliche Schloß krönt. Auf der Heerstraße kehrte er zurück. Auch auf ihr war es menscheneinsam wie auf den Feldern, einsam, aber nicht friedevoll. Im Windesbrausen ächzten die Alleebäume und raschelte das dürre Laub, hungrige Elstern hüpften über den Weg oder saßen auf dem Geäst; ein Schuß klang vom fernen Wald her, und sie flogen kreischend feldeinwärts.

Reinhold gedachte der Nacht, da er mit dem Doctor diesen Weg zum kranken Günther eilte. „Das war der Dunkelheit Anbruch,“ sagte er. „O, was ist des Menschen Selbstvertrauen und Zuversicht auf geistige Errungenschaften, wenn des Lebens Stürme über ihn kommen! Wie ruhig in der Gewißheit meines Glaubens folgte ich früher den Speculationen des Verstandes! wie belächelte ich das vergebliche Mühen der Philosophen, die letzte Frage nach des Weltlaufs Urgrund und Ziel zu lösen! Jetzt drängt mir das lebendige Schicksal die Fragen auf: Was ist Glück und Unglück, Recht und Schuld? und meine Glaubensseligkeit schwindet, mein Herz schwankt in Zweifeln! – Priester müssen glücklich sein. – Ja, wenn mein Schmerzenskampf nur eine Prüfung wäre! Aber ich habe bereits gewählt. Recht oder falsch – mein Herz ist fürder nicht mit meiner Pflicht.“

Er näherte sich dem Kirchhof. Nach kurzem Zaudern schlug er den Seitenpfad dahin ein. Schon war die Nacht angebrochen, und am Himmel kämpfte das Mondlicht mit dem Gewölk. In raschem Wechsel huschten Licht und Schatten über das Todtenfeld, das der Pastor gesenkten Hauptes jetzt langsam durchschritt. Günther’s Grab lag am Ende des Todtenackers, am eingrenzenden, altersgrauen Gemäuer. Schon stand Reinhold dicht dabei, da riß wieder der Wolkenschleier, und in der Mondeshelle sah Jener plötzlich eine verhüllte Gestalt sich erheben und ihm abwehrend den Arm entgegenstrecken.

„Scybylski!“ rief Reinhold überrascht.

„Ja, Scybylski,“ erwiderte der einsame Friedhofsgast. „Ich habe ein Recht, heute an diesem Grabe zu knieen. Was aber wollen Sie hier?“

„Mit Ihnen gemeinschaftlich beten,“ sagte der Pastor verwirrt und niedergeschlagen.

„Ich habe keine Gemeinschaft mit Ihnen,“ versetzte der Andere, „und auch der hier unten hat nichts mehr mit Ihnen gemein. Sie sind hier dem Todten wie dem Lebendigen ein Aergerniß.“

„Scybylski – –!“

„Gehen Sie!“ rief dieser unwillig aus. „Sie trennten sich von diesem Mann, von seinem Kind und seinem Unglück. Es ist kein Platz für Sie an Günther’s Grab.“

Ein Seufzer entrang sich Reinhold’s Brust. „Wenn Sie wüßten!“ sagte er und fuhr mit der Hand über die feuchten Augen.

„Herr!“ fuhr Scybylski heraus. „Sie reden sich wohl ein, Sie seien der Unglückliche? Amanda hat wohl Sie gekränkt, Sie verlassen? In der warmen Stube, in Hülle und Fülle sitzend den Märtyrer spielen, das kann Jeder. Ein Mann aber – hören Sie, ein Mann! – würde gegen das Unglück ankämpfen, würde trotz Mutter und Consistorium dorthin gehen, wo dieses Todten Tochter ist, und des Vaters Schuld als sein besserer Sohn vergessen machen. So lange Sie das nicht thun, haben Sie kein Recht, hier zu knieen und zu weinen. Ich wiederhol’ es, kein Recht! Ihre Mutter hat vor Jahresfrist meine gutmüthige Schwäche ausgebeutet und verrathen; Dank dieser Lehre, bin ich jetzt kalt und hart geworden. Verlangen Sie also nicht Mitleid von mir, sondern gehen Sie!“

„Scybylski,“ sagte der Pastor erregt, aber ohne Zorn; „leicht wär’ es mir, mein Recht, hier eines Jeden Recht, zu behaupten; aber die Ruhe der Todten ist mir heilig. Freiwillig trete ich daher zurück; versöhnt einst, hoffe ich, werden Sie mir über diesem Hügel die Hand reichen. Leben Sie wohl!“ Er ging.

Scybylski sah dem Prediger finster nach, bis er zwischen den Grabmälern entschwunden war, dann beugte er wiederum sein Haupt zu Günther’s Grab nieder.

„Ich,“ flüsterte er, „ich habe Dein Kind geliebt.“


10.

Es klingelte.

„Das ist Amanda,“ sagte der Arzt und kehrte an seinen Arbeitstisch zurück.

Es war der zweite Weihnachtsabend seit Günther’s Tod. Konnte Doctor Michaelis vor Jahresfrist von seinem Gemach frei über weite, stille Schneefelder blicken, an deren Horizont nur als schmaler, dunkler Streif mit wenig Lichtpunkten sich ein Städtchen erhob: so sah er heute dagegen in eine engbegrenzte, aber um so lichtere, bunte Welt. Unter seinen Fenstern dehnt sich mit schneebedeckten Lindenreihen der Hauptplatz der Residenzstadt aus. Die Gaslaternen und glänzend erleuchteten Schauläden verbreiten Tageshelle. Im Gegensatz zu der stillen Weihnacht auf dem Lande wogt und rasselt es hier rastlos dahin. Kein Augenblick läßt die Luft unerschüttert; tausendfältige Töne durchkreuzen sie; das Summen der durcheinander schwirrenden Fußgänger, das Gekreisch der Verkäufer, das Rollen der Wagen wächst zum sinnbetäubenden Getös an, das in der Höhe wieder in einem gewissen, eintönigen Rhythmus zusammenschlägt, wie der Wellengesang des Meeres.

Den greisen Gelehrten stört es nicht. Eine laue, leicht gewürzte Luft wallt durch’s erhellte Zimmer, das nicht so groß und hoch wie jenes auf dem Schloß, dafür aber wohnlicher und einheitlicher ausgestattet ist. Zu den Ecken steigen aus breitblätterigen Pflanzengruppen weiße Statuen empor, Schränke und Spinden sind spiegelblank, und das mannigfache Kunst- und Nutzgerät geordnet und geschmackvoll vertheilt; gestickte Kissen schmücken Sopha und Stühle; allüberall thut sich das mondenlange Walten eines sinnigen Frauenwesens kund. Wachskerzen brennen auf dem Tisch, der Schein der Studirlampe aber fällt auf den alten, unverbesserlichen Schreibtisch, unter dem der Pudel schläft.

Das Zimmer hat zwei Ausgänge, einer führt auf den Flur, die zweite Thür in eine Flucht von Zimmern. Im Hintergrund der Stube befindet sich ein Alkoven, er ist durch einen schweren, braunen Vorhang verdeckt.

Geräuschlos trat Amanda aus dem anstoßenden Gemach ein, zögerte an der Schwelle ein Weilchen und betrachtete – Verehrung und Kindesliebe im Blick – den greisen Mann, der ihr ein zweiter Vater ward. Dann trat sie näher und legte sanft die Hand auf seine Schulter. „Darf ich Sie stören?“ fragte sie.

Es war ein anderer Mensch, der jetzt aus seiner gebückten Haltung sich aufrichtete und zum Mädchen emporsah; die Denkerfalten aus der Stirn glätteten, die Augen belebten sich, und ein wahrer Lichtstrom von Güte und Behagen verjüngte sein Gesicht. „Du störst mich nie, mein Kind,“ sagte er und nahm die Hand, die auf seiner Schulter ruhte, eine Hand, welche nicht immer so [68] weiß und fein, sondern von harter Arbeit und Frost einst roth und rauh gewesen war. „Kommst Du vom Dome schon zurück?“

„Ja, Väterchen.“

„Heute also ist Weihnacht,“ sagte er lächelnd. „Hast Du in unserer Nachbarschaft schon Christbäume brennen sehen?“

„Es ist noch zu früh.“

„Ja, ja, es ist noch zu früh.“ Er lächelte wieder. „Später sollst Du auch Deinen Christbaum haben.“

„Mein guter, guter Vater,“ rief sie und strich über sein emporstehendes, schneeweißes Haar. „Ich habe für Sie eine kleine Arbeit gemacht, aber die lege ich unter den Christbaum.“

„Ja, wir legen unsere Geschenke unter den Christbaum,“ erwiderte Michaelis und lachte.

„Väterchen,“ fragte Amanda mit unschuldiger Neugier, „wo haben Sie denn den Weihnachtstisch gerüstet?“

„St!“ sagte er geheimnißvoll und wies nach dem Alkoven; „dort! – Gehe jetzt und mache das Abendbrod und den Thee zurecht. Notabene, ich habe heute Hunger für Zwei. Währenddessen zünde ich den Christbaum an.“

„O Vater,“ rief sie gerührt, „ich wollte, ich könnt’ es der ganzen Welt erzählen, wie gut Sie sind!“

„Und ich wollte, Du könntest Reinhold’s darüber fragen. Die sind anderer Meinung als Du. Er ist ein Egoist, ein gräulicher Egoist, würde der Pastor sagen.“

„Nein, Er nicht! Er nicht!“ rief Amanda.

„Aber, liebes Kind, ich war’s; wahrhaftig, ich war der größte Egoist, als ich Dich zu mir nahm! Welch ein trauriger Winter stand mir ohne Dich bevor! Wenn ich jetzt daran denke, wie schrecklich einsam ich früher lebte, fühle ich mit mir selber Mitleid! Als junger Bursch ohne Vermögen mußte ich mit Entbehrung und Niedertracht aller Art kämpfen. Das machte mich frühzeitig alt, herb und verschlossen. Als die Mittel kamen, das Dasein zu genießen, fehlten mir daher Lust und Anregung. Menschenscheu, bis an den Hals zugeknöpft, lebte ich vierzig Jahre nur meinem Beruf. Vormittags Kranke, Nachmittags Kranke; Abends meine Bücher und Hans, den Pudel! Hans ist gut und treu und hat sein genügend Theil Verstand, aber ein Pudel bleibt er doch. Da, in meinem siebenzigsten Jahr, führt mir der Zufall Dich entgegen.“

„Kein Zufall,“ unterbrach ihn Amanda, „mir hat Gott Sie gegeben! Ohne Sie schlug das Unglück über mich zusammen. Sie retteten und läuterten mich, wurden mir Vater und Lehrer.“

„Nicht doch, Amanda! das Unglück war Deine Schule. Es erhob Dich über das Gewöhnliche und über Dich selbst. Ich that Nichts, als daß ich Dir im Kampf die Losung gab: Sei stark und still!“

„Ach, theuerer Vormund,“ sagte das Mädchen traurig, „ich bin eine schwache Streiterin. Meine Thränen wollen nicht versiechen. … Ach,“ rief sie und barg, plötzlich aufschluchzend, ihr Antlitz in beide Hände, „ich kann, kann Reinhold nicht vergessen!“

Als sie sich wieder gefaßt und ihre Thränen gestillt hatte, fragte sie mit leiser, schüchterner Stimme:

„Sie erhielten heute einen Brief aus B…?“

„Von meinem fürstlichen Gönner,“ antwortete Michaelis.

„Schreibt er über – über Reinhold?“

„Wenig, aber Seltsames. Der Pastor will B… verlassen. Er kam hier um seine Versetzung ein.“

„Es ist doch kein Unglück, was ihn aus seiner Heimath treibt?“ fragte sie hastig.

„Hm, ich glaube nicht,“ brummte der Alte; „vielleicht sucht er eine neue Braut …“

„Wer und wo sie sei, Gott segne sie!“ rief Amanda mit einer Stimme, die aus tiefstem Herzen kam. Michaelis zog das edle, entsagende Mädchen zu sich hernieder und küßte ihm die Stirn.

„Amanda,“ sagte er bewegt, „Du verdienst geliebt zu werden; Amanda – –“

Ein kurzes Pochen an der Thür unterbrach ihn.

„Herein!“ rief Michaelis verwundert.

Die Thür wurde geöffnet – der unerwartete Besuch war Frau Reinhold!

„Ich bin’s,“ sagte sie kurz.

Der Arzt, der sich erhoben hatte, murmelte etwas zwischen den Zähnen und lud den Gast mit einer Handbewegung ein, sich niederzulassen. Sie setzte sich. Dann ruhte ihr Blick lang und forschend auf Amanda, die vor Ueberraschung und Schrecken wie versteinert stand. Das Antlitz des Mädchens war verändert; es hatte jetzt seine Geschichte, eine Geschichte von Kummer und Herzeleid.

„Auch sie hat nicht vergessen!“ murmelte die Greisin und triumphirte, daß ihr Sohn nicht allein leide. Hierauf wandte sie sich zum Doctor.

„Ihren Diener traf ich auf dem offenen Flur; er wollte mich abweisen; entschuldigen Sie, daß ich ohne seine Erlaubniß eintrat.“

Michaelis verneigte sich blos.

„Sie wissen,“ fuhr Jene fort, „daß ich keine Freundin von vielen Worten bin. Also ohne Präambulen zur Sache, die mich hierher geführt! Wir sind doch unter uns?“ setzte sie mit einem Blick aus den verdeckten Alkoven hinzu.

„Hm, ja – freilich sind wir unter uns.“

Sie schwieg eine Weile, im Kampf mit ihrem Stolz. Endlich begann sie: „Doctor, seit Sie den Fürsten und unsere Stadt verließen, kam schweres Elend über mich. Anstatt mich einen ruhigen Sonnenuntergang erleben zu lassen, schickt mir der Herr harte, fast zu harte Prüfung und Heimsuchung. Um Ihnen meinen Gram mit Eins zu nennen: Mein Sohn ist mir untreu geworden. Seine Seele hängt an der Tochter des ungetreuen Knechtes, an Jener dort, und ihretwegen und aus Verzweiflung über die Trennung vergißt er seiner Mutter und, was wehevoller ist, vergißt seines Amtes, seiner Gemeinde, seiner Kirche. Ich kann mit Hiob sagen: Man hörete mir zu, und schwiegen und warteten auf meinen Rath. Nun aber lachen meiner, die jünger sind denn ich, welcher Väter ich verachtet hätte, zu stellen unter meine Schafhunde.“

Sie seufzte tief.

„Kamen Sie zu uns, um uns dies zu sagen?“ fragte trockenen Tones Michaelis.

„Hören Sie mich zu Ende! Wider meinen Willen hat Theodor das göttliche Amt in seiner Heimath fremden Händen übergeben, das Haus, wo ich ihn gebar und großzog, verlassen. Er eilte hierher mit dem trotzigen Entschluß, nie mehr in seine Vaterstadt zurückzukehren. Das Schlimmste zu verhüten, gürtete ich mich in meinen alten Tagen noch zur Reise und folgte ihm hierher, an den verhaßten Schauplatz weltlicher Lust und modernen Unglaubens.“

„Und was belieben Sie das Schlimmste zu nennen?“

„Doctor, hier steht die Zauberin, die mir meines Sohnes Herz entwendete … brauche ich Ihnen das Unglück, das mein graues Haupt bedroht, noch zu nennen? Gut, hier bin ich! Aug’ in Aug’ stehe ich meinem bösen Schicksal gegenüber und wiederhol’ es: Theodor darf dieses Mädchen nicht freien! er darf es nicht, oder ich sage mich in meinen letzten Lebenstagen noch von meinem einzigen Sohne los, eingedenk der heiligen Schrift. Es ist besser, ein frommes Kind, denn tausend gottlose, und ist besser, ohne Kinder sterben, denn gottlose Kinder haben.“

„Sollte Ihr Sohn wirklich die Absicht haben?“ begann der Doctor mit schneidender Kälte, allein die aufbrausende Superintendentin unterbrach ihn.

„Sollte? Mir hat er es nicht gesagt, aber ich weiß es, daß er kommen wird, vielleicht jetzt schon auf dem Wege ist! In seinen Augen las ich seinen Kampf. Und wenn er auch heute noch den Dämon der Leidenschaft niederringt, morgen unterliegt er dennoch, und alle seine Gedanken, alle Wege in dieser verhaßten Stadt führen ihn zu ihr! Ich aber duld’ es nicht; nicht von der Stelle weiche ich, bis mir das Mädchen dort mit Hand und Schwur, bei ihrem zeitlichen und ewigen Heil gelobt hat, ihn nicht zu sehen, von ihm zu lassen, für alle Ewigkeit zu lassen! Mein Vermögen will ich opfern, mich zur Bettlerin und sie reich machen, wenn sie heute noch geht, von hier entflieht, weit, weit, wo mein Sohn sie nie und nimmermehr findet!“

Doctor Michaelis sprang auf. Unfähig, seinen Zorn länger zu bändigen, stellte er sich dicht vor die stolze Frau und rief: „Madame, Sie müssen entschuldigen, wenn meine Meinung derb zu Tage kommt; aber wenn Sie eine Kaiserin wären und ich ein geborener Hofmarschall, verlöre ich jetzt die Geduld – darum entschuldigen Sie, wenn ich – Kreuz Millionen Donnerwetter, Madame, mit Einem Wort: Sie sind verrückt!“

Da trat Amanda rasch dazwischen. „Nicht also, mein Vater!“ bat sie mit ruhigem Ton. „Frau Reinhold ist Mutter. Sie hat das Recht, jene zu hassen, die an ihres Sohnes Kummer schuld ist. Auch verlangt sie ja nicht, daß ich von meiner Liebe scheide, nur, daß ich dem Glück entsage. Das that ich längst und will es jetzt auf’s Neue.“

[69] „Bei meiner Liebe, nein, Amanda!“ rief plötzlich eine Stimme, deren Klang beide Frauen im tiefsten Herzen schauern machte. Der Vorhang, welcher den Alkoven verdeckte, rauschte zurück, und Reinhold stürzte zu Amanda’s Füßen.

„Die Liebe kam Ihnen zuvor,“ sagte triumphirend Michaelis zur sprachlosen Superintendentin. „Ich versteckte Ihren Sohn dort zur Bescheerung. Er hat Sie und mich gehört und – entschieden.“

Frau Reinhold wollte entgegnen, aber ihr Sohn sah ihr ernst und fest in’s Auge.

„Mutter,“ sagte er, „ich war ein schwacher, feiger, treuloser Mensch bisher. Die Qualen dieser Zeit waren meine Buße. Jetzt endlich stehe ich über Kampf und Zweifel, fest, unbeugsam fest, und meine Worte sollen ein Schwur vor Gott und Menschen sein: Amanda, wenn Du mir verzeihen kannst, schließ’ mich ein in Dein Herz, fester denn je, als meine Braut, mein Weib!“

„O Theodor –“ flehte Amanda, denn noch immer bebte sie vor ihrem Glück zurück. „Bedenke …“

„Ich habe bedacht ein langes, banges Jahr hindurch! Des Zweifels Ende war der Entschluß, Dich aufzusuchen und Deine Vergebung, Deine Hand zu erflehen! Stoße meine Reue zurück, wenn Du kannst! Fluche mir, Mutter, wenn Du darfst!“

Frau Reinhold sah ihren Sohn mit großen, starren Augen an; ihre Brust athmete schwer, ihre Hände falteten sich krampfhaft. Dann wankte sie kraftlos nach einem Stuhl und sank auf ihm zusammen. „Er, mein Sohn,“ schluchzte sie, „mein einziger Sohn verlangt, daß ich ihm fluche. Gott, Gott! war ich denn wirklich so wenig Mutter, daß mein Kind einen Fluch von mir erwartet!“ – Und sie, die harte, stolze Frau, weinte, weinte wie ein hülfloses Kind. Frau Reinhold war Mutter! Die Flügel des Einen allmächtigen Naturgefühls hoben selbst diese kühle, starre, spröde Seele über Familienstolz und Vorurtheil, Verbitterung und Feindschaft.

Sogar der Arzt ward vom jähen Gefühlsausbruch der Greisin erschüttert. „Verzeihen Sie mir,“ sprach er, indem er ihre Hand ergriff, „was ich Ihnen vorhin sagte; wir haben gegenseitig zu vergeben und zu vergessen! Danken wir dem Geschick, daß wir uns am Glück der Jugend sonnen können! Und nun eine Eröffnung: Amanda ist kein armes Mädchen. Ich betrachte sie als mein Kind. Außerdem aber befanden sich im Nachlaß des Rendanten Lotterieloose. Ich spielte eines davon im Interesse meiner Mündel fort. Das Loos kam mit einem nicht unbedeutenden Gewinn heraus.“

„Dieser gehört nicht mir, sondern meinem Vater,“ sagte rasch Amanda. „Nicht wahr, Theodor, meinem Vater?“ Reinhold drückte statt aller Antwort einen Kuß auf ihre Lippen.

Doctor Michaelis betrachtete mit freudeglänzenden Augen seine Mündel. „Sehen Sie, lieber Reinhold, dies Jahr ist über Ihre Braut dahingegangen, wie der Hauch einer Frühlingsnacht, der die Blüthen weckt. Aber die Knospe, in der wir ein recht luftig rothes, keckes Röslein vermutheten, ist eine schöne weiße Rose geworden. Ja, lacht nur, mich alten Bücherwurm hat sie noch zum Poeten gemacht. Gott segne sie!“



Fleckennatter und Eidechse.


Deutschland beherbergt, abgesehen von der Blindschleiche[1], vier Schlangen, von welchen drei der Familie der Nattern angehören, die vierte aber, die giftige Kreuzotter, eine Viper ist. Letztere gehört zu jener gefährlichen Sippschaft, welche das Volk der Schlangen in so üblen Ruf brachte, so daß man allen ohne Unterschied mit Furcht und Haß zu begegnen pflegt. Jedoch nur der geringere Theil verdient verfolgt und vertilgt zu werden, was dagegen die drei Nattern Deutschlands, nämlich die Ringelnatter, die glatte oder Fleckennatter, sowie die gelbe Natter betrifft, so kann ich für deren Unschuld und Ungefährlichkeit aus eigener Erfahrung einstehen. Es wird zwar nicht viel helfen, denn ihre Verwandtschaft mit der gefährlichen Viper, sowie das von dieser geerbte fatale Zischen macht es schwierig, sie von jeder üblen Nachrede zu befreien oder gar ihnen die Zuneigung der Menschen zu verschaffen. Eine Abhandlung über Schlangen in der „Gartenlaube“ muß sich daher gefaßt machen, vielleicht von vielen der Leser überschlagen zu werden, jedoch hoffe ich durch beistehende Zeichnung, welche den Kampf der Fleckennatter mit einer Eidechse darstellt, die Aufmerksamkeit auf dieses Capitel zu lenken, um einigen aussöhnenden Bemerkungen über die Lebensweise dieser gewiß nicht uninteressanten und schönen Thiere gleichsam durch List Eingang zu verschaffen.

Fleckennatter im Kampf mit einer Eidechse

Am meisten gefällt mir die glatte oder Fleckennatter, welche z. B. in Würtemberg stellenweise ziemlich häufig ist. Sie ist die kleinste und zierlichste unserer Nattern, zwei Fuß lang, kleinfingerdick, von meist röthlichgrauer Farbe; den Rücken entlang verläuft eine Reihe schwarzbrauner Flecken, deren größter das Hinterhaupt ziert. Das feingeschnittene Köpfchen zeigt nahe über der Mundspalte schöne, runde, durch keine Lider umfaßte Augen, deren seitliche Lagerung den Vortheil eines größeren Gesichtsfeldes hat. Es überschaut nämlich die Schlange ihre rechte und linke Umgebung, dagegen entgeht ihr, was unmittelbar vor ihrer Nase liegt, und sie würde diese bald anstoßen, käme nicht die tastende Zunge ihr zu Hülfe. Wer dies nicht weiß, der hält freilich die schmale und [70] lange, in zwei feine Spitzen auslaufende Schlangenzunge für ein äußerst gefährliches Instrument, zum Stechen und Vergiften geschaffen und Manchen schon sah ich erblassen oder wenigstens in lebhafte Unruhe gerathen beim Anblick eines zur Durchbohrung vorgehaltenen Fingers. Kraftlos aber prallt das rasch und häufig vorgeschnellte Züngelchen ab, ja man fühlt kaum die Berührung, so zart und weich ist dieses den Fühlern eines Insectes vergleichbare, hauptsächlich zum Tasten geschaffene Organ. Die Function eines Geschmacksorganes geht der Zunge ab und würde auch nichts nützen, da die Schlangen ihre Beute als Ganzes verschlingen. Nebenbei gebrauchen sie dieses geschmeidige Gebilde zum Auffangen von Regen- und Thautropfen, wie man, in Ermangelung, von Schlangen, Aehnliches auch z. B. an Eidechsen leicht bemerken kann, die man zu diesem Zwecke in einen mit Moos gefüllten Behälter setzt. Bespritzt man an einem heißen Sommertage mit wenigem Wasser das Moos, so kriechen alsbald die Thiere hervor, tauchen begierig die gespaltene Zunge in die Wassertropfen, ziehen sie dann behaglich und langsam zurück und wiederholen dieses Verfahren, bis der Durst gelöscht ist. Lassen wir also unsere Natter immerhin züngeln, sie richtet mit dieser Fertigkeit keinerlei Schaden an, und es scheint mir dieselbe zugleich den Zustand der Gemüthsstimmung zu verrathen. Aufgeregt oder auf Beute lauernd, erinnert das anhaltende Züngeln des drohend erhobenen Kopfes an das fatale Schweifwedeln der katzenartigen Raubthiere. Aber auch ihre Zufriedenheit scheint sie damit anzudeuten, wenn man sie in gezähmtem Zustande in der warmen Hand hält und sie streichelt; man denkt dabei an das freundliche Schwänzeln des Hundes.

Wie verhält es sich aber mit den spitzen Zähnen, womit der Schlangenrachen so reichlich ausgestattet ist? sind diese ebenfalls so ungefährlicher Natur? Gewiß, auch diese brauchen wir an unsern deutschen Nattern nicht zu fürchten, sie sind hakenförmig nach hinten gebogen und können somit gar nicht in das Fleisch des vorgehaltenen Fingers eindringen. Die Ringelnatter konnte ich überhaupt niemals zum Beißen bewegen, sie ist daher durchaus harmloser Natur, zischt nur und flieht, wenn man sie reizt. Anders verhält es sich mit unserer glatten oder Fleckennatter, sie ist ein sehr reizbares, jähzorniges Thierchen, welches frisch gefangen sofort mit weit geöffnetem Rachen um sich beißt. Hat sie den vorgehaltenen Finger gepackt, so erhält man nur die Empfindung eines gelinden Druckes, und hält man ruhig aus, bis die Natter wieder losläßt, so bleibt keine Spur einer Verwundung zurück. Will man dagegen den Finger mit Gewalt befreien und zieht man ihn rasch zurück, so fangen sich die Hakenzähnchen in der Haut, ritzen sie wie feine Nadeln, und es kann dann allerdings ein Tröpfchen Blut kosten, jedoch ohne weitere Folgen. Wie dem Finger, so ergeht es auch den zum Verschlingen erfaßten Thieren; je lebhafter sich diese loszumachen suchen, desto tiefer dringen die Haken ein, und sie dienen daher nicht zum Verwunden und Zerreißen, sondern nur zum Festhalten der erfaßten Beute.

Die der glatten oder Fleckennatter zur Nahrung dienenden Thiere sind meistens Eidechsen; sie schlägt daher ihren Wohnsitz an steinigen und sonnigen Abhängen auf. Nur einem glücklichen Zufall hätte man es zu verdanken, wenn man an Ort und Stelle den harten Kämpfen dieser Thiere beiwohnen könnte, und da ich öfters solche nur wenig bekannte Scenen beobachten wollte, so hielt ich mir eine größere Anzahl glatter Nattern in einem geräumigen mit Rasen und Steinen ausgelegten Glaskasten, dessen Deckel aus Draht geflochten war. Bringt man eine Schüssel mit Wasser hinein, so pflegen die Nattern hier und da zu trinken, wobei sie den Vorderkopf ganz eintauchen und deutliche Schluckbewegungen ausführen, Nach einiger Zeit ließ ich einige Eidechsen in den Behälter, welche sogleich die ihnen drohende Gefahr erkannten und in rasenden Läufen nach allen Richtungen zu entkonmmen suchten. Die ganze Gesellschaft kam in die größte Aufregung, und in der ersten Ueberraschung suchten auch die Nattern sich eiligst aus dem Staube zu machen. Dabei bissen sie wüthend um sich, so daß sie unter einander selbst in Händel geriethen oder mitunter sogar ihren eigenen Leib erfaßten.

Auf diese geräuschvolle Einleitung folgte eine peinliche Pause, hastig züngelnd mit erhobenem Kopfe überlegten die Schlangen ihren Angriffsplan, und mit halb geöffnetem Munde sammelten die vor Schreck festgebannten Eidechsen ihre Kräfte zur verzweifelten Gegenwehr. Plötzlich fährt eine der Schlangen auf ihr Opfer los, streckt den vorher nach hinten und seitwärts gebogenen Hals, und rasch dahingleitend erfaßt sie mit weitgeöffnetem Rachen die fliehende Eidechse. In rasendem Wirbel sich drehend, umschlingt sie mit engen Windungen den Leib der auf den Rücken geworfenen Eidechse, so daß nur noch deren Kopf und Schweif den dichten Knäuel überragt.

Nun folgt die schwere Arbeit des Verschlingens; die Eidechse soll in ihrer ganzen Länge und Dicke hinabgewürgt werden und zwar mit dem Kopfe voran; das kostet viele Zeit und Mühe. Unsere Natter hat daher auch keine große Eile damit, umzüngelt einstweilen ihr Opfer und wedelt mit dem Schwanze nach Katzenart.

Nun aber richtet sie sich hoch auf, beschreibt mit dem Halse einen senkrechten Bogen und mit weit geöffnetem Rachen erfaßt sie den Kopf ihres Opfers. Allmählich lösen sich die Schlingen, es verschwindet der Kopf der Eidechse, langsam folgt ihr Leib, traurig winkt noch zum Abschied ihr Schweif und erst im Verlauf einer halben Stunde oder später ist sie durch den weit ausgedehnten Schlund in den Magen der Natter eingefahren.

Nicht immer aber wickelt sich dieses Geschäft so glatt ab, denn auch die in beistehender Figur bis zum Halse eingeschraubte Eidechse lebt noch und hält sich mit ebenfalls offenem Rachen zur verzweifelten Gegenwehr bereit. Faßt die Schlange nicht richtig an, so erwischt die Eidechse den obern oder den untern Kiefer der Natter und mit krampfhaft sich schließendem Munde, sowie mit Hülfe der ebenfalls hakenförmig umgebogenen Zähne ist sie im Stande, stundenlaug den gepackten Theil ihrer Feindin zu behaupten. Umsonst sucht sich die Schlange zu befreien, beide Thiere haben sich mit krampfhaft geschlossenen Kiefern wie Doggen in einander verbissen; wüthend wickelt die Schlange von ihrem Opfer sich ab, retirirt – doch vergeblich. Endlich läßt die Eidechse los, macht sich natürlich aber sogleich aus dem Staube, und die mitunter blutende Schlange hat das Nachsehen. Glücklicher Weise aber kann die Natter, wie alle Schlangen, Wochen und Monate lang hungern, und wenn sie gelegentlich 1–2 Eidechsen verschlingt, so ist sie für viele Tage gesättigt.

Wie aber, wird man fragen, ist es möglich, daß eine Natter eine ebenso umfängliche oder selbst noch dickere Eidechse ganz verschlingt? Die Erklärung finden wir, abgesehen von der Musculatur und der Ausdehnbarkeit des Schlundes, in der merkwürdigen Beweglichkeit der das Kiefergerüste zusammensetzenden Knochen. Die beiden Seitenhälften, sowohl die des Oberkiefers wie auch die des Unterkiefers, sind beweglich mit einander verbunden, es kann daher z. B. die rechte Mundhälfte geöffnet und etwas vorwärts geschoben werden, während die linke Hälfte geschlossen bleibt, und umgekehrt. Hat also die Natter den Kopf einer Eidechse an der Schnauze gepackt, so halten die beiden Zahnreihen der einen Seite das Opfer fest, während die der andern Seite loslassen und sich etwas weiter nach vorn über den Kopf der Eidechse vorschieben. Hierauf schließt sich diese vorgeschobene Seitenhälfte des Mundes, während die andere Hälfte losläßt und sich vorschiebt u. s. f. Dabei verbreitert sich der Natterkopf, und die in den Schlund hineingezogene Eidechse erweitert auffallend den Schlangenhals; schließlich wird sie durch die Zusammenziehung der Muskeln in den Magen befördert.

Emil Dursy.



Der Stiefel.
Eine beinliche Abhandlung.


Trotz der sonstigen Fortschritte, die wir jetzt dem Dampf und den Stimmen der Massen, der Elektricität und den Theorien der Kreisläufe verdanken, geht es doch mit unserem eigentlichen Fortschritt, mit der freien Beweglichkeit unserer Füße noch sehr langsam.

Wir suchen den Fortschritt der Menschen zu erleichtern, aber nicht des Menschen, wir bemühen uns, die geistige Fessel der Gesammtheit zu lösen, und bekümmern uns zu wenig um den kleinen Hemmschuh, der im Grunde den Einzelnen bei jedem Schritt und Tritt hindert, nämlich um den Stiefel. Denn daß [71] der Stiefel uns mitten in unserem Fortschreiten aufhält, indem er uns beengt und quält, daß er unserem Fuße, dem wirklichen Fortschrittsgliede, offene und augenscheinliche Krankheiten zufügt, und daß er uns beim An- und Ausziehen sehr oft in eine verdrießliche, mehr der Ruhe zugeneigte Stimmung versetzt, das weiß Jeder, den der Stiefel drückt; und er drückt wohl die Meisten von uns. – Die Alten waren freie Menschen; am Kopfe, denn sie füllten denselben nicht, wie wir, mit vielen Schulweisheiten an, und am Fuße, denn sie kannten nicht die Qual unseres ledernen Stiefels, sie trugen Sandalen, in denen der Fuß ziemlich nackt seine Arbeit verrichten konnte, und brauchten nicht, wie wir, immer die glatten Wege aufzusuchen. Noch besser haben es freilich jetzt noch die vielen Landbewohner, die mit ihrem Fuße, wie mit dem Geiste im Kopfe, ganz frei und offen auftreten und nicht von den Hühneraugen heimgesucht werden, die wir „mit Blut und Eisen“ vertilgen müssen.

Sollen wir den Stiefel abschaffen und dafür eine mehr oder weniger offene Fußbekleidung einführen? Das ist bei der jetzigen Verfeinerung und Veredlung unserer Fußhaut, bei der besseren Einrichtung unserer Straßen und des öffentlichen Verkehrs nicht mehr möglich. Der Stiefel ist ein wohlthätiger Schutz für den Fuß, da er dessen Blöße verbirgt und von ihm die schädlichen Einwirkungen des Bodens und des Wetters abhält, er ist ein Erforderniß der modernen Cultur und des besonnenen Fortschritts, der mit ihr zusammenhängt. Aber – es ist doch endlich nöthig, den Stiefel zu verbessern und fußgerecht zu machen, wir müssen auch einmal ernstlich für die Freiheit unserer Füße sorgen, zumal wir diese sehr leicht herstellen können, wenn unsere Herren Schuhmacher einerseits mehr Kenntniß erlangen, nicht gerade – wie es jetzt Mode ist – von der Politik, sondern von dem Bau und der Verrichtung unseres Fußes, und wenn wir selbst andererseits unseren Fuß mehr würdigen und nicht als ein Anhängsel an unserem Leibe, sondern als ein werthvolles Glied schätzen, das uns recht eigentlich erhält und uns in der ganzen Schöpfung ziert.

Denn wie wir stehen, mit dem Rücken aufrecht und mit dem Kopf gen Himmel, frei, wendbar nach allen Seiten, mit freiem Gebrauch der Sinne und Hände, der Stimme und der Brust, eine kleine Fläche – an dreien Punkten nur – hält uns auf dem Boden – so steht kein Thier. Sehen wir ab von dem nachgeahmten, gezwungenen Stehen der Affen und Bären, so wissen wir, daß die Thiere allesammt dem Boden zugekehrt all ihre Gliedmaßen zur Fortbewegung gebrauchen und eine Fußstellung haben, die von der unsrigen ganz verschieden ist; entweder treten sie mit dem vorderen Fußtheile allein auf, wie die Huf- und reißenden Thiere, oder mit dem platten Fuße, wie die Sohlengeher. Unser Fuß hingegen berührt vermöge seiner kunstvollen Wölbung den Boden nur an drei Stellen, den Hacken, dem großen und kleinen Ballen, daß das Wasser, wie die Araber sagen, zwischen durchfließen kann, und trägt doch seinen Körpertheil sammt den vielen Organen mit einer bewundernswerthen Geschicklichkeit und Sicherheit, die in seiner baulichen Einrichtung begründet ist.

Er ist nämlich gliederig gebaut, denn er hat viele kleine Knochen zur Grundlage, die gelenkig mit einander verbunden sind. Machen wir im Sitzen eine leichte Fußbewegung, so können wir die Beweglichkeit der Gelenke sehen und zugleich deren Verschiedenheit. Eine große Freiheit hat das Gelenk, das den Unterschenkel mit dem Fuße verbindet, das Sprunggelenk, wodurch wir mit dem Fuße beinahe einen Halbkreis beschreiben können.

Fassen wir den gewölbten Fußtheil an, so spüren wir keine Beweglichkeit an ihm, er ist ein starkes Gerüste, das fest genug ist, um die Körperlast zu tragen; allein wie jede gut gebaute Brücke bei einer starken Bewegung auf derselben etwas nachgiebt, so ist auch die Fußwölbung vermöge ihrer elastischen Bänder beim starken Gehen etwas beweglich, während sie in der Ruhe und bei der gewöhnlichen Bewegung sich nicht ändert. Die Zehen hingegen besitzen die meiste Beweglichkeit, sie lassen sich fast um ihre Achse drehen und können wie die Finger an der Hand gekrümmt und zusammengedrückt werden, denn sie haben freie Gelenke, wie ihnen auch solche ihren Verrichtungen gemäß nothwendig sind.

Setzen wir den Fuß auf den Boden fest auf, so drückt die Körperlast durch das Schienbein auf denselben, der Fuß wird breiter, indem sein Rücken um die Zehengelenke abgeflacht wird. Wollen wir gehen, so erheben wir den einen Fuß auf die Zehen, die sich an den Boden andrücken oder ankrallen, und halten uns so einen Augenblick fest, während wir den andern Fuß strecken und vorwärts stellen. Der gestreckte Fuß wird länger, indem das Sprunggelenk nachgiebt, und wird sodann ebenfalls, wenn wir einen zweiten Schritt thun, vom Boden abgelöst durch Erhebung auf die Zehen; und so geht es wieder abwechselnd mit jedem Fuße bei jedem Schritt. Die Zehen wirken wie elastische Druckfedern und geben uns die Sicherheit und Elasticität des Schritts, am meisten aber ist unter ihnen die große Zehe thätig, die, wie der Daumen an der Hand, dieselbe Arbeit unter den Zehen verrichtet.

Chinesischer Damenfuß.

Nächst dieser hat noch die kleine Zehe, mit einem ähnlichen Bau begabt, die größte Arbeitsfähigkeit, sie bewirkt unter den Zehen den Schluß. Fehlen die Zehen, oder sind sie durch Verkrüppelung unthätig gemacht, wie es frühzeitig bei den Füßen der chinesischen Damen durch Zurückbinden der Zehenglieder geschieht (vergleiche beistehende Figur) und bei uns durch den schmalen und kurzen Stiefel, so gehen wir trippelnd, wie auf Stelzen, Kreuz- und Querschritte machend.

Gehen wir nun geraden Weges auf Grund obiger Wahrnehmungen, die ein Jeder an seinem Fuße machen kann, zur Anfertigung des Stiefels über, und merken wir uns zuvor noch, daß der rechte Fuß von dem linken in der Größe sich unterscheidet, der rechte ist gewöhnlich breiter und größer als der linke, und weniger linkisch: so müssen wir für diesen Zweck einen jeden Fuß in gestreckter Stellung, also beim Auftreten messen, da wir wissen, daß der Fuß in dieser Position länger und breiter wird. Es geschieht dies auch gewöhnlich von den Herren Schuhmachern, indem sie den Fuß im Strumpfe auf einem Bogen Papier abzeichnen. Besser ist es jedoch, da der Strumpf die Richtung des Fußes ändert, wenn wir den nackten Fuß aufs Papier stellen, und dessen Umfang abzeichnen. Sehen wir alsdann diese Zeichnung näher an, so bemerken wir, daß unsere Sohle nicht gerade ist, sondern nach vorn geschweift, und stellen wir beide Füße oder deren Umrisse an einander, so ergänzen sie sich gegenseitig und bilden ein Oval, das, beiläufig bemerkt, der Form unseres Kopfes oder des Gehirns in demselben entspricht, als sollte der Anfang und das Ende unseres Körpers durch eine Form ausgedrückt werden.

Geschweifte Sohle.

Unsere Sohle ist bei dem regelmäßigen Fuße nicht gerade, denn unsere Gehfläche ist mehr nach innen gerichtet, nach der Längsrichtung der großen Zehe. Und demgemäß darf auch unsere Sohle an dem Stiefel nicht gerade sein, sondern nach innen geschweift (wie beistehende Figur zeigt).

Eine gerade Sohle bringt den vorderen Fußtheil aus der Lage und verkrümmt denselben. Nicht minder wichtig ist die Berücksichtigtmg der Gelenke.

Um das Fußgewölbe, das die Schuhmacher den Spann nennen, kann und soll der Stiefel fest anliegen, da die Gelenke hier so gut wie nicht beweglich sind, aber das Sprunggelenk und das Zehengelenk müssen wir frei haben, da sie beim Gehen am meisten thätig sind.

Um die Längenausdehnung des Fußes nicht zu behindern, wird daher jetzt zu beiden Seiten des Stiefels, wo die Fußknöchel anliegen, ein Gummizug angebracht, der dem Fuße eine große Erleichterung gewährt; nur ist er leider nicht dauerhaft genug und für solche Stiefeln nicht anwendbar, die einer großen Strapaze ausgesetzt werden sollen, wie die Marsch- und Winterstiefeln. Wo solche Rücksichten oder andere der Sparsamkeit vorliegen, würden wir zweckmäßig an die Stelle des Gummizuges ein entsprechendes Stück weichen Leders einnähen, das den Bewegungen des Sprunggelenks weit eher folgen könnte, als das übrige harte Leder. Denselben Zweck, die Längenausdehnung des Fußes zu ermöglichen, fördern wir, wenn der Stiefel etwa um einen halben Zoll länger wird, als die Fußlänge beträgt, jedoch ist diese Vorsicht bei richtig abgezeichneter Sohle nicht so wichtig, wie es die Herrn Schuhmacher gemeinhin glauben. Hingegen müssen wir, um die Ausdehnung des Fußes der Breite nach zu gestatten, den Zehengelenken die größtmögliche Räumlichkeit verschaffen. Der Stiefel darf daher vorn nicht spitz sein, sondern breit, oder rund, oder oval, je nach dem Geschmacke des Besitzers, besonders aber muß er um die Stelle erweitert sein, wo der große Ballen anliegt. – Versäumen wir diese Vorsichtsmaßregel, so ist eine ergiebige Quelle [72] für die Verunstaltung der Zehen gegeben, und obendrein noch für die Durchreißung des Stiefels, denn der Ballen sucht mit seiner ganzen Leistungsfähigkeit den Druck des Stiefels abzuwehren und dringt häufig genug – zu unserem Glücke – durch den Stiefel hindurch. Ein anderer, eben so nachtheiliger Einfluß auf die Zehen ist der künstliche hohe Hacken oder Absatz, der, ein moderner Cothurn, die Schönheit des Fußes erhöhen soll, zunächst aber unsere Schmerzen erhöht, weil er die Arbeit des Fußes auf die Zehenspitzen und nicht auf die ganze Zehen-Ausdehnung verlegt. Je niedriger der Absatz ist, desto leichter und natürlicher können die Zehen ihre ohnedies schwierige Aufgabe verrichten. Wir wünschen den Herren Schuhmachern einen hohen Absatz und uns – einen niedrigen.

Wir haben bisher allgemeine Gesichtspunkte aufgestellt, die man bei der Anfertigung eines jeden Stiefels zu berücksichtigen hätte; sie sind jedoch keineswegs hinreichend für alle Fußformen, die wir im Leben antreffen. Man sieht jetzt selten einen schönen Männerfuß, wie er uns von der Natur gegeben und in den Büchern beschrieben ist. Die meisten sind verunstaltet durch die verschiedenartigsten Verkrümmungen der Zehen und der Ballen, durch die Abflachung des Fußrückens und durch die Ueberbeine, denn unser Fuß erleidet, wie kein anderer Körpertheil, vielfache Veränderungen durch den Einfluß der Beschädigung, Gewohnheit und vor Allem durch die von Jugend an fortgesetzte schädliche Bekeidung mittelst des falschen Stiefels, so daß wir oft beim zufälligen Blick auf den Fuß unseres Nachbars eine ganz neue Fußart zu entdecken glauben, bei der jede menschliche Schönheit fehlt.

Mit den Damenfüßen steht es freilich besser und schöner; von Hause aus zarter gebaut, verlieren sie dennoch – wegen der geringen Lebensarbeit und der leichten Schuhbekeidung unserer Damen – wenig oder nichts von ihrer natürlichen Schönheit. Wir wollen hier nicht, wie Verliebte, den Damenfuß verherrlichen, da wir uns dies, sowie die Besprechung der Damenschuhe, noch vorbehalten, sondern wir weisen hierbei nur auf die Mannigfaltigkeit der Füße überhaupt hin, die noch größer wird, wenn wir noch den Einfluß hinzuzählen, den das Temperament ausübt. Wie nämlich an der Oberfläche der meisten Körpertheile, z. B. am Gesichte, der innere geistige Vorgang sich deutlich abspiegelt und nicht selten eine bleibende körperliche Form annimmt, so ist auch am Fuße, der zwar kein geistiges Organ ist, aber doch mit den gesammten Körperkräften innig zusammenhängt und alle Bewegungen des Körpers vorzüglich vermittelt, ein Ausdruck unserer Geistesart gegeben, der bei der Ruhe des Fußes sowohl, dem Stehen, als auch bei dessen Arbeit, dem Gehen, sich unschwer erkennen läßt.

Aus dem plumpen Gang schließen wir auf eine gemeine Natur, aus dem anstandsvollen auf einen Gebildeten, aus dem festen auf einen Muthigen, aus dem besonnenen auf einen Milden und aus dem gezwungen besonnenen auf einen Schleicher; Charaktere, die sich mehr oder weniger deutlich in der Gestalt des Fußes ausprägen. Wir erkennen ferner bei den mit dem Gemüthszustande näher zusammenhängenden Fußbewegungen, nämlich dem Tanzen, den nationalen Charakter. Wir unterscheiden den leidenschaftlichen Tanz der Spanier, den leichten der Franzosen, den derben der Tyroler, den langsamen der Deutschen, und bezeichnen danach auch den Fuß der Nationen.

Durch diese vielfachen äußeren und inneren Einwirkungen auf den Fuß erhalten wir also eine tausendfältige Verschiedenheit der Füße, die wir unmöglich alle nach einem Muster bekleiden können.

Es ist daher nöthig, zur bessern Uebersicht eine Eintheilung der Füße vorzunehmen, und wir wollen mit Zugrundelegung der volksthümlichen Bezeichnungen und der Rücksichten auf die Fußformen, wie sie bei den Thieren vorkommen, folgende vier Grundformen annehmen:

Trampelfuß.

1) Der Trampelfuß, eine rohe, plumpige, fleischige Fußform, mit kurzen, breiten Zehen, starker Haut, wenig Wölbung und geringer Beweglichkeit der Gelenke. Die beistehende Figur zeigt uns diesen Fuß von der Sohlenseite, er erinnert stark an einen Thierfuß, etwa des Nilpferdes oder des Elephanten, und ist Eigenthum der Landleute, der niedrigen Arbeiter und besonderer Racen, wie der Mongolen und Semiten.

Breite Fuß.

2) Der breite Fuß, der stark und fleischig ist, und an allen Gelenken sehr leicht beweglich, mit schwacher Wölbung und geringer Elasticität. Der Fuß tritt mit der ganzen Sohle auf, wie bei den Sohlentretern unter den Thieren, und hat die Neigung, nach innen sich zu drehen. Er entsteht gewöhnlich – wenn nicht eine erbliche Anlage oder Krankheit zu Grunde liegt – in Folge zu großer Fußanstrengung, wie bei alten Infanteristen, Lehmtretern, Brief- und Zeitungsträgern. (Fig. 4.)

Schmale Fuß.

3) Der schmale Fuß, der eine überaus längliche Form, namentlich lang gestreckte Zehen und gute Beweglichkeit derselben hat. Es liegt in ihm eine Andeutung an die Fußformen der Kletterthiere, wie der Dachse, und er wird angetroffen bei langen hageren Personen, die gern Carriere machen wollen, etwa bei Tanzlehrern, Schneidern, Kellnern, Barbieren und Doctoren. (Fig. 5.)

Edle Fuß.

4) Der edle Fuß, von hoher Wölbung, länglichen Zehen, mäßigem Ballen und großer Elasticität. Wir können ihn, wie dieselbe Bildung bei der Hand genannt wird, den aristokratischen Fuß nennen. Seine Schönheit besteht jedoch nicht in einer etwaigen Kleinheit, wonach die meisten Damen fälschlich die Füße beurtheilen – ein kleiner Fuß bei einem großen Körper ist eben so häßlich, wie ein großer Fuß bei einem kleinen Mann – sondern in dem Ebenmaß der einzelnen Theile zu einander und zum ganzen Körper. Er kommt vor bei den Mitgliedern des Cabinets, Officieren, Schauspielern und Friseuren.

Ein alter italienischer Arzt glaubte in vier Zehenformen eine Andeutung auf die Geistesbeschaffenheit ihrer Besitzer zu erkennen; kurze Zehen deutete er auf Dummheit, auseinanderstehende auf Leichtsinn, untereinander vewachsene auf Furchtsamkeit und gekrümmte Zehen auf Bosheit.

Wir wollen nicht versuchen, diese Beobachtungen zu erklären, aber es ist interessant, daß die vier Formen bei den von uns hier aufgestellten Fußformen der Reihe nach vorkommen und das Bild derselben vervollständigen.

Wir hätten also Grundformen, auf die wir die verschiedenen Füße zurückführen können, und die uns auch einen Anhaltspunkt geben bei der Anfertigung der Stiefeln, die wir täglich brauchen. Haben wir den Fuß Nr. 1 vor uns, wo die Haut wenig empfindlich ist, und der Fuß wegen der schweren Beweglichkeit der Gelenke sich wenig verändert, so sind die vielen Rücksichten nicht geboten. Ein solcher Fuß weist die Beleidigungen des Leders durch die Fußhaut zurück, die selbst lederartig ist. Herren solcher Füße kaufen sich auf dem Jahrmarkte ihre Stiefeln, mit denen sie gewöhnlich einen glücklichen Kampf durchmachen. Diesem ähnlich wird jetzt noch beim Militär verfahren, wo jedem Rekruten, ohne Rücksicht auf seinen Fuß, fertige Stiefeln zuertheilt werden; eine Einrichtung, die natürlich ungünstig abläuft.[2]

Mehr Aufmerksamkeit bedarf der Fuß Nr. 2. Hier muß der Stiefel den Fuß zu verbessern und seiner Neigung, sich abzuflachen, entgegen zu wirken suchen. Die Sohle sei hier gerade und breit, um den Spann liege der Stiefel fest an, und der Hacken sei von einer mäßigen Höhe, um das Fußgewölbe beim Auftreten zu schonen, jedoch breit genug, um das Uebertreten des Fußes auf die innere Seite zu verhüten. Ist der große Ballen noch besonders entwickelt, so muß der Stiefel an der Stelle, wo der Ballen anliegen soll, eine Ausbuchtung haben, am besten durch ein eingenähtes Stück weichen Leders von der Größe dieses Ballens, die beim Gehen den Ballen aufnimmt und in der Ruhe nicht drückt. Hierbei muß nur auf die Bequemlichkeit Rücksicht genommen werden, aber nicht auf die Mode.

Bei der Fußform Nr. 3 kann der Stiefel vorn, ohne dem Fuße zu schaden, spitz sein – wenn er sonst der herrschenden Mode entsprechen soll – er muß jedoch länger sein, als der Fuß selbst ist, da derselbe beim Gehen sich stark nach vorn schiebt. Diese [73] Neigung des Fußes würde der Gummizug um die Knöchel noch mehr fördern, derselbe muß daher hier wegbleiben. Die Sohle darf nicht gerade sein, sondern nach innen schwach gekrümmt in der Richtung des Fußes. Die Absätze, die gewöhnlich von einem solchen Fuße schief nach außen abgetreten werden, müssen breit, nicht hoch, und nach außen etwas erhöht sein.

Genügt dies nicht, das Uebertreten des Fußes zu verhindern, so muß der äußere Rand durch einen untergeschobenen Lederstreifen erhöht werden. Das Leder selbst sei möglichst weich, da solche Füße sehr empfindlich und leicht verletzbar sind.

Die Ueberbeine, es sind gewöhnlich festgewordene Ausschwitzungen der Fußgelenke, die an solchen Füßen am häufigsten vorkommen, müssen durch besondere Ausbuchtungen am Stiefel geschützt werden.

Bei der Fußform Nr. 4, die gewöhnlich der wohlhabenderen Classe angehört, ist die Schonung des Fußes durch die Bekleidung um so leichter, als der Besitzer einen großen Stiefelvorrath für die verschiedenen Verrichtungen des Fußes halten kann, wie beispielsweise besondere Stiefeln – mit dem entsprechenden Stoff – für die Stadt und andere für das Land, und ebenso für die Jagd und den Tanz, die Promenade und den Marsch; eine Einrichtung, die, wenn auch nicht dem Geldbeutel, so doch der Fußpflege ebenso förderlich ist, wie der Handpflege die sorgfältige Benutzung der Handschuhe.

Wir müssen überhaupt für den Fuß dieselbe Sorgfalt, wie z. B. das häufige Waschen empfehlen, die wir der Hand so gern angedeihen lassen; denn beide Glieder haben von Natur denselben Bau und dieselbe Wichtigkeit, und erst beide zusammen drücken unsere körperliche Vollendung aus, wie wir auch sprachlich eine äußere Vollendung mit den Worten bezeichnen: das Ding hat Hand und Fuß. Wie wir ferner auf die Nägel der Finger sorgsam achten, so sollten wir auf die der Zehen aufmerksam sein, um die üblen Zufälle von gekrümmten und eingewachsenen Fußnägeln zu verhüten. Am besten wird das regelmäßige Wachsen der Fußnägel begünstigt, wenn der Stiefel eine nach der Natur abgezeichnete Sohle, keine zu große Zuspitzung nach vorn und einen niedrigen Absatz hat, wodurch wir einerseits verhüten, daß durch eine widernatürliche Zusammenpressung die Nägel in die Haut hineingetrieben, und andererseits, daß die ganze Arbeit des Fußes nach vorn verlegt würde, wie es bei den Hufthieren der Fall ist, mit denen wir jedoch nicht concurriren dürfen, ohne körperlichen Schaden zu nehmen.

Je schöner der Fuß, desto einfacher sei der Stiefel, und die Kunst des Schuhmachers besteht darin, daß er die größte Rechnung zu tragen weiß – nicht gerade seinen Kunden – sondern der Einzelnatur des Fußes; der verständige Schuhmacher zeigt auch bei seiner Fußarbeit, daß er Kopf hat.

Dr. J. Landsberg.


Kleine amerikanische Sittenbilder.

Nr. 5. Ein Paar Rasirmesser.

Wir waren noch nicht lange erst im gelobten Lande Amerika angekommen; glücklicherweise aber hatten wir in einem deutschen Arzte, welcher bereits alle Stadien der Acclimatisation, körperlich wie geistig, längst durchgemacht, einen theilnehmenden Rathgeber gefunden und verbrachten die Abende meist in seiner Gesellschaft, mit offenen Ohren und Herzen seinen Schilderungen über die Eigenthümlichkeit des neuen Vaterlandes horchend. Es war an einem Abende, an welchem mehrere mit anwesende Amerikaner unsern Freund über seinen vollen, wilden Bart geneckt, der damals in den Vereinigten Staaten noch etwas ganz Ungewöhnliches war, und als wir uns endlich zu unserm gewöhnlichen kleinen Kreise, Jeder hinter ein Seidel ausgezeichnetes Lagerbier, zusammensetzten, schüttelte unser Landsmann mit einem ganz eigenthümlichen Lächeln den Kopf. „Das wäre eine Geschichte für Sie – ich meine, die mit meinem Barte zusammenhängt,“ sagte er; „sie hat mich zu gleicher Zeit zum alten Junggesellen gemacht!“ und als er unsere aufleuchtenden Gesichter – denn was er auch erzählte, war wunderbar anregend – wahrnehmen mochte, trank er langsam sein Glas halb leer und ließ dann, wie nachdenklich, das Licht in dem goldhellen Glanze des Bieres spielen. „Ich kann Ihnen sagen,“ begann er, „daß das deutsche Lagerbier ein wahrer Heiland für die Amerikaner geworden ist. Erst seit sie ihm Geschmack abgewonnen haben, beginnt die Branntweinpest, gegen die sich alle Mäßigkeitsvereine umsonst abgemüht haben, zu weichen. In den heißen Sommern wird das Eiswasser, wie es hier, wo es nur Wasserleitungen, aber keine Brunnen giebt, getrunken werden muß, zu Gift für den Körper, und so wurde es stets mit Whiskey oder Cognac versetzt; erzeugte dadurch aber auch eine Gewöhnung an starke Spirituosen, die das Delirium tremens oder den Säuferwahnsinn als etwas ganz Gewöhnliches erscheinen ließen. – So hatte ich unter den Familien, bei welchen ich Hausarzt geworden war, einen ältlichen, reichen Gentleman, Mr. Davis mit Namen, zum Patienten, bei welchem sich ein leichter Anfall dieser Dyskrasie regelmäßig alle sechs bis acht Wochen wiederholte, von welchem er indessen, Dank seiner kräftigen Constitution, unter sorgfältiger Pflege und Diät immer in zwei bis drei Tagen wieder genas. Er wohnte mit einer Nichte und einem Neffen zusammen in einem hiesigen Hotel, wie dies kleine amerikanische Familien, welche kein Haus machen wollen, oft thun, und meine Krankenbesuche hatten mich der Nichte, einem liebenswürdigen Mädchen, so weit genähert, daß ohne besondere Erklärung ein Verständniß sich zwischen uns entwickelt hatte, welches jedenfalls in einer formellen Verlobung geendet haben würde, wenn nicht die Ereignisse einer merkwürdigen Nacht dazwischen getreten wären.

Es war eines Abends, schon spät, als ich von der genannten Dame die Botschaft erhielt, daß der Onkel einmal wieder „seine böse Zeit“ habe, daß seine Freunde im Hotel nicht mit ihm fertig werden könnten und ich mich doch baldigst einstellen möge. Ich säumte natürlich nicht und fand sie in dem allgemeinen Parlor ängstlich meiner wartend; ihr Bruder, erzählte sie, sei verreist und der Kranke unter lauter oberflächlichen Bekannten, die ihn zu beruhigen strebten, in seinem Zimmer. Dorthin, im dritten Stocke, wandte ich mich also und fand außer dem Geschäftsführer des Hauses verschiedene andere Personen, die sich bemühten, ein nicht enden wollendes Gelächter des Kranken, wozu Leute in diesem Zustande oft geneigt sind, zu dämpfen und ihn selbst auf einem Stuhle niederzuhalten – freilich mit keinem andern Erfolge, als daß die Aufregung des Patienten sich mit jeder Minute nur mehr steigerte.

Meine erste Sorge war, das Zimmer von allen Anwesenden, bis auf den Geschäftsführer des Hotels, welcher mir in derartigen Fällen schon hülfreich zur Seite gestanden, zu säubern und dann, obgleich mir der Zustand des Mannes aufgeregter als jemals zuvor erschien, meine gewöhnliche Behandlungsweise anzuwenden. Als er mich erkannte und meine ruhige Stimme hörte, begann sich bereits sein krampfhaftes Lachen zu legen, und bald bequemte er sich auf mein Zureden auch, sich in seinen Kleidern, wie ich ihn gefunden, auf das Bett niederzulegen. Ich setzte mich an seine Seite und suchte ein kaltes, vernünftiges Gespräch mit ihm anzuknüpfen, ein Mittel, das ihn früher immer am schnellsten beruhigt hatte. Ich will hier sogleich erwähnen, daß die einzige Thür des Zimmers, welche nach dem Haupt-Corridor führte, sich neben dem Kopfende des Bettes befand.

Viel schneller, als ich gehofft, schien sein Irresein und seine rastlose Aufregung sich zu verlieren, und ehe eine halbe Stunde vorüber war, lag er so ruhig mit geschlossenen Augen auf seinem Rücken und athmete so regelmäßig, daß ich schon glaubte, mich über die Heftigkeit seines Anfalles getäuscht zu haben, und diese nur den vorhergegangenen unglücklichen Beruhigungsversuchen zuschrieb. Ich bat also auch den Geschäftsführer, sich hier nicht länger unnöthig aufzuhalten; wir verabredeten indessen, daß ich vor meinem Weggange in seinem Zimmer vorsprechen sollte, damit er, wenn nöthig, während des Restes der Nacht meinen Platz am Krankenbette einnehme. Zugleich trug ich ihm auf, Miß Davis über den Zustand ihres Onkels zu beruhigen.

Eine halbe Stunde noch mochte ich den Patienten, der im ruhigsten Schlafe zu liegen schien, beobachtet haben, dann erhob ich mich, um zu gehen. Mein Hut lag auf einem Stuhle am Fenster; kaum hatte ich aber den ersten Schritt danach gethan und dem Daliegenden den Rücken gekehrt, als ich ein Krachen der Bettstelle [74] vernahm. Mich rasch umwendend, sah ich meinen Kranken todtenbleich außerhalb des Lagers stehen, den Rücken gegen die Thür gelehnt, und in seinen grünlich schillernden Augen erkannte ich sofort den Blick des vollen Wahnsinn. Noch ehe ich es indessen vermocht, einen entscheidenden Gedanken zu fassen, hatte er nach dem an der zweiten Seite der Thür befindlichen Toilettentisch gegriffen, ein kleines Etui von dort genommen, und im nächsten Augenblick glänzte in jeder seiner Hände ein geöffnetes Rasirmesser.

Ich gestehe ehrlich, daß ich im ersten Moment ein Gefühl hatte, als laufe mir ein Tropfen eiskaltes Wasser über den Rücken; dazu war der Wechsel von der bewegungslosen Ruhe dieses Menschen zum Handeln unter der wildesten nervösen Erregung ein so plötzlicher, unerwarteter gewesen, daß ich mich vollig überrumpelt sah, daß mir nichts zu thun übrig blieb, als ihn regungslos zu bewachen – welchem krankhaften Gedanken er gefolgt war, davon hatte ich natürlich nicht die geringste Ahnung und nur des Einen war ich mir bewußt, daß ich versuchen mußte, auf jede seiner Ideen einzugehen, bis ich seinen eigentlichen Zustand erkannt.

Es waren sicher mehrere Minuten, in denen er mich vollkommen regungslos anstarrte; dann begann er mit einer Stimme, die nichts mehr von seinem gewöhnlichen Tone hatte und mit einer eisigen Bestimmtheit zwischen seinen geschlossenen Zähnen hindurch drang: „Doctor – niedersitzen!“ und zugleich deutete seine Rechte gebieterisch nach einem Stuhle am Fenster, unweit von uns.

Wenn nur die Rasirmesser nicht gewesen wären, wäre ich seiner Aufforderung wohl gefolgt – so hieß dies aber, mich dem Wahnsinnigen wehrlos preisgeben; ich regte mich also nicht. Noch einmal wiederholte er den Befehl, und seine Lippen schienen sich dabei kaum zu bewegen; als ich aber in meiner Stellung blieb, nahm er seine beiden Messer in die Linke und schritt leise, fast katzenartig auf mich los. Ich fühlte, ehe ich nur zu einem Entschlusse gelangen konnte, mich mit unwiderstehlicher Gewalt bei der Brust gefaßt, zurückgeschoben und auf den Stuhl niedergedrückt, während er mit dem Tone eines unbeugsamen Entschlusses mir in’s Ohr sprach: „Doctor, Sie müssen niedersitzen!“

In diesem Momente fühlte ich, wie mich das Entsetzen packte – ich wußte, daß, wenn es dieser Kraft des Wahnsinns gegenüber noch eine Rettung für mich gab, diese nur aus einer völlig duldenden Haltung meinerseits erwachsen konnte, und doch bürgte mir auch hierbei nichts dafür, daß er mich nicht gelassen abschlachtete. Mit Macht indessen meine Fassung zusammenraffend, gelang es mir, meinen ersten Schrecken zu überwinden, und als jetzt ein neuer Befehl erklang: „Setzen Sie sich aufrecht!“ dem er zugleich mit seinen Händen Nachdruck gab, „jetzt die Arme gekreuzt! jetzt den Kopf in die Höhe!“ folgte ich bereitwillig seinen Worten und vermochte es sogar, ihm mit einer heitern Miene, als betrachte ich Alles wie einen Scherz, in das todtenbleiche Gesicht, das zeitweise nur in einem leichten krampfhaften Zucken eine Bewegung zeigte, zu blicken.

Jetzt ließ er seine unheimlichen Augen langsam über meine ganze Gestalt laufen, und augenscheinlich mit meiner Stellung und meinem Verhalten zufrieden, trat er rückwärts wieder nach der Thür zurück. „Doctor,“ sagte er hier in verhältnißmäßig ruhigerer Weise, „Sie werden diese Nacht bei mir bleiben, ich brauche Sie!“ In mir schoß jetzt der Gedanke auf, zu versuchen, durch eine ruhige Vorstellung Einfluß auf seinen Geist zu gewinnen; kaum hatte ich indessen unwillkürlich den Kopf bewegt, als sich sein ganzes Gesicht verzerrte. „Stillsitzen – kein Glied rühren!“ klang es in den frühern Lauten des Wahnsinns, und ich sah nur zu wohl, daß mein einziges Heil in regungslosem Ausharren lag. Er aber hielt den mißtrauisch beobachtenden Blick fest, unermüdlich auf mich gerichtet, und so verging Minute auf Minnte, Viertelstunde auf Viertelstunde. Wie lange ich eigentlich so in steter Furcht eine unwillkürliche Bewegung zu machen gesessen, weiß ich nicht, aber die lebhafteste Phantasie kann sich kein richtiges Bild von der Pein, welche die lautlose Stille mit jeder Minute mehr auf mich ausübte, machen. Außer kleinen Mauerstückchen, welche zeitweise im Innern der hohlen Wände niederfielen, oder den Regentropfen, die von der Dachrinne regelmäßig auf das Fenstergesims schlugen, unterbrach kein Laut das Schweigen – dazu aber kam noch die Qual meiner Unbeweglichkeit, die ich, wie ich von Neuem belehrt werden sollte, unter keinen Umständen aufgeben durfte.

Mein Peiniger schien endlich mit seiner Beobachtung fertig zu sein und zu seinem Hauptwerke schreiten zu wollen. Seine Rasirmesser plötzlich hebend und sie schwingend, kam er auf mich zu; er schwang sie, während er einen Kreis um mich beschrieb, nach allen Richtungen, über mir und rings um mich. Dann faßte er meinen Arm und bezeichnete mit der Schneide eines der Messer einen Kreis um denselben, als wolle er ihn amputiren; nun galt es meinem Halse und Gesichte – erst brachte er das Rasirmesser so nahe meiner Kehle, daß ich jeden Augenblick einen Schnitt in die Luftröhre erwartete, dann funkelte es dicht vor meinen Augen, und er rasirte mich in Gedanken über und über. Seine Hauptaufmerksamkeit aber schien er zuletzt einer kleinen Glatze auf meinem Hinterkopfe zugewandt zu haben. Ich kann nicht sagen, was er damit anfing, ich fühlte jedoch abwechselnd seine Hand und die flache Klinge des Messers darauf. Am Ende trat er, als ob er sich eines gelungenen Werks freue, wieder rückwärts nach der Thür und betrachtete mich unverwandt – Gott weiß es, welche Hallucination ihm vorschweben mochte – ich aber meinte nächstens unter der mir gebotenen Regungslosigkeit und Nervenanspannung ohnmächtig werden zu müssen. Einige Male war ich daran, auf jede Gefahr hin aufzuspringen, nur um eine einzige kräftige Bewegung machen zu können, aber immer erhielt meine Besonnenheit noch zeitig genug den Sieg. Meine größte Sorge blieb es indessen, daß ich meine Besinnung verlieren, und so vertheidigungslos einer neuen tollen Idee des Irrsinnigen preisgegeben werden möchte.

Da war es mir während einer unwillkürlichen Bewegung, sei es unter dem Zwange der Nerven oder um meiner Hand einen Stützpunkt zu schaffen, unbemerkt gelungen, die Hand unter das Brusttheil meiner Weste zu schieben. Welche Erleichterung mir dies schon verschaffte, läßt sich nicht beschreiben – ich konnte jetzt wenigstens meine verborgenen Finger bewegen. Ich ballte die Hand, ich öffnete und schloß sie, wiederholte dies schnell und mehrmals und preßte sie endlich gegen mein Herz. Das schien mir neues Leben zu geben; ich fühlte mich stärker, selbstvertrauender, besser im Stande das Ende dieser Qual abzuwarten.

Jetzt bemerke ich, wie etwas Neues meinen Wahnsinnigen eingenommen haben mußte; er hatte ein leichtes, unzusammenhängendes Murmeln begonnen und wandte zeitweise den Kopf nach der Thür, als stehe dort Jemand, mit welchem er sich unterhalte. Aber er hatte mich dabei nicht vergessen. Plötzlich hob er den Kopf und befahl mir in seiner früheren bestimmten Weise aufzustehen und mich auf das Bett zu legen. Glücklich darüber, endlich meine halbgelähmten Beine wieder bewegen zu dürfen, erhob ich mich und legte mich, gehorsam wie ein wohlgezogenes Kind, auf das Bett; bald merkte ich hier, daß meine Lage sich durch diesen Umzug bedeutend gebessert hatte. Erstens konnte ich mir durch eine leichte Bewegung jede gewünschte Stellung geben; zweitens konnte ich jedes Wort, welches der Kranke murmelte, verstehen; als Hauptsache aber betrachtete ich, daß ich jetzt kaum über einen Fuß weit von der Thür entfernt war und das Thürschloß sich an meiner Seite befand. Noch hatte ich keinen Plan, wie zu entrinnen, aber ich sah, daß ich jetzt wenigstens an einen solchen denken durfte. Angestrengt horchte ich vor Allem seinen Worten, und bald wurde mir klar, daß er sich einbilde, es stehe Jemand vor der Thür, welcher einzutreten verlange, um mit mir zu sprechen. Was ich hörte, waren natürlich nur die Antworten, welche er auf die eingebildeten Fragen von außen gab. Kaum hatte ich aber den Sinn des so geführten Gesprächs erkannt, als ich mich auch gerettet meinte. Mit Zuversicht und Kälte, als ob ich schon frei wäre, konnte ich jetzt denken und handeln.

Ich begann zuerst auf die von ihm gegebenen Antworten leise neue Fragen zu stellen und gab ihm sodann Erwiderungen auf seine Aeußerungen. Mich dem Tone seiner Stimme anbequemend ward auch ich etwas lauter, und bald hielten wir ein völliges Zwiegespräch. Ich, als der Außenstehende, hatte ihm vorgeschlagen die Thür einige Zoll weit zu öffnen, durch welche Spalte dann der „große Unbekannte“ mir, dem Doctor, seine Wünsche mittheilen sollte, und er stimmte diesem endlich zu. Ich faßte krampfhaft das Kopfkissen. Mein Plan war, die Thür, sobald sie geöffnet, plötzlich aufzureißen, meinen Kerkermeister hinter sie zu drängen, im Nothfalle ihm das Kissen in’s Gesicht zu schleudern und dann nach dem Zimmer des Geschäftsführers zu flüchten.

Es wäre dies zwar recht schnell und verhältnißmäßig leicht auszuführen gewesen, wenn nur meiner eigenen Erschöpfung nicht die sonderbare Kraft des Wahnsinns gegenüber gestanden hätte. So geschah es, daß, als ich gegen ihn sprang, er kaum wankte. [75] Ich hatte allerdings die Thür so weit aufgerissen, daß ich seine Ueberraschung benutzen und mich hindurch drängen konnte; mit knapper Mühe aber wehrte ich durch das Kissen, welches er faßte, seine Hände von mir ab. Auch wäre mir nicht eine Secunde Zeit geblieben, um die Thür eines andern Zimmers zu öffnen und wieder zu schließen. Ich sah nur einen Weg zur Flucht – eine Treppe, unweit von mir, welche nach dem nächsten Stocke hinauf führte. Ich darf wohl nicht erst sagen, daß ich dort hinauf mehr flog als lief – aber hinter mir hörte ich einen kurzen, gellenden Schrei, der kaum Aehnlichkeit mit einer menschlichen Stimme hatte, und das Geräusch der mir auf der Treppe folgenden Fußtritte gab mir eine vollkommen klare Idee von den weiten Sprüngen, mit welchen der Wahnsinnige mir nacheilte.

In der Etage, welche ich erreicht, brannte nur ein einziges Gaslicht; mit einem raschen Blicke sah ich mich nach einer offenen Thür um, aber nichts zeigte sich, und ich hatte keine Secunde Zeit, um die Oeffnung einer oder der andern zu versuchen; ich flog mit unverminderter Schnelligkeit – denn mir war es, als fühlte ich schon die Rasirmesser meines schrecklichen Patienten im Nacken – dem einzigen Ausgange zu, welcher sich bot, einer steilen Stiege, welche nach dem flachen Dache führte. Die Fallthür desselben war offen, und wenn ich noch zeitig genug oben anlangte, um sie zu schließen, so mußte ich gerettet sein. Kaum aber hatte ich den ersten Fuß auf das Dach gesetzt und hob in der Hast der Todesangst die schwere Thür, als auch schon die leuchtenden Augen meines Verfolgers dicht unter der Oeffnung erschienen. Ich warf die Thür auf ihn, es galt jetzt Leben um Leben; aber sein muskulöser Arm mußte sie aufgefangen haben, denn sie fiel nicht in die Fugen, und ehe ich einen Versuch machen konnte, mich auf sie zu werfen, sah ich, wie sie sich wieder hob. Die Angst der Verzweiflung erfaßte mich – der einzige, noch übrige Weg zur Flucht war der Sprung vom Dache eines vierstöckigen Hauses.

Da erblickte ich in kurzer Entfernung eine schwarze Oeffnung, wie sie das von Wolken verdeckte Mondlicht abzeichnete – der Ausgang einer zweiten auf das Dach führenden Treppe – und mit dem Blicke hatte ich auch schon das Geländer derselben in der Hand; soeben hörte ich, wie die erste Fallthür mit einem Krach aufschlug – ich eilte hinab, mechanisch mich an der Treppen-Barrière festhaltend, sonst hätte ich sicherlich den Hals brechen müssen; immer weiter hinunter, von Stockwerk zu Stockwerk in wahnsinniger Hast, denn ich hatte die Ueberzeugung, daß mein Verfolger nur wenige Stufen entfernt hinter mir hersauste; ich erreichte die „Office“ des Hotels, auf welchem Wege weiß ich jetzt noch nicht – Niemand war hier zu meinem Beistande wach; ich flog der Hausthür zu, schob mit einem Griffe den mir bekannten Riegel zurück und sprang auf die Straße, den Drücker der halboffenen Thür in der Hand behaltend. Mein Plan war es, den heraneilenden Wahnsinnigen durch ein plötzliches, kraftvolles Oeffnen der schweren Thür umzuwerfen. Aber ich wartete athemlos – nichts von verfolgenden Schritten ließ sich hören. Ich vermuthete eine List, wie man diese oft bei Wahnsinnigen findet, und öffnete vorsichtig den Eingang etwas weiter, aber ich konnte nichts entdecken, und doch wagte ich auch nicht, meine geschützte Stellung zu verlassen oder mich auch nur bloßzugeben. In diesem Augenblicke sauste vom Dache des Hauses hart an meiner Seite, ein Gegenstand durch die Luft nieder, mit einem dumpfen Geprassel auf den Steinen des Seitenwegs aufschlagend – ich war mechanisch zurückgesprungen; mein erster Blick aber zeigte mir jetzt die zerschmetterte Leiche meines Patienten – ich erkannte seine Kleidung, die ich in dieser entsetzlichen Nacht so lange Gelegenheit gehabt zu studiren, sofort. – –

„Nun, meine Herren,“ fuhr der Erzähler nach einer kurzen Pause fort, „es wird Sie vielleicht nicht Wunder nehmen, daß ich seit jener Nacht es nicht habe über mich gewinnen können, ein Rasirmesser an meinen Hals bringen zu lassen, oder dies auch nur selbst zu thun. Ich war übrigens drei Tage lang unfähig meinen Geschäften nachzugehen und ließ Miß Davis wissen, daß, sobald ich wieder ausgehen könnte, ich sie besuchen werde. Eigenthümlicherweise aber faßte mich, wenn ich jetzt auch nur an das Mädchen dachte, eine Art Widerwillen. Am vierten Tage bekomme ich ein Billet von ihr von einem keinen Packete begleitet. Sie bedauerte meine Krankheit, noch mehr aber die Ursache derselben und sandte mir einen Brief ihres Bruders, welcher so eben den Nachlaß des Onkels geordnet. In diesem Briefe nun hieß es, daß nicht allein die ausschweifende Lebensweise von Mr. Davis, sondern auch seine unglückliche Theilnahme an einer Messerfabrik ihn völlig bankrott gemacht hätten und daß ich deshalb schleunigst meine Rechnung gegen den Gestorbenen einreichen möge. Indessen habe der Schreiber, im Einverständniß mit seiner Schwester, ein ausgezeichnetes Stück Arbeit, welches bei der letzten Weltausstellung einen Preis erhalten, von dem Nachlasse zurückgelegt und übersende es mir, als Anerkennung meiner großen Freundlichkeit gegen den Verstorbenen – ein Paar mit Goldrücken versehene Rasirmesser!

Ich verreiste vier Wochen und habe dann Niemand von der Familie Davis wiedergesehen!“

O. R.


Antworten auf Fragen an den Dr. Bock.


Seinen Mitmenschen zu nützen, ist die Pflicht jedes echten Menschen, sich aber von seinen Mitmenschen immerfort mit solchen Fragen über Krankheiten brieflich bestürmen zu lassen, die zu wiederholten Malen schon in der Gartenlaube behandelt worden sind, das ruhig zu ertragen verlangt denn doch etwas gar zu viel Humanität und Briefporto. Die öfters schon abgegebene Erklärung, daß ein Arzt nur dann Rath ertheilen kann, wenn er den Kranken genau untersucht hat, finden die meisten Menschen ganz in der Ordnung, aber trotzdem verlangt jeder Einzelne, daß, wenn er gerade krank wird, der Arzt eine Ausnahme von seinen Grundsätzen machen soll.

Aus den Aufsätzen über Krankheiten, die übrigens von vielen Lesern der Gartenlaube, wie die Erfahrung lehrt, nur mit halben oder sogar ohne alle Gedanken gelesen werden, nehmen sich die Meisten immer nur einzelne und solche Krankheitserscheinungen heraus, welche sie gerade zur Zeit an sich merken, und dichten sich damit die eben von ihnen gelesene Krankheit an. Sie sehen gar nicht ein, daß sie auch alle die andern einer bestimmten Krankheit zukommenden und aufgeführten Symptome in und an ihrem Körper wahrnehmen müssen, um an jener Krankheit leiden zu können. So faseln z. B. Viele sofort von Rückenmarksschwindsucht, wenn sie etwas Kreuzschmerz oder müde Beine haben, blos weil sie nur diese höchst unwichtigen Symptome aus der großen Zahl von weit wichtigern, jenem Leiden zukommenden Krankheitserscheinungen herausgelesen haben. Also: wer gedankenlos und nicht mit Verstand lesen will und kann, der lese populär-medicinische Schriften und Aufsätze lieber gar nicht, damit er sich in seiner Phantasie nicht etwa eine Krankheit anängstigt. – Nun zur Beantwortung der Fragen.

1) Gegen die (tuberculöse) Lungenschwindsucht wird ein bewährtes Heilmittel gewünscht. Ein solches existirt nicht. Der Lungenkranke hat dahin zu streben, daß zuvörderst in seiner Lunge niemals Veranlassung zur abermaligen Ablagerung frischer Tuberkelmasse gegeben werde, und sodann, daß sich der Ernährungszustand des ganzen Körpers hebe. Die Regeln, welche der Schwindsüchtige deshalb genau zu beobachten hat, finden sich in Nr. 15 des Jahrg. 1855 und Nr. 47 des Jahrg. 1859 der Gartenlaube. – Nochmals sei hier Brustkranken der Respirator (s. Gartenl. 1855, Nr. 8) dringendst anempfohlen, der leider entweder aus dummer Eitelkeit oder aus der falschen Idee, als ob er verweichliche, immer erst dann in Gebrauch gezogen wird, wenn die Lungenschwindsucht schon weit um sich gegriffen hat. Dagegen ist nicht genug vor einer Reise in ein südliches Klima zu warnen, sobald Patient sehr heruntergekommen und etwa gar fiebernd ist, wenn es ihm ferner an Zeit und Geld fehlt, um längere Zeit in diesem Klima verweilen zu können, und wenn er nicht mit der größten Gemüthsruhe (ohne Heimweh, ohne nörgelnde Frau etc.) sein Leben dort zubringen kann. Uebrigens muß der Kranke auch in diesem Klima, trotz der heilsamen Luft, doch immer noch die früher angegebenen Schädlichkeilen (besonders Staub, Rauch, Aufregungen, Erkältungen) ängstlich vermeiden. – Viele Brustkranke, die sich ziemlich wohl fühlen und noch lange leben könnten, werden nicht selten dadurch [76] systematisch zu Schanden curirt, weil sie den von ihrem veralteten, ganz ungefährlichen Lungenleiden herrührenden, freilich oft das ganze Leben hindurch andauernden Husten und Auswurf nicht ertragen lernen wollen. – Die Mineralwässer, welche gegen das tuberculöse Lungenleiden empfohlen werden, helfen alle zusammen nichts; und die Badeorte, in welche die Aerzte Brustkranke schicken, sind deshalb zu verdammen, weil hier das Zusammenleben vieler solcher Kranken, denen ihr Auswurf den wichtigsten Stoff zur Unterhaltung bietet, den Aufenthalt wahrlich nicht erquicklich und gemüthlich macht. – Die Grausamkeit, unbemittelte Lungenschwindsüchtige in Hospitälern bei schlechter Luft und unpassender Kost einzusperren und nicht vielmehr in zweckmäßig gelegenen und eingerichteten Versorgungsanstalten unterzubringen, diese Grausamkeit wird wohl nicht eher aufhören, als bis die Heilkünstler einmal auf ein diätetisches Heilverfahren mehr Werth legen, als zur Zeit auf ihre Arzneien. – Daß die fast nur aus unreinem Kochsalz und einer Spur Jodnatrium bestehende Lobethal’sche essentia antiphthisica (s. Gartenl. 1855, Nr. 47), ebenso wie das Anacahuitholz (s. Gartenl. 1860, Nr. 49) bei Lungenleiden und überhaupt nichtsnutzige Dinge sind, steht fest.

2) Asthma wünscht ein Kranker brieflich gehoben zu haben. Dies ist aber ganz unmöglich, da vor allen Dingen durch eine genaue Untersuchung, vorzugsweise der Brustorgane, der Grund dieser Beschwerde, der durchaus nicht immer derselbe zu sein braucht, aufgesucht werden muß. Allerdings ist in den meisten Fällen die Ursache dieser Athembeschwerde die Lungenerweiterung (siehe Gartenl. 1859, Nr. 23); gegen diese existirt jedoch ein Heilmittel nicht, wohl aber können durch diätetische Hülfsmittel, ganz besonders durch zweckmäßige Ausathmungs-Gymnastik, die Athemnoth gemindert und die asthmatischen Anfälle verringert werden. Aber freilich muß das heilsame kräftige Ausathmen erst durch Uebung gelernt werden, und dazu gerade sind die meisten Asthmatiker zu faul, während sie alle 2 Stunden 1 Eßlöffel unnützer Arznei recht gern einnehmen.

3) Ueber Keuchhusten und Bräune (Croup), zwei Kinderkrankheiten, die weit leichter zu verhüten als zu curiren sind, wurde in der Gartenlaube 1859, Nr. 3 und 8 ausführlich gesprochen, und deswegen sei hier nur nochmals den Müttern dringendst anempfohlen, ein Kind, welches die ersten Spuren von Katarrh in den Augen, der Nase oder dem Halse zeigt (also: Thränen der gerötheten Augen, häufigeres Niesen, Verstopfung und Laufen der Nase, Schlingbeschwerden, Hüsteln, Heiserkeit), sofort in der Stube und auch bei Nacht in gleichmäßig warmer und reiner Luft zu behalten. Es ist eine unglückselige Idee vieler Mütter, daß kleine Kinder so oft als nur möglich in’s Freie, selbst bei rauher Witterung, hinaus müssen (s. Gartenl. 1859, Nr. 47), ja sogar beim Schnupfen. Als ob man nicht auch in Zimmern eine frische und reine Luft herstellen könnte! Aber auch Mütter, die ihre schnupfigen Kinder zu Hause behalten, versehen es oft darin, daß sie dieselben aus dem warmen Zimmer in kalte Loclitäten laufen oder bis zur Erhitzung herumtollen lassen. Wenn Mütter sogar beim Herrschen von Halskrankheiten ihre Kinder mit dummen, gewissenlosen Kindermädchen noch in’s Freie in rauhe, staubige Luft schicken, dann sollten solche Mütter als unzurechnungsfähig und zu Erzieherinnen unwürdig erklärt werden.

4) Magenstärkende Arznei, die ein Kranker gegen Magenschwäche empfohlen haben will, existirt nicht; ja alle Mittel, die als magenstärkend gerühmt werden, vorzüglich die so verschiedenfarbigen bittern Schnäpse, können dem kranken Magen den größten Schaden zufügen. Ein kranker Magen will nämlich ganz ausnehmend mild behandelt sein, und nur durch ein richtiges diätetisches Verfahren (s. Gartenl. 1860, Nr. 7) sind Magenleiden, selbst der chronische, in Magenverhärtung übergehende Magenkatarrh, allmählich zu heben. Aber freilich streng und consequent muß Patient jene Diät halten.

5) Der Brechdurchfall kleiner Kinder, der sehr oft tödtlich wird, ist, wie die allermeisten Kinderkrankheiten (s. Gartenl. 1851, Nr. 17), weit leichter zu verhüten als zu curiren. Da nur Erkältung des Bauches in den allermeisten Fällen die Ursache dieses gefährlichen Leidens ist, so hätte also eine vorsichtige und gewissenhafte Mutter darauf zu achten, daß ihr Kind niemals am Bauche kalt werde, wie dies z. B. beim Baden des Kindes, beim Nacktstrampeln in der Nacht, beim Tragen und Abhalten im Freien etc. stattfinden könnte. Bei den ersten Spuren von Durchfall müssen sofort warme Breiumschläge auf den Bauch gelegt und, läßt das Kind Zeichen von Leibschmerz merken, warme Klystiere mit Stärke gegeben werden.

6) Sogenannte Hämorrhoidalblutungen, wenn sie stark sind, rühren in der Regel von leicht blutenden Affectionen der Mastdarmschleimhaut und nicht von Hämorrhoiden her. Um die Ursache einer solchen Blutung gehörig erforschen und dann das Leiden durch ein örtliches Heilmittel (Höllenstein) heben zu können, ist es durchaus nothwendig, daß der Mastdarm sofort nach dem Stuhlgange besichtigt werde. – Was die mit wirklichen Hämorrhoiden zusammenhängenden Unterleibsbeschwerden betrifft, so findet man darüber Gartenl. 1854, Nr. 18 und 1860, Nr. 21 Auskunft.

7) Ueber den Aufsatz „Ekliches am Menschen“ (Gartenlaube 1858, Nr. 11) ist seiner Zeit weidlich raisonnirt worden, und doch geschehen fortwährend Anfragen: „wie ist der üble Mundgeruch und wie sind übelriechende örtliche Schweiße zu beseitigen? wie wird man eine rothe Nase und rothe Augen los? wie sind die Zähne zu behandeln? wie vertreibt man Blüthen und Mitesser im Gesichte?“ Die Frager und auch noch viele Andere, die Ekliches an sich haben, ohne es zu wissen und zu glauben, sind hiermit auf jenen Aufsatz verwiesen, erstere um ihr Ekliches los zu werden, letztere um zur Selbsterkenntniß zu gelangen. Denn unser artiger Mitmensch sagt’s uns nicht, wenn wir aus dem Munde riechen, oder beim Essen ein nervösmachendes Schmatzen hören lassen und unter ohrzerreißendem Fietschen die Zähne ausstochern, aber hinter unserm Rücken tüchtig darüber schimpfen, das thut unser artiger Mitmensch, auch wenn er selbst genug Ekliches an sich hat.

Gegen die Mitesser (schwarzen Punkte) im Gesichte ist auch folgendes Verfahren vortheilhaft: man taucht einen Rasirpinsel in warmes Seifenwasser und pinselt dann eine Zeit lang auf der garstigen Haut herum, wodurch mittels der in die Talgdrüsenöffnungen eindringenden Pinselhaare das hier widernatürlich angehäufte Hautfett und der aufsitzende schwärzliche Schmutz entfernt werden. Nach und nach ziehen sich bei dieser Pinselei die zum Theil entleerten Talgbälge und deren Mündungen zusammen, und die Mitesser, sowie die von diesen erzeugten Blüthchen schwinden vollständig.

8) Hautausschläge, wenn man sie heilen soll, wollen ordentlich untersucht sein, da die Behandlungsweise der verschiedenen Ausschläge eine ganz verschiedene ist. – Bei Ausschlägen mit Schorfen (Grinden) ist gar nicht selten folgendes einfache Verfahren heilsam: es werden die Grinde zuerst mit lauem Wasser aufgeweicht und sodann recht sanft und behutsam abgehoben; hierauf wird die von den Schorfen befreite, geröthete, wunde und vielleicht etwas blutende oder brennende Haut mit einem in kaltes Wasser getauchten und ausgerungenen Läppchen (Tuche) so lange bedeckt, bis sich die entzündete Haut beruhigt hat, und schließlich streicht man die ganze Hautstelle tüchtig mit frischem ausgelassenen Rindstalge ein. Sobald sich ein frischer Grind bildet, muß er auch sofort sanft entfernt werden.

9) Das Unterziehjäckchen (s. Gartenl. 1861, Nr. 35), auf der bloßen Haut und auch im Sommer getragen, ist trotz der Anfeindungen von Seiten der Abhärtungsfanatiker doch ein ausgezeichnetes Schutzmittel gegen eine Menge von Uebeln. Soll dieses Jäckchen aber nicht unangenehm werden, so darf es nur nicht aus dichtem wollenem Stoffe (Flanell) gefertigt, sondern es muß locker gewirkt oder gestrickt sein. Am angenehmsten und zweckmäßigsten fand Verfasser die Jäckchen und Hemden aus seidenem und halbseidenem Krepp, welche in Basel von Herrn Rumpf verfertigt werden und ziemlich dauerhaft sind.

10) Ob Findelhäuser wirkliche Humanitätsanstalten sind? Die Erfahrung spricht gegen diese Häuser (s. Gartenlaube 1859, Nr. 36) und zwar deshalb, weil durch dieselben weder das Aussetzen noch das Morden von Neugebornen verringert wird, wohl aber die Zahl unehelicher Geburten sich bedeutend vermehrt und auch eine große Menge ehelicher Kinder diesen Häusern überliefert wird. Uebrigens scheint auch bei der besten Einrichtung eines Findelhauses doch die widernatürlich große Sterblichkeit der Kinder nicht wohl verhütet werden zu können. Deshalb schlug auch ein französischer Schriftsteller als Ueberschrift über Findelhausthüren folgende Worte vor: „Hier werden Kinder auf öffentliche Kosten umgebracht.

Bock.

[77]

Der eherne Wächter am Rhein.


Das deutsche Volk nannte den Alten, dessen Denkmalmodell wir unseren Lesern hier vorzeigen, den „Vater Arndt“. Und in der That haben selbst Männer dem grauen Patrioten gegenüber des Gefühls der Ehrfurcht, welche das Kind gegen den Vater erfüllt, nie ganz sich erwehren können, und dies sogar in den kritischen Augenblicken nicht, wo der alte Kämpe, seinem berühmtesten Worte untreu geworden, der tapfersten Partei des deutschen Parlaments den Rücken zuwandte. Selbst diejenigen, die damals seine politischen Gegner wurden, thaten es nicht aus Hohn, sie thaten es mit bitterer Wehmuth, wenn sie ihm sein eigenes Lied sangen: „Das ganze Deutschland soll es sein!“ So tief in allen Herzen lebte die Pietät gegen den greisen Mann, daß ihn kein Undank betrübte, wie scharf auch sonst die Waffen der Parteien sind und wie rücksichtslos sie allezeit geführt werden.

Dieser Pietät muß das Denkmal entsprechen, das die deutsche Nation ihrem „Vater Arndt“ errichten will.

Wir Alle wissen, daß die Bedeutung der Denkmäler eine ganz andere ist, seitdem das Volk sie seinen Männern setzt. Das Volk treibt damit keine Spielerei des Luxus, es zieht nicht die edle Kunst in den Dienst der Eitelkeit und Prunksucht, es ist ihm ein Herzensbedürfniß, ein öffentliches Zeugniß auszustellen der Dankbarkeit, die es einem Manne schuldet, der sein Wohlthäter, der sein Stolz, der sein Liebling ist.

Kalt geht das Volk an den Ruhmessäulen, an den bronzenen Monumenten vorüber, welche einzelne Herrscher sich und ihren Lieblingen errichtet haben. Denn wie sie selbst waren, so diente ihnen die Kunst: der Unnatur schuf sie Unnatur, die geckenhafte Selbstvergötterung strafte sie mit Verewigung ihrer widerlichen Gestalt. Da stehen sie, die unnahbaren Herrschaften, da sitzen sie, bald hoch zu Roß, bald in Triumphwagen, bald auf Thronen, wie einst im Leben, ohne Blick für das sie umgebende Volk, da paradiren sie mit dem römischen Kleide unter dem französischen Perrückenungethüm – und wie sie im Leben, aus Verachtung gegen Das, was sie Volk nannten, in der Regel keinem Lande, am wenigsten ihrem eigenen, anzugehören sich erniedrigen wollten, so gehören sie auch noch heute keinem an: sie bleiben ewig und überall Fremdlinge auf ihren umgitterten Postamenten.

Modell zum Denkmal Ernst Moritz Arndt’s.

Wie anders ist der Dienst und der Triumph der Kunst geworden, seitdem sie vor den Augen und für das Herz des Volks nur die Wahrheit darzustellen hat! Das volle Bild des Lebens ragt in Erz und Stein vor uns auf, vor uns stehen unsere großen Todten mit dem Gesammtausdruck ihres Wirkens, ihres Denkens und Thuns, wir sehen sie, wie sie waren in ihrem ganzen herrlichen Wesen, und wir wissen, was wir verehren sollen beim Aufschauen zu ihrer verewigten Gestalt. Das ist die neue Bedeutung der monumentalen Plastik im Dienste der Nation, daß unsere Männer vor dem Volke ewig das bleiben, was sie waren: seine Vorbilder für alles Edle, Große, Schöne zur Ehre des Vaterlandes!

Und so will das deutsche Volk auch zu seinem „Vater Arndt“ hinaufblicken: es will ihn sehen, wie er war in seinem ganzen herrlichen Wesen! – Man hat nun zu prüfen, ob Affinger, der Meister dieses Modells, es verstanden, uns unsern Arndt nach des Volkes Wunsch zu verewigen; ob er vor uns steht als Das, was er war: als Lehrer und Mahner, als das „deutsche Gewissen“, als der rechte eherne Wächter am Rhein.

So viel wir wissen, ist das Affinger’sche das erste Modell, welches dem Denkmal-Comité zur Prüfung vorliegt. Um so mehr ist zu wünschen, daß die Kunstkritik sich möglichst offen und ehrlich darüber ausspreche. Man muß sich die Statue nach Westen gerichtet denken, dann wird der Grundgedanke für die Affinger’sche Darstellung klar. Der „Vater Arndt“ stützt sich mit der Linken auf einen das Deutschthum bedeutenden Eichstamm, während er die Rechte abwehrend gegen Frankreich ausstreckt.

F. H.



Die Einsiedelei in Stockkämpen und ein Dichtergrab.


Der Teutoburger Wald zieht sich in einer einfachen, mit Haidekraut bewachsenen Hügelreihe weit westwärts an einer Ebene dahin, welche jenseits der Städte Hamm und Soest durch die Gebirge des Sauerlandes begrenzt wird. Von der Ruine des Ragensberges, die auf einem vortretenden Hügel der Teutoburger Kette ruht, überblickt man die Fläche, in der zwar das Auge nirgends durch besonders auffallende Punkte gefesselt wird, aber doch gern auf der bunten Mannigfaltigkeit der westphälischen Landschaft verweilt. Denn baumumgebene Gehöfte mit ihren Feldern und Wiesen, Waldgruppen, bethürmte Edelsitze, Kirchdörfer bedecken den deutlich erkennbaren Vordergrand, während die Ferne sich in einen breiten, immer mehr verblauenden Saum zusammenschiebt.

Von dem alten Grafensitze ist außer niedrigem Gemäuer und einem schauerlich tiefen Brunnen nur noch der runde Hauptthurm erhalten, dem man eine kleine Försterwohnung angebaut hat, in der man freundliche Bewirthung findet. Wer am heißen Tage den kahlen Burgberg erklettert, dann aus den Mauertrümmern den Plan der Burg sich zu entziffern gesucht und endlich von den Zinnen des Thurms die weite Rundschau genossen hat, der mag am Fenster des Gaststübchens bei kühlem Rheinwein ausruhen und behaglich das Auge über die Bilder des Vordergrundes schweifen lassen.

Mir fiel an diesem Platze in der Fläche da unten eine bedeutende Buchenwaldung auf, aus deren Mitte ein Thürmchen ragte. Die Aufwärterin wußte mir nichts zu berichten, als daß in jener Waldung das Kloster Stockkämpen liege. – Ein Kloster! Und noch von Mönchen bewohnt? – Der alte Pater Isidor komme manchmal herauf, um sich eine Gabe auszubitten. – Das war genug, um mich zu bestimmen, die ziellose Wanderschaft nach jener Seite zu richten; war doch der Tag noch lang, und nach dem herrlichen Morgengewitter mußte der Abend köstlich werden.

Der Weg führte durch die erquickte Landschaft an manchem hübschen Gehöft vorbei. Hier wateten die barfüßigen Kinder mit [78] lauter Lust in den gefüllten Regenpfützen, und dort waren die Frauen und Mädchen beschäftigt, das bleichende Garn gegen den stechenden Sonnenstrahl umzubreiten; auf allen Höfen rüsteten sich die Männer zu der morgen beginnenden Heuernte, indem sie, im Schatten sitzend, die Sensen auf dem kleinen in die Erde getriebenen Ambos durch klingende Hammerschläge schärften.

Nun war ich dem Saume des Buchenwaldes nahe. Der Hauch erfrischender Kühle strömte mir aus ihm entgegen, und ich eilte dem belebenden Schatten zu. Eine breite, hochgewölbte Allee nahm mich auf, rechts und links unter dichten Buchen das liebliche Walddunkel; kein Blättchen regte sich. Wahrlich, ein Heiligthum des Friedens und der Stille! – Langsam wanderte ich tiefer in den Wald hinein; da näherte ich mich einem lichteren Raume, und zugleich erscholl ganz nahe ein Glöckchen, wie über den Gipfeln der Bäume. Wenige Schritte noch, und ich trat in einen von hohem Wald umschlossenen freien Raum, in dem ein niedriges, rebenumsponnenes Häuschen, von einem Garten umgeben, und nahe zur Linken ein Kirchlein mit spitzem Thürmchen lag. Vor der offenen Thür des Hauses ruhte ein alter Hund, der, als er mich gewahrte, ohne zu bellen, freundlich wedelnd auf mich zukam. Kein Mensch war zu sehen, aber noch immer klang das Glöckchen auf dem Thurme, von unsichtbaren Händen geschwungen. Ich setzte mich still auf eine Bank, neben dem lebensgroßen Bilde irgend eines Heiligen, das unter dem natürlichen Baldachin einer mächtigen Buche stand. Mir war’s, als hätte mich ein Zauber um viele Jahrhunderte in eine jener Waldlichtungen zurückversetzt, aus denen durch liebe- und glaubenreiche Boten das Christenthum und die Sittigung unter unseren Vätern verbreitet ward. – Nun schwieg das Glöckchen; ein Mönch in dem grauen Franziscanerkleide trat aus der Kirchthür; der Hund, wie um mich anzumelden, sprang auf ihn zu. Aber schon hatte mich der Alte bemerkt, trat grüßend heran und lud mich mit herzlicher Freundlichkeit ein, drinnen im Stübchen auszuruhen. „Wenn Sie sich abgekühlt haben, erquicken Sie sich an einer Schale saurer Milch; sie gerinnt jetzt herrlich bei dem schönen, warmen Wetter.“ So führte er mich, als wäre ich ein erwarteter lieber Gast, in seine Wohnung.

Das Stübchen, durch dessen rebenumzogene Fenster nur ein gedämpftes Licht fiel, war halb Wohngemach, halb Capelle. Den Ehrenplatz an der Hauptwand nahm ein Hausaltar ein, auf den zahlreiche Bilder von heiligen Männern und Frauen, oft mit sehr scharf ausgeprägten Schmerzgebehrden, von der Wand herabschauten. Die übrigen Seiten des Zimmers waren mit Vogelbauern und allerlei Natur- und Kunstmerkwürdigkeiten geschmückt, wie sie der Alte auf seinen Wanderungen in der Nachbarschaft zusammengelesen haben mochte. Einen Plan konnte ich in dieser Sammlung nicht entdecken; es war ein buntes Allerlei von Bildern, Blumenvasen, ausgestopften Vögeln, Büsten, selbst Waffen und Jagdgeräthen. Eine Ecke am Fenster enthielt einen gewaltigen Lehnstuhl, und der massive Tisch vor diesem nebst einigen hölzernen Schemeln machte das ganze Stubengeräth aus.

Der lebendige, redselige Alte, einem Bäuerlein im Mönchskleide nicht unähnlich, schien sich über die Aufmerksamkeit zu freuen, die ich seinem Museum widmete, und erzählte ausführlich, wie er dieses und jenes erlangt habe, und daß oft eine nicht geringe Schlauheit und Ueberredungsgabe erforderlich gewesen sei, um die früheren Besitzer zum Abtreten so werthvoller Dinge zu vermögen. Am meisten belustigte mich sein Bericht über die Acquisition des lebensgroßen Heiligenbildes, an dessen Seite ich mich niedergelassen hatte. „Den heiligen Antonius,“ sagte er, „entdeckte ich vor Kurzem in einer Dorfkirche, bei Seite geworfen zu andern Gerümpel. Ich besah ihn mir genauer. Zwar waren ihm beide Arme abgefallen, und die Nase war auch weg, aber ich merkte doch, daß aus ihm noch etwas zu machen war, und erbat ihn mir. Zwei Bursche trugen ihn her, und als sie ihn vor der Thür auf die Erde warfen, fragten sie spöttisch, ob sie ihn auch gleich zersägen und zerspalten sollten; ein paar Mal einheizen könne ich im Winter mit dem Holze. Ich ließ sie lachen und ging den andern Tag zu einem geschickten Tischler, der nach meiner Anweisung ganz hübsche Arme und eine gehörige Nase zu Stande gebracht hat, und als er darauf vom Glaser angepinselt war, konnte gewiß Niemand mehr etwas an ihm auszusetzen haben. Sehen Sie nur selbst, wie ehrwürdig er dort auf seinem Rasenpostament im Schatten der Buche steht!“

Ich gab dem glücklichen Alten Recht und erkundigte mich, während ich die herrliche Milch genoß, nach der Geschichte seiner Siedelei und nach dem Leben, das er hier führe. „Würden Sie es glauben,“ rief er, indem er eine Prise nahm und mit besonderer Geschicklichkeit die Dose in die Kapuze auf seinem Nacken warf, „würden Sie es glauben, daß vor 60 Jahren dieser Wald eine öde, baumlose Sandfläche war? Der Landstrich gehörte den Grafen Schmiesing auf Totenhausen und wurde gar nicht geachtet. Da wußte Bruder Ambrosius aus dem Kloster zu Wahrendorf einen gewissen Bezirk von der frommen Gräfin als Geschenk zu erwerben; er war eines Försters Sohn und verstand sich noch aus der Jugendzeit auf das Waldwerk. An dem kleinen Berge entlang pflanze er Erlen an und gewann so den ersten Schatten und durch den Laubfall besseren Boden für edlere Bäumchen. Von Jahr zu Jahr erweiterte er seine Pflanzungen, und als er starb, waren schon mehrere Morgen mit lustigem Walde bedeckt. Er hat auch diese Kirche und das Häuschen aus dem Erlös der Gaben erbaut, die er auf seinen Bittfahrten weit in der Fremde zusammenbrachte. Der Anfang war klein, aber fromme Seelen, als sie sahen, daß das Werk gedieh, steuerten bei, und so ist dies Filial des Klosters Wahrendorf der Mittelpunkt einer zerstreuten Gemeinde geworden, die früher weite und beschwerliche Wege zum Gotteshause hatte. – „Da sollten Sie hier sein,“ rief er mit leuchtenden Augen, „wenn das Fest unseres Schutzpatrons gefeiert wird! Meilenweit kommt Alt und Jung herbei, und wenn der Morgengottesdienst zu Ende ist, lagert sich die Menge, Männer, Weiber, Kinder, unter den Bäumen um die Kirche her; die Reicheren haben Lebensmittel die Fülle mitgebracht, Alles schmaust, trinkt, lacht, und wenn ich von Gruppe zu Gruppe wandere, um Beisteuer für die Speisung der Armen zu erbitten, so wird mir mit vollen Händen gereicht, und ich vertheile dann die Gaben unter die, welche nichts mitbringen konnten und doch auch satt und fröhlich werden.“

Es sprach eine so reine Freude aus seinen Augen, daß ich ihm herzlich gut werden mußte, und ich hätte ihn sehen mögen, den fröhlichen Geber unter seinen fröhlichen Gästen.

Der Tag neigte sich, und ich wollte dem Pater für freundliche Bewirthung danken. „Ei, nein!“ rief er, „Sie dürfen nicht weggehen, ohne mein Kirchlein gesehen zu haben; vielleicht auch noch etwas, das Sie interessiren könnte,“ setzte er mit bedeutungsvollem Lächeln hinzu. Die Kirche war zwar klein, aber außerordentlich sauber. Auch hier schien der kunstreiche Glaser, welcher den heiligen Antonius mit den lebhaftesten Farben ausgestattet hatte, nach Herzenslust gewaltet zu haben, denn sie war aus Holzmerk mit dem blausten Blau, wunderschön gelb gerandet und marmorirt, übermalt; der Altar war mit allerlei Rippwerk, von dem oft schwer zu sagen gewesen wäre, wie es hierher paßt, reichlich besetzt. Der Alte sah mir aufmerksam in’s Gesicht, um zu beobachten, welchen Eindruck seine Herrlichkeiten auf mich machten. Ich weiß gewiß, daß er keinen ketzerischen Zug von Lächeln darin bemerkt haben wird; er war meinem Herzen zu ehrwürdig geworden, als daß ich in seine kleinen Liebhabereien nicht gern hätte eingehen sollen. Wir traten aus der Kirche, gegenseitig mit einander wohl zufrieden, und er führte mich auf den keinen Friedhof hinter der Kirche.

Es stand da, dicht an der Kirche, ein wucherndes Jasmingebüsch, welches drei Grabsteine ganz umhüllte. Der Pater bog es auseinander, damit ich die Inschriften lesen konnte. Auf dem Steine in der Mitte las ich: „Friedrich Leopold, Graf zu Stolberg.“ Darunter: Sume, Psyche, immortalis esto! (Nimm, o Psyche, den Becher der Unsterblichkeit! Unsterblich sollst du sein!) Auf dem zur Rechten stand: „August, Graf zu Stolberg. Todeswund vom Schlachtfeld zu Waterloo heimgetragen, durfte er in den Armen seiner Lieben sterben!“ Der dritte trug die Inschrift: „Auguste, Gräfin zu Stolberg.“

Welch ein wundersames Zusammentreffen. Gestern hatten mich Gedanken über denselben Mann, an dessen Grabstätte ich mich heute so unerwartet finden sollte, lebhaft beschäftigt! Zu Sondermühlen, einem Edelhofe im Amte Groenerberg, hatte mir ein alter Mann von dem Grafen erzählt, der dort die letzten Jahre seines Lebens zubrachte. Ihm war der schlanke, leutselige Herr noch wohl erinnerlich, der, in Sinnen vertieft, die lange Allee auf- und abzuwandeln pflegte; kein Armer, sagte er, sei ungetröstet und unbeschenkt von ihm gegangen. Es hatte um den Herrn beständig eine Sabbathstille geherrscht; in Religionsübungen sei er mit seiner Familie sehr eifrig gewesen; viele Stunden habe er täglich einsam gelesen und geschrieben. „Und doch,“ schloß der Erzähler, „so reich [79] und fromm der Herr war, konnte ich ihn nie ohne Bedauern sehen; er schien mir im Herzensgrunde nicht froh und glücklich zu sein; ob es Krankheit war, oder ein inneres Leid, wer konnte es wissen?“ –

Es sind nicht besonders große Verdienste um die Förderung unserer Literatur, noch weniger ausgezeichnete Thaten oder Schicksale auf anderen Gebieten, welche dem Grafen Fr. Leopold zu Stolberg die Theilnahme der Nachlebenden erhalten haben. Es ist vielmehr das Interesse, welches wir für Alles fühlen, das mit der Jugend unserer zweiten glänzenden Literaturperiode irgendwie in Verbindung gestanden hat, was ihm unter den Gebildeten unserer Nation ein freilich getrübtes Andenken sichert. Wir haben wenig, Ursache, mit Stolz auf den Lauf unserer Geschichte zurückzublicken. Nur eines Zweiges an dem Lebensbaume unseres Volks können wir uns von Herzen erfreuen, weil er zu einer vollen, prächtigen Krone ausgewachsen ist, welche selbst die Verkümmerung der übrigen Zweige versteckend zu hüllen vermag; das ist unsere Literatur, die nicht durch künstliche Pflege und hochgeneigte Protection, sondern aus eigener Kraft des Volksgeistes entsprossen, erblüht und zu unsrer Freude und zu unserm Stolz erwachsen ist. Wie gern versetzen wir uns in die Zeit zurück, da dieser Zweig unsres Volkslebens die ersten Knospen in die herbe Lenzluft hinaustrieb! Wie verehren wir die, welche, kühn die Fesseln der Fremde abwerfend, den Muth hatten, zu sagen und zu singen, wie ihnen um’s Herz war! Wie freuen wir uns, wenn nach der hundertjährigen Dürre und Selbstvergessenheit dem vernachlässigten Boden solche ungeahnte Schätze entsprießen, und wenn das deutsche Aschenbrödel plötzlich als so liebliche, blühende Jungfrau vor den Augen der erstaunten Welt steht!

Und in dieser Erstlingszeit schien Stolberg berufen, unter den Strebenden in vorderster Reihe zu stehen. Er war der geliebte, vielleicht von Anfang an überschätzte Genosse des Göttinger Dichterkreises, welcher sich auf das Innigste an Klopstock anschloß, der am glücklichsten und kühnsten den Reichthum der deutschen Brust zu Tage förderte. Denn aus Allem, was Voß in der Schrift: „Wie Fritz Stolberg ein Unfreier wurde,“ dargelegt hat, geht hervor, daß man Stolberg nicht Unrecht thut, wenn man ihn mit dem treffenden Worte Goethe’s eine „problematische Natur“ nennt. Es war nicht in ihm, mit festem, unbeirrtem Gange einem hohen Ziele sein Leben hindurch zuzustreben, er schwankte hin und her, wie äußerliche Einflüsse ihn bestimmten, und glaubte am Ende gegen den Zustand innerlicher Unbefriedigung, der die Frucht seiner Haltlosigkeit sein mußte, im Schooße der alleinseligmachenden Kirche ein Heilmittel zu finden. So verschieden, je von verschiedenen Standpunkten aus, man über diesen Schritt urtheilen mag, des Eindrucks wird man sich nicht erwehren können, daß das Leben dieses Mannes nicht ein vollwüchsiges, gesundes gewesen ist, und daß sein Abend nicht wahr gemacht hat, was der Morgen verhieß.

Der Pater bemerkte wohl den großen Antheil, welchen ich an dem Todten nahm, der hier ruhte; er erzählte Alles, was er von ihm wußte. Weil ich aber fühlte, daß meine Gedanken über den Verstorbenen nie des Paters Gedanken werden könnten, so hielt ich es für das Beste, ihm schweigend zuzuhören, und bat ihn endlich, mich auf den Weg nach Totenhausen zu geleiten, wo ich übernachten wollte.

Als wir aus dem Walde traten, lag die weite, sandige Ebene, nur hie und da von Fichtenwäldchen unterbrochen, im rothen Abendschimmer vor uns. Im Osten stieg der Vollmond am reinen Himmel auf, und hinter uns stand der westliche Horizont noch in der vollen Gluth des Abendroths. „Morgen giebt’s wieder einen herrlichen Tag!“ sagte der Pater. „Sie können nun nicht irren. Gott sei mit Ihnen!“ Ich drückte ihm herzlich die Hand und ging. Noch lange sah ich ihn am Eingange des Waldes stehen und segnend die Hand gegen mich erheben, so oft ich mich umwandte. Aber im Gehen mußte ich immer wieder denken: „Möchte doch der Abend jenes Todten dem heutigen ähnlich gewesen sein! So still und friedlich niedersinkend und voll Verheißung eines schöneren Morgens!“


Blätter und Blüthen.


Eine Schlittschuh-Quadrille. Indem Verfasser auf den in Nr. 8 des vorigen Jahrgangs der Gartenlaube aufgenommenen herrlichen Artikel „Auf der Schlittschuhbahn“, welcher hoffentlich seinen guten Zweck, das Schlittschuhlaufen zu fördern, nicht verfehlt hat, zurückverweist, bringt er unten eine Quadrille, wie solche seines Wissens – wenigstens im Norden Deutschlands – bisher nicht ausgeführt ist. Möge auch sie dazu beitragen, neue Freunde dem Eise zu gewinnen, denn wenngleich ein einsamer Schlittschuhlauf des Angenehmen viel bietet, so gewährt doch jedenfalls ein schönes Zusammenwirken auf der glatten Bahn auch manches Interessante. Sollte aber nachfolgende Anleitung den geübteren Läufern nicht genügen, so bleibt es ja ihrer Phantasie und Geschicklichkeit unbenommen, neue, schwierigere Touren zu bilden und auszuführen.

Allgemeine Bemerkungen. Es sind 12, 14 oder 16, Läufer in zwei gleich großen Abtheilungen angenommen. Nach Aufstellung der Läufer numeriren die Abtheilungen von der Mitte aus. Die Richtung ist immer nach den Führern (Nr. 1 jeder Abtheilung). Die Flügel der Abtheilungen sind mit den gewandtesten Läufern zu besetzen. Die Führer (respective der Führer) geben durch Wort oder Wink das Zeichen zum Anfang der einzelnen Aufführungen. Der gewöhnliche Abstand zwischen den einzelnen Läufern ist 3–4 Schritt. Wenn kein besonderes Laufen angegeben, so ist das gewöhnliche gemeint. Es wird immer links Kehrt gemacht. Ein vorheriges Durchgegen der einzelnen Touren mit den Läufern auf dem Lande würde die wirkliche Einübung auf dem Eise erleichtern. Die Bahn würde etwa 50 Schritt im Quadrat zu nehmen sein. Die in der Zeichnung mit großen Buchstaben angedeuteten Punkte würden durch Leute, welche kleine Tafeln mit den entsprechenden Buchstaben tragen, zur bessern Orientirung markirt werden können. Die Leute mit den 4 innern Buchstaben treten bei den 3 letzten Touren heraus. Der Punkt T ist durch einen eingesteckten Pfahl zu bezeichnen.

Schlittschuh-Quadrille.

1. Tour. Aufstellung auf der Linie A N. Front gegen die Bahn. Rechts Abtheilung 1, links Abtheilung 2. Im raschen Lauf Vorrücken bis zur Linie C P. Halt. Grüßen. Kehrt. Die Abtheilungen rechts, resp. links, schwenken nach A und N. Halt. Front. Durchlaufen. Rechts am vis-à-vis vorbei. Auf den Grenzlinien der Bahn kehrt. Zurück. Abtheilung 1 schräge vorwärts bis zur Linie K M. Im kurzen Schleifbogen Kehrt. Zurück. Front. Halt. Abtheilung 2 analog dasselbe. Beide Abtheilungen vorwärts bis zur punktirten Linie. Beim Zusammentreffen rechts respective links um und zu zweien nach S. Abtheilung 1 rechts, Abtheilung 2 links auf den Grenzlinien der Bahn nach R. Führer rechts respective links schwenken zu zweien. Wenn die Führer die Linie C P erreicht, rechts resp. links um und zu den Linien N P und A C. Kehrt. Halt.

2. Tour. Ohne scharfes Absetzen beide Abtheilungen schräge vorwärts bis zu K M und F H. Im Rückwärtslauf zurück. Abtheilung 1 ohne scharfes Absetzen nach Abtheilung 2. Beim Zusammentreffen Hände vor. Abtheilung 2 schiebt Abtheilung 1 zurück. Abtheilung 2 Kehrt und im schnellen Lauf zurück. Abtheilung 2 ananlog dasselbe. Beide Abtheilungen zur punktirten Linie. Die gegenüberstehenden Läufer geben sich die rechten Hände und schleifen [80] im Halbkreis um sich herum. Beide Abtheilungen zurück. Front. Halt. Vorwärts auf dem Zwischenraum rechts vom vis-à-vis. Auf der punktirten Linie sich herumwerfen und rückwärts zur Bahnlinie. Halt. Dasselbe noch mal. Halt.

3. Tour. Rechts um. Bei dem nun folgenden Laufen werden successive 12 Schritt Abstand genommen. Marsch. Abtheilung 1 bei P. Abtheilung 2 bei R in den großen Kreis. Führer der Abtheilung 1 zum zweiten Mal an P vorüber bei c in den kleinen Kreis L. Gleichzeitig Führer der Abtheilung 2 hinter B bei a in den kleinen Kreis F. Sowie die Läufer in den kleinen Kreis einrücken, Uebertreten rechts, d. h. den rechten Fuß über den linken setzen. Wenn die Führer zum zweiten Mal bei c, resp. bei a angekommen, laufen sie resp. nach d und b in die kleinen Kreise G und K. Sobald die Führer dann wieder zum zweiten Mal bei d, resp. b angekommen, kann Halt, Kehrt gemacht und dasselbe mit links Uebertreten zurück ausgeführt werden; sonst aber Führer bei den angegebenen Buchstaben in den großen Kreis und, indem die Distancen verkleinert werden, zu den Linien N P und A C. Front. Halt.

4. Tour. Abtheilung 1 schräge vorwärts nach T S. Abtheilung 2 nach T R. Die beim Pfahl T Stehenden umfassen denselben mit der linken Hand oder dem Arm. Alle Läufer geben einander die Hände. Kreisen um den Pfahl. Im Anfang langsam, allmählich schneller. Zum dritten Mal auf der punktirten Linie angekommen Halt. Aufstellung auf der Linie T S. Abtheilung 1 rechts, Abtheilung 2 links. Führer in der Mitte. Der linke Flügelmann der 2 Abtheilung umfaßt den Pfahl. Hände anfassen. Kreis um den Pfahl. Zum dritten Mal bei der punktirten Linie angekommen Halt, Kehrt. Kreis zurück. 3 Mal. Halt. Abtheilung 1 rechts um, Abtheilung 2 links um. Führer geben sich die Hände und laufen vorwärts nach C. Die folgen in derselben Weise. Ueber B E R T. Wenn die Führer auf der Linie C P angekommen, Hände loslassen und die Abtheilungen im Rückwärtslauf zu den Linien N P und A C. Halt.

5. Tour. Abtheilung 1 durch Bogenschlagen nach Abtheilung 2. Führer muß zählen, damit alle Läufer zugleich rechts und links absetzen. Der Abtheilung 2 nahe gekommen, den Bogen so weit schlagen, daß die Front wieder N P ist. Zurück. Halt. Abtheilung 2 dasselbe. Beide Abtheilungen Bogenschlagen vorwärts. Beim Zusammentreffen schlägt jeder Läufer einen so großen Kreis um sein vis-à-vis, daß die Abtheilungen wieder die Front zu ihren Aufstellungslinien haben, wohin sie in derselben Weise zurücklaufen.

6. Tour. Abtheilung 1 links, Abtheilung 2 rechts schwenkt nach R. Front. Hände anfassen. Vorwärts. Bei der Linie O B niederhocken, sich gleiten lassen bis zur Linie C P, aufrichten, vorwärts bis zur Linie Q D. Kehrt. In derselben Weise zurück. Halt. Es wird jetzt mit langen, auf Füßen von 1 Fuß Höhe ruhenden Latten die Linie C P belegt. Darauf vorwärts, vor den Latten sich gleiten lassen, etwas niederhocken, um Schnellkraft zu dem nun folgenden, möglichst von allen Läufern zu gleicher Zeit auszuführenden Sprunge zu gewinnen. Führer bei S rechts resp. links schwenken und zur Linie N A zurück. Die Linie O B ebenso wie C P belegen. Vorwärts; zwei Sprünge. Aufstellung auf der Linie Q D. Grüßen. Abtreten.

M.


Die Arbeiterzeitung, welche seit Beginn dieses Jahres bei F. Streit in Coburg erscheint, zeigt sich in ihren ersten Nummern als ein gediegenes und der allgemeinen Theilnahme würdiges Blatt. Jeder redliche Deutsche, der das öffentliche Leben mitlebt, ist über die Bedeutung der Arbeiterbewegung nicht mehr in Zweifel. Sie ist eine der großartigsten Erscheinungen der Neuzeit, denn sie ist nicht erst durch die Belehrung und Aufmunterung der Presse hervorgerufen, sie ist nicht gemacht, sie ist da, sie ragt plötzlich über alle Erscheinungen der Gegenwart als eine lebensvolle empor, und ihr mächtiger Geist durchdringt die großen Massen, das arbeitende Volk in ganz Deutschland. Da gilt es für jeden Vaterlandsfreund, herbeizueilen mit der Herzenssorge, die große Bewegung in der gesunden Bahn zu erhalten, in welche sie durch das Verdienst unsers Schulze-Delitzsch geleitet worden ist; es gilt vor Allem, mit aller Anstrengung zu verhüten, daß sie nicht entweder von der Reaction mißbraucht und zu Grunde gerichtet, oder durch den Eifer unklarer Feuerköpfe auf Irrwege verlockt werde, die das gesunde deutsche Wesen derselben als einen Abklatsch des krankhaften französischen Socialismus und Communismus verdächtigen lassen könnten. Daß dies im Interesse der Arbeiter und des gesammten Vaterlandes nicht geschehe, das ist die Aufgabe dieser Arbeiterzeitung! – Es ist von der größten Folgewichtigkeit, daß jetzt, ehe neue Erschütterungen über unsern Welttheil und unser Vaterland hinbrausen, die feste Grundlage zur Lösung der socialen Frage gelegt, daß Capital und Arbeit jetzt versöhnt werde – ehe es zu spät ist. Also Hand an’s Werk! Feste, treue Hand an die Arbeiterzeitung!


Der unglückliche Skipper „in der Buoy-Kette auf der Themse (Nr. 2) hat viel Grausen, auch Zweifel erregt. Vielen Lesern mit schwachen Nerven war die Geschichte gar zu entsetzlich. Die Spötter rufen höhnisch: Warum haben sie die Kette nicht durchgefeilt oder zerhauen? Die Antwort, die im Verlauf der Geschichte selbst nur angedeutet ward: „Selbst als ein Mädchen rasch und ernst ausrief, man möge die Kette zerhauen, lachte Niemand“ (blos wegen der ernsten Situation, obgleich dieser Vorschlag jedem Erwachsenen lächerlich erschien) genügte wohl den meisten deutschen Lesern, die vielleicht blos Wagenketten gesehen haben und mit der Uhrkette spielen, durchaus nicht. Die deutlichere Antwort ist denn: Die Kette, 1½ Zoll Durchmesser in jedem Gliede – also welcher Umfang und von Schmiedeeisen! – war viel zu stark zum Durchhauen mit Händen und Hämmern. Durchfeilen läßt sie sich natürlich mit der Zeit. Wie viel dazu gehört, mag sich leicht annähernd ermitteln lassen, wenn sich etwa ein Spötter die Mühe giebt, das Glied einer gewöhnlichen Wagenkette durchzufeilen. Außerdem hätte sie unterhalb, wasserwärts, durchgefeilt werden müssen. Dazu war aber, nachdem begreiflicher Weise alle Mittel versucht worden waren, den Fuß zu befreien, wegen der anschwellenden Fluth durchaus keine Zeit mehr.

Nun still davon, damit die deutsche Weisheit vom Zerhauen oder Zerfeilen nicht bis zu den Capitains und Londoner Themsemännern dringe, sonst lachen sie, wegen der wenigen Schwachen unter uns, wieder die ganze deutsche Nation aus.

Der Verfasser H. B.


Kleiner Briefkasten.


C. Falkenhain in Breslau. Die Gründung eines Neu-Deutschlands in Amerika durch deutsche Privatmittel ist ein schöner Traum. Ehe Alt-Deutschland in sich fertig, innen gefestet und nach außen land- und seemächtig gerüstet ist, ehe dieses Alt-Deutschland fähig ist, ein überseeisches Neu-Deutschland unter seinen Schutz zu nehmen, – wird die Bemühung, den Zug der deutschen Auswanderer nach einem Punkte hinzuleiten, zwar recht lobenswerth sein, aber sie schadet sich selbst, wenn sie den Mund zu voll nimmt, oder sie zieht den Begriff von „Alt-Deutschland“ tief hinunter, wenn sie Das, was ihr etwa zu begründen möglich ist, eine schutzlose Colonie unter fremder Oberherrlichkeit, gleich mit dem Namen eines „Neu-Deutschlands“ belegt. Durch Auswanderungs-Bureaux werden keine überseeischen Staaten gegründet: also mehr Bescheidenheit in der Terminologie der Speculation!


  1. Die schlangenähnliche Blindschleiche gehört zu den Eidechsen.
  2. In meiner Schrift „die Bekleidung des Infanteristen“ (Berlin, Mai’sche Buchhandlung) habe ich den Marschstiefel für den Infanteristen angegeben.