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Die Gartenlaube (1863)/Heft 7

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[97]
Ein Vertheidiger.
Von J. D. H. Temme.


In dem geräumigen Schwurgerichtssaale befand sich eine zahlreiche Zuschauermenge. Sie gehörte meist den höheren Ständen aus der Stadt und der Nachbarschaft an. Der Fall, der verhandelt werden sollte, hatte in der Gegend eine Berühmtheit erlangt und betraf Personen und Verhältnisse der höheren Stände. Ein adliger Gutsbesitzer der Gegend hatte bei seiner schönen Frau einen jungen Officier betroffen und ihn niedergeschossen. Er hatte dem Paare, gegen das ihm schon seit einiger Zeit Verdacht erweckt war, aufgelauert; er war daher der vorbedachten Tödtung, des Mordes, angeklagt, und seine Strafe war, wenn die Geschworenen ihn schuldig erklärten, die Strafe der Hinrichtung durch das Beil.

Ob die Geschworenen ihn schuldig erklären würden, das war die allgemeine Frage, die den Zuschauerraum des Gerichtssaales mit allen den erwartungsvollen Menschen gefüllt hatte. Auch ich hatte mich hinbegeben. Nicht der Schreiber dieser Zeilen. Dieser hat seit zehn Jahren sein deutsches Vaterland nicht wiedergesehen, und die Geschichte, die er hier niederschreibt, ist erst vor wenigen Jahren in Deutschland passirt. Aber ein Freund aus der Heimath besuchte ihn im vorigen Sommer und erzählte ihm, was hier niedergeschrieben werden soll, und der Schreiber führt den Freund erzählend ein.

Ich war fremd in der Stadt, auf der Durchreise nach der etwa sechs Meilen entfernten Hafenstadt. Einen Abend vorher hatte ich im Gasthofe nur von dem morgenden Criminalfalle sprechen hören; ich war kein großer Freund der Schwurgerichte und theilte um so mehr die allgemeine Spannung. Ich mußte der Verhandlung der Sache beiwohnen. In der Hafenstadt kam ich auch am zweiten Tage noch früh genug an.

„Ist die Sache so klar, wie ich von allen Seiten höre,“ hatte ich gefragt, „wie kann man dann zweifelhaft sein, ob die Geschworenen verurtheilen werden?“

„O, mein Herr,“ war mir geantwortet worden, „der Angeklagte wird von dem berühmtesten Advocaten der Residenz vertheidigt.“

„Können denn die berühmten Advocaten Ihrer Residenz den hellen Tag zur Nacht, oder schwarz zu weiß machen?“

„Hm, mein Herr, der Zufall hat eigenthümlich bei der Auswahl der Geschworenen gewirkt.“

„Entschuldigen Sie, an einen Zufall bei der Auswahl der Geschworenen glaube ich nicht recht.“

„Mein Herr, die Geschworenen sind ausgeloost!“

„Ah –! Aber wie ist die Stimmung der Beamtenwelt gegen den Angeklagten? der Regierungs- und Gerichtspräsidenten, die doch auch bei jener Ausloosung gewirkt haben?“

Man zögerte mit der Antwort.

„Der Ermordete,“ sagte endlich Einer, „war Officier und gehörte den ersten adligen Familien des Landes an.“

„Und der Angeklagte?“

„Er ist fremd hier. Er hat sich erst vor anderthalb oder zwei Jahren in der Gegend angekauft und niedergelassen.“

„Aber, mein Herr,“ nahm ein Anderer etwas eifrig das Wort, „Sie werden nicht glauben, daß diese Umstände auf die Verhandlung und Entscheidung der Sache irgend welchen Einfluß ausüben können!“

„Ich bin entfernt davon, meine Herren. Indeß die Geschworenen?“

„Sind meist Personen aus den mittleren Ständen: reiche Bauern, wohlhabende Handwerker, kleine Kaufleute.“

„Und,“ fiel der Eifrige ein, „kein einziger pensionirter Officier ist dabei, und nur drei Adelige auf sechsunddreißig Geschworene; Sie müssen zugeben –“

„Daß da der Zufall allerdings auffallend unparteiisch gewirkt hat!“

„So meine ich.“

Es war indeß in der Gasthofsgesellschaft Einer, der nicht eifrig war und der Meinung des Eifrigen nicht zu sein schien.

„Solche Leute aus den mittleren Ständen,“ meinte er, „pflegen zuweilen verzweifelt mittelmäßig an Kopf und Charakter zu sein und eines Führers zu bedürfen, dem sie dann um so unbedingter folgen, je fremder ihnen das Gebiet ist, das sie betreten sollen.“

„Um so mehr,“ warf der Eifrige ein, „würden sie dem berühmten Advocaten aus der Residenz folgen.“

„Ich meine, um so weniger. Von dem berühmten Advocaten aus der Residenz wissen sie eben nichts, als daß er ein berühmter Advocat ist, und die Berühmtheit eines Advocaten bringt die Menge nur zu leicht in Verbindung mit Pfiffen und Kniffen, mit Schlichen und Rechtsverdrehungen; da ist man auf der Hut und sieht sich um so angelegentlicher nach einem anderen, als bewährt bekannten Führer um, und das ist der Präsident des Schwurgerichts, den eben Jedermann kennt.“

„Und wer ist der Präsident des Schwurgerichts?“ fragte ich.

„Ein braver Mann und ein tüchtiger Jurist, der in allgemeiner Achtung steht.“

So meinte ich!“ sagte in einem etwas eigenthümlichen Ton der, der dem Eifrigen opponirt hatte. Und von einer Opposition konnte in dem öffentlichen Gasthofe der Provinzstadt nicht weiter die Rede sein.

[98] Der Zuschauerraum des Gerichtssaales war gefüllt. Herren und Damen waren da, vom Militär und Civil. Die Damen und die Officiere saßen in den vorderen Bänken, weniger vornehme Herren und Damen hinten. In einer deutschen Provinzstadt ordnet sich auch so etwas. Die Geschworenen waren ebenfalls schon da, alle sechsunddreißig. Es fehlte kein einziger. Sie saßen in drei geraden Reihen auf den drei langen Bänken. Man übersah so die kräftigen, braven, mitunter intelligenten Gesichter der reichen Bauern, der wohlhabenden Handwerker, der kleinen Kaufleute. Die drei adeligen Herren unter ihnen zeichneten sich fast nur durch ihre wohlgepflegten Vollbärte aus.

Die Richter waren noch nicht da. Aber der Staatsanwalt, der öffentliche Ankläger, saß schon auf seinem hohen Sessel vor seinem Pulte, in Acten blätternd. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mit dem vollen Ausdrucke der Klugheit, der Ruhe und des Ehrgeizes in dem angenehmen Gesichte. So müssen Staatsanwälte sein; denn sie müssen Carriere machen – wenn sie schon in mittleren Jahren sind, Präsidenten werden.

Gensd’armen und Gerichtsdiener standen, Wache haltend, an den Seiten des Saales. Eine Uhr oben im Saale schlug neun Uhr, und um diese Zeit sollten die Gerichtsverhandlungen beginnen. Eine Thür öffnete sich, und ein Gerichtsdiener trat in den Saal. Das Gericht folgte ihm, voran der Präsident, hinter ihm die vier anderen Richter. Sie nahmen ihre Plätze an dem langen Tische ein. Der Präsident eines Schwurgerichts pflegt ein aristokratischer Mann, die Mitglieder pflegen gewiegte Männer der Bureaukratie zu sein.

Drei Minuten darauf wurde der Angeklagte in den Saal geführt. Sein Vertheidiger trat mit ihm ein. Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich den beiden Männern zu, die heute eine bedeutende Rolle spielen sollten, von denen der Eine um sein Leben kämpfen, der Andere jenem beistehen sollte, sein Leben zu rette. Der Eine, der Angeklagte, war den Anwesenden nur wenig bekannt, den Anderen kannte vielleicht noch Niemand.

Der Angeklagte war ein schöner, junger Mann von einigen dreißig Jahren, mit einem blassen, etwas südlich geformten Gesichte, mit großen, dunklen, kühn blitzenden Augen, mit einem stolzen, raschen, entschlossenen Wesen.

Sein Vertheidiger, der erste Advocat der Residenz, war ein Mann von mittlerer Größe, etwas mager; das hellblonde Haar lag glatt an, das frische, nichts weniger als markirte Gesicht war unbeweglich; die hellblauen Augen blickten klar und ruhig; seine Bewegungen waren leicht und doch etwas gemessen.

„Das der erste Advocat des Landes?“ fragte man sich, nachdem man den Mann betrachtet hatte. „Man sieht ihm nicht einmal besondere Klugheit an. Nur gutmüthig scheint er zu sein. Ah, er will schon vor den Geschworenen ein Ruhespiel aufführen und sie dadurch gewinnen. Da kommt er hier schlecht an!“

Der Präsident des Gerichts verkündete den Anfang der Verhandlung. Die zwölf Geschworenen für die Sache wurden ausgeloost. Weder der Staatsanwalt noch der Vertheidiger verwarfen einen von ihnen. Das Loos hatte in bunter Mischung die kleinen Leute getroffen, reiche Bauern, wohlhabende Handwerker, kleine Kaufleute. Von den drei adligen Herren war nur einer aufgerufen.

Die Herren, mit denen ich am Abend vorher im Gasthofe gewesen war, warfen mir fragende Blicke zu, ob ich auch hier nicht an den Zufall des Looses glauben wolle. Ich verbeugte mich gläubig gegen sie.

Die ausgewählten Geschworenen nahmen ihre Plätze ein.

Der Präsident fragte den Angeklagten nach seinen persönlichen Verhältnissen.

„Ihr Name?“

„Joseph Maria Freiherr von Wallberg.“

„Ihr Alter?“

„Zweiunddreißig Jahre.“

„Wo sind Sie geboren?“

„Zu Valencia in Spanien.“

„Sie führen einen deutschen Namen!“

„Mein Geschlecht ist ein altes deutsches Adelsgeschlecht. Mein Vater war als junger Officier nach Spanien gegangen. Er heirathete in Valencia eine edle, reiche Spanierin. Ich verließ nach dem Tode meiner Eltern meine Heimath, reiste mehrere Jahre und ließ mich vor zwei Jahren in dem hiesigen Kreise nieder.“

„Sie sind verheirathet?“

„Ja.“

„Ihre Ehe ist ohne Kinder?“

„Ja.“

Der Prästdent ließ die Zeugen hereinrufen. Es waren zwei junge Officiere, Cameraden des Ermordeten, ferner Diener und Dienerinnen aus dem Schlosse des Angekagten und Landleute aus der Gegend. Sie wurden vereidigt und wieder entlassen.

Die Anklageschrift wurde durch den Gerichtsschreiber verlesen.

Der Freiherr Joseph Maria von Wallberg war seit drei Jahren verheirathet mit Therese Ida von Hauenstein, Tochter des –schen Consuls in New-York, die er während seines Aufenthaltes dort kennen gelernt, und mit der er bald nach der Trauung nach Europa gegangen war, um zunächst sein Vermögen in Spanien zu realisiren und sich dann in Deutschland, dem Beide durch ihre Familien angehörten, niederzulassen. Er hatte vor zwei Jahren das Gut Hard, vier Meilen von der Stadt entfernt, angekauft und dort seinen Wohnsitz genommen. Die beiden Gatten machten ein angenehmes Haus. Sie waren reich, gastfrei, jung, liebenswürdig; sie liebten die Wissenschaften, die Künste; die Frau war schön, geistvoll, musikalisch; der Mann war lebhaft, ein muthiger Reiter, ein rastloser Jäger. Das Schloß Hard sah beinahe täglich Gesellschaft, und die Gesellschaft war die ausgesuchteste der Gegend. Die Liebe der beiden Gatten zu einander war eine innige, zärtliche. Auf Seite der Frau schien es wenigstens so. Das angenehme Leben auf Schloß Hard, das Glück der Ehegatten war durch nichts gestört. Da trug sich vor einem Vierteljahr, am Dienstag, den 10. April, Folgendes zu.

Der Angeklagte hatte an diesem Tage des Morgens früh das Schloß verlassen, um nach H. zu verreisen, wo er Geschäfte hatte. Wie gewöhnlich, wenn er dahin reiste, was öfters der Fall war, ritt er allein und ohne Bedienten bis zu der nächsten, eine Meile von dem Schlosse entfernten Eisenbahnstation – Wiekel hieß sie – übergab hier den Leuten des Gasthofs sein Pferd und fuhr auf der Eisenbahn weiter. Er hatte erst am folgenden Tage, am Mittwoch, zurückkehren wollen. In der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch aber wurden die Bewohner des Schlosses plötzlich durch einen ungewöhnlichen Lärm aus dem Schlafe geweckt. Fast Alle hatten unmittelbar an der Rückseite des Schlosses, nach dem Garten hin, einen Schuß fallen hören. Dem Schusse war ein schwerer Fall, dann der laute Hülferuf eines Mannes gefolgt; dem Rufe der Angstschrei einer Frauenstimme. Ehe die aus dem Schlafe aufgeschreckten Menschen sich besinnen konnten, war ein zweiter Schuß gefallen. Darauf war Alles still geworden und still geblieben. Die Bewohner des Schlosses – es waren nur Domestiken – waren aus ihren Betten aufgesprungen. Die Besorgteren und Entschlosseneren waren in den Garten geeilt, wo man die beiden Schüsse hatte fallen hören. Sie hatten die Thür des Schlosses, die in den Garten führte, offen gefunden; schon das war ihnen aufgefallen. Als sie in den Garten traten, fiel ihnen sofort weiter das Wiehern eines Pferdes auf, das hinten im oder am Garten unmittelbar an der Hecke sich befinden mußte. Einige wollten dahin eilen, während Andere sich anschickten, in der Nähe des Hauses zu suchen, wo die Schüsse gefallen waren, wo man den Hülferuf des Mannes und den Angstschrei der Frau gehört hatte. An Allen vorüber stürzte plötzlich vom Schlosse her in wilder Hast ein Mann. Er rannte nach der Gegend hin, in der man das Wiehern des Pferdes vernommen hatte.

Alle erkannten den Mann. Es war ihr Herr, der Freiherr von Wallberg, der Angeklagte. Sie erkannten ihn deutlich, bestimmt. Der Mond schien, der Himmel war klar, und der Mann war kaum drei bis fünf Schritte an ihnen vorüber gerannt, er hatte keinen andern Weg gehabt. Sie hatten sein Gesicht erkannt; es war leichenblaß gewesen. Die ihnen wohlbekannten großen, feurigen Augen hatten ihnen befehlende, drohende, wilde Blicke zugeworfen. Sie hatten seine Gestalt erkannt, die Kleidung, in der er am Morgen ausgeritten war; es war eine Jagdmütze und ein langer, grauer Reitermantel. An dem Mantel, an den Händen des Mannes glaubten sie Blut gesehen zu haben. Der Anblick hatte die Leute mit lähmendem Schreck erfüllt. Keiner hatte gewagt, ihm zu folgen, ihn zu verfolgen. Einen Augenblick nachher hörten sie hinter dem Garten im Galopp ein Pferd davonjagen. Sie zerstreuten sich in dem Garten umher, um zu suchen. Schon nach einer halben Minute fanden sie sich wieder zusammen.

Einer war auf einen Menschen gestoßen, der unbeweglich am Boden lag. Er rief die Anderen herbei. Man besichtigte, untersuchte [99] den Menschen. Er war todt. Zwei Kugeln hatten ihn getödtet; der Hirnschädel war ihm zerschmettert; aus einer Wunde mitten auf der Brust quoll das Blut. Das Blut floß noch, und die Leiche war noch warm. Man erkannte den Getödteten. Es war der Graf Hochhausen, Lieutenant des in der benachbarten Stadt garnisonirenden Kürassierregiments. Alle kannten ihn, obgleich das Gesicht durch den Schuß entstellt war. Der Graf kam oft, fast täglich zum Schlosse, denn er war Freund des Hauses, der intimste Freund des Freiherrn. Und wie er in der Nacht hierher gekommen war? Warum er als Leiche dalag? Warum der Freiherr, sein bester Freund, ihn erschossen hatte? Denn ihren Herrn hatten sie erkannt, Alle, und sie hatten sein leichenblasses Gesicht, seine drohenden, wilden Blicke, seinen blutigen Mantel, seine blutigen Hände gesehen. Wer anders, als er, konnte den Grafen getödtet haben? Es sollte ihnen auch das Warum unzweifelhaft werden. Die Leiche lag dicht am Hause, unmittelbar unter den Fenstern des Gemachs der Freifrau. Das Zimmer war im ersten Stock, und an der Mauer des Hauses führte bis zu jenen Fenstern hinauf ein Birnenspalier. Die Untersuchung des Spaliers ergab, daß mehrere Zweige zertreten waren; an anderen klebte frisches Blut; mit frischem Blute war die Mauer des Hauses bespritzt. Der Graf hatte sich auf dem Spaliere befunden, als ihn der erste Schuß getroffen hatte. Er war im Heruntersteigen begriffen gewesen, als ihn der Schuß traf, denn die Zweige des Baumes waren hoch über den Blutspuren zertreten. Der erste Schuß mußte die Brust getroffen haben, da der Getroffene noch hatte laut um Hülfe rufen können. Dem Niedergefallenen hatte der Mörder dann am Boden den Hirnschädel zerschmettert. Und das Weitere? Wie der Graf auf das Spalier gekommen? Warum der Freiherr ihn erschossen, dem tödtlich Getroffenen noch gar in wilder Rache oder Mordlust das Gehirn zerschmettert hatte? Das Spalier selbst, unmittelbar unter den Fenstern der Freifrau; der Angstschrei einer Frau, den man während des Mordes vernommen hatte; die früheren täglichen Besuche des Grafen im Schlosse, auch wenn der Freiherr nicht da war; die Schönheit und Lebhaftigkeit der jungen Frau; das kecke und feurige Wesen des schönen jungen Officiers: das Alles gab eine Antwort, der nicht zu widersprechen war.

Ein anderer Umstand sprach nicht minder klar: die Freifrau gab bei alle dem Lärm, der unmittelbar unter ihren Fenstern stattfand, bei allem Tumulte, der das ganze Schloß erfüllte, kein einziges Lebenszeichen von sich; man sah, man hörte nichts von ihr. Man begab sich zu ihrem Zimmer und fand es verschlossen. Man rief ihr durch die verschlossene Thür zu, daß unmittelbar beim Schlosse ein Mord verübt, daß der Ermordete der Graf Hochhausen sei. Sie kam nicht aus ihrem Zimmer hervor und sie öffnete die Thüre nicht; sie erklärte, daß sie unwohl sei, und befahl, man solle zu einem Arzte schicken, aber sie in der Nacht nicht mehr stören. So konnte nur eine Schuldbewußte handeln, die zugleich ein Zeugniß für die Schuld ihres Gatten ablegte. Daß sie am andern Morgen gefaßt war, konnte nicht als Widerlegung dienen. Den entstandenen Verdacht hatte die sofort eingeleitete Untersuchung zur Gewißheit erhoben. Der Angeklagte hatte zwar fortwährend hartnäckig geleugnet, er wollte zur Zeit der That gar nicht im Schlosse oder in dessen Garten oder Nähe gewesen, vielmehr erst mit dem Nachtzuge von H. zurückgereist und erst des Morgens um fünf Uhr auf der Eisenbahnstation Wiekel angelangt und, nachdem er gefrühstückt, gegen sechs Uhr von da fortgeritten und gegen sieben Uhr im Schlosse wieder eingetroffen sein. Von einer Untreue seiner Frau, von irgend einem Verhältnisse derselben zu dem Grafen Hochhausen, von einem Verrathe des Freundes, den er stets nur als erprobt erkannt, wollte er nichts wissen; jeden Verdacht, jede Anklage in dieser Beziehung hatte er entschieden und entrüstet zurückgewiesen.

Das Ergebniß der Voruntersuchung war indeß vollständig gegen ihn. Die Angaben des Angeklagten über seine Rückreise von H. hatten in keiner Weise bestätigt werden können. Nur daß er am Morgen um sieben Uhr zum Schlosse zurückgekehrt war, stand fest. Das widersprach aber nicht, daß er auch in der Nacht dagewesen war. Um ein Uhr in der Nacht waren die Schüsse gefallen. Dagegen war die gesammte Dienerschaft des Schlosses dabei verblieben, daß sie in der Nacht den Angeklagten auf das Bestimmteste erkannt hätten. Nur Zwei von den Leuten hatten es bei ihrer ersten gerichtlichen Vernehmung abstreiten wollen: der alte Kammerdiener des Freiherrn, mehr sein Vertrauter, als Bedienter, und der Nachtwächter des Schlosses. Allein auch sie waren zu der Wahrheit zurückgekehrt, als man ihnen einen Eid abforderte. Sie hatten Beide eingeräumt, den Freiherrn ebenfalls in der Nacht erkannt zu haben. Dabei hatten sie dann ferner die wichtigsten Umstände angeben müssen; der alte Kammerdiener, daß er seinem Herrn schon früher Verdacht der Untreue der Freifrau mitgetheilt habe; der Nachtwächter, daß der Freiherr in der Nacht des Mordes mit ihm gesprochen und ihm sogar einen Befehl an die Freifrau ertheilt habe.

Die Freifrau selbst hatte eben so entschieden, wie der Angeklagte, jeden Verdacht und jede Beschuldigung gegen sich und ihren Gatten in Abrede gestellt. Sie hatte indeß, nach den Gesetzen, nur als Auskunftszeugin vernommen und mit dem Zeugeneide nicht belegt werden können. Nach dem Gesetze war sie auch nicht als Zeugin zu der öffentlichen Verhandlung vorzuladen gewesen. Die sämmtlichen übrigen Zeugen waren vorgeladen, unter ihnen zwei Cameraden des Ermordeten, die bekunden würden, daß dieser allerdings in einem vertrauten Verhältnisse zu der Freifrau gestanden habe.

„Die vorgeladenen Zeugen,“ schloß die Anklageschrift, „werden die Thatsachen der Anklage in allen Punkten bewahrheiten. Es wird sich dadurch eine Tödtung mit Vorbedacht, selbst mit einem hinterlistigen, meuchlerischen Auflauern, herausstellen. Die Anklage auf Mord ist danach begründet.“

Sie war begründet, wenn die Anklageschrift nicht übertrieb.

Ich bemerkte das einem der Bekannten aus dem Gasthofe. „Die Anklageschriften unserer Staatsanwälte,“ setzte ich hinzu, „pflegen zuweilen ein Geschäft aus dem Uebertreiben zu machen, sie gleichen gehässigen, oft geradezu verleumderischen Schmähschriften.“

„Sehen Sie dieses ordinäre Metier unserem Staatsanwalte an?“ fragte mich der Bekannte.

Er hatte Recht. Das kluge, klare, ruhige Gesicht des Staatsanwalts sah nicht danach aus. Es war auch während der Vorlesung der Anklageacte ruhig und unbeweglich geblieben. Aber auch nur so hatte man den Angeklagten und seinen Vertheidiger gesehen. Kein Zug in ihren Gesichtern hatte sich verändert. Der Angeklagte zeigte die volle Ruhe eines guten Gewissens, der Vertheidiger die der Gewißheit des Sieges. War das eine Maske, so hatten Beide sie mit Geschick gewählt und festgehalten.

Der Präsident fragte, wie es das Gesetz vorschrieb, den Angeklagten, ob er sich schuldig bekenne.

„Nein,“ war die ruhige, feste Antwort.

Der Präsident wollte das gesetzliche Verhör mit dem Angeklagten beginnen. Da erhob sich der Vertheidiger. Man sollte die ersten Worte des berühmten Advocaten aus der Residenz hören. Man lauschte ihnen mit erwartungsvoller Spannung.

„Herr Präsident,“ sagte der Vertheidiger, „der Angeklagte protestirt gegen jedes Verhör mit ihm; er ist der Meinung, daß, nachdem er sich nichtschuldig erklärt hat, jede fernere Frage an ihn über seine Schuld eine Beleidigung seiner Ehre sei. Ich schließe mich seinem Proteste an.“

Er sprach nur die wenigen Worte. Sie hatten keinen bedeutenden Inhalt und wurden einfach, ohne besondere Accentuirung, fast tonlos gesprochen. Sie schienen dennoch im ganzen Saale eine ungewohnte Wirkung hervorzubringen. Weil der berühmte Advocat sie sprach? Oder weil sie etwas Neues sagten, was man hier noch nicht gehört hatte? Der Präsident hatte gestutzt, aber sich schnell wieder gefaßt.

„Das Gesetz schreibt das Verhör des Angeklagten vor,“ sagte er.

„Nicht, wenn der Angeklagte protestirt, Herr Präsident.“

„Das Gesetz kennt keinen solchen Protest. Er ist hier noch nie erhoben worden.“

„So geschieht dies heute hier zum ersten Male.“

„Das Gericht wird beschließen,“ erklärte der Präsident.

Er wollte sich mit den Richtern in das Berathungszimmer des Gerichts zurückziehen.

„Darf ich noch um wenige Worte bitten?“ kam der Vertheidiger zuvor.

„Es sei Ihnen gestattet.“

Der Präsident sagte es doch etwas gereizt. Der Vertheidiger war vollkommen ruhig und bescheiden geblieben. So fuhr er auch fort:

„Herr Präsident, das Gesetz gestattet Ihnen zwar das Verhör des Angeklagten, aber es stellt an die Spitze des ganzen Verfahrens [100] den durchgreifenden Grundsatz, daß der Angeklagte nur zu seiner Vertheidigung zu hören sei, daß er zu keiner Erklärung gezwungen werden könne, daß Zwangsmittel jeder Art, um ihn zu irgend einer Aussage zu nöthigen, verboten seien. Nur so weit, Herr Präsident, kann also auch Ihr Recht des Verhörs gehen, und nachdem der Angeklagte durch seinen Protest, dem ich mich anschließe, und für den ihm ein unangreifbarer Grund der Ehre besteht, erklärt hat, daß er auf keine einzige Frage antworten werde, möchte ich Sie, Herr Präsident und meine Herren Richter, dringend bitten, von einem Beschlusse abzustehen, zu dessen Ausführung Ihnen jede Macht und jedes Mittel fehlt.“

Die letzten Worte waren mit großer Bestimmtheit gesprochen. Der Präsident verfärbte sich leicht. Die Richter sahen sich etwas befremdet an. Der Vertheidiger hatte Recht. Aber noch kein Angeklagter und Vertheidiger hatte hier bisher auf diesem Rechte bestanden, nur daran zu erinnern gewagt. Was nun machen? Die Frage trieb dem Präsidenten das Blut in das Gesicht und wieder hinaus, machte die Richter verlegen. Dem fremden Vertheidiger nachgeben? Oder einen Beschluß fassen, den man in der That nicht ausführen konnte?

Der gewandte Staatsanwalt kam dem Präsidenten zu Hülfe.

„Herr Präsident,“ nahm er das Wort, „ich finde meinerseits keine Veranlassung, auf einem Verhöre des Angeklagten zu bestehen. Die Wahrheit wird durch die Zeugen herausgestellt werden. Will der Angeklagte durch sein Schweigen sie und seine Schuld bestätigen, das Recht kann nur dadurch gewinnen, und als oberster Wächter des Rechts und des Gesetzes darf ich daher den Antrag stellen, dem Protest des Angeklagten und seines Vertheidigers stattgeben zu wollen.“

„Die Lage der Sache wird durch diese Erklärung geändert,“ bemerkte der Präsident. „Das Zeugenverhör wird beginnen.“

Die Lage der Sache war auch in anderer Beziehung geändert.

Die Stimmung des Saales erklärte sich gegen den Angeklagten. Man las deutlich auch auf den Gesichtern der Geschworenen: Er fürchtet, sich durch seine Antworten zu verrathen; er ist lebhaft, stolz. Sein Vertheidiger fürchtet es wohl noch mehr. Das Gesicht des Vertheidigers blieb unbeweglich.

Die Zeugen wurden vernommen, Einer nach dem Andern, wie das Gesetz es vorschrieb.

Zuerst die beiden Officiere, Cameraden des getödteten Grafen Hochhausen. Sie waren mit diesem am Abende vor seinem Tode zusammen gewesen, in der Garnisonstadt, zwei Meilen von Schloß Hard entfernt. Der Graf hatte sie um neun Uhr Abends verlassen. Er habe ein dringendes Geschäft, hatte er gesagt. Was es sei, hatte er nicht sagen wollen. Sie hätten ihm dennoch irgend ein Geheimniß angemerkt. Von einem Verhältnisse zwischen ihm und der Freifrau wußten sie nichts. Sie hatten ihn einmal mit der schönen Frau necken wollen; er hatte es sich so ernst verbeten, daß sie nie wieder daran gedacht hatten. Der Graf Hochhausen war ein Ehrenmann im vollsten Sinne des Worts, erklärten sie. Daß das auch die Meinung des Saales sei, zeigten die Mienen der Richter, der Geschworenen, der Zuhörer. Die Sache des Angeklagten gewann dadurch nichts. Aber es schien ihn wenig zu kümmern. Er saß da, als wenn die ganze Versammlung ihn nichts angehe.

Der Vertheidiger war um so aufmerksamer; allein in seinem Gesichte suchte man vergebens nach irgend einem Eindrucke, nach irgend einer Bewegung. So blieb es ferner. Nur einmal sah ich den Vertheidiger plötzlich aufzucken. Ein Zug des Unwillens flog durch sein Gesicht, dann einer heftigen, stechenden Angst. Aber wie ich es sah, war es auch schon wieder vorüber.

(Fortsetzung folgt.)



Wandernde Künstler.
Was sind wandernde Künstler – Die Albinodame – Wandernde Heilkünstler, Elektriseure – Kameel- und Bärenführer – Wilde Neger – Die Eskimos und die nicht verzehrten Kaninchen.


„Kunst bringt Gunst,“ so lautet ein altes Sprüchwort. Es ist dies aber nur ein Minoritätsgutachten unserer biedern Vorfahren, denn zwei andere Sprüchwörter lauten, das eine: „Kunst geht nach Brod!“ das andere sogar: „Kunst geht betteln.“

Ob unsere oft sehr schalkhaften Ahnen damit schon jenen Theil der Künstlerwelt gemeint haben, den unsere Ueberschrift bezeichnet, muß dahingestellt bleiben, unmöglich ist es jedenfalls nicht. Ist es der Fall, dann haben sie allerdings blos die prosaische nüchterne Seite derartigen Künstlertreibens hervorgehoben; es wäre aber traurig, wenn es nicht noch andere Ansichten der Sache gäbe, und diese einigermaßen vorzuführen, soll hier versucht werden.

Es muß hier zunächst ausgesprochen werden, daß bei der Bezeichnung „Wandernde Künstler“ letzteres Wort in seiner allerverwegensten Bedeutung zu verstehen ist. Nicht etwa daß wir hier die Schauspieler in’s Auge zu fassen hätten, welche von einem kurzen Engagement zum andern ziehen, oder dergleichen Sänger, ebenso wenig andere den höheren Richtungen dienende Künstler, nein, gegenwärtige Betrachtungen sollen jenen Künstlern gelten, welche als treue Begleiter der Messen, Jahrmärkte, Vogelschießen und ähnlicher Feste sich bei uns einfinden und uns belehren und erheitern. Man beachte wohl: Alle diese Leute sind Künstler, gleichviel ob es Mitglieder der Renz’schen Kunstreitergesellschaft oder Inhaber eines Affentheaters sind, denn es giebt hier keine Grenze; Harfenisten und Wahrsager, Menageriebesitzer und Athleten, Inhaber von Wachsfigurencabinets oder anatomischen Museen, kurz Alle, die uns für unser Geld etwas sehen oder hören lassen, rechnen sich zur edlen Kunst.

Es kann hier nicht die Rede sein von den ersten Größen der wandernden Künstlerwelt, sie erheischen besondere Besprechung. Wohl aber mag hier gezeigt werden, wie der bescheidene Anfang vieler solcher renommirter Namen ist. Denn wenn uns bei einem Rafael, einem Michel Angelo und andern Sternen der Kunstwelt stets der Weg höchlich interessiren muß, auf welchem sie das, was sie waren, geworden sind, warum nicht auch hier? Wie jeder französische Soldat den Marschallstab in seinem Tornister trägt, so liegt in jedem Besitzer eines abgerichteten Affen der Keim zu einem großen Menageriebesitzer oder einem Kunstreiterdirector, und wie viel Tausende solche Leute commandiren, ahnt Mancher nicht.

Statt weiterer Auseinandersetzungen sollen nur einige Schilderungen von Besuchen bei solchen Anfängern folgen, die am besten dazu dienen werden, einen Einblick in diesen Geschäftsbetrieb zu gewähren. Es war die erste in der Reihe der Schaubuden auf der Leipziger Messe, vor welcher ein Gemälde, auf welchem ein pechschwarzer Adler zwischen zwei großen Schafen sich emporschwang, mich zum Eintritt veranlaßte. Drinnen wandelten statt der versprochenen zwei sogar drei Schafe mit etwas verschiedenem Gehörn und Hunger umher. Daneben mahnte eine ausgestopfte Gemse ohne Hörner und Ohren mächtig an die Vergänglichkeit des Irdischen und ein gleichfalls ausgestopfter Haifisch, welcher mir (ich war nämlich das ganze Publicum), meinem Sträuben zum Trotz, als der berühmte Delphin octroyirt wurde, zeigte seine Zähne und das dazwischen hervorlugende Werg einem daneben placirten Steinadler. Dieser, der zur Abwechselung wieder lebendig war, konnte sich, wenn er es geschickt anfing, vollständig in seinem Käfig umdrehen und wurde beharrlich drangsalirt, einen Ton von sich zu geben, welcher seinen Namen bedeutete. Er that dies auch endlich, um nur wieder Ruhe zu haben, und nun begann die zweite Abtheilung, die Vorstellung einer Albinodame, welche zugleich Wahrsagerin war.

Die reisenden Albinos, und natürlich auch diese Dame, sind alle von der Landenge von Panama, wo sie als Kinder in Höhlen leben, weil sie das Tageslicht nicht vertragen. Der Wiener Dialekt der hier gezeigten Dame, auf den ich mir erlaubte aufmerksam zu machen, rührte, wie sie das selbst mit untadelhaftem Ernst versicherte, davon her, daß sie als vierjähriges Kind nach Wien gebracht und dort erzogen worden war.

Nach dieser Auseinandersetzung ging es an’s Entrollen der Zukunft. Es waren nämlich vier junge Mädchen eingetreten, welche

[101]

Eine Kunstproduction.
Originalzeichnung von H. Leutemann.

[102] der Bequemlichkeit wegen ihre Hüte zu Hause gelassen und sich nur in leichte Umschlagetücher, selbstverständlich auch Kleider, gehüllt hatten. Es wurden Würfel gebracht, und die weiße sowohl als weise Dame, jetzt mit verbundenen Augen dasitzend, sagte einer jeden der hutlosen Jungfrauen, wie viel sie gewürfelt. Nach diesem trat der Geschäftsinhaber, der natürlich diese Fragen gestellt hatte, ab, die Binde fiel gleichfalls ab, und der wichtigste Moment für die Damen erschien, denn es sollte ihnen ihre Zukunft, vor allen der Zeitpunkt ihrer Verheirathung geweissagt werden. In ungefähr ein bis zwei Jahren und etwas darüber hatte zur allseitigen Befriedigung dieses ersehnte Ereigniß einzutreten. Ueberhaupt kamen alle gut weg, nur eine, welche unglücklicherweise die längste, erfuhr noch, daß sie stolz und eitel war, und ich konnte ihr mein ernstes Befremden darüber nicht ersparen. Doch eine wesentliche Lücke blieb noch in der Prophezeiung, und ich mußte daher an die Egeria die Frage richten, ob und wie viel Kinder die Damen in der Ehe zu erwarten hätten. „Das werden die Damen schon selbst merken, wenn es so weit ist,“ erwiderte sie mit classischer Ruhe, und gegen die unwiderstehliche Wahrheit dieses Ausspruchs war nichts einzuwenden. Als nun den glücklichen Heirathscandidatinnen noch für je einen Dreier gedruckte Zettel eingehändigt wurden, worauf noch Alles stand, was „Ihnen hier nicht vor Allen gesagt werden kann,“ gewiß ein mächtiges Anziehungsmittel, begegnete mir beim Ansehen des einen davon noch ein unglückliches Mißverständniß mit dem obenanstehenden Zeichen der Zwillinge, aber auch hier aufgeklärt, konnte ich nun gewiß „vollkommen befriedigt den Schauplatz verlassen“.

Auch für die Gesundheit wird von wandernden Heilkünstlern gesorgt, und die an so vielen Uebeln jetzt krankende Menschheit kann diesen braven Männern nicht genug danken, daß ihr hier die Heilung ihrer Leiden gleich auf der Straße geboten wird. Wen kann ich anders meinen, als die Elektriseure? „Kommen Sie heran, meine Herren,“ so ließ einst ein solcher seine Stimme ertönen, „kommen Sie heran, das ist ja nur ein momentaner Augenblick, und dann ist’s vorbei; das durchzuckt den ganzen Körper und thut ihm wohl!“ Noch wollte Keiner anbeißen. „Nun, einen Neugroschen wird doch wohl Ihr Körper werth sein?“ rief er jetzt dringender. Da trat ein Ehepaar in den besten Jahren heran, die Frau litt am Dickbein, wollte aber nicht mehr am Dickbein leiden. Die Maschine, welche bei der feuchten Luftt gar keine rechte Lust zur Thätigkeit hatte, wurde mit mächtigen Umdrehungen dazu gezwungen, und die würdige Dame, welche ermahnt worden war, die Hand, welche die Kette hielt, ja recht an’s Dickbein anzudrücken, empfing den Schlag mit einer Gelassenheit, welche dem Gedanken an Uebung bedeutenden Spielraum gewährte. Aus Gründen der Gerechtigkeit mußte nun der elektrische Funke noch einmal, d. h. auf dem entgegengesetzten Wege den Körper durchlaufen, und der Gatte, sehr befriedigt über die billige Cur, trat nun ebenfalls heran. Ihm fehlte offenbar nichts, denn er schien Nerven wie Bindfaden und überhaupt eine Hausknechtsgesundheit zu haben, da aber die Befestigung einer solchen für einen Neugroschen auch eine nicht zu verachtende Sache ist, so nahm auch er die Kette in die Hand; seine Gesichtszüge erlitten im Augenblicke des Schlags zwar einige Veränderung, welche, wenn photographisch aufgefaßt, die Aehnlichkeit einigermaßen beeinträchtigt hätte, aber seine Photographie, zu welcher er mit auf den Magen gelegter Hand und starrem, auf den verdächtigen Apparat gerichteten Blick mit großem Erfolg gesessen haben mochte, hing ja gewiß schon längst zu Hause, und unter derselben in Goldrahmen jedenfalls auch sein Wappen, von dem er früher wohl keine Ahnung hatte, dessen Kenntniß und Besitz ihm aber, und zwar auch von einem wandernden Künstler, gegen einen Preis vermittelt worden sein mochte, welcher für die empfangene Gewißheit, daß er von einem altadeligen Geschlecht aus der Ferne abstammt, jedenfalls pöbelhaft gering ist.

Jetzt näherte sich eine Gruppe junger Leute, und einer derselben fühlte das dringende Bedürfniß zum Elektrisiren, aber sein Genosse konnte sich so wenig, selbst nur für einen Augenblick, von ihm trennen, daß er ihn heimlich hinten anfaßte. Doch der blitzesendende Zeus am Drehrade hatte ihn wohl bemerkt. „Du, paß’ uf, da wollen welche umsonst elektrisiren!“ rief er seinem Collegen zu. Das Wort der Trennung wurde gesprochen, und die Schläge des Schicksals fielen nur auf Einen, so gern sie auch der Freund mit ihm getheilt hätte. Eine Junge hatte sich inzwischen vorgedrängt, sah aber nicht wie ein Inhaber von Neugroschen aus; „geh’ nach Hause, mein Sohn, wenn Dich Deine Mutter prügeln will, bist Du sonst nicht da!“ ermahnte ihn der wohlwollende Arzt, und der praktische Junge folgte freudig der Ermahnung. Da ich auch der Sohn einer Mutter war und nur zu lange schon dagestanden hatte, so ersparte ich dem Manne unnöthige Worte und ging.

Wie überall in der Welt Neues auftaucht und das Alte verschwindet, so geht es auch mit vielen wandernden Künstlern. Während z. B. die mit Stereoskopen reisenden Künstler eine neue Erscheinung sind, werden die Kameel- und Bärenführer immer seltener, obgleich sie gerade das Treiben bei den Gelegenheiten, wo sie sich einfinden, sehr wesentlich charakterisiren. In einer langen Reihe von Jahren habe ich nur ein einziges Mal eine vollständige derartige Gesellschaft gesehen. Es gehörten dazu außer den menschlichen Mitgliedern Kameel, Bär, Affen und ein Stachelschwein, und unser Bild führt sie uns in ihrer Vollständigkeit vor. (Das Stachelschwein ist nämlich noch im Kasten.)

Der erste Blick des Eintretenden auf die schwarzlockigen Gestalten, von denen die menschliche Hälfte der Gesellschaft gebildet ward, zeigte sofort, daß die Nation, welche der Welt schon einen Rafael und Titian schenkte, auch diese Künstler gesendet hatte, was am besten die schnöde Bedauptung widerlegte, daß Italien nicht mehr an der Spitze der Kunst marschire, wie dies bekanntlich jeder noch in den Windeln liegende Franzose mit der Civilisation zu thun längst gewohnt ist.

Gerade bei meinem Eintritt war der Bär (nach dem Fibelvers bekanntlich am grausamsten, wenn er vom Honigbaum herkommt) noch dabei, sein Quantum abzutanzen. Zwar erinnerte sein gemessener Schritt etwas an das „schwerwandelnde Hornvieh“ des guten Homer, aber die sentimentale Neigung des Kopfes nach seinem Chef zeigte doch eine gewisse Grazie.

Es wäre vielleicht hier der Ort, über den Cursus zu sprechen, welchen der Bär zur Erlernung seiner Kunst einem on dit zufolge durchzumachen hat, und welcher einfach darin besteht, daß man ihn auf eine mehr als warme Platte stellt und ihn dadurch zwingt, die Füße abwechselnd zu heben. Da aber kein Grund denkbar ist, warum der Bär dazu sich gerade auf die Hinterfüße erheben soll, indem die Abwechslung von vier Füßen doch günstiger bliebe, so erlaube ich mir an der ganzen Sache zu zweifeln; zu meinem eignen Bedauern freilich, denn man muß dann zugleich auf die Erwägung verzichten, ob nicht vielleicht eine Nutzanwendung dieser Unterrichtsmethode auf das menschliche Geschlecht anwendbar wäre.

Das Kameel stand während des Bärentanzes an einen Pfahl gebunden und hatte auf seinen Höckern ein Paar Affen sitzen. Dies waren indeß keine rohen Affen, wie sie ungebildeter Weise in den tropischen Wäldern hausen, nein, diese Affen waren, was ihre sorgfältige Ausrüstung, ihre militärische Disciplin und ihre Zahl anbetraf, das lebhafte Bild mancher kleinen deutschen Armee. Da die Zeit für die militärischen Uebungen noch nicht gekommen war, so beschäftigte sich der General in landesväterlicher Fürsorge mit der Reinlichkeit seiner Armee, und zwar eigenhändig, da ihm dies die beste Bürgschaft für das Gelingen war. Dafür nahm er dann natürlich gleiche Dienste von seiner Armee in Anspruch.

Als nun aber der Ruf der Pflicht erscholl, da verwandelte sich die Scene; zwar der Leierkasten tönte unermüdlich fort, aber die Armee bekam ein ganz anderes Ansehen: sie wurde, ich weiß nicht zum wie vielsten Male, mobil gemacht. In kecker Haltung saßen die Krieger auf ihren Reitthieren, die Lenden mit dem blechernen Säbel gegürtet. Nachdem der Generalissimus mit einiger Mühe seinen Säbel aus der Scheide gezerrt, begannen die Exercitien. Mit eingekniffnem Schwanz und hängendem Kopf trabten die Hunde einher, einen scheuen Blick auf die drohende Peitsche des Chefs gerichtet, welcher mit donnernder Stimme das Commando erschallen ließ. Bei den Exercitien im Feuer warf zwar der Gemeine, wenn das Zündhütchen knallte, regelmäßig das Gewehr weg, dies vergrößerte aber nur den Effect auf die Zuschauer, und so hütete man sich, ihm das abzugewöhnen. Um nun auch an die heitere Seite des Soldatenlebens, wie es das Lagerleben vielfach bietet, zu erinnern, wurde dem Generalissimus jetzt eine kleine Geige gereicht. Mit fabelhafter Geschwindigkeit, in grellen Absätzen unterbrochen, trug er ein Stück Zukunftsmusik vor, wie man es nicht unverständlicher wünschen konnte, wobei er aber selbst, im Gegensatz zu den meisten Virtuosen, ganz gleichgültig und ungerührt aussah.

Als nun die Truppen in ihre Cantonnirungen zurückgekehrt waren, so mußte noch das Kameel einen Rundgang machen und [103] sich auch niederlegen. Wer es vielleicht schon wieder vergessen hatte, erfuhr dabei, daß das Kameel immer noch das Schiff der Wüste ist und daß es bei auf der Reise eingetretenem Wassermangel stellenweise getrunken wird. NB. Wer’s glaubt.

Das Stachelschwein, welches jubelnd aus einem geöffneten Kasten sprang und schnell etwas zu fressen suchte, beschloß die Vorstellung. Auch hier eine naturhistorische Erklärung. Nämlich es schießt, es bleibt ungewiß, ob mittels Armbrust ober Blasrohr, seine Stacheln auf seine Feinde ab, und hat außerdem auch an den Hinterfüßen Sohlen wie „ein klein Kind“. Weiter hatte es keine Eigenschaften und mußte daher wieder in seinen Kasten zurück.

Was machten nun aber diese Leute in der müßigen Zeit, in den Pausen zwischen ihren Vorstellungen? Nun, während ich dasaß und das Kameel zeichnete, vergnügten sie sich nach ihrer Weise. Entweder sie schliefen oder sie zählten wiederholt ihr Geld (was bekanntlich Jedermann gern thut, wenn er welches hat), oder sie balgten sich mit dem Bären, warfen ihn im Spaß auf den Rücken und krabbelten ihn am Bauche, wofür er ihnen, auch blos zum Spaße, die Hosen zerriß und dafür wieder spaßhafte Püffe erhielt. Oder die Thiere bekamen etwas zu fressen, ehe sie zu matt wurden, da besonders immer das Kameel mit baldigem Einsturz drohte. Kurz, wie man schon in Süddeutschland die Landleute an Sonntagen stundenlang auf den Plätzen der Dörfer und Städte stehen sehen kann, ohne daß sie eigentlich irgend etwas vorhaben, so verstanden es vollends diese Südländer vortrefflich, ohne großen Kräfteverbrauch die Zeit mausetodt zu stechen.

Natürlich darf ich, wenn ich von den wandernden Künstlern spreche, diejenigen nicht übergehen, welche uns unsere etwas entfernter wohnenden Nebenmenschen vorführen, insofern dieselben noch wild wie das liebe Vieh und außerdem auch noch schwarz, braun oder roth angelaufen sind.

Eine derartige Schaustellung ist mir unvergeßlich geblieben. Nach dem gedruckten Programm, welches Jedem, der nur einige Augenblicke vor der Bude stehen blieb, sofort in die Hand gedrückt wurde, konnte man in derselben zwei wilde Neger, sowie einen dritten, welcher zugleich Athlet war, sodann zwei nordamerikanische Indianer, Alle im Nationalcostüm, eine Albinodame, eine Schlangenbändigerin und noch Mancherlei sehen.

Der Geschäftsinhaber, der sich seiner Verantwortlichkeit dafür, daß er wilde Menschen frei ohne Kette zeigte, offenbar bewußt war, bereitete das eingetretene Publicum auf den zu erwartenden Anblick durch einige Worte vor. Jetzt setzte er eine nicht ganz seltene Muschel an den Mund, schauerliche Klänge ertönten, daß es Einen eiskalt überlief, und herein traten die furchtbaren Erscheinungen, schrecklich anzuschauen. Ringe in den Nasen, Pantherfelle um die Lenden, kühn geschwungene Keulen, klingende Tambourins, es wurde uns wirklich ganz afrikanisch zu Muthe, d. h. wir machten uns schon gefaßt, gefressen zu werden, denn die gräßlich rollenden Augen schienen in der That nur nach dem Fettesten unter den Zuschauern zu suchen. Jetzt öffneten sie ihre nach Negerart pflichtschuldig aufgeworfenen Lippen, und „tschuppi, tschuppi“ klang es aus dem Loche zwischen denselben. Ehe sich das Publicum noch fragend ansah über die Bedeutung dieses furchtbar afrikanischen Wortes, wurde es vom Geschäftsherrn, welcher, um die Wilden nöthigenfalls bändigen zu können, immer auf der Bühne blieb, belehrt, daß damit die Bitte um Cigarren ausgesprochen sei. Wie Hofmarschall Kalb in „Kabale und Liebe“ aufathmet, als Ferdinand Witze macht, so ging es auch uns Zuschauern. Sie rauchen Cigarren, das bringt sie uns näher, so dachte offenbar Jeder, und in der That kamen die barbarischen Kerle von der Bühne herunter in die Reihen des Publicums zur Cigarrenernte, und die Meisten zögerten nicht, die gefährlichen Menschen sich dadurch geneigt zu machen.

Nunmehr begannen die wilden Freudentänze auf der Bühne; die Wilden leisteten Gewaltiges in allerhand grotesken Stellungen, die Keulen bearbeiteten mit Kraft die Dielen, und die Pantherfelle, soviel die Motten davon übrig gelassen, flogen nach allen Richtungen. Endlich traten sie ab, aber noch ehe sie ganz hinter dem Vorhang verschwunden waren, nahmen sie auch schon die Ringe, welche wahrscheinlich zu sehr knippen, aus den Nasen.

Sehr gespannt, ich gestehe hier meine schändliche Leichtgläubigkeit, erwartete ich nun die Indianer aus Nordamerika mit den üblichen Habichtsnasen und dem langen strähnigen Haar. Da traten sie ein; aber nein, das waren ja wieder Neger, so kraushaarig, stulpnasig und schwärzlich war ihr Aussehen. Doch der Geschäftsführer versicherte dem Publicum, daß es Indianer seien, und der mußte es doch wissen. In der That, es ging mir ein Licht auf, denn da schon seit langen Zeiten so viel Neger nach Nordamerika gebracht werden, warum sollen sich durch öfteres Sehen die beiden Racen nicht so ähnlich geworden sein, daß sie nicht mehr zu unterscheiden sind? Auch ihre Tänze waren ganz ähnlich. Ob alle diese Wilden einmal früher Kellner, Lakaien oder dergl. waren, und irgendwie aus Aerger wieder wild wurden, wer konnte es wissen?

Jetzt erschien der schwarze Athlet mit der nicht mehr ganz ungewöhnlichen schweren Stange. Früher wurde immer ein gewisser Preis Demjenigen geboten, der solche Stange in gleicher Weise wie der Athlet heben würde. Da es aber noch vor Kurzem vorgekommen (wovon ich zufällig Augenzeuge war), daß die besagte Stange wirklich von Jemand aus dem Publicum, nämlich einem Markthelfer der auch sonst wohlrenommirten Flinsch’schen Papierhandlung in Leipzig, gehoben wurde, so ist man jetzt praktischer geworden, und auf dem Programm, das unsern Hercules empfahl, stand daher, „daß man recht gut hundert Thaler Belohnung demjenigen bieten könnte, welcher“ u. s. w.

Nachdem man in dieser Bude man noch die Vorstellung der Albinodame (natürlich auch von der Landenge von Panama) und der Schlangenbändigerin, welche außer dem Schlangenbändigen auch das Einsammeln des Trinkgeldes besorgte, ausgehalten hatte, konnte man endlich gehen.

Wie wenig Respect vor der Echtheit dieser fahrenden Wilden die betreffende Künstlerwelt selbst hat, mag Folgendes zeigen. Als früher der gewiß noch manchem Leser erinnerliche „Eskimo“, welcher von Warzen strotzte, aber großen Zulauf hatte, gezeigt wurde, versicherte mir ein Wärter der damaligen Liphard’schen Menagerie, daß er einen Eskimo ebenso vorstellen wolle und dies seinem Herrn schon angeboten habe. Derselbe wolle aber nicht darauf eingehen.

Als einen ausgezeichneten Künstler und Geschäftsmann mußte man jedenfalls den Herrn neben der eben besprochenen Bude betrachten. Er war der Unglückliche, dessen Hercules, wie vorhin erwähnt wurde, zur großen Befriedigung des patriotischen Leipziger Publicums, so blamirt worden. Nun hätte er sich leicht einen andern anschaffen können, denn in manchem Jahre gerathen dieselben sehr zahlreich und gut, aber als Mann mit richtigem Blick ließ er diesen Kunstzweig nun fallen, und was er nun zeigte, soll jetzt erzählt werden.

Vor dem Eingange der Bude wurden von dem Besitzer selbst zwei theilweise costümirte Affen mit furchtbarer Vehemenz an einem Strick hin- und hergeschaukelt, so zwar, daß sie trotz ihrer vier Hände Mühe hatten, sich vor dem Abfallen, oder vielmehr Abfliegen, zu schützen. Schon das mußte natürlich zum Eintritt in’s Innere locken. Aber es gab noch stärkere Zugmittel. Aus einem Kasten nahm (natürlich unter gewaltigem Geschrei) ein Bursche eine Anzahl Kaninchen, hielt sie erst hoch und warf dann die Zappelnden ohne Weiteres in’s Innere der Bude, d. h. in den Rachen der lauernden Hyäne, wie versichert wurde, hinein. Was blieb Einem übrig, als schnell in die Bude zu stürzen, ehe alle Kaninchen verschlungen waren? – Richtig, da liefen sie noch alle unversehrt in der Bude umher. Aber eben wurden sie ernstlich einer alten Hyäne und einem Wolfe, welche sich schändlicherweise gichtbrüchig stellten, zum Fraße vorgehalten. Doch Kaninchen, Wolf und Hyäne waren offenbar alte Bekannte, und es fiel letzteren, wohl in Erwägung der sonst unvermeidlichen Hiebe, nicht ein, zuzuschnappen. „Sie haben keinen Hunger,“ mit dieser Aufklärung mußten wir blutdürstigen Zuschauer uns begnügen.

Nach dieser beinah ergreifenden Scene trat hinter einem alten zusammengeflickten Vorhange eine „Indierin“, allerdings schon mehr Mulattin, hervor. Sie und eine Schlange waren von dem Chef behalten worden, nachdem der blamirte Hercules entlassen war, und sie trug auch noch denselben rosenrothen Rock, tanzte aber leider nicht mehr. Dies hatte den Vortheil, daß um so bälder der Zwerg, der immer noch herumreisende„ Prinz Colobri“, erschien. Ueber diesen Zwerg erfuhr man aus der Erklärung, daß derselbe „ganz den Zweck eines Zwerges erfüllte“, indem seine Hände und Füße ganz proportionirt und nicht plump wie bei anderen verfehlten Zwergen seien.

(Schluß folgt.)
[104]
Gottfried Kinkel’s Befreiung.
Von Moritz Wiggers.[1]


Es ist Charfreitag – wir schreiben den 10. April des Jahres 1857 – und ich sitze, nachdem ich soeben, 11 Uhr Vormittags, die zinnerne Mittagsschüssel mit ihrem widerlichen Inhalt als ungenießbar bei Seite geschoben, melancholisch und den Kopf auf den Arm gelehnt in meiner Isolirzelle. Hinter mir liegen die Qualen einer fast vierjährigen Isolirhaft: drei Jahre und acht Monate war ich auf die Folter einer mittelalterlichen Untersuchungshaft gespannt, und seit einem Vierteljahre bin ich in die Züchtlingsjacke gesteckt. Vor mir habe ich zwei Jahre und neun Monate, welche ich noch im Bagno zuzubringen habe. Eine wie kurze Spanne Zeit für den, welcher sie hinter sich hat oder welchem eine goldene lachende Zukunft winkt! Aber welche Ewigkeit für mich, der ich, seit vier Jahren matt und mürbe gehetzt, sie in der Isolirzelle des Zuchthauses unter den raffinirtesten geistigen und physischen Entbehrungen verleben soll! Werde ich das Ende meiner Gefangenschaft erleben, und wenn dies, werde ich nicht körperlich ruinirt und geistig gebrochen das Zuchthaus verlassen? Wie traulich begleitet das gleichförmige Ticken von Mr. Humphrey’s Wanduhr das Gespräch im gemüthlichen Kreise von Freunden! Aber wie unheimlich wird das Ohr des Gefangenen in der Isolirzelle des Zuchthauses zu Dreibergen in der Stille des Feiertages durch den in langen und ungleichen Intervallen erfolgenden lauten, heiseren und stöhnenden Pendelschlag der Uhr im Corridor berührt! Der Gefangenwärter Burmeister sagte zu mir in den ersten Tagen meiner Haft in Bützow, als er mir meine Uhr brachte, wohl um mir das Gefühl meiner Einsamkeit zu mildern: „Uhren sind so gesellig, Herr Advocat.“ Ich finde dies nicht: Uhren quälen das Gehirn des Isolirgefangenen, gleichwie das monotone Geräusch des in der Stille der Nacht bohrenden Holzwurms den Fieberkranken martert.

Der Gedanke an theure Verwandte und Freunde, an ihre rührende Liebe, Treue und Anhänglichkeit erhellt wohl für den Augenblick die dunklen Gefängnißräume und entreißt den Gefangenen der traurigen Einförmigkeit der Gegenwart. Aber er hat auch die Nervenaufregung, die Unruhe und die Erschöpfung im Gefolge. Die Sehnsucht nach den Lieben da draußen ruft das Gefühl der Vereinsamung und Ohnmacht so recht lebendig hervor: man sieht sich um in seinen armseligen vier Mauern, man blickt unwillkürlich nach dem Fenster – dicke Eisenstäbe und ein schmales Stück Himmel, das ist Alles. Ja, wer den starken Geist der Madame Roland hätte und sich, wie sie in der Conciergerie gethan, in den Leiden der Gefangenschaft mit der Philosophie zu trösten weiß: Wie glücklich bist Du jetzt, Du hast nun gar keine Verantwortung und weiter nichts zu thun, als hier zu sitzen!

Mit meiner augenblicklichen Melancholie flüchte ich mich in die Erinnerung an die Erlebnisse einer schönen Vergangenheit. In lebhaften Farben wird ein Ereigniß in mir wach gerufen, das zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens gehört. Ich finde Trost in dem Gedanken an den deutschen Mann und Dichter, der auch im Zuchthause schmachtete, der aber unter dem Jubel Deutschlands und der alten und neuen Welt durch seine Freunde den Klauen der Reaction entrissen ward. Noch danke ich Gott auf den Knieen, daß er mir vergönnt hat, einen bescheidenen Antheil an der Befreiung dieses Mannes zu nehmen. Meine alltägliche abschriftstellerische Thätigkeit ruht an den Feiertagen. Ich will nun meine freie Zeit benutzen, um die Fesseln der Gegenwart beim Niederschreiben jenes glänzenden Befreiungswerkes, das zum unvergänglichen Ruhme der demokratischen Partei im Buche der Geschichte verzeichnet ist, so viel möglich zu vergessen. In Einzelnheiten mag mein Gedächtniß mich täuschen, in der Hauptsache aber beruhen die Thatsachen der Erzählung auf strenger Wahrheit.[2]


1.

„Wach auf, Du, rasch!“ Mit diesen Worten weckte mich am Freitag Morgen, den 8. November 1850, eine mir bekannt klingende Stimme.

Es war noch dunkel in meiner Schlafkammer, so daß ich die Gesichtszüge meines frühzeitigen Weckers nicht erkennen konnte.

„Großer Unbekannter, wer Du auch sein magst, sei barmherzig und entreiße mich nicht den Armen meines Gottes Morpheus,“ rief ich in schlaftrunkenem Pathos, die Augen weit aufreißend und nach den dunken Umrissen des Unbekannten hinstarrend, der mich ungeduldig und heftig zu rütteln anfing.

„Um’s Himmels willen, ermuntere Dich, steh’ auf so schnell Du kannst, längeres Säumen bringt Gefahr!“ rief der Fremde in höchster Aufregung.

Ich sprang rasch auf, zog ihn an’s Fenster und erkannte in der kleinen, vollen und beweglichen Figur meinen lieben Freund aus der weiland-mecklenburgischen Abgeordnetenkammer, den Amts- und Stadtrichter Dr. Petermann aus Strelitz.

„Petermann! Was in aller Welt führt Dich an diesem finsteren Novembermorgen hieher? Gab es bei Euch eine zweite verschlechterte Auflage des 7. September, und warst Du gezwungen, Dich Deinem großen Vaterlande durch die Flucht zu entziehen?“

„Ei was, halte Deine maliciöse Zunge. Wir haben jetzt andere Dinge zu thun, als Erinnerungen an strelitzer Junker und Kammerherren aufzufrischen. Ich habe zwei Fremde mitgebracht, welche ich Dir vorstellen will.“

„Wo sind sie?“

„Im Wirthshause zum weißen Kreuz habe ich sie zurückgelassen.“

„Wer sind sie?“

„Wie Du ungeduldig bist! Du sollst rasch mitkommen und sie persönlich kennen lernen. Es sind ein paar liebe Kerls. O prächtig, prächtig, prächtig!“

Und jedes der drei letzten Worte betonte der liebe Herr Stadtrichter mit besonderem Nachdruck und begleitete es mit geheimnißvollem, glückverheißendem Lachen, wobei er sich mit gewohnter Lebhaftigkeit verschiedene Male im Kreise herumdrehte. Sein Gesicht strahlte vor Freude.

„Aber mein lieber, theurer Petermann, sei doch gesetzt und vernünftig und versetze Dich in die Lage eines armen Kerls, der vor Neugierde brennt, den Grund Deiner Ekstase kennen zu lernen. Sag’ mir doch endlich, wer die beiden Fremden sind.“

„Es sind zwei Flüchtlinge. Der eine kennt Dich, Du kennst ihn auch, er ist diesen Sommer in der Braunschweiger Demokratenversammlung gewesen.“

„In jener Versammlung, die mir die ungerechtfertigte Haussuchung des Bützower Criminalcollegiums zuzog?“ fragte ich nachdenkend und hielt einen Augenblick mit dem Anziehen meiner Weste inne – soweit hatte ich inzwischen meine Toilette beendigt. „Sein Name?“

„Sein Name ist Hensel. Du aber hast ihn unter dem Namen Hesse kennen gelernt.“

„Ich erinnere mich, daß ein Hesse, der ein Rheinländer war, dort gewesen ist. Und wie heißt der Andere?“ fragte ich neugierig.

Kaiser,“ erwiderte Freund Petermann lächelnd.

„Kaiser? das ist keine mir bekannte Persönlichkeit. Doch nach Deinem Lächeln zu schließen, wird das ein angenommener Name sein. Und sein wirklicher Name?“

Ich sah meinem Freunde forschend in’s Auge und nahm seinen triumphirenden Blick wahr, wie wenn er sagen wollte: Du wirst es schwerlich errathen, welche kostbare Beute ich mit mir führe. Ehe er antwortete, sah er sich um, ob wir auch belauscht würden. Dann wandte er sich zu mir und flüsterte mir ganz leise in’s Ohr: „Kinkel.“

[105]Gottfried Kinkel?“ fragte ich in größter Aufregung. „Unmöglich, wie sollte der hieher kommen? Bist Du gewiß, daß man Dich nicht getäuscht hat, Petermann?“

„Es ist der wirkliche und wahrhaftige Professor Gottfried Kinkel. Du wirst Dich bald selbst überzeugen können.“

Wir eilten hinaus. Petermann trennte sich von mir, um noch einen Freund herbei zu holen. Ich ging zuerst zu einem Bekannten, dem Kaufmann Bluhme, um ihn zu ersuchen, mit einer Droschke mir nachzukommen, und begab mich dann auf den Weg nach dem in der Mühlenvorstadt belegenen „Weißen Kreuz“. Die brausenden Wassermühlen am Mühlendamm lagen bald hinter mir, und ich durcheilte hierauf die Allee von hohen rauschenden Pappeln, welche vom stürmischen Nordostwinde gewaltsam hin und her bewegt wurden.

Die Mittheilung von der Anwesenheit Kinkel’s geschah so plötzlich und traf mich so unvorbereitet, daß ich kaum an die Wahrheit zu glauben vermochte, daß dieser aus dem Zuchthause entsprungen und hier angekommen sei, um Schutz und Rettung zu suchen. Noch vor Kurzem hatte ich ihn im Bilde mit tiefer Rührung betrachtet, wie er in seiner Züchtlingsjacke im Kerker spulte. Das war der Lohn des Vaterlandes für einen seiner besten Söhne, den reichbegabtesten Dichter, den Mann, der für alles Gute, Edle und Schöne schwärmte und glühte!

Ich hatte mittlerweile meinen Bestimmungsort erreicht. Dort lag das „Weiße Kreuz“ und lugte freundlich und einladend mit seiner Fronte nach der Neubrandenburger Chaussee, auf welcher Petermann mit seinen beiden Flüchtlingen angelangt war. Ich eilte in das mir bekannte Haus, wandte mich in das „Honoratiorenzimmer“ linker Hand, stürzte hindurch und öffnete die der Eingangsthür desselben gegenüberliegende Thür, welche zu einer zweiten freundlichen Stube führte. Zwei Männer traten mir erwartungsvoll entgegen, beide von hoher Gestalt und schlanker Statur, der eine indeß den anderen an Größe um einige Zoll überragend. Der Größere war, dem Ansehen nach, den Vierzigern nahe. Er trug einen schwarzen Oberrock und schwarze Pantalons, und ebenso wie der Jüngere eine Brille. Sein mit Grau melirtes schwarzes Haar war kurz geschoren. Er hatte eine hohe und kahle Stirn. Das unrasirte Gesicht zeigte die Keime zu einem schwarzen Vollbart, die gelb-grünliche Farbe des Gesichts deutete auf lange Kerkerleiden. Auf den ersten Blick erkannte ich das Original zu dem von mir gesehenen Bilde. Es konnte Niemand anders sein als Gottfried Kinkel. Mit einem ungezwungenen gentlemanlike Benehmen schritt er auf mich zu und drückte mir mit sichtbarer Rührung die Hand, indem er zu mir sagte: „O, ich weiß, wer Sie sind. Ich habe Sie schon im Bilde bei unserem Freunde Petermann gesehen.“ Ich erwiderte stumm und in tiefer Erregung den Druck seiner Hand.

Der Begleiter Kinkel’s, ein junger Mann von einigen zwanzig Jahren, begrüßte mich als einen alten Bekannten. Ich erkannte ihn sofort als meinen Freund aus Braunschweig, den ich unter dem Namen „Hesse“ kennen gelernt hatte. Doch dieser Name war ebenso wie der Name Hensel, den er jetzt adoptirt hatte, ein fingirter. Sein wirklicher Name war – Carl Schurz. Seine Persönlichkeit war weniger imponirend, als die Kinkel’s. Aber dem aufmerksamen Beobachter entging nicht der feste Charakter und die männliche Entschlossenheit, welche sich in seinen markirten jugendlichen Zügen und seinem sicheren Auftreten ausprägten. Die braunen Augen blitzten klug und ironisch aus den etwas tief liegenden Augenhöhlen hervor. Sein langes Haar war dunkelblond.

„Ihr kennt Euch schon,“ sagte Petermann, der inzwischen mit seinem Freunde, dem Herrn N., eingetreten war, zu Schurz und mir, „ich brauche Euch daher einander nicht vorzustellen.“

„Ja wohl,“ sagte Schurz, „wir kennen uns von Braunschweig her, und ich habe schon damals auf Sie gerechnet.“

„Haben wir denn Ihnen zu danken, daß unser Freund hier ist?“ fragte ich.

„Er ist mein Retter und hat sich meinetwegen den größten Gefahren ausgesetzt!“ sagte Kinkel mit einem dankbaren, liebevollen Blick auf seinen Freund. „Der Adjutant im Tiedemann’schen Stabe, welcher mit genauer Noth seinen Verfolgern aus Rastadt entkam, wäre ein leckerer Bissen für die preußische Polizei gewesen,“ fügte er scherzhaft hinzu.

„Wie, Sie waren Officier in der badischen Revolutionsarmee und wagten sich nach Spandau?“ fragte ich. „Die Kugel war Ihnen gewiß, wenn man Sie gefaßt hätte.“

„Die Nürnberger hängen den Verbrecher erst, wenn sie ihn haben,“ sagte Schurz lächelnd. „Uebrigens bin ich, so viel ich weiß, der preußischen Polizei von Person nicht bekannt. Die Gefahr war also nicht gar groß.“

„Die Polizei hat nicht blos ihre schwarzen Bücher, sondern auch die Bilder der demokratischen Führer,“ erwiderte Petermann. „Herr v. Hinkeldey und Consorten werden sicher im Besitze Ihres Portraits sein. Ohnehin werden Sie steckbrieflich verfolgt.“

„Die preußische Polizei disponirt auch über sehr bedeute geheime Fonds,“ setzte ich hinzu.

„Mag sein. Aber wer an meiner Stelle hätte gezaudert, wenn es galt, den Patrioten und Dichter der deutschen Nation und den Gatten und Vater der Familie zu erhalten und dem Lehrer und Freunde, welchem ich so Vieles schulde, durch die That zu danken?“

„Wir werden später weiter mit Ihnen rechten,“ erwiderte ich. „Jetzt handelt es sich vor Allem darum, Sie schleunigst in Sicherheit zu bringen. Werden Sie etwas dagegen haben, wenn ich die weitere Leitung dieser Angelegenheit übernehme und Ihnen meine Ansicht auseinandersetze?“

„Wir verlassen uns ganz auf Ihre Besonnenheit und Klugheit,“ antwortete Kinkel. „Wird es schwer halten, uns schleunigst über See zu schaffen?“

„Ich bedaure allerdings, daß wir in Rostock nicht im Voraus von der bevorstehenden Flucht in Kenntniß gesetzt sind. Es wäre dann Alles zu Ihrem schleunigen Entkommen von hier bereit gewesen, während wir nun erst die zu demselben nöthigen Vorbereitungen zu treffen haben. Sie werden daher noch einige Zeit bei uns verweilen müssen. Aber verlassen Sie sich ganz auf uns. Niemand soll Sie hier unseren Händen entreißen. Später erst sind wir in der Lage, einen bestimmten Plan für Ihre Weiterbeförderung zu entwerfen. Für jetzt kommt es nur darauf an, Ihnen ein vorläufiges sicheres Asyl zu verschaffen und zugleich die Spur, auf welcher Ihnen die Polizei folgen kann, zu verwischen. Es ist in hohem Grade wahrscheinlich, daß diese Ihnen gerade auf dem von Ihnen eingeschlagenen Wege nachsetzt. Die Vermuthung, daß Sie die Eisenbahnen wegen der verrätherischen Telegraphen vermeiden und schleunigst den Seeweg zu gewinnen suchen werden, liegt sehr nahe. Da nun der Weg nach Mecklenburg zugleich den Vortheil bietet, daß man auf demselben sehr rasch dem preußischen Gebiet entrinnen kann, so blieb Ihnen kaum ein anderer Weg, als die Benutzung der Chaussée, welche von Berlin aus über Neustrelitz und Neubrandenburg hierher führt. Deshalb schlage ich Ihnen vor, daß Sie, nach genommenem Labetrunk, sofort an der Stadt vorbei nach Warnemünde, dem zwei Meilen von hier entfernten Hafenort Rostocks, fahren. Dort sind Sie einstweilen außerhalb der Schußweite der Polizei. Mein Freund, der Kaufmann Bluhme, wird bald mit einer Droschke hier sein und gewiß die Güte haben, Sie zu begleiten und dort das Nöthige auszukundschaften. Vielleicht leistet Ihnen auch mein Freund N. Gesellschaft. Morgen komme ich nach, und Sie werden dann mehr erfahren.“

Der Kaufmann Bluhme war inzwischen mit der Droschke angelangt. Alle stimmten mit meinem Vorschlage überein. Der freundliche Wirth zum „Weißen Kreuz“ erschien und präsentirte Jedem von uns ein Glas dampfenden Eiergrogs. Wir stießen auf unsere Flüchtlinge und eine glückliche Reise an. Wir waren so heiter, als wären schon alle Schwierigkeiten beseitigt. Namentlich gerieth Kinkel in die liebenswürdigste Laune. Als ich ihm seinen eleganten Pelz anhalf, bemerke er scherzend:

„Wie rasch ist doch der Wechsel der Zeiten! Ehegestern steckte ich noch in der Züchtlingsjacke und mußte mir mein Waschwasser selbst holen. Heute bedient mich der Herr Präsident der mecklenburgischen Abgeordnetenkammer beim Anziehen meines Pelzrockes.“

Ich gewahrte bei dieser Gelegenheit, daß seine Hand mit einem weißen blutbefleckten Taschentuch umwunden war.

„Haben Sie sich verletzt?“

„Beim Abbrechen der Stäbe meiner Gefängnißthür habe ich mir die Hand verwundet.“

Die beiden Flüchtlinge stiegen mit Bluhme und Freund T. in die Droschke und eilten ihrem Bestimmungsort zu. Petermann setzte sich, nachdem wir uns herzlich umarmt hatten, in seinen Wiener Wagen, um allein nach seiner Heimath zurückzufahren.

„Nun!“ rief er, „sind das nicht ein Paar liebe, prächtige Kerls? Deiner Obhut habe ich sie anvertrauet, und ich bin sicher, [106] daß, wenn Moses keine Balken über die Ostsee legt, Du ein Konigreich hingeben wirst, um ihnen ein Schiff zu verschaffen.“

Aus seinen Augen leuchtete die Freude und der Triumph, daß seine Mission so gut gelungen war. Als er schon eine Strecke fort war, lehnte er sich aus dem Wagenschlage, und ich sah ihn noch strahlend im Glück mir Kußhände zuwerfen. Ich selbst kehrte in die Stadt zurück mit dem vollen Bewußtsein meiner Verantwortlichkeit und nicht ohne Sorge über den endlichen Ausgang dieser Sache, aber fest entschlossen, Alles einzusetzen, um die theuren Flüchtlinge glücklich aus dem Bereiche ihrer Feinde zu bringen.


2.

Am Abend kehrte Bluhme zurück und unterrichtete mich von der glücklichen Ankunft meiner Freunde in Warnemünde, wo sie im Wöhlert’schen Gasthause abgestiegen waren. Die Aussichten für ihr Weiterkommen lauteten indeß nicht sehr ermuthigend. Der Sturm aus Nordost gestattete keinem Fahrzeuge das Auslaufen aus dem Hafen. Die Hauptschifffahrt war vorbei. Nur ein einziges Schiff tanzte auf der Rhede. Es war eine große mecklenburgische Brigg, die unter der Correspondentrhederschaft eines Rostocker Kaufmanns stand und nach London bestimmt war. Insofern schien sie unseren Zwecken zu entsprechen. Aber wenn das Wetter ungünstig blieb, so konnte die Befrachtung noch lange Zeit in Anspruch nehmen. Wegen des großen Tiefganges der Brigg hatte sie nämlich im Hafen nur einen Theil ihrer Ladung einnehmen können, und sie sollte erst auf der Rhede vermittelst sogenannter Leichterschiffe ihre volle Fracht empfangen. Ueberdies war es mißlich, sich dem Correspondentrheder und dem Schiffer anzuvertrauen. Denn wenn wir sie auch als Ehrenmänner kannten, welche unsere Flüchtlinge nicht verrathen haben würden, so wußten wir doch nicht, ob sie nicht in dieser delicaten Angelegenheit den Landesgesetzen und ihren Rhedern gegenüber Bedenklichkeiten hätten. Die Vorsicht erheischte, daß wir uns keinem Abschlage aussetzten.

Unter diesen Umständen beschloß ich, mich einem Manne anzuvertrauen, der die Mittel und, ich wußte es im Voraus, den Willen hatte, das anvertraute Gut baldmöglichst über See zu spediren. Dieser Mann war Ernst Brockelmann, einer der bedeutendsten Kaufleute und Schiffseigner in Rostock. Sein kaufmännischer Name hatte einen guten Klang, nicht blos in Mecklenburg, sondern auch in deutschen und außerdeutschen Handelsplätzen. Als warmer Vertreter und Fürsprecher der ärmeren Classe war er seit 1848 in ganz Mecklenburg bekannt. Die Hunderte von Arbeitern, welche er in seinem großen Fabriketablissement beschäftigte, verehrten und liebten ihn wie ihren Vater. Das Jahr 1848 hatte uns zusammengeführt und näher gebracht; wir gehörten Beide zu der Linken der mecklenburgischen constituirenden Kammer. Er war seitdem mein werther Freund und Gönner gewesen. Dies war der Mann, den ich mir als Retter in der Noth erkor.

Am anderen Morgen in der Frühe ging ich zu ihm nach seinem Fabriketablissement in der Mühlenthor-Vorstadt, welches zugleich ein prächtiges Wohnhaus enthält. Ich fand ihn in seinem geräumigen Zimmer, gemüthlich seine eben angezündete Morgenpfeife rauchend und mit einer Hand vorweg haltend, die andere Hand nach seiner Gewohnheit in der Seitentasche seines grauen Flausrocks, und mit seiner hohen imponirenden Gestalt an den Ofen gelehnt. Wenn er gleich schon über die Funfzig hinaus und sein Haar bereits grau war, so hatte er doch eine Gewandtheit in seinen Körperbewegungen und eine Lebhaftigkeit in seiner Sprache und seinem ganzen Wesen, daß mancher Vierziger sich dazu hätte Glück wünschen können.

„Herzlich willkommen, lieber Wiggers,“ rief er mir bei meinem Eintreten zu. „Was bringt Dich so zeitig hierher? Setz’ Dich nieder! Steck’ Dir ’ne Cigarre an und erzähle mir, was Du auf dem Herzen hast! Hoffentlich führt nichts Schlimmes Dich um diese ungewöhnliche Zeit zu mir.“

„O nein, ich bringe gute, recht gute Neuigkeiten mit. Doch es ist noch ein Aber dabei. Man darf den Anfang nicht vor dem Ende loben.“

„Das klingt ja ganz geheimnißvoll, und Du machst dazu ein so ernsthaftes Gesicht, daß man vermuthen muß, die Polizei hat Dich wieder einmal gehaussucht.“

„Mit der Polizei hat die Angelegenheit, derenthalben ich zu Dir komme, allerdings auch zu thun. Diesmal aber betrifft sie nicht mich, sondern zwei arme Unglückliche, die von der preußischen Polizei verfolgt werden.“

„Die sollen sie nicht haben, wenn ich’s hindern kann!“ rief Ernst Brockelmann lebhaft und hüllte sich in eine Rauchsäule.

„Zwei politische Flüchtlinge sind es, von denen der eine dem Zuchthause entsprungen ist und der andere ihn befreiet hat.“

„Dem Zuchthause entsprungen?“

„Ja, dem Zuchthause zu Spandau.“

„Sein Name?“

„Kinkel,“ flüsterte ich.

„Kinkel?“ rief er erstaunt. „Und der Andere hat ihn befreit?“

„Ja, mit Gefahr seines Lebens. Wird er gefaßt, so wird man ihn zu Pulver und Blei begnadigen.“

„Das ist ja ein Prachtkerl!“ sagte Ernst Brockelmann in tiefer Bewegung, ließ seine Pfeife an einen Stuhl hinuntergleiten, steckte die freigewordene Hand in die andere Seitentasche und ging mit großen Schritten in der Stube auf und nieder, wie er zu thun pflegte, wenn er in Aufregung war.

„Wo sind die Beiden?“ fuhr er fort.

„In Warnemünde.“

„Sie sollen zu mir in’s Haus kommen.“

„Das ist es, warum ich Dich bitten wollte.“

„Wann werden sie kommen?“

„Der Wagen, welcher mich zu ihnen bringen soll, steht bereit. Darf ich heute Nachmittag vier Uhr in Krummendorf, dem Dorfe am rechten Warnowufer, Dich mit Deinem Fuhrwerk erwarten? Ich werde dann mit den beiden Flüchtlingen dort sein!“

„Ich werde mich pünktlich dort einfinden und die Beiden mit mir nehmen. Und das sage ich Dir, Wiggers, wenn ich sie erst in meinem Hause habe, bei Gott, dann möchte ich den sehen, der es wagen wollte, sie wider meinen Willen abzuholen. Nun, leb’ wohl, sage ihnen, daß ich ihnen mein Haus als Asyl anböte, und daß ich weiter für sie sorgen und sie baldmöglichst über See spediren würde!“

Wir schieden händeschüttelnd von einander. Bald darauf war ich auf dem Wege nach Warnemünde.

Dieser Ort, dessen hauptsächlich aus Lootsen, Fischern, Sandfahrern und Matrosen bestehende Bevölkerung etwa 1800 Seelen zählt, ist rücksichtlich seiner staatsrechtlichen Stellung, wenn man der Definition des Rostocker Magistrats folgt, „nach den bisherigen Vorgängen und nach anderen historischen Anhaltspunkten eine zum Vortheile der Stadt Rostock, weil dieser unterthänige, in Unterordnung gehaltene Commune, welche mehr als ein Dorf ist“. Ausländern wird diese Definition, wie so vieles Andere in unserem Patrimonialstaate, ziemlich unverständlich sein. Ich will daher hinzufügen, daß Warnemünde eine von Rostock abhängige Colonie ist, welche nicht ihrer selbst wegen, sondern blos zum Vortheile und zur Ausbeutung der Stadt existirt. Um einen Begriff von dem Grade der Abhängigkeit zu geben, will ich nur hervorheben, daß weder ein Schlächter noch ein Bäcker sich dort niederlassen darf, daß vielmehr dieser Ort von 1800 Einwohnern gezwungen ist, das nöthige Fleisch und Brod von dem zwei Meilen entfernten Rostock zu kaufen. Die politische Abhängigkeit entspricht der materiellen. Der Rostocker Magistrat übt über den Ort sein rein patriarchalisches Regiment durch eins seiner Mitglieder, Gewettsherr genannt, welcher in Rostock residirt und nur von Zeit zu Zeit, um Gerichtstage abzuhalten, Steuern beizutreiben oder Acte der höheren Polizei oder Administration auszuüben, seine Pflegebefohlenen besucht. Der Vogt ist mit dem unter ihm stehenden Hegediener die einzige am Ort beständig anwesende Obrigkeit, welche der Autorität des Gewettsherrn unterworfen ist. Die allenthalben vordringende Cultur hat die gemüthliche Seite, welche diese patriarchalischen Zustände damals hatten, auch in Warnemünde verdrängt. Das Amt des Vogtes und Hegedieners ist später durch jüngere Kräfte besetzt, welche unter dem Krummstabe eines strenggläubigen Predigers leben, der eifrig bestrebt ist, ein strafferes Regiment herbeizuführen und zur Erreichung seines Zweckes sich selbst vor Conflicten mit der städtischen Obrigkeit nicht scheut.

Im Jahre 1850 aber existirte noch das alte patriarchalische Regiment, der friedliche Ort wußte von einem Kampfe der weltlichen und geistlichen Macht noch nichts. Der damalige Prediger, aus der altrationalistischen Schule stammend, kanzelte wohl seine Gemeindeglieder in seinen Predigten recht tüchtig ab, aber außerhalb derselben ließ er sie in Ruhe und mischte sich niemals in Dinge, welche zu [107] dem Ressort der weltlichen Obrigkeit gehören. Der alte Hegediener, welcher zugleich Gastwirthschaft betrieb, war froh, wenn sein amtlicher Beruf ihn nicht in Anspruch nahm und er seine Zeit zur Bedienung oder Unterhaltung seiner Gäste verwenden konnte. Und der Vogt, welcher die Siebenzig längst überschritten hatte, ward selten anderswo gesehen, als innerhalb der Grenzen der Vogtei, eines alten baufälligen städtischen Amtsgebäudes mit der Jahreszahl 1605, welches dem jeweiligen Vogt als Wohnung dient und außerdem die nöthigen Localitäten für die „Rostocker Herren“, im Fall sie dort ihre obrigkeitlichen Amtspflichten ausüben, und einige Logirzimmer für Badegäste enthält. Wenn der alte Herr mit seiner hohen, breiten und mächtigen Gestalt, mit dem schwarzen Sammetkäppel auf dem ehrwürdigen weißlockigen Haupte und mit seiner ständigen Begleiterin, der Pfeife mit meerschaumenem Kopfe, nach seiner Gewohnheit vor der breiten Fronte der Vogtei auf und nieder wandelte und so ehrfurchtgebietend und gutmüthig zugleich dareinschaute, dann freute sich Alt und Jung. Die Gäste aus Rostock kamen selten nach Warnemünde, ohne den alten Vogt gesprochen oder begrüßt zu haben. Als der alte Herr sich in’s Privatleben und damit in eine Privatwohnung zurückgezogen hatte, da vermißten Viele den ehrwürdigen alten Herrn, und die Vogtei lag ohne ihn recht verlassen da. Und als er vor ein paar Jahren entschlief, da trauerten Alle, die ihn kannten.

Mich knüpfte noch eine besondere Vorliebe an den alten Herrn. Er war mit meinem alten Vater, der mit ihm in ziemlich gleichem Alter stand, lange befreundet. Mein Vater unterließ nie, ihn bei seiner Anwesenheit in Warnemünde zu besuchen. Ich vergesse den Eindruck nicht, welchen es immer auf mich machte, wenn die beiden alten Herren sich ehrfurchtsvoll begrüßten, der Vogt, indem er sein schwarzes Käppchen abzog, und mein Vater, indem er seinen Hut abnahm, und mit entblößten weißen Häuptern einander gegenüberstanden, und sich dann treuherzig die Hände schüttelten und einander fragten, in welchem Jahre und an welchem Tage doch der Andere geboren sei, und dann die Differenz berechnet wurde, und wenn sie dann wieder in derselben Weise sich trennten und mit dem stillen ernsten Bewußtsein, daß sie sich wohl zum letzten Male gesehen hätten, auf Wiedersehen wünschten. Die wohlwollenden Gesinnungen, welche den alten Vogt beseelten, zeigten sich auch darin, daß er sich ungern entschloß, seine polizeilichen Functionen auszuüben, und, wenn irgend möglich, Alles in Güte abzumachen suchte. Die folgende wahre Anekdote legt davon Zeugniß ab und charakterisirt zugleich die patriarchalischen Zustände, in welchen sich damals der Ort noch befand.

Ein Gensd’arm überlieferte ihm eines Abends einen auf benachbartem Gebiete eingefangenen Spitzbuben, um denselben bis zum anderen Morgen, wo er weiter befördert und an die zuständige Obrigkeit abgeliefert werden sollte, in Haft zu behalten. Der Vogt gerieth darüber in große Verlegenheit, denn ein Gefängniß existirte am Orte nicht, und noch niemals hatte er einen Gefangenen zu bewachen gehabt. Seine angeborene Gutmüthigkeit sträubte sich auch gegen die Function eines Kerkermeisters. Er versuchte, mit dem Gensd’armen zu capituliren und ihn zu bestimmen, seinen Gefangenen noch bis zur nächsten Station zu bringen. Aber der Gensd’arm wollte nicht darauf eingehen: es sei schon spät, und alle Verantwortlichkeit fiele auf den Vogt, wenn dieser die Aufnahme des Gefangenen verweigerte. Was sollte der unglückliche Vogt machen? Gensd’arm und Arrestant wurden erst mit einem guten Abendessen regalirt und dann der Letztere in das Backhaus eingelassen. Ein hölzerner Riegel ward vor die Thüre desselben geschoben, und zu mehrerer Sicherheit wurden verschiedene Scheite Holz gegen die Thüre gestellt. Als aber am andern Morgen der Gensd’arm seinen Arrestanten abholen wollte, fand er den Riegel zerbrochen und die Thüre halb geöffnet. Der Vogel war davongeflogen, und Niemand hatte sich darüber im Stillen wohl herzlicher gefreut, als der Vogt.

Der gänzliche Mangel an polizeilicher Ueberwachung erhöhte natürlich die Annehmlichkeiten des Badelebens in Warnemünde. Höchstens murrte wohl ein Berliner Badegast, wenn er zu seiner großen Verwunderung seinen an den Vogt geschickten Paß sofort mit dem Compliment zurückerhielt, daß solche Berliner Sitten in Warnemünde nicht existirten. Vermißt ward die Polizei in keiner Weise. Denn Diebstähle kannte man dort nur dem Namen nach. Dieser Respect vor fremdem Eigenthum wirft ein um so helleres Licht auf die Reinheit der Warnemünder Sitten, als die Gelegenheit zum Stehlen nirgends besser sein kann, als gerade dort. Den Zugang zu den Passagen nach den Höfen (Tüschen), von wo man in das Vorder- und Hintergebäude gelangen kann, bildet eine nur mit einem hölzernen Riegel versehene Thür. Als höchste Vorsicht gilt, daß, wenn Niemand im Hause zurückbleibt, der Schlüssel zur Hausthüre hinter dem äußeren Fensterladen versteckt wird. Der ausgeprägte Eigenthumssinn der Warnemünder würde einen Proudhon zur Verzweiflung bringen. Im Uebrigen könnte er dort sein Problem der Anarchie verwirklicht finden. Ist es nöthig, daß Recht und Gerechtigkeit geschützt werden, so geschieht dies im Wege der Selbsthülfe und Association, wie nachfolgender Vorfall zeigt.

Ein englisches Schiff, dessen Capitain den Hafen, ohne die Lootsengelder zu zahlen, verlassen wollte, ward mitten in der Fahrt von mehreren mit jungen Warnemünder Seeleuten bemannten Böten attaquirt. Die kräftigen Jungens kletterten, wie die Eichkätzchen, im Nu die steilen Schiffswände hinauf, sprangen auf’s Deck, kriegten Capitain und Mannschaft beim Kragen, und hatten innerhalb weniger Augenblicke die Zahlung der Schuld beigetrieben. Keine Obrigkeit hätte so prompte Justiz üben können.

(Fortsetzung folgt.)



Ein Genie im Wohlthun.


Wenn ein Nicht-Hannoveraner auf der letzten Station der Eisenbahnen von Berlin-Branuschweig, Köln-Minden oder Göttingen-Kassel her der Residenz an der Leine so nahe gekommen, daß er die Hauptthürme derselben, den Marktkirchenthurm und den Aegidienkirchenthurm erblickt, und nun seinen Nachbar im Coupé fragt: „Um Entschuldigung, was ist denn wohl das Merkwürdigste in Hannover, so das Sehenswertheste, wie man zu sagen pflegt, für einen Fremden?“ – so wird der Gefragte, wenn er ein echter stadthannoverscher Philister ist, antworten: „Die Waterloosäule!“ – und wenn dieser Philister noch nebenher ein Goldschmied ist, so wird er antworten: „Die Silberkammer auf dem Schlosse!“ – und wenn ein Pferdehändler: „der Königliche Marstall!“ – und wenn er kein Philister, sondern ein Gelehrter ist, so wird er antworten: „Leibnitzens Manuscripte auf der Königlichen Archivbibliothek!“ – wenn ich, Schreiber dieses, aber der gefragte Philister wäre, so würde ich unbedingt antworten: „Das Merkwürdigste in Hannover ist der Pastor Bödeker!“ – „Wie? Ein Pastor – und das Merkwürdigste – in dieser Residenzstadt von 60000 Einwohnern?“ – wird dann der Fremde erwidern. – „Ja,“ antwortete ich, „er ist das Merkwürdigste in Hannover und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er – ein Genie ist, und zwar – ein Genie im Wohlthun.“ –

Paster Bödeker’s Weltanschauung, aus welcher sein ganzes Wirken hervorgeht, ist die: daß die Hauptaufgabe jedes Menschen, neben der fortwährenden Arbeit zur Läuterung und Besserung der eigenen Seele durch die allseitig geöffneten Erkenntnißquellen, darin bestehe, so viel als nur irgend möglich die innere und äußere Glückseligkeit anderer Menschen zu befördern. Darum hat Bödeker den größten Theil seiner Thätigkeit dahin gerichtet, das Elend der unteren und mittleren Classen zu mindern, im Großen, wie im Einzelnen, wo er solches nur aufzufinden vermag. Um aber dies aufzufinden, ist nöthig, daß man darnach suche. Und wie hat er darnach gesucht seit nunmehr einem halben Säculum, und wie sucht er noch täglich mit unverminderter Ausdauer darnach? Für diesen großen selbsterwählten Zweck hat er sein ganzes bisheriges Leben in Tagesmühen, Nachtwachen, Geldopfern von Tausenden, ja in der Entbehrung von eigenem häuslichen und Familienglück obendrein, zum Opfer gebracht, er hat für dieses Ziel nichts gescheut und durch nichts sich davon abschrecken lassen. Um so erfreulicher ist es daher, daß der gesunde Sinn des Volkes, das Vorhandensein einer vernünftigen und damit gerechten Majorität in der Menschheit unserer deutschen Gegenwart, welches sich Gottlob auch in den andern großen politischen und socialen Fragen der Epoche unzweifelhaft kundgiebt – sich auch in diesem Einzelfalle hier bei uns Hannoveranern (die wir sonst eben nicht die Vorkämpfer der deutschen Erkenntniß sind) bewiesen hat; der Pastor Bödeker ist längst allgemein anerkannt als ein wahrer Volksmann im edelsten Sinne des Wortes, als Einer der Ersten und Besten seiner Kategorie im ganzen Lande Hannover.

[108] Werfen wir zunächst hier einen Blick auf Bödeker’s amtliche Berufsthätigkeit. Obwohl die Stellung eines Predigers in einer großen Stadt, um eine im höchsten Sinne des Wortes gedeihliche zu werden, eine weit schwierigere ist, als eine solche in der Landgemeinde, so gewann er sich doch bald in seiner Gemeinde nicht nur, sondern weit über die Grenzen derselben hinaus, einen so heilsamen Einfluß, wie er sonst nur einem langjährigen bewährten Freunde zu Theil zu werden pflegt. Der Hauptgrund davon lag, wie in seiner geistigen Kraft und Lebendigkeit überhaupt, so auch besonders in der natürlichen, zutraulichen und eben deshalb so leicht bewegenden Sprache im Umgange wie auf der Kanzel. Man mußte sich gestehen, daß solch ein klar verständlicher, aus dem Herzen kommender Ton neu sei in der Gemeinde, und weil zum Herzen dringt, was vom Herzen kommt, so kehrte man mit stets wachsender Liebe dort ein, wo dem schlichten Sinne, dem unverdorbenen Gemüthe stets neue Nahrung geboten wurde. Mit jedem Vortrage wuchs die Zahl der Zuhörer, damit aber auch der Eifer Dessen, dem sie horchten, und wie oft mit klopfendem Herzen und thränendem Blick! Wer auch nur wenige Predigten Bödeker’s gehört oder gelesen hat, findet gar leicht, daß sie von jenen Kunstmitteln frei sind, welche dem berechnenden Vorbedachte dienen müssen, um irgend einen wünschenswerthen Eindruck, mit einem Worte, um Effect zu machen. Die Eindringlichkeit und Kraft derselben beruht allein in der schlichten Natürlichkeit, womit die Predigten angelegt und ausgebaut sind; wir möchten sagen, sie beruht in ihrer Bürgerlichkeit, welche der Sprache der Bibel, wie sie aus der immer noch unübertroffenen lutherischen Uebersetzung bekannt ist, am nächsten kommt.

Wir können überhaupt seine felsenfeste Ueberzeugung von der Größe des geistlichen Berufes, seinen Eifer, seine innige Liebe für denselben nicht treffender bezeichnen, als mit den Worten, die wir von ihm selber vernehmen. Er sagt sehr oft: „Ich wollte, wenn ich wählen müßte, lieber Pastor sein ohne Gehalt, als die Stelle aufgeben und die volle Einnahme beziehen.“ – Dem König Ernst August, selbst eine originelle und active Natur, konnte ein solcher Pastor in seiner Residenzstadt nicht lange unbekannt bleiben; er nahm denn auch bald Veranlassung, denselben zur Tafel zu ziehen, wo die Unterhaltung zwischen dem Monarchen und dem Prediger eine sehr lebhafte und andauernde war. Nach aufgehobener Tafel äußerte einer der Cavaliere zu Bödeker: „Der König scheint Ihnen gewogen zu sein und wird Sie sicher nächstens befördern.“ Er antwortete auf der Stelle: „Ich will nicht befördert werden; ich will Pastor an der Marktkirche bleiben, das genügt mir; als solcher bin ich am unabhängigsten und kann am meisten wirken; ich werde meine Gemeinde nicht eher verlassen, als bis sie mich wegjagt.“ – Als dem Könige diese Worte hinterbracht wurden, äußerte er: „Ich hab’s dem Menschen gleich angemerkt, daß er nichts von mir haben will.“

Daß Bödeker auch als Theolog freisinnig ist, dafür möge hier nur ein Fall citirt werden. Als vor mehreren Jahren das ganze geistliche Ministerium den evangelischen Pastor Steinacker aus Triest (durch die Ultramontanen aus seiner dortigen Wirksamkeit vertrieben und hiernach an der Kreuzkirche zu Hannover zum zweiten Prediger erwählt) wegen seiner angeblichen Irrgläubigkeit verurtheilte, als darauf das königliche Consistorium, auf den Antrag jener geistlichen Herren, Steinacker’s Wahl ablehnte, da war es Bödeker, welcher Steinacker gegen seine sechs Collegen durch ein Separatvotum in Schutz nahm. Er erhielt dafür vom königlichen Consistorium einen officiellen Verweis. Steinacker ist nun bereits seit mehreren Jahren Pastor im Weimar’schen, wofür Bödeker’s Verwendung ihm auch mit behülflich gewesen.

Auch darin sehen wir in ihm den echten Geistlichen, daß er keinen Anlaß zum Hausbesuch seiner Gemeindeglieder versäumt und daß der Aermste wie der Angesehenste dabei keinen Unterschied macht. Und überall sehen wir nicht einen Pfarrherrn, der in seinen Amtshandlungen ein Anderer ist als zu Hause oder in vertraulicher Gesellschaft: wir sehen nur den Freund, der glücklich ist in seinem Berufe. Daß er’s wirklich ist, bezeugt er selber durch einen der schönsten Aussprüche des Apostels Paulus, einen Spruch, welchen wir unter einem älteren Portrait Bödeker’s zugleich als Facsimile lesen: „Nicht daß wir Herren seien über eueren Glauben, sondern wir sind Gehülfen eurer Freude.“ –

Damit gehen wir zu jenem Theile von Bödeker’s Thätigkeit über, welche ihn vorzugsweise in den weitesten Kreisen bekannt und willkommen machte, und welche wir nicht anders als mit dem Worte „universelle Hülfsthätigkeit“ zu bezeichnen vermögen. Diese Skizze würde nun aber zu einem umfangreichen Buche sich ausdehnen müssen, wollte sie jedes Einzelne in seinem Beginn, seinen Folgen, seinem Fortbilden darlegen und alle Fälle, wo Bödeker sich als Mensch, Mitbürger, Freund und Helfer bewährte, aufzählen. Schon in Göttingen als Docent begann er seine Werkthätigkeit, indem er einigen Personen angemessene Dienststellen zu verschaffen wußte. In Hannover aber gewann diese Thätigkeit schon während der ersten Jahre eine wahrhaft überraschende Ausdehnung, – hier ist sie endlich bis zu der Höhe gestiegen, daß es im Volke längst sprüchwörtlich geworden ist, zu sagen: „Na, wenn di Keener mehr helpen kann, denn mußt du na’n Paster Bödeker gahn; wenn aber de ook keen Rath weet, denn büst du gewiß verlaarn!“ – Und Tausende, ja aber Tausende sind während der letztverflossenen 36 Jahre durch die kleine Hofpforte vor der Marktpfarrwohnung mit gramerfüllten Zügen eingegangen, und wenn sie daraus zurückschritten, erglänzte der Freudenschein einer neugeweckten Hoffnung von ihren bleichen Wangen.

So kommt es aber auch, daß bei jeder gemeinnützigen Sache, für welche die Preßorgane aufrufen, Bödeker’s Name mit an der Spitze steht und stehen muß; man kann ihn dabei nicht mehr entbehren, wollte man auch, er gehört einmal mit dazu. Erschiene eine solche Publication und man fände unter den Begründern ihn nicht mitgenannt, so würde das Publicum schon mit einem gewissen Mißtrauen die Sache ansehen, es würde sprechen: „Wie kommt’s, daß Bödeker’s Name nicht mit dabei ist? da muß wohl nicht viel daran sein!“ Und die letztere Betrachtung basirt zugleich auf dem Vertrauen, welches er universell nicht nur für seinen Willen, sondern auch für seine Einsicht sich hergestellt hat. Greift Bödeker eine Sache mit an, so ist man sicher, daß er vorher von ihrer Ausführbarkeit sich überzeugt hat, und daß er dann auch alles nur Menschenmögliche aufbietet, sie zu verwirklichen. So kommt es, daß er noch nichts von gemeinnützigen Instituten begonnen hat, was nicht auch vollendet wurde. Beweise davon sind:

1) Die Stadtschullehrer-Wittwen-Casse für die Residenz Hannover. Bödeker gründete sie, gleich nachdem er, der 24jährige Candidatus theol., zum zweiten Prediger an der Stadtkirche erwählt worden, als erstes öffentliches Dankeszeugniß für seine Erwählung, indem er den Fonds dazu mit 50 Thalern seines Ersparnisses anlegte. Durch eine fortgesetzte Sammler-Wirksamkeit seinerseits und in Folge deren ihm anderweitig zugeflossene Spenden hat sich dieser Fonds so gesteigert, daß die Schullehrer-Wittwen der Stadt nunmehr eine jährliche Pension von 24 Thaler erhalten.

2) Die „Marienstiftung“, durch welche jahraus, jahrein eine Anzahl armer junger Mädchen der unteren Volksclassen zu tüchtigen Dienstmädchen ausgebildet wird.

3) Das Rettungshaus in Ricklingen, unweit Hannover. Dem Verwaltungsrathe desselben übergab Bödeker ein schuldenfreies Grundstück nebst Hause im Werthe von 5000 Thaler; in dieser Anstalt werden jährlich 20 bis 30 sittlich verwahrloste Knaben gebessert, bis sie zum Eintritt in eine Lehrlingsschaft geeignet sind.

4) Die allgemeine Volksschullehrer-Wittwen-Casse für das ganze hannoversche Land. Bödeker gründete dieselbe im Jahr 1834 mit einem Votiv-Geschenk von 3 Louisd’or seitens eines Mitgliedes seiner Gemeinde; der Fonds dieser Wittwen-Casse, für welche Bödeker ebenfalls unermüdlich sammelte und endlich auch die directe Beihülfe des Königs und des Ministeriums wie deren Fundation als „milde Stiftung“ durchsetzte, beläuft sich gegenwärtig auf 170,000 Thaler und gewährt den in drei Classen eingeschriebenen Volksschullehrer-Wittwen des Landes eine jährliche Pension von resp. 13, 17 und 26 Thalern, welcher Betrag sich allmählich immer mehr erhöht.

5) Das „Schwesternhaus“, belegen in der Aegidien-Thors-Gartengemeinde vor Hannover, ein Stift für 40 bis 50 unbescholtene Frauenzimmer des Bürgerstandes in vorgerücktem Alter, welche sich für eine geringe Einkaufssumme ein lebenslängliches Asyl erwerben.

6) Der „Mäßigkeits-Verein“, vor nunmehr zwanzig Jahren gestiftet.

7) Der „Thierschutz-Verein“, ebenfalls seit fast ebenso lange durch ihn gestiftet. Als Filial davon hat Bödeker mit seinem Gelde und unter seiner Leitung in Hannover die erste Pferdeschlächterei errichtet. Es floriren jetzt zwei Pferdeschlächtereien in Hannover, und es sind, nach deren Ausweis, im letzten Jahre [109] 300 Pferde mit einem Gesammt-Ergebniß von circa 150,000 Pfd. gesunden Fleisches geschlachtet worden.

Pastor Bödeker.

Es ist selbstverständlich ebenso herzergreifend wie interessant, in den Vormittags-Sprechstunden, wo Bödeker Jedem zu Rath und That zugänglich ist, die Bevölkerung seines Vorzimmers zu betrachten. Alte gebrechliche Männer und Frauen der ärmsten Classen, welche sich von ihm ihre wöchentliche oder monatliche Unterstützungssteuer von 10, 12, 15 Groschen und darüber holen; andere Bedürftige, für die er aus seiner großen wohlhabenden Bekanntschaft Röcke, Jacken, Strümpfe etc. herbeigeschafft hat; Schulkinder, welche Bibeln, Gesangbücher, die kleinsten, welche Spielsachen geschenkt bekommen; dort eine hülflose Arbeiterfrau, welcher der Mann gestorben und deren Säugling er bei einem vermögenden kinderlosen Ehepaare eine dauernde Aufnahme an Kindesstatt verschaffte; ein Student, der seine Fürsprache zur Erlangung eines Stipendiums, ein während seiner Studienzeit durch ihn unterstützter Candidatus theol., welcher seine Empfehlung zu einer vacanten Hauslehrerstelle nachsucht; ein kleiner Bürgersmann, dem wegen Kündigung eines Capitals, das er nicht wieder anschaffen konnte, sein Haus verkauft werden soll, und der nun auch zu ihm seine letzte Zuflucht nimmt etc. – Und wenn nun zwischen alle diese Armen, Hilfsbedürftigen und Geringen plötzlich ein vornehmer Besuch hineinschneit – denn auch vernehme Leute kommen genug zu ihm, theils um einen Mann von so ungeheurer Popularität sich befreundet zu erhalten, theils weil auch sie mitunter bei ihm Rath und Hülfe suchen – dann treibt er all die geringen Besucher nicht etwa zur Thür hinaus, sondern sagt einfach zu dem vornehmen Herrn: „Bitte, mein Verehrtester, warten Sie ein wenig, bis ich diesen guten Leuten erst gerecht geworden bin;” – und wenn dann der vornehme Herr nicht zu warten Zeit oder Lust hat, so läßt Bödeker ihn getrost gehen, unbekümmert, ob er überhaupt danach wiederkomme oder nicht.

Daß nun die Bevölkerung, wenn es Anlaß giebt, einem solchen Manne ihre öffentliche Anerkennung zu beweisen, damit nicht säumig ist, können wir Gottlob denn auch von den Hannoveranern rühmen. Die erste bedeutendere Gelegenheit hierzu gab es bei Bödeker’s 25jährigem Dienst-Jubiläum, am 27. November 1848. Elf Deputationen erschienen da bei ihm zur Gratulation, welchen sich Hunderte von persönlich Glückwünschenden aller Stände, von den Ministern an bis zu den geringsten Arbeitern hinab, anreihten. Ein anderes Mal, da Bödeker (vor etwa drei Jahren) wochenlang am Nervenfieber daniederlag, kamen täglich Hunderte von Personen, Hoch wie Niedrig, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Und endlich, als Bödeker, nachdem Gott ihn von seiner kranken Frau erlöst, ein Jahr darauf sich zum zweiten Male mit einer, wie an Jahren ihm nahestehenden, so durch Herzens- und Geistesbildung würdigst ihm entsprechenden hannoverschen Bürgerstochter vermählte, da bereitete ihm die öffentliche Liebe wieder ein großes Herzensfest. Nicht nur, daß auf eine einfache Anregung im „Tageblatt”, überschrieben „Wir wollen ihm auch einmal eine Freude machen!”, in Kurzem eine freiwillig aus Thaler- und Groschen-Beiträgen gesteuerte Summe von über 500 Thalern zusammenkam, wofür ihm ein prächtiger silberner Tafelaufsatz zum Ehrengeschenk hergestellt wurde, sondern es harrten da auch, als er mit seiner Neuvermählten von seiner Hochzeitsreise nach Hannover zurückkehrte, Tausende von Menschen seiner Ankunft am Bahnhofe, welche ihn mit nicht endenwollendem Vivatrufen bis an seine Wohnung [110] geleiteten, wo dann bis spät in die Nacht ein musikalisches Ständchen mit dem andern abwechselte. Kein geliebter Fürst, kein großer kriegerischer oder politischer Befreier dürfte eines allgemeineren Empfangsjubels, der so ganz und recht aus dem Herzen kommt, sich berühmen können. –

Nun, und wie bewegt sich dieser Mann denn sonst im geselligen Verkehr? Auf eine so liebenswürdige Weise, daß er für alle Cirkel, die nur irgend seiner habhaft werden können, als das willkommenste Mitglied gilt. Daß ein Mann von seiner geistigen Rührigkeit auch mit einer guten Dosis Witz und Humor begabt sei, wird man naturgemäß finden. Er ist ein vortrefflicher Erzähler, überhaupt der unterhaltendste Gesellschafter, aber sein Scherz ist stets harmlos, sein Witz nie persönlich wehthuend. Und geschieht es auch einmal – was wohl mitunter ihm passirt und worüber die Grämlichen schon des Oefteren Zeter geschrieen – daß er sich von der Heiterkeit des Augenblicks zu weit fortreißen läßt, ein wenig über die Grenze der pastoralischen Würde hinaus, so darf man mit Recht ein Wort Goethe’s über Lessing auch auf ihn anwenden. Goethe sagte nämlich einst in Bezug auf Lessing’s heftige Ausfälle gegen Götze: „Ja, Lessing darf in der Diskussion mitunter sogar so derb werden, daß er auf Augenblicke selbst die persönliche Würde von sich wirft, weil er der Mann ist, dieselbe jeden Augenblick wieder aufgreifen zu können.“ Dasselbe gilt von Bödeker. Als dahin gehörig sei hier unter Andern nur erwähnt, daß, wenn er auf der Straße einen Jungen antrifft, der den vor seinen Wagen gespannten Hund mißhandelt, er, als Präsident des Thierschutzvereins, nicht Anstand nimmt, den Jungen eigenhändig mit seinem Stocke durchzuhauen. Ebenso ist es bei ihm in der Ordnung, wenn er ein schwaches Kind auf der Straße Wasser holen sieht, ihm das Einpumpen zu besorgen, und wenn ein Hausknecht den Karren nicht über’s Trottoir bringen kann, mit in’s Rad zu fassen, oder wenn ein stätisches Pferd nicht anziehen will, mit nachzuhelfen; sowie er auch auf der Straße in derselben Minute dem Minister und gleich hinterdrein dem Arbeiter die Hand schüttelt.[3]

Einige pikante Einzelzüge, wovon es in Hannover eine ganze Anekdoten-Geschichte giebt, von denen wir aber nur einige uns gerade erinnerliche hier geben, werden das Bild dieses seltenen Mannes zu vervollständigen dienen.

Wie wenig er sich z. B. aus der Etikette macht, erfuhren wir einst in einer Gesellschaft, wo ein Fremder den vielgenannten Pastor Bödeker anwesend weiß und neugierig ist, ihn kennen zu lernen. Der Fremde bittet einen der Anwesenden, ihm denselben zu zeigen. „Das brauche ich nicht,“ sagte der Angeredete, „der formloseste Mensch, den Sie hier treffen, das ist der Pastor Bödeker.“ Und alsbald hatte der Fremdling ihn herausgefunden und stellte sich ihm vor.

„Darum bleibe ich doch immer Pastor Bödeker,“ sagt er, und wenn er auch mal Abends einem angetrunkenen Bürger den Arm reicht, ihn „wegen plötzlichen Schwindels“ gütig nach Hause zu führen.

Als er einmal in einer Versammlung behufs Gründung eines Vereins für einen Humanitätszweck zum Secretair gewählt wurde und ein Mitglied der Gesellschaft seitwärts äußerte, er hätte zum Präses gewählt werden müssen, erwiderte ein Dritter: „Macht ihn in Gottes Namen zum Schwanz; bei seiner Thätigkeit, Einsicht und Liebe wird er von selbst schon der Kopf werden, und auf den äußerlichen Rang kommt’s ihm ja nicht an.“

Entlassene Sträflinge oder solche, deren Entlassung bevorsteht und die die Absicht haben, sich zu bessern, wenden sich persönlich und brieflich an ihn, mit seiner Hülfe eine neue ehrliche Existenz zu gewinnen. – Dem unverschuldet bankerott gewordenen Miethskutscher schießt er 200 Thaler vor, um wieder zu miethkutschern, einem Schmied desgleichen kauft er Hämmer, Ambos und Blasebalg etc., um wieder zu schmieden. – Dem (wegen Trunks) abgesetzten Schulmeister verschafft er bei einem befreundeten Gutsbesitzer eine Hauslehrerstelle in der einsamen Haide, wo er keine Gelegenheit zum Kneipen hat und sich so des Branntweins entwöhnt, und sorgt schließlich für Wiederanstellung des Gebesserten im Staatsdienste. Einst begegnet ein verzweifelnder Familienvater auf seinem Pfade zum Wassertode einem Mitbürger und erklärt demselben auf Befragen, er wolle sich ersäufen. Da fagt der Letztere: „Dann sprich doch aber erst mit dem Pastor Bödeker!“ Der Mann gehorchte, und Bödeker sorgte für ihn und seine Familie, und noch jetzt segnen sie Alle den lieben Mann.

Wir sind damit zum Schlusse unserer Skizze gediehen, die hoffentlich dereinst eine stärkere Feder und mit mehr Muße zu einer vollständigen Biographie ergänzt. Im Uebrigen war es uns nicht darum zu thun, dem Manne einen Panegytikus zu halten; er selbst bedarf dessen nicht und lechzt nicht darnach. Beweis ist, daß noch die Artikel der Art über ihn in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen, wo doch Hunderte von anderen Personen, die ihm nicht bis an die Sohle reichen, sich haben illustriren, biographisiren und glorificiren lassen. Er würde fortfahren zu handeln, wie er handelt, wäre und würde auch nie ein Wort der öffentlichen Anerkennung über ihn gedruckt. Um seiner selbst willen brauchten wir also nicht zu, schreiben; aber es geschah um der Andern willen. – Denn das Wort des Historikers Johannes von Müller aus seiner Gedächtnißrede auf einen großen Todten ist von unumstoßlicher Wahrheit: „Eroberungen können verloren gehen, Triumphe kann man streitig machen. Aber der Ruhm und der Vortheil, den das Beispiel gewährt, sind unzerstörlich, unverlierbar. Der eine bleibt seinem Urheber eigenthümlich, der andere zugesichert allen Denen, die ihm nachahmen. – Wenn eine solche Lobrede, wie die hier gehaltene, keiner Künste bedarf, um die Theilnahme großer Seelen zu wecken und die Schwachen tröstend aufzuhalten, die im Begriff sind, sich selbst aufzugeben, dann ist die Weihe vollbracht; ein solcher Mann gehört, wie die unsterblichen Götter, nicht einem gewissen Land, nicht einem gewissen Volk – diese können veränderliche Schicksale haben – der ganzen Menschheit gehört er an, die so edler Vorbilder bedarf, um ihre Würde aufrecht zu erhalten.“

Dr. Wilhelm Schröder.


Leibnitz und die Stiftung der Berliner Akademie.

Es war im Herbste des Jahres 1697, daß die geistreiche Sophie Charlotte bei der Tafel ihr Bedauern äußerte, daß in einer solchen Stadt wie Berlin kein eigener Kalender erscheine, kein Astronom und keine Sternwarte zu finden sei. Der bei Tisch anwesende Hofprediger Jablonski beachtete sogleich diesen Wink und hinterbrachte dem damals noch am preußischen Hofe allmächtigen Oberpräsidenten von Dankelmann den Inhalt des Gespräches. Dieser faßte sogleich den Gedanken mit Eifer auf und versprach verläufig für die Errichtung einer Sternwarte Sorge zu tragen. Auch der berühmte Philosoph Leibnitz in Hannover, welcher mit Sophie Charlotte in fortwährender Verbindung stand, interessirte sich lebhaft für die Wünsche seiner fürstlichen Freundin. Er schrieb deshalb an einen Freund in Berlin: „Kann ich bei dem Allen mit meinem geringen Rathe etwas beitragen, so werde ich es von ganzem Herzen thun. Denn alle meine Blicke sind seit langer Zeit nur auf das allgemeine Beste gerichtet; und ich mache mir aus dieser Pflicht meine ganze Freude. Frankreich hat, unter uns gesagt, jetzt größtentheils ziemlich mittelmäßige Leute in den Wissenschaften. Wenn wir die Deutschen auf den Weg bringen können, so werden sie darin vielleicht ganz Europa die Spitze bieten.“

[111] Der große Leibnitz war in jeder Beziehung der geeignete Mann für ein solches Unternehmen, dessen eigentliche Seele er bald werden sollte. Mit einem riesigen, universellen Wissen verband er eine große, weltmännische Gewandtheit und einen bei Gelehrten so selten gefundenen praktischen Blick für das Leben und seine Anforderungen. Am Hofe zu Hannover bereits angestellt, mit der Mutter Sophie Charlottens ebenso befreundet wie mit dieser selbst, bildete er gleichsam das geistige Band zwischen den beiden größten protestantischen Fürsten Deutschlands. Frühzeitig würdigte er die Bedeutung und Wichtigkeit Brandenburgs, dessen Größe er nicht nur in seinem durch den großen Kurfürsten begründeten Kriegsruhm, sondern in dem freien Geiste religiöser Duldung, in der Förderung von Kunst und Wissenschaft richtig erkannte. Andererseits hatte auch der Berliner Hof schon vielfach den Wunsch geäußert, den berühmten Leibnitz für sich zu gewinnen und seine immensen Kenntnisse zum Wohle des Staates zu nutzen. Der Kurfürst selbst, der Alles beförderte, was seinen Ruhm und den Glanz seiner Regierung vermehren konnte, zeigte sich sogleich geneigt, auf die von seiner hohen Gemahlin angeregte Idee einzugehen. Bereits am 18. März 1700 faßte er den Entschluß, „eine Académie de sciences und ein Observatorium“ in Berlin zu gründen. Diese Nachricht, welche Sophie Charlotte selbst nach Hannover brachte, bewog Leibnitz, sich in zwei einander ergänzenden Denkschriften über die neue Stiftung auszusprechen und dieselben dem Kurfürsten einzusenden. Hierauf erfolgte eine Einladung nach Berlin, wo Leibnitz in der Mitte des Monats Mai 1700 eintraf, zu derselben Zeit, als die Vermählung der einzigen Tochter des Kurfürsten aus erster Ehe diesem die Gelegenheit gab, seine Prachtliebe im höchsten Grade zu entfalten. Er konnte sich dem Rausche der Feste nicht entziehen, obgleich ihm vor allen Dingen die Gründung der Akademie am Herzen lag. Hierüber schreibt er einem vertrauten Freunde: „Die Sache fesselt mich mehr an diesen Ort, als der festliche Hochzeitspomp, welcher jetzt vorbereitet wird, da der Bräutigam hier gestern mit großem und glänzendem Gefolge von Wagen, Pferden, Menschen seinen Einzug hielt und eine Aufnahme fand, welcher zu einer königlichen Pracht nichts fehlte.“ In einem Briefe an die Kurfürstin Sophie, seine Gönnerin in Hannover, läßt er sich folgendermaßen aus: „Gestern kam ich um drei Uhr von Lützenburg (Charlottenburg) zurück. Ich führe hier ein Leben, welches die Frau Kurfürstin mit mir „ein lüderlich Leben“ nennt. Me voilà donc bien dérangé et bien hors mon élement.

Endlich kam der längst ersehnte Tag, welcher den Grund zu der geistigen Entwicklung und Bedeutung Preußens legte. Am 11. Juni 1700 wurde die „Societät der Wissenschaften“ von dem Kurfürsten förmlich begründet. Der Name rührte von Leibnitz her, der sie dadurch von den Universitäten unterscheiden wollte, welche damals noch häufig Akademien genannt wurden. In dem Stiftungsbriefe, in welchem man leicht die Feder und den Geist des berühmten Philosophen erkennen wird, ist der Nachdruck hauptsächlich auf die „teutsche Gesinnung“ der Societät gelegt, was um so mehr zu bewundern ist, da in jener Zeit gerade der französische Einfluß nicht nur in den Trachten und Moden, sondern auch in Kunst und Wissenschaft vorherrschte. „Solchemgestalt,“ heißt es in der betreffenden Urkunde, „soll bei dieser Societät unter andern nützlichen Studien, was zur Erhaltung der teutschen Sprache in ihrer anständigen Reinigkeit, auch zur Ehre und Zierde der teutschen Nation gereichet, absonderlich mit gesorget werden, also daß es eine „teutschgesinnte“ Societät der Scienzien sei, dabei auch die ganze teutsche und sonderlich Unserer Landen Weltliche und Kirchenhistorie nicht versäumet werden soll.“ – Eine eben so große Wichtigkeit wird auch darauf gelegt, daß die Wissenschaft mit dem Leben sich in Einklang setzen und durch ihre praktische Anwendung auf das Leben das materielle und geistige Wohl der bürgerlichen Gesellschaft fördern soll. Schon in seinen dem Kurfürsten vorgelegten Denkschriften hatte Leibnitz die Ansicht ausgesprochen: „Solche Societät müßte nicht auf bloße Curiosität und Wißbegierde und unfruchtbare Experimente gerichtet sein, oder bei der bloßen Erfindung nützlicher Dinge ohne Application und Anbringung beruhen, wie etwa zu Paris, London und Florenz geschehen, sondern man müßte gleich anfangs das Werk sammt der Wissenschaft auf Nutzen richten, und auf solche Specimina denken, davon der hohe Urheber Ehre und das gemeine Wesen ein Mehreres davon zu erwarten Ursache haben. Wäre demnach der Zweck, die Theorie mit der Praxis zu vereinigen, und nicht allein Künste und Wissenschaften, sondern auch Land und Leute, Feldbau, Manufacturen und Commercien und mit einem Worte die Nahrungsmittel zu verbessern.“ In dem Stiftungsbriefe heißt es: „Und wollen, daß dieselbe sich angelegen sein lassen und dahin trachten solle, daß vermittelst der Betrachtung der Werke und Wunder Gottes in der Natur, auch Anmerkungen, Beschreib- und Ausübung derer Erfindungen, Kunstwerke, Geschäfte und Lehren, nützliche Studia, Wissenschaften und Künste, auch dienliche Nachrichtungen, wie die Namen haben können excoliret, gebessert, wohl gefasset, und recht gebrauchet, und dadurch der Schatz der bisher vorhandenen, aber zerstreuten menschlichen Erkenntnisse nicht allein mehr und mehr in Ordnung und in die Enge gebracht, sondern auch vermehrt und wohl angewendet werden möge. Und wollen Männiglich in Unsern Landen, sonderlich aber die in Unsern Bedienungen stehn, auch die sonst Dependenz von uns haben, zumal aber alle, die denen Studien ergeben, nach jeder Gelegenheit, der Societät zu ihrem gemeinnützigen Zwecke die Hand möglichst zu bieten, anweisen, auch dieselbe bereits insgemein hiermit und in Kraft dieses dazu nachdrücklich angewiesen haben.“

Die Stiftung der Akademie war besonders für Sophie Charlotte ein freudiges Ereigniß, das sie durch ein Fest in ihrem geliebten Charlottenburg feierte, woran natürlich auch Leibnitz Theil nehmen mußte. Er selbst macht folgende Schilderung an seine hohe Gönnerin in Hannover von dem Leben und Treiben an dem Hofe ihrer geistreichen Tochter: „Um Ihnen eine Probe von der guten Laune der Frau Kurfürstin zu geben, werde ich das gestrige Fest beschreiben, das die hohe Frau mit Hülfe des Fräulein von Pöllnitz und ihres Capellmeisters Ariosti erdacht und in Scene gesetzt hat. Man stellte einen Dorf-Jahrmarkt vor, wo viele Buden mit ihren lustigen Artikeln aufgerichtet waren, und man für Nichts Würstchen, Schinken und allerhand Eßbares einkaufen und sogleich verzehren konnte. Diese Buden hielten der Markgraf Christian Ludwig (Bruder des Kurfürsten), Herr von Obdam, der holländische Gesandte, Herr von Hamel etc. Herr von Osten spielte den marktschreierischen Charlatan, umgeben von Arlequins und Seiltänzern, unter denen sich der Markgraf Albert (Bruder des Kurfürsten) auszeichnete. Aber nichts war artiger als der Kurprinz (der damals noch nicht ganz zwölfjährige Friedrich Wilhelm I.), welcher wirklich Hocus Pocus zu spielen gelernt hatte. – Die Frau Kurfürstin war die Doctorin, welche die Bude des Marktschreiers hielt. Der französische Gesandte, Monsieur Désaleurs, spielte sehr gut die Rolle des Zahnarztes. Beim Beginn des Schauspiels sah man den feierlichen Einzug des Doctors, der auf einer Art von Elephanten ritt, während die Frau Doctorin sich in einer Sänfte von ihren Türken tragen ließ. Der Taschenspieler, die Possenreißer, die Springer und der Zahnarzt folgten hintennach, und als der ganze Zug des Doctors vorüber war, wurde ein kleines Ballet von Zigeunerinnen aufgeführt, lauter Hofdamen, an deren Spitze die Frau Prinzessin von Hohenzollern stand; Andere mischten sich in den Tanz. Man sah auch einen Astrologen mit einem Teleskop vortreten. Die Rolle war eigentlich meiner Person zugedacht, aber der Graf von Wittgenstein war so barmherzig, mich abzulösen. Er richtete glückliche Prophezeiungen an den Kurfürsten, welcher aus der nächsten Loge zusah. Die Fürstin von Hohenzollern als erste Zigeunerin wahrsagte der Frau Kurfürstin in reizenden deutschen Versen, welche Herr von Besser (der bekannte Oberceremonienmeister und Hofpoet) gedichtet hatte. Herr von Quirini war Kammerdiener der Doctorin; und ich, ich stellte mich vortheilhaft mit meinem kleinen Augenglase, um Alles recht genau zu sehen und Ihrer kurfürstlichen Hohheit darüber Bericht zu erstatten.“

Am nächsten Tage, den 12. Juli 1700, wurde Leibnitz zum lebenslänglichen Präsident der Akademie, mit der Verpflichtung, so weit seine Stellung in Hannover es zuließ, von Zeit zu Zeit nach Berlin zu kommen. Anfänglich zeichnete sich die neu gestiftete Akademie durch den Mangel an Mitgliedern aus; dieselbe bestand zunächst nur aus dem verdienstvollen Prediger Jablonski, dessen jüngerem Bruder, der zum immerwährenden Secretair ernannt wurde, aus dem von Helmstädt berufenen Professor Fabricius und dem tüchtigen Astronomen Gottfried Kirch aus Guben, der fleißige Beobachtungen anstellte und das Kalenderwesen mit besorgen mußte. Aber Leibnitz selbst stellte, wie Friedrich der Große von ihm sagte, für sich allein eine Akademie vor. Allmählich stieg die Zahl der Mitglieder auf achtzig, darunter viele ausgezeichnete Gelehrte nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, Holland und Italien. [112] Der damals eben ausbrechende spanische Erbfolgekrieg übte natürlich einen traurigen Einfluß auf die junge Schöpfung aus, da der Kurfürst vielfach anderweitig in Anspruch genommen wurde und sein Geld zur Anwerbung und Bezahlung seines Heeres brauchte. Indeß war Leibnitz unablässig bemüht, diesem empfindlichen Mangel durch verschiedene Mittel und Auswege, die er vorschlug, abzuhelfen. Besonders wies er auf die populäre Seite der Anstalt hin, indem er auf Vermehrung und Verbesserung des Kalenders, „dieser Bibliothek des gemeinen Mannes“, bedacht war. Er forderte für die Akademie verschiedene Monopole, den Buchhandel und das Erziehungswesen betreffend. Die Societät sollte die oberste Censurbehörde des Landes sein und – so komisch es klingen mag – eine Abgabe von jedem schlechten Buche erheben, „wodurch schädliche Schriften abgehalten, hingegen nützliche Werke und rechtschaffene Bücher von den Buchhändlern mehr, als bisher zu geschehen pflegt, angeschaffet und die künftigen Unternehmungen gelehrter und erfahrener Leute, die etwas Löbliches thun wollen und können, befördert, auch wohl nach Gelegenheit der Autoren, mit Nachweiß und sonst in Zeiten unter die Arme gegriffen würde.“ – Ein anderer Vorschlag von Leibnitz war, der Akademie das Privilegium zur Anpflanzung und Zucht der weißen Maulbeerbäume zu geben, indem er sich einen außerordentlichen Erfolg davon versprach und bis zu seinem Lebensende ein eifriger Beförderer der heimischen Seidenwürmer-Cultur blieb.

So sorgte und wirkte Leibnitz für sein Lieblingskind, das mit der Zeit einen europäischen Ruf erwarb und den Grund zu der Bildung und geistigen Entwicklung des preußischen Volkes legte. Männer wie Humboldt, Ritter, Leopold von Buch waren Mitglieder der Akademie und krönten das Werk, zu dem der berühmte Philosoph den ersten Grundstein gelegt hat in der richtigen Erkenntniß, daß der Geist der freien protestantischen Wissenschaft allein Preußens Macht und Größe in Deutschland bedingt.

Max Ring.


Blätter und Blüthen.


Städteverschönerungen und Kinderwohl. Trotz der in der neuerer Zeit immer mehr hervortretenden schönen und zweckmäßigen Geschmacksrichtung, vor den Thoren der Städte parkartige Anlagen zu errichten, welche die alte Stadt mit den Vorstädten verbinden, hat man doch nicht überall die Bedürfnisse der Bevölkerung dabei berücksichtigt. Eines namentlich ist bisher fast überall im Plane der Städteverschönerung vergessen worden: die Sorge für das Wohl und Glück des heranwachsenden Geschlechts durch Einrichtung von Spiel-, Turn- und Tummelplätzen. Höchstens hat man in den letzten Jahren hie und da in einem Winkel eine Turnanstalt eingerichtet. Die armen Kinder! Der Schulweg, den wohl manche in großen Städten im Omnibus zurücklegen, ist oft der einzige Gang in’s Freie, wenn man die volkreiche Straße so nennen kann. Vielleicht dürfen manche die Mama an einem freien Nachmittag auf einer Promenade durch die Stadtanlagen begleiten, wobei sie sich nicht die geringste Abweichung von der allgemein beobachteten und durch die Mitbesucher gebotenen Ordnung erlauben dürfen und beständig daran gemahnt werden, sich gerade zu halten, nicht auf den Rasen zu treten, nicht mit dem Stock an die Bäume zu schlagen u. s. w. Diese Beaufsichtigung ist nun allerdings an diesem Platze ganz in der Ordnung; aber ist denn ein solcher Spaziergang auch eine wahre Erholung für die Kinder? Viele Eltern haben nicht einmal Zeit, mit ihren Kindern solche steife Promenaden zu machen, andere gehen lieber allein, da ihnen der Spaziergang keine Erholung ist, wenn sie das Erziehungs- und Verweisgeschäft auch hier fortsetzen müssen. Glücklich sind die Kinder, welche eine längere Ferienreise machen oder die Ferien auf dem Lande zubringen können, glücklicher solche, welche mit ihren Eltern reisen und an Sonn- und Festtagen, vielleicht gar einmal in der Woche eine Fahrt oder einen Gang über Land machen dürfen. Zu bedauern sind aber jene armen Kinder, deren Eltern vorziehen, den Sonntag-Nachmittag in den Wirthschaftsgärten der Vorstädte zuzubringen mit oder ohne ihre Kinder, denn entweder müssen diese mit dem Dienstmädchen zu Hause bleiben oder mit diesem einen jener langweiligen Kindermädchenplätze besuchenen, oder sie treiben sich zwischen Erwachsenen im Gedränge der Vorstadtwirthschaft herum. Aber zu beklagen sind die armen Kinder, welche auch nicht eine dieser immerhin noch schätzbaren Wohlthaten genießen, weil ihre Eltern zu arm sind, um ihnen Zeit zu widmen. In kleineren Städten sind es dann Straßenkinder, die sich ihres Lebens im Freien ziemlich freuen, obschon die Sitte dabei nicht gewinnt, aber in größeren bleibt ihnen als Spiel- und Tummelplatz nichts als ein dunkler, stinkender Hof oder die abgelegenen Gartengassen der Vorstadt. Ich sage nochmals: die armen Kinder – wie werden sie um die schöne Jugend, um die schönste Zeit ihres Lebens gebracht! Wer es mit der Jugend ernstlich gut meint und die Wohlfahrt des folgenden Geschlechts im Auge hat, muß mir beistimmen, daß es durchaus nöthig ist, daß sich die Jugend austobe, daß sie ihre Kräfte gebrauchen lerne und die Glieder durch Spiel und Leibesübung kräftige und fügsam mache. Wer gut beobachtet, kann es oft noch dem jungen Manne ansehen, ob er als Kind freien Spielen ergeben oder ein Stubenhocker gewesen ist. Letzterer wird seine Glieder nie so geschickt gebrauchen, sich viel weniger leicht in neuen Dingen zu helfen wissen. Der Jugend muß Freiheit gewährt, Gelegenheit sich auszutoben gegeben werden. Im Stall wird kein edles Roß erzogen. Eine heitere, glückliche Jugend ist oft das Einzige, was im Menschenleben ungetrübt dasteht. Sie ist unschätzbar, denn sie ist der größte Hebel geistiger Frische für das ganze Leben. Wenige große Männer aller Nationen sind aus dem Gewühl großer Städte hervorgegangen. Die Luft ist dort nicht günstig für Bildung solchen Stoffes, es fehlt der Jugendd die Gelegenheit freier Entwickelung.

Wir brauchen in den größeren Städten Spiel- und Tummelplätze für die Kinder, große Plätze, welche der Jugend ausschließlich gehören, wo sie sich einmal frei fühlen von den unaufhörlichen Verboten, ohne die Erwachsenen zu belästigen. Wohl findet man in allen Stadtanlagen größere Kiesplätze, welche, wenn auch nicht gerade dazu bestimmt, Versammlung- und Klatschplätze der Kindermädchen geworden sind, jedoch von jedem andern Erwachsenen als den Verehrern der Kindermädchen gemieden werden. Aber diese sind nicht, was Noth thut, selbst wenn von der Anlagenpolizei Kinderspiele geduldet werden, denn sie genügen nicht und belästigen die Erwachsenen. Wir brauchen größere freie Rasenplätze zu Ball- und Laufspielen, im günstigen Falle groß genug, um einen Drachen steigen zu lassen, gefahrlose Teiche, um im Winter Schlittschuh laufen zu können, Plätze, wo das Schlittenfahren die Erwachsenen nicht belästigt und verboten ist. Der Lärm und Jubel wird vielleicht einige Griesgrämige ärgern, aber noch mehr Erwachsene werden sich der Jungendlust freuen und mit Vergnügen dem frischen Treiben zusehen.

Ueber die Einrichtung solcher Plätze läßt sich nichts Allgemeines sagen. Nothwendig ist, daß jeder Spielplatz auch Schatten hat, wünschenswerth, daß er durch Gebäude oder dichte Pflanzungen gegen Nord und Ost geschützt ist, damit er auch in rauher Jahreszeit benutzt werden kann. Nöthig ist, daß ganz bestimmte Grenzen gezogen sind, damit der Freiheitstrieb der Jugend nicht der ganzen Bevölkerung lästig wird und die schönen Anlagen verdirbt. Nothwendig erscheint ferner, daß eine Beaufsichtigung stattfinde, wenn auch so schwach, daß sie nur bei wirklichem Unfug und Rohheiten einschreitet. Dieses weiter zu erörtern ist nicht meine Sache, sondern der Schule, deren Beaufsichtigung und Enmischungg bei solchen Einrichtungen nicht wohl zu entbehren ist. Am meisten würden sich Spiel- und Uebungsplätze für jede Schule besonders empfehlen, auf welchen die verschiedenen Classen zu bestimmten Tagen und Stunden das Recht des Alleinbesitzes haben müßten. Eine freie Vermischung aller Kinder hat seine Bedenklichkeiten und würde auch die Kinder nicht befriedigen. Diese Jugendplätze dürften nicht zu weit von den betreffenden Schulen, aber auch nicht dicht dabei liegen, damit die Schulen nicht gestört werden.

Es müßte aber nicht blos für die Schulkinder, sondern auch für die kleineren gesorgt werden. Wo es nicht an Raum mangelt, sollten die so nützlichen Kinderbewahranstalten in den öffentlichen Anlagen liegen, und jede Stadtbehörde sollte den Kindergärten, nach Fröbel’s Muster, Begünstigungen durch unentgeltliche oder billige Ueberlassung von passenden Plätzen zu Theil werden lassen. Es ist nicht genug, daß man von der Lächerlichkeit, die Fröbel’schen Kindergärten als staatsgefährlich zu verbieten, zurückgekommen ist, man sollte sie auch begünstigen und den Besuch auch weniger Bemittelten zugänglich machen Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß auch die Turner gleiche Ansprüche auf städtischen Grund und Boden haben. Diese sind aber in neuerer Zeit bereits so begünstigt worden, daß es nicht nöthig ist, etwas zu ihren Gunsten zu sagen.

Welche Wohlthat und Beruhigung für die Eltern, ihre Kinder in voller Sicherheit unter Aufsicht im Freien an einem gesunden Platze spielend und kräftigen Bewegungen sich hingebend zu wissen! und wie athmet mancher Vater, manche Mutter froh auf, wenn die kleinen lieben Lärmer und Schreier zum Hause hinaus sind! Das kleine Opfer an Geld, welches ihnen für Aufsicht zugemuthet werden könnte, wird größeren Gewinn bringen, als manche andere Abgabe.

Es giebt ja überall und zu allen Zeiten edle Menschenfreunde, welche nützlichen Anstalten Geschenke und Legate überweisen, vielleicht finden sich auch deren zu dem angedeuteten Zwecke.

H. J.

  1. Wir brauchen den Verfasser obiger Schilderung unseren Lesern nicht erst vorzustellen; sie Alle kennen den Ehrenmann, der als Präsident der mecklenburgischen Kammer, wie durch seine längere Haft sich Achtung und Theilnahme in ganz Deutschland erworben. Von ihm ist keine andere, als eine ruhige und durchaus würdige Darstellung jener denkwürdigen Begebenheit zu erwarten. Die Nennung der Namen der Hauptbetheiligten geschah, so weit sie vorkommt, mit ausdrücklicher Zustimmung derselben.
    D. Red.
  2. Im Wesentlichen habe ich die nachfolgende Erzählung in der Isolirzelle des Zuchthauses niedergeschrieben. Vervollständigt habe ich sie später. Bei der Darstellung der Flucht aus Spandau ist mir die Einsicht wichtiger Actenstücke in Sachen des Gefangenaufsehers Brune, des Rathsherrn und Gastwirths Krüger und des Studenten der Medicin Carl Schurz, betr. die Befreiung Kinkel’s, welche mir nach meiner Entlassung aus dem Zuchthause zu Gebote stand, sehr zu statten gekommen. Diese Einsicht war auch insofern sehr werthvoll für mich, als sie mich beurtheilen ließ, in wie weit ich die mir bekannten Thatsachen veröffentlichen durfte. Um Niemanden nachträglich zu compromittiren, habe ich Einzelnes, das nicht ohne Interesse gewesen wäre, verschweigen müssen.
    D. V.
  3. Und selbst den geselligen Verkehr in engerem Kreise beutet er auf das Schönste für seine Wohlthätigkeitslust aus. Um sogar seiner körperlichen Rüstigkeit sich nicht allein zu freuen, stiftete er einen „Norddeutschen Morgenpromenadenbeförderungsverein“. Die Mitglieder desselben wandern jeden Morgen, Winter und Sommer, in rechter Frühe nach dem sogenannten Lister-Thurme, um da gemeinsam ihr Frühstück zu nehmen und dann frisch gestärkt an ihre Tagesarbeit zu gehen. Kommt aber mit der Weihnachtszeit, wie nun seit 20 Jahren, von Hildburghausen her Friedr. Hofmann’s „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ in Bödeker’s Hände, so verwandelt er rasch die Promenadenvereinler in eifrige Christbescheerungsväterchen. Die (60–80) Exemplare sind rasch und stets einträglich verkauft, und am Christtagmorgen wandelt mit den alten Herren eine ausgewählte Schaar armer Kinder mit zum Lister-Thurme. Und wenn dort die Kleinen durch des Herrn Pastors Fürsorge, mit Kaffee und Kuchen sich aufgewärmt haben und die jungen Herzen in die rechte Verfassung gebracht sind, so werden sie unter den strahlenden Christbaum geführt, singen Weihnachtslieder, empfangen die Gaben der Christfestfreude und ziehen auch als glückliche Kinder wieder von dannen. Das nennt dann Bödeker die heiligen Weihestunden seines Morgenpromenadenbeförderungsvereins.
    D. R.