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Die Gartenlaube (1863)/Heft 31

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[481]

Deutschlands Turnern.

Ziemt wohl den Söhnen frohe Feier
Und Jubel, der die Luft erfüllt,
Da noch der düstre Wittwenschleier
Der Mutter theures Haupt verhüllt?

5
Umsonst an aller Throne Stufen

Erfleht sie Rettung aus der Noth,
Ihr Schmerzensschrei, ihr Hülferufen,
Das ist’s, was hierher Euch entbot.

Und ist’s ein Fest, das wir begehen

10
Im Ernste dieser schweren Zeit,

Sei unser fest Zusammenstehen
Von heil’gem Ernste auch geweiht.
Herbei, die Reihen eng geschlossen,
Zum Schwure legt auf’s Herz die Hand:

15
Wir weihen gern und unverdrossen

Uns Dir, geliebtes Vaterland!

Frisch gleich dem Grün der deutschen Eichen,
Fromm sonder Heuchelschein und Trug,
Froh bei des Schicksals schwersten Streichen,

20
Frei wie zum Licht des Adlers Flug,

So sei des deutschen Mannes Streben,
Er selber frisch, fromm, fröhlich, frei.
Die solche Losung ihm gegeben,
Gut Heil der deutschen Turnerei!

25
Sie stählt des Mannes Faust zur Wehre,

Zerreißt was Arm und Sinn umstrickt,
Daß er des Vaterlandes Ehre
Wehrhaft zu wahren sei geschickt,
Sie lehrt die Kraft zusammenraffen

30
In treuem, innigem Verband,

Daß Deutschlands Volk, ein Volk in Waffen,
Nach außen hält und innen Stand.

Willkommen, die in solchem Sinne
Von Nord und Süd Ihr Euch geschaart!

35
Die Welt voll Feinde werd’ es inne,

Daß muth- und kraftvoll deutsche Art.
Erprobt das Mark der schmeid’gen Glieder
In reger Wettlust frohem Spiel,
Von Reck und Barren ruft hernieder

40
Euch bald ein ander, ernster Ziel.


Hier hat das Volk die Schlacht geschlagen,
Die Deutschlands Freiheit einst erneut;
Hier sei zu künft’gen Erntetagen
Jetzt frischer Samen ausgestreut.

45
Und hallen einst die Siegesglocken,

Dann prangt in wahrem Festesglanz
Auf uns’rer Mutter gold’nen Locken
Der ewig grüne Eichenkanz!

Albert Traeger.


Ein Polterabend.
Von J. D. H. Temme.
(Schluß.)

„Und jetzt, mein Herr von Föhrenbach,“ sagte ich mit erhobener Stimme, „werden Sie sich auch des Namens erinnern, den Sie damals führten?“

Sein verhaltener Zorn brach los. Er stellte jetzt jene Frage an mich, die ich vorhin gefürchtet hatte, der ich hatte begegnen müssen, die mir jetzt nur ein Lächeln abgewinnen konnte. Er war in meiner Gewalt, ganz und gar, für jenen ersten Mord, für die Untersuchung des zweiten.

„Mein Herr,“ sagte er, „wer giebt Ihnen ein Recht zu Ihren Fragen an mich?“

„Meine Stellung als Criminalrichter, denke ich,“ sagte ich ruhig.

„Sie mögen,“ erwiderte er höhnisch, „hier Criminalrichter sein; Sie sind es nicht für Untersuchungen, die anderthalbhundert Meilen weit geführt, und zudem längst abgethan sind.“

Ich blieb ruhig, kalt.

„Sie sind da in einem doppelten Irrthume, mein Herr von Föhrenbach, denn so werde ich Sie so lange nennen, bis es Ihnen gefällig ist, mir selbst Ihren wahren Namen zu nennen. Ihr erster Irrthum ist, daß jene Untersuchung abgemacht sei. Sie wurden durch das Erkenntniß nur vorläufig freigesprochen. Das hat den Sinn, daß die Untersuchung nur vorläufig gegen Sie ruhet, bis neue Verdachtsgründe, Anzeigen, Indicien, wie wir es nennen, gegen Sie ermittelt werden. Sie kann, sie muß dann jeden Augenblick sofort wieder neu aufgenommen werden.“

Er war doch still geworden und erwiderte nichts. Aber er sah mich fragend, lauernd an. Ich fuhr mit meiner kalten Ruhe fort.

„Ihr zweiter Irrthum, Herr von Föhrenbach, war, daß jene Untersuchung mich hier nichts angehe. Wo für eine Untersuchung, sei es eine neue oder eine alte, sich Indicien herausstellen, da hat jeder Richter, der sie ermittelt, sei es in welcher Gegend des Staates [482] es wolle, nicht blos das Recht, sondern auch die Pflicht Alles vorzunehmen, was zur Einleitung oder Fortführung der Untersuchung auf der Stelle, für den ersten Angriff, wie wir es nennen, erforderlich ist. Sie haben mir eingeräumt, Herr von Föhrenbach, daß Sie wegen Ermordung des Fleischers in Untersuchung waren. Mir ist bekannt, daß Sie vorläufig freigesprochen sind – oder wollen Sie es leugnen?“

Er antwortete nicht.

„Wohl,“ sagte ich. „Sie sind also von jenem Morde nur vorläufig freigesprochen. Neue Indicien habe ich heute hier gesammelt. Sie sind mein Gefangener, Herr von Föhrenbach.“

Wie ihn der Schlag traf, sah ich nicht und durfte mich auch nicht mehr nach ihm umsehen. Ich mußte das, was ich einmal angefangen hatte, ohne den geringsten Aufenthalt fortführen. Ich hatte in meinem Rechte gehandelt, aber im Grunde mehr in einem formellen, als materiellen Rechte. Ich hatte Indicien gesammelt, aber sie waren nur psychologische. Ich hatte die Hoffnung, ihnen jeden Augenblick einen auch äußerlich greifbaren Grund geben zu können. Wenn ich sofort gegen den Herrn Bertossa einschritt, hier, in diesem Augenblicke – ich hätte ein schlechter Inquirent sein müssen, hätte ich nicht, falls auch nicht ein volles Geständniß der That, doch Geständnisse von Thatsachen erhalten, die von der größten Erheblichkeit waren. Allein ich konnte das nur hoffen, und ich hatte jedenfalls ein Spiel begonnen, dessen Ausgang ich nicht mit Sicherheit voraussehen konnte. Die vollste Sicherheit des Benehmens that mir da zunächst Noth.

Freilich lag noch das zweite Verbrechen, der Mord an der Grenze, vor, und für ihn hatte ich mehr als blos innerliche Vermuthungen, hatte ich erhebliche thatsächliche Verdachtsgründe, die unter allen Umständen weiter verfolgt werden mußten, und deren Verfolgung eben so große Eile, wie Vorsicht erforderte. Hier mußte der Zweck ein, wenn auch nur formell, doch immer rechtlich begründetes Mittel um so mehr heiligen, als ich es unzweifelhaft mit einem Verbrecher zu thun hatte, der seine frühere Freisprechung nur seiner ungewöhnlichen Frechheit und Verschlagenheit verdankte. So konnte ich denn, wie mein juristisches, auch mein menschliches Gewissen beruhigen. Ich ging rasch zur Thür, öffnete sie und sprach hinaus:

„Georg, draußen wartet ein Gensd’arm. Führen Sie ihn her.“

„Zu Befehl, Herr,“ sagte der Kutscher.

Dann wandte ich mich wieder um, zu dem Herrn von Föhrenbach. Ich wußte ja seinen wahren Namen noch nicht. Er stand mit blassem Gesichte da. Er hatte seine Lage erkannt, und war noch nicht mit sich einig, was er thun solle, wie er sich zu verhalten habe. Er blickte bald zweifelhaft nach mir hin, bald unschlüssig vor sich nieder. Ich ging still, schweigend, langsam in dem Zimmer umher. Ich durfte ihm nichts mehr sagen. War noch etwas von ihm heraus zu bekommen, so mußte er selbst und von selbst damit hervortreten. Und wie ich die Menschen, die verbrecherischen – von ihnen nur spricht ja ein Criminalrichter – kannte, mußte ich erwarten, daß er so hervortreten werde. Ich wartete darauf.

Ich machte mir unterdeß meinen Plan weiter fertig. Er war und wurde einfach folgender: Der Herr von Föhrenbach blieb mein Gefangener. Meinen Gefangenen konnte ich, einen Gefangenen wie ihn mußte ich, bis ich ihn in die Gefängnisse des Criminalgerichts ablieferte, unter meiner fortwährenden, unmittelbaren Aufsicht behalten. Ich konnte, ich mußte ihn also auch mit mir nach der russischen Grenze nehmen, wo mir die Leiche des Ermordeten herausgegeben werden sollte. Ich konnte unterdeß in der Nachbarschaft Erkundigungen einziehen lassen, ob Föhrenbach in der Nacht vom Sonntag zum Montag dort gewesen sei, und konnte ferner unterdeß Joes Lubatis zur Grenze bestellen lassen.

Ueber einen Punkt war ich noch zweifelhaft: was und wie sollte ich mit dem Herrn Bertossa beginnen? Der Herr von Föhrenbach unterbrach mich in meinen Gedanken darüber. Er trat an mich heran. Seine Miene war eine entschlossene.

„Mein Herr, ist es Ihr Ernst, daß Sie mich verhaften lassen wollen?“

„Gewiß. Sie sind bereits mein Gefangener.“

„Oho, mein Herr, ich glaube doch, ich bin der Stärkere von uns Beiden.“

Das war er in der That. Groß und stark gebaut, schien er nicht unbedeutende Körperkraft zu besitzen, und – es fiel mir zugleich jetzt auf – eine nicht unbedeutende Körperkraft hatte dazu gehört, den Ermordeten, der nicht an der Erde geschleppt war, von dem preußischen Gebiete in das russische hinüber zu tragen.

„Es käme darauf an, mein Herr,“ antwortete ich ihm indeß ruhig. „Uebrigens stehen mir hier gegen Sie hundert Arme zu Gebote, und für alle Fälle –“

Ich zog ein Doppelterzerol hervor, das ich auf meinen Reisen an der Grenze immer bei mir zu tragen pflegte. Auch er blieb ruhig.

„Darf ich fragen, was Sie weiter mit mir machen würden?“ fragte er.

„Würden?“ erwiderte ich. „Ich werde Sie in die Criminalgefängnisse bringen lassen.“

„Heute?“

„Sie werden noch heute Nacht die Reise antreten.“

„Es wäre eine eigenthümliche Unterbrechung des Festes.“

„Ja, so wird es sein.“

„Und, mein Herr – erlauben Sie mir noch die Frage – was wird mit dem Herrn – dem Herrn Bertossa – oder, da Sie ja auch seinen Namen kennen werden, dem Baron Grafenberg?“

Grafenberg! Baron Grafenberg! da hatte ich auf einmal den Namen, den so lange verlorenen und so angelegentlich gesuchten Namen jenes Gutsbesitzers wieder, der in der Untersuchung über den Mord des Viehhändlers als Zeuge vernommen und als Mörder verdächtig war. Und in demselben Momente hatte ich endlich auch den noch angelegentlicher, fast schmerzlich gesuchten Namen des Mannes, der als Baron Föhrenbach vor mir stand. Theobald von Freising hieß er. Ihn durfte ich nur noch nicht aussprechen, bis er selbst ihn mir nannte. Ich hatte es ihm einmal gesagt. Indeß –

„Richtig, mein Herr,“ sagte ich, „das ist der eigentliche Name des Herrn Bertossa. Würden Sie mir vielleicht jetzt auch Ihren eigentlichen Namen sagen?“

„Warum, da Sie ihn kennen?“ erwiderte er. „Wenn Ihnen jedoch ein Gefallen damit geschieht – ich heiße von Freising.“

„Auch richtig, mein Herr.“ sagte ich. „Theobald von Freising. Und nun, was Ihre Frage betrifft, so werden Sie einsehen, daß ein Inquirent auf dergleichen Fragen eben nicht antworten darf.“

„So könnte ich selbst Ihnen die Antwort geben,“ rief er rasch.

„Es würde überflüssig sein.“

„Vielleicht nicht. Mein Herr, wenn Sie mich arretiren, so müssen Sie auch den Herrn von Grafenberg verhaften.“

„Und dann?“

„Und dann, mein Herr –?“

Er hatte sich besonnen. Ein Entschluß, wie der Verzweiflung, war in ihm aufgetaucht gewesen. Er hatte ihn zurückgedrängt.

„Das Weitere wird sich finden,“ sagte er kalt.

Ich erwiderte ihm nichts. Der Gensd’arm trat ein, den ich durch den Kutscher hatte rufen lassen.

„Gensd’arm. Sie bewachen diesen Herrn. Er ist Ihr Gefangener. Sie stehen mit Ihrem Kopfe für ihn ein.“

„Zu Befehl.“

Ich verließ das Zimmer. Draußen stand der Kutscher.

„Georg, bei dem Gensd’arm fanden Sie den Herrn Holm?“

„Die Beiden standen beisammen.“

„Bringen Sie ihn sofort zu mir, unten an die Haustür. Sodann, Georg, von Allem, was Sie hier gesehen und gehört haben, erfährt kein Mensch etwas.“

„Kein Mensch, Herr!“

Er eilte fort. Ich ging ihm langsam nach, bis zur Hausthür. Nach drei Minuten war er dort mit Holm bei mir. Ich hatte zuerst für den alten Mann wieder einen Auftrag.

„Bitten Sie den Herrn Steuerrath hierher.“

Er eilte wieder fort. Dann wandte ich mich an Holm.

„Herr Holm, Joes Lubatis muß morgen früh mit dem Aufgange der Sonne in Miszlauken sein.“ So hieß das Dorf an der Grenze, in dem ich die Beamten des Criminalgerichts zurückgelassen hatte.

„Ich werde auf der Stelle zu ihm reiten, Herr Kreisjustizrath.“

„Ich wollte Sie darum bitten.“

Er war schon fort. Gleich darauf kam der Steuerrath.

„Freund, stellst Du mir Deinen Wagen zur Disposition?“

„Wohin?“

„Nach Miszlauken, wo wir uns trafen.“

„Ohne mich?“

„Für Dich habe ich eine Mission.“ [483] „Ah, ich soll Deinen Executor machen?“

„Ich wollte Dich bitten, nach dem Städtchen – zu reiten – ein Pferd wird man Dir hier schon geben, um Dich dort zu erkundigen, ob der Herr von Föhrenbach die Nacht vom Sonntag auf Montag im Gasthofe zugebracht hat. Bist Du bereit?“

„Ich reite sofort.“

„Die Nachricht bist Du so gütig, mir noch heute Nacht nach Miszlauken zu bringen.“

„Es soll geschehen. Aber Freund, was ist vorgefallen?“

„Du wirst es in Miszlauken erfahren. – Doch noch Eins. Warst Du bis jetzt bei der Familie Bertossa?“

„Ja.“

„Was machen sie?“

„Die beiden Menschen sprachen seit Deiner Entfernung kein einziges Wort.“

„Die Angst um den Sohn –“

„Es war auch noch eine andere Angst, eine größere. Ja, mein Freund, eine größere. Jenes Verbrechen – Auch die Frau muß darum wissen.“

„Und sie sind gebrochen, die beiden Menschen?“

„Völlig.“

„Und wenn ich jetzt zu ihnen träte, und zu dem Manne sagte: Herr, Sie sind der Mörder des Viehhändlers – ich würde von dem gebrochenen Manne ein Geständniß erhalten, meinst Du? Und die gebrochene Frau würde den eigenen Mann verrathen?“

„Mensch,“ fuhr mein Freund auf, „bist Du wahnsinnig oder ein Satan?“

„Ich bin ein Criminalrichter!“

Er ging in Angst neben mir auf und ab.

„Großer Gott, das ist ja ein entsetzlicher Polterabend! Und Du willst wirklich vor die armen Menschen hintreten?“

„Reite Du.“

„Ja, ja. Fort! Mich überläuft ein Grausen hier. O, mein Gott, wie oft habe ich Mühlen und Müller, und Schlachthäuser und Maischbütten verflucht! Aber ein Criminalrichter ist doch das elendeste Geschöpf!“

Er ging zu den Ställen, die an dem Gutshofe lagen, um sich ein Pferd zu holen.

Ich stand noch vor der Thür des Hauses, auf dem dunkeln Hofe, aber in dem Hause war Fenster an Fenster hell erleuchtet, und aus dem Garten ertönte die lustige Tanzmusik herüber. Ich wollte in das Haus zurückkehren, als sich über mir eins der hellerleuchteten Fenster öffnete, und durch dasselbe eine Stimme laut rief: „Luft! Luft! Ich ersticke!“

Es war die Stimme des Herrn Bertossa, des Barons von Grafenberg.

„Es ist vorbei,“ fuhr der unglückliche Mann fort. „Die Vergeltung naht! Die Strafe! Es ist ja Alles Eins.“

Eine schluchzende weibliche Stimme wurde neben ihm laut.

„Alfred, Alfred, fasse Muth!“ bat die unglückliche Frau des unglücklichen Mannes.

„Muth?“ entgegnete er, „Muth, wenn die Hölle uns aufnimmt?“

Die Frau weinte lauter. In dem Zimmer wurde eine Thür aufgerissen.

„Mutter, ich sterbe!“ rief herzzerreißend eine andere Stimme.

Ich hatte sie schon einmal gehört, wie sie dieselben Worte ausrief. Die Mutter antwortete dem Kinde nicht wieder: „Möchte ich mit Dir sterben können, mein Kind!“ Aber der Vater sagte mit der tonlosen Stimme seines gebrochenen Herzens: „Ja, sterben wir Alle!“ Mutter und Tochter weinten zusammen.

Aus dem Garten klang die Tanzmusik lauter und lustiger herüber. Jubelnde Stimmen und Gläserklirren mischten sich hinein. Auf einem kleinen Thurme des Hauses schlug die Glocke Mitternacht. Sollte ich zu den drei Menschen gehen? Die Unglücklichen konnten mir und ihrem Schicksale ja doch nicht entgehen. Ich kehrte in das Haus zurück, zu dem Zimmer, in dem ich den Herrn von Freising mit dem Gensd’armen zurückgelassen hatte.

„Folgen Sie mir mit dem Gefangenen,“ befahl ich dem Gensd’armen.

Im Gange stand der alte Kutscher Georg.

„Ich lasse mich Ihrer Herrschaft empfehlen,“ sagte ich ihm.

„Weiter habe ich nichts zu bestellen?“ fragte er.

„Sie können jetzt auch sagen, was Sie gesehen haben.“

Ich verließ mit dem Gefangenen und dem Gensd’armen das Haus. Das helle Fenster war noch geöffnet. Drinnen war es still. In dem Garten tanzten und jubilirten sie noch immer. Wir gingen zu dem Dorfkruge, um von da in dem Wagen des Steuerraths nach der russischen Grenze, nach Miszlauken, zurückzufahren.


Der Tag dämmerte, als wir in Miszlauken anlangten. Die Nacht war dunkel gewesen. Der Wagen, in dem wir fuhren, hatte kleine, trübe Glasfenster. So war die Gegend, in der wir fuhren, nicht zu erkennen gewesen. Dem Gefangenen hatte ich über das nächste Ziel unserer Reise nichts gesagt. Er konnte daher nur meinen, ich bringe ihn in die Gefängnisse des Crimmalgerichts. Er konnte also auch weiter nur an jenen, vor vier Jahren vorgefallenen Mord denken. Er hatte ruhig neben mir im Wagen gesessen der Gensd’arm ritt neben diesem. Er hatte kein Wort mit mir gesprochen, ich kein Wort mit ihm.

So kamen wir in Miszlauken an. Die erste Morgenröthe zeigte sich am Himmel, als der Kutscher an dem Kruge des Dorfes hielt und den Wagenschlag öffnete. Der Gefangene warf einen Blick durch das geöffnete Fenster. Er erkannte den Krug, er erkannte das Dorf und stutzte. Daun warf er unwillkürlich einen kurzen, fragenden Blick auf mich. Todesblässe bedeckte sein Gesicht. Miszlauken lag von der Mordstelle nur eine halbe Meile entfernt. Ich hatte mein gewagt begonnenes Spiel gewonnen.

„Steigen Sie aus,“ sagte ich zu ihm.

Die Kniee schlotterten ihm. Er war nicht im Stande, den Wagen zu verlassen.

„Gensd’arm, helfen Sie dem Gefangenen.“

Der Gensd’arm half ihm aussteigen, aber er mußte verwundert den starken, kräftigen Mann ansehen, der sich zitternd auf seinen Arm legte, und der, als er den Arm losließ, fast zusammenbrach.

Mein Spiel mußte bald gewonnen sein. Ist dem Menschen ohne moralische Kraft und ohne moralischen Muth einmal die physische Kraft und der physische Muth gebrochen, so geht es schnell ganz mit ihm zu Ende.

Holm wartete schon in dem Kruge mit dem Schmuggler Joes Lubatis auf mich. Ein Grenzkosak wartete, um mich zur Empfangnahme der Leiche über die Grenze zu führen. Der Gefangene hatte Beide nicht gesehen. Ich hatte ihn, unter Bedeckung des Gensd’armen, sofort in ein besonderes Gemach führen lassen. Ich vernahm dann zuerst den Schmuggler. Er wiederholte mir von Wort zu Wort, was er zu Holm gesagt hatte. Er hatte den „Herrn von Föhrenbach“ ganz genau erkannt.

Unterdeß war auch der Steuerrath angekommen. Er war scharf geritten. Föhrenbach – man kannte ihn ja nur noch unter dem Namen – hatte die Nacht vom Sonntag zum Montag in dem Städtchen nicht zugebracht. Am Sonntag Nachmittag war er da gewesen, und hatte mehrere Geschäfte besorgt, schnell, eilig. Gegen Abend war er wieder fortgeritten.

Auf die Leiche kam jetzt noch Alles an. War der Ermordete wirklich Ulrich Bertossa, oder Grafenberg, wie sein eigentlicher Name hieß? Ich ließ zur Grenze aufbrechen. Der Gefangene mußte sich zu dem Gerichtsactuar und mir in meinen Wagen setzen. Der Steuerrath folgte in seinem Wagen mit Holm. Beide mußten die Leiche recognosciren. Der Gensd’arm und der Kosak ritten vor den Wagen.

Der Tag war angebrochen, und der Morgen war warm und klar. Ich hatte meinen Wagen zurückschlagen lassen. Der Gefangene war fortwährend mit dem Gensd’armen allein gewesen. Er wußte nichts von dem, was unterdeß geschehen und ermittelt war. Er hatte sich zusammengenommen, aber sein Gesicht war erdfahl geblieben. Er wollte sich trotzig umsehen, als der Gensd’arm ihn vorführte. Da sah er, wie der Wagen nach der Grenze hin gerichtet war; da sah er den Kosaken. Der Trotz verschwand aus seinem Gesichte. Er konnte nur mit Mühe in den Wagen steigen.

Wir fuhren ab. Still, ohne Laut und Bewegung saß er im Wagen. Wir erreichten die Grenze und hielten an dem russischen Cordonhause. Ich ließ ihn zuerst aussteigen. Auf einmal fuhr er entsetzt auf; dann mußte er sich an dem Wagen festhalten, um nicht umzusinken. Er war vernichtet. Ich sah, was ihn vernichtend getroffen hatte. Die russischen Beamten waren schon da. Sie hatten die Leiche, die mir herausgegeben werden sollte, mit sich. Die Leiche lag, so, wie sie gefunden war, offen, auf einer [484] Tragbahre, vor dem Cordonhause. Die Russen sind eben Russen. Der Gefangene hatte sie gesehen, das todte Gesicht, den zerschlagenen Hirnschädel, die blutigen Kleider.

„Kennen Sie die Leiche?“ fragte ich ihn. Es waren die ersten Worte, welche ich seit Kalwellen zu ihm gesprochen hatte.

„Ja,“ antwortete er mit trockener, angeklebter Zunge.

„Und wer ist es?“

„Ulrich Bertossa.“

„Und wer ist der Mörder?“

Er konnte gar nicht antworten. Ich durfte dennoch den Moment nicht fahren lassen.

„Kommen Sie mit zu der Leiche.“

Er schleppte sich an meiner Seite hin.

„Wer ist der Mörder?“ fragte ich noch einmal.

Er verhüllte sein Gesicht.

„Sie sind es!“ sagte ich.

Ich durfte es nicht sagen, nach der Criminalordnung. Die Gesetze haben allerlei Vorschriften, und diese war keine schlechte. Ich mußte es dennoch sagen. Was sind alle Buchstaben der Gesetze, gegenüber dem lebendigen Rechte des einzelnen Falles!

„Mein Gott, mein Gott!“ rief er die Hände ringend.

Ich wollte, ich mußte mit dem Verhöre fortfahren. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt, und die Russen sind eben Russen. Der erste russische Beamte trat an mich heran.

„Mein Herr, darf ich bitten, die Leiche von mir in Empfang zu nehmen, und das Protokoll darüber aufzusetzen?“

„Aber, mein Herr, in diesem Augenblicke?“

„Ich bedaure, mein Herr, ich habe keinen Augenblick mehr Zeit.“

„Es ist mir jetzt unmöglich –“

„Was Ihnen jetzt nicht möglich ist, ist später mir nicht möglich. Sie nehmen jetzt die Leiche, oder Sie bekommen sie nie.“

Da war nichts weiter zu machen. Ich mußte nachgeben, das Verhör abbrechen, die Leiche übernehmen, das Protokoll darüber niederschreiben lassen. Das Alles erforderte viele Formalitäten, nahm viele Zeit fort. Den Gefangenen hatte ich unterdeß durch den Gensd’armen in das Cordonhaus führen lassen. Als ich fertig war, wollte ich ihn wieder vorführen lassen. Wir mußten über die Grenze zurück. Aber ich war unvorsichtig gewesen – der Gensd’arm freilich noch mehr. Er kam mit verstörtem Gesichte aus dem Cordonhause.

„Der Gefangene hat sich erdrosselt, Herr Kreisjusitzrath. Ich hatte auf ein paar Minuten das Cordonhaus verlassen, und hatte ihn der Aufsicht der Kosaken empfohlen. Er hatte sich in einen Winkel gelegt. Entkommen konnte er ihnen von da nicht. Da hatten sie nicht auf ihn geachtet. Als ich zurückkam, war er schon ohne Leben.“

So war es. Ich ließ noch sofort Wiederbelebungsversuche anstellen; sie blieben ohne Erfolg. Meine Untersuchung war zu Ende. Ich hatte nichts mehr zu thun, und überließ nunmehr die Leiche des Erhängten den Russen. Die Leiche des armen Ulrich übergab ich seinem Freunde Holm.

So fuhren wir über die Grenze zurück. Aber ich hatte doch noch etwas zu thun – und doch nichts mehr. Der Herr v. Grafenberg war wegen jenes vor vier Jahren verübten Mordes verdächtig geworden. Ich mußte ihn vernehmen, ich konnte nicht anders, und fuhr daher nach Kalwellen zurück. Da wurde kein Polterabend mehr gefeiert. Das Haus lag stille wie ausgestorben da. Der Garten zeigte noch wüste Spuren des gestrigen Festes. Ich fragte nach dem Hausherrn. Er sei in der Nacht verreist, hieß es. Ich ließ mich bei der Frau des Hauses melden. Sie nahm mich an, die blasse, unglückliche Frau.

„Sie suchen meinen Mann. Er ist fort; er hat Preußen, er hat den Continent verlassen und wird in diesem Augenblicke schon eingeschifft sein. Sie würden ihn vergeblich verfolgen lassen.“

Sie hatte Recht. Wir waren nicht weit von der Küste der Ostsee.

„Aber mein Sohn?“ rief sie dann.

Da trat Holm herein, das Haupt schmerzlich gebeugt.

„Ulrich ist todt!“ rief sie.

„Ja!“

Ich ging still fort. Ich hatte gar nichts mehr zu thun.

Auch die Frau hatte nach einiger Zeit Kalwellen verlassen. Die Unglückliche war dem Unglücklichen nachgereist. Ihre Tochter hatte sie vorher mit Holm trauen lassen. Es war eine stille Hochzeitsfeier gewesen, ohne Polterabend.


Noch Eins fragt mich der geneigte Leser: wie der Mörder den Ermordeten in jener Verkleidung zu der Mordstelle verlockt hatte? Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich habe eine wahre Geschichte erzählt, in welcher die Russen die Katastrophe herbeiführten, und Wahrheit und Russen runden ihre Geschichten nicht immer kunstgerecht novellistisch ab.

Der Vater des Leipziger Turnwesens.
Von Prof. H. E. Richter in Dresden.

Zu dem Zeitpunkt, wo aus allen deutschen Gauen Turner und Turnfreunde nach der reichen und einsichtsvollen Handels- und Universitätsstadt des Königreichs Sachsen zur Feier eines großartigen Turnfestes zusammenströmen, zu solcher Zeit geziemt es sich wohl, desjenigen Namens zu gedenken, welcher zuerst daselbst dem Turnen eine bleibende Stätte gründete, welcher einen Kreis gediegener Männer zusammenwarb, aus denen später die Bevorwortung des Turnens bei Regierung und Ständen und die Begründung des Leipziger Turnvereins hervorging, und welcher seitdem, bis heut zu Tage, mannigfach auf uneigennützigste Weise viel Zeit, viel Geld und viel Kräfte zur Förderung des praktischen Turnens wie zur wissenschaftlichen Ausbildung der Turnlehrer und Turnvereinsmitglieder gewidmet hat.

Dieser Vater des Leipziger Turnwesens ist zugleich eine Persönlichkeit, welche auch in manchen anderen Hinsichten verdienstvoll und aufopfernd für den Fortschritt eingegriffen hat. Unsere Leser kennen ihn bereits, denn – es ist „der Bock von der Gartenlaube“ das heißt der Professor der pathologischen Anatomie bei der Universität zu Leipzig, Herr Dr. Carl Ernst Bock.

Die Aufforderung unseres Keil, bei Gelegenheit des Leipziger Turnfestes Bock’s Lebensgeschichte zu erzählen, kommt mir (trotz allen Zeitmangels) nicht unlieb. Denn nur ich kann sie schreiben; nur ich stehe diesem originellen Mann seit 40 Jahren so nahe, daß ich alle seine Thaten und Unthaten nebst ihren Motiven kenne. – Wie leicht könnte mir später ein „Schlagflüßchen“ oder sonst etwas Menschliches widerfahren, das mich hinderte diese Lebensgeschichte zu schreiben! Und es wäre schade, wenn sie nicht geschrieben würde, denn sie ist ein Spiegelbild für Manchen im deutschen Volke, der zeitlebens auf falscher Fährte, auf Schleif- und Schwänzelwegen wandelte. Sie kann Tausenden von jüngeren Leuten ein lebendes Beispiel davon geben, wie am Ende der gerade Weg immer der beste ist!

Bock stammt aus Leipzig. Sein Vater war daselbst 20 Jahre lang Prosector an der anatomischen Anstalt, ein tüchtiger Anatom, takfester als mancher gelehrte Professor, aber ein reiner Empiriker. Vom niederen Chirurgen, ohne classische Vorbildung, hatte er sich durch ausdauernden Fleiß so emporgearbeitet, daß seine Vorträge zu den besuchtesten, seine zahlreichen und umfangreichen Werke zu den gesuchtesten gehörten. Und die Sucher in beiden Fällen waren alles Leute, die etwas Tüchtiges, Feststehendes, Haltbares sicher lernen wollten. Denn nur davon ist in Bock’s Schriften die Rede: nackte Anatomie, keine Physiologie, keine Phrase (damals so sehr üblich), keine Hypothese.

Bei diesem Vater nun, in den Räumen der Anatomie und frühzeitig als Gehülfe dabei, wuchs unser Carl Ernst auf. Er besuchte das städtische Gymnasium zu St. Nicolai, zu gleicher Zeit aber auch, des Zeichnens wegen, die Kunstakademie. Diese „Allotria“ (wie man sie vom Gelehrtschul-Standpunkte benennen muß) haben unseren Bock vor dem unheilvollen Einfluß jenes Lateinerthums beschützt, welches seit alten Zeiten (bis heute) die sächsischen Gelehrten- und Hochschulen beherrscht und die besten Köpfe zu unlogischen Denkern, die besten Herzen zu charakterlosen Leuten macht.

[485]

Carl Ernst Bock.

Von diesem Bildungsgange her schreibt sich aber auch jener radical-realistische Charakter, welcher unserem B. in wissenschaftlicher und anderer Hinsicht von jeher eigen ist. Beim ihm handelt es sich stets um die Sache, sehr wenig um die Form, gar nicht um romantische, ästhetische, zartfühlige Ansprüche oder Zuthaten. Es kann gar nicht anders sein. Wer von Jugend auf das wirkliche Innere des Menschen bei Leichenöffnungen beschaut, und tagtäglich die Strebungen des Menschen mit diesem unserem schließlichen unabwendbaren Endziele vergleicht, – wer mit Schädeln und Gerippen wie mit seines Gleichen umgeht und in jedem lebenden Mitmenschen nur ein unsecirtes Präparat sieht: für den giebt es (wenn er überhaupt ein denkender Mensch ist) gewiß wenig Täuschungen. Aberglaube, Gespensterfurcht, Priestertrug, Gesellschaftsheuchelei, Prüderie und Vornehmthun müssen an einem solchen wie Wasser vom Wachsteller abrinnen. Irdische Größen können ihm nicht imponiren. Wenn es einmal dahin käme, daß Jedermann schon in der Schule den Bau und die Verrichtungen des menschlichen Körpers durch eigene Anschauung am Leichnam kennen lernte, so würden wir eine Menge von Vorurtheilen, welche heutzutage noch in den Köpfen des Volkes herrschen, spurlos dahin schwinden sehen. Und zwar gewiß zum Vortheil aller Betheiligten, mit Ausnahme der Dunkelmänner und der Unterdrücker.[1]

[486] Hierzu gesellte sich bald für Carl Ernst ein zweites Bildungsmoment, wobei ich von mir reden muß. Ich war mit vielen anderen Kaufmannssöhnen auf einer vorzugsweise für Solche bestimmten Privatanstalt Leipzigs erzogen, welche in der Hauptsache schon den Charakter der jetzt sogenannten Realschulen trug, indem Rechnen, Schönschreiben, neuere Sprachen, Geschichte. Geographie, Naturwissenschaft (mit Experimenten), sogar Technologie betrieben wurden, auch für den Körper durch Exerciren, Turnspiele, Ausflüge und Reisen systematisch gesorgt wurde. Etwa 12–13 Jahr alt entschlossen sich Einige von uns zu studiren und erhielten deshalb allabendlich eine Extrastunde in Latein und Griechisch. Von denen, welche in diesen Extrastunden beisammen saßen, sind drei Professoren geworden (darunter Einer berühmter Sprach- und Alterthumsforscher), und der vierte hat es zwar nur zum Superintendenten und Kreisdirectionsbeisitzer gebracht, ist aber nur aus Zufall nicht Professor geworden, denn er war auf der Universität weitaus der Gelehrteste in Griechisch und Latein. – Drei von uns, die Gebrüder Francke und ich kamen in das Stadtgymnasium, wo Bock saß, und wurden bei unserm wenigen Latein billigerweise gering geachtet. Als wir aber uns mit voller Wucht und ungeschwächten Kräften auf die alten Sprachen warfen, so kamen wir natürlich weit rascher vorwärts, als unsere armen Mitschüler, welche von Sexta an naturwidrig mit der alten Grammatik gequält worden waren und alle Lebensfrische dabei eingebüßt hatten. Wir griffen auch das Studium ganz anders an, als sie: praktischer, realistischer. Und diese unsere Art bewirke, daß Bock sich bald und immer enger an uns anschloß. Es bildete sich auf der Schule jenes vierblätterige Kleeblatt, welches dann auf der Universität (weil der eine Francke Theolog wurde) sich in ein bis zum Ende unserer Universitätszeit zusammenhaltendes dreiblätteriges medicinisches Kleeblatt umgestaltete. Doch dürfen wir nicht verschweigen, daß auf St. Nicolai auch andere Mitschüler einen geistigen Einfluß und manche Anregung ausgeübt haben; als Bedeutendste nenne ich nur Hermann Schulze aus Delitzsch, Emil Roßmäßler aus Leipzig, Gustav Klett ebendaher (Botaniker, der mit uns excurrirte; starb frühzeitig), H. Herz. Ja, lieber Leser, solche gefährliche Leute sind auf der Leipziger Nicolaischule gebildet worden, obgleich deren Rector der loyalste Mann des gesammten Königreichs gewesen ist.

In die Zeit unseres Primanerthums fällt nun das erste Auftauchen eines freiwilligen Turnbetriebes in Sachsen. Wir waren gewohnt, alle Nachmittage in Wald und Wiese herumzustreifen und uns auf mancherlei Weise, mit Fug und Unfug zu bethätigen. Irgend Einer (ein Schüler des alten Jahn) brachte uns ein Stückchen Gerätturnen bei. Es wurde eine Reckstange angeschafft, zwischen zwei geköpfte Weiden befestigt, und zu Auf- und Umschwüngen benutzt, nach dem Gebrauch aber sorgsam im Walde versteckt. (Denn damals war nicht nur das Turnen, sondern sogar das Turngeräth polizeiwidrig!) – Gewiß war dieses heimliche Turnen am Reck sehr thöricht von uns; wir hätten den größten Schaden nehmen können. Einmal fiel Einer so derb auf den Kopf, daß er erst bewußtlos liegen blieb, dann beim Nachhausegehen irreredete. Glücklicherweise hatte er einen dicken Schädel und war einer der Dümmsten in der Schule; als ich ihn einige Jahr später wieder sah, war er ein recht netter verständiger junger Mann geworden. Der Fall auf den Kopf hat ihm also mindestens nicht geschadet.

Unser medicinisches Studium betrieben wir (das erwähnte Kleeblatt) in ähnlicher Weise, wie wir es mit dem Latein und Griechisch gemacht hatten, realistisch. Wir fingen allemal gleich mit der Sache an. Wir botanisirten schon als Schüler mit dem obengenannten Klett (dem zu Ehren ich nach seinem Tode die Frechheit hatte, als bloßer Student eine Flora von Leipzig herauszugeben); wir lernten die Pflanzen kennen, ehe wir ein botanisches Handbuch kannten. Als wir ein solches (den Wilbrand) erworben hatten, gingen wir ohne Klett in das Rosenthal und bestimmten selbst die Pflanzen des Erstfrühlings; Beides längst bevor Schwägrichen’s Collegien über Pflanzenkunde begannen. – Auf der Anatomie nisteten wir uns unter Bock’s Protection ein und begannen zu präpariren, ehe wir Anatomie gehört hatten. Und so haben wir später die Kliniken besucht, ehe wir Krankheitslehre gehört; wir haben alle Drei famulirt, ehe wir die Klinik beendet hatten. Um dergleichen möglich zu machen, dazu diente eben jenes System, mittelst dessen wir uns durch die Lateinschule geschlagen hatten. Es giebt nämlich in jeder von Menschen zubereiteten Wissenschaft gewisse Hauptsachen, welche man taktfest und in ihrer Gliederung mit 1, 2, 3, a, b, c, im Kopf haben muß, um mit fortgehen zu können. An diese krystallisirt sich dann während des Lerncursus alles Uebrige von selbst an, am besten mittelst eigener Anschauung und Praxis. Zum Einlernen dieser Grundlagen dienten uns selbstgefertigte, aus irgend einem Handbuche gezogene Excerpte, in systematischer Form, welche wir in den Taschen bei uns trugen und uns daraus während der Spaziergänge, sogar während des Badens und Schwimmens oder auf dem Grase liegend gegenseitig überhörten, bis die Sache im Kopfe festsaß. So konnten wir den Professoren stets über die Hauptsache sicher Antwort geben.

Diese Methodik hat Bock am meisten festgehalten. Ihr verdankte er seine ausgezeichneten Erfolge als Repetent und Examinator der Studenten, als Lehrer für gelehrte und ungelehrte Versammlungen, als ärztlicher und Volksschriftsteller. Selten nehme ich etwas Bock’sches in die Hand, ohne daß mir unsere ehemaligen Excerpte mit ihren dickunterstrichenen Hauptpunkten und ihren unter 1. 2. 3., a. b. c. gegliederten Unterabtheilungen unwillkürlich einfallen.

Wir waren 1831 alle Drei noch nicht fertig mit unserm Studium, als wir in’s Leben hinausgerissen wurden. Zuerst ich, den Armuth zwang, eine Famulatur bei einem Dresdner Leibarzt anzunehmen. Kurz nachher erscholl der Aufruf von Warschau her, daß deutsche Aerzte kommen sollten, um die vielen Opfer des damaligen polnischen Erhebungskrieges zu pflegen. Bock ergriff mit Feuer diese Gelegenheit, sich praktisch zu üben und Dinge zu sehen, die in den Leipziger Civilspitälern Jahre lang nicht vorkommen. Mit seinem gewaltigen Werbetalent riß er, außer dem andern Kleeblättchen Francke (später Professor der Chirurgie zu Leipzig) noch mehrere andere Studiengenossen hin. Die Facultät machte ihn ohne Disputation zum Doctor. Er bezahlte die spätere Dissertation auf eigenthümliche Weise. Während andere Aerzte nach gethaner Arbeit sich vergnügten, stand Bock im Warschauer Leichenhaus und zog Hunderte der schönsten Schneidezähne aus. Mit deren Erlös bezahlte er, zurückgekehrt, seinen Doctortitel. Denn damals gab es noch keine künstlichen Zähne. Die feinsten Damen trugen eingesetzte echte Menschenzähne, welche theuer bezahlt wurden.

Unsere Freunde wurden in Warschau sofort als Stabsärzte angestellt, und erwarben sich bald Achtung bei Vorgesetzten und Collegen. Ihre Erlebnisse daselbst verdienten eine besondere Berichterstattung; die von ihnen nach Hause geschriebenen Briefe waren sehr interessant. Einen Theil davon druckten Clarus und Radius in ihrer „Cholera-Zeitung“ ab, wodurch der berühmte Physiker Fechner veranlaßt ward, unsern Freunden öffentlich eine Huldigung auszusprechen. F. hatte nämlich unter dem Namen „Mises“ eine satirische Broschüre: „Schutzmittel für die Cholera“ geschrieben, worin er die 300 verschiedenen Meinungen von ebensoviel Aerzten mittheilt. An die Spitze stellte er die Worte von Bock und Francke: „daß sie über das Wesen der Cholera keine Ansicht zu äußern wagten“ (was noch heute das Klügste ist) – mit der Randbemerkung: „bescheidene Leute!

Die Mord- und Gräuelscenen in W. kühlten die politische Sympathie unserer Freunde bald ab. Desto eifriger ergaben sie sich ihrem ärztlichen Fach. Als den Russen Warschau übergeben worden war, wurden Bock und Francke zum Eintritt in russischen Dienst aufgefordert, den sie auch der vielen nöthigen Amputationen wegen mehrere Monate lang verwalteten.

Von dieser Warschauer Cholera-Epidemie stammt Bock’s Vorliebe für das heiße Wasser als Curmittel. Das zähe, pechartige dicke Blut der Choleraleichen leitete ihn auf den Gedanken, heißes Wasser als Verdünnungsmittel trinken zu lassen. Die Erfahrung hat auch später, bei der Leipziger Choleraepidemie, diese Behandlungsweise als eine der besseren bewährt. Später wandte sie Bock auch für andere Krankheitsfälle an, wo das Blut verdickt oder die Schleimhäute (besonders in Schlund und Magen) mit zähem, schwerablösbarem [487] Schleim überzogen sind. Er hat deshalb oft sich spottweise mit Dr. Sangrado aus Gil Blas vergleichen lassen müssen.

Nach seiner Rückkehr aus Warschau erwarb sich Bock rasch die Liebe einer gebildeten Bürgers- und Seifensieders-Tochter in Leipzig und verheirathete sich mit ihr. Ihn erwartete aber kein ruhiges Leben, sondern eine Zeit der angestrengtesten Thätigkeit, deren Wenige fähig sein dürften. Sein Vater starb plötzlich. Unserm B. fiel zum größeren Theil die Versorgung der zahlreichen Familie (neben seinem eigenen Hausstande) und die Beendigung der schriftstellerischen Werke seines Vaters zu. Letzteren ließ er bald mehrere eigene, meist anatomischen Inhalts folgen, von denen die meisten mehrmals aufgelegt sind. Viele Jahre hindurch ist B. alle Morgen um 3 Uhr aufgestanden, hat im ungeheizten Zimmer bis gegen 8 Uhr geschriftstellert und dann seine Tagesarbeit begonnen, welche besonders in Repetitorien und Examinatorien, bald auch (nachdem er sich habilitirt hatte) in eigenen Collegien bestand. Er galt bei den Studenten als der zuverlässigste Einpauker (d. h. Vorbereitender zum Examen) und trieb mit ihnen ziemlich alle Fächer der Heilkunde.

Man muß aber nicht glauben, daß Bock dabei zum gewöhnlichen Stubengelehrten geworden sei. Zwar verschmähte er schon damals das gewöhnliche Prakticiren, sogar in der Chirurgie, obgleich er für letztere besonders begabt und von zwei der besten Leipziger Chirurgen, Kohlrusch und Kuhl, als wirklicher Assistent, sogar im Jakobspital verwendet worden war. Aber sonst war er in leiblichen Dingen nichts weniger als ein Stubenhocker. Er schwamm, ritt, machte Fußreisen, avancirte in der Communalgarde zum Officier und endlich zum Bataillons-Commandanten, welcher zu Pferde die Manövers commandirte, – und zwar nicht ohne Anerkennung, sogar von Seiten des Militärs, aber auch unter allerlei Händeln, in welche ihn sein Sinn für das Recht und seine Gewohnheit, ohne Ansehen der Person Jedem seine Meinung gerade heraus zu sagen, verwickelte.

In diese Zeit nun, etwa 1832, fällt die durch Bock bewerkstelligte Einführung des Turnens im Königreich Sachsen. Zuerst für sich selbst, um den Nachtheilen des angestrengten Sitzens entgegenzuarbeiten, und um seine von Haus aus enge Brust zu erweitern (was ihm auch vortrefflich gelungen ist), errichtete Bock im Garten seines Schwiegervaters mehrere Turngeräte. Bald warb er mit dem ihm eigenen Talent zum Proselytenmachen eine Anzahl von jungen Gelehrten und anderen Personen zur Theilnahme und regelmäßigen Benutzung seines Turnplatzes, darunter manche Männer, die jetzt in Staat, Kirche, Rechtspflege, Heilkunde etc. hochstehen. Vorzugsweise zu nennen unter diesen ist Dr. Moritz Schreber (geb. in Leipzig), welcher später die Gymnastik und die gesundheitsgemäße Volkserziehung zu seiner Hauptaufgabe machte und das großartige heilgymnastische Institut begründete, welches noch heute blühend dasteht. Dieser Schreber war es dann, welcher den zweiten Schritt that und die Turnangelegenheit zuerst zur öffentlichen Erörterung brachte, indem er 1843 eine Schrift: „Das Turnen vom ärztlichen Standpunkte aus, zugleich als Staatsangelegenheit,“ veröffentlichte und der sächsischen Ständeversammlung vorlegte. Derselbe Schreber hat dann auch die deutsche Heilgymnastik, zuerst durch seine „Kinesiatrik“, in’s Leben gerufen und sich um Voksgesundheitspflege viel Verdienst erworben (auch durch Artikel in der Gartenlaube).

Nicht unerwähnt zu lassen ist, daß um dieselbe Zeit, jedenfalls noch vor 1834, auch in Dresden, und zwar im damals Blochmann’schen, jetzt Gräfl.. Vitzthum’schen Gymnasium, das Turnen systematisch durch einen tüchtigen und gescheidten Mann wieder eingeführt wurde. Dies war kein Anderer, als der jetzige Professor der Physik zu Jena, Herr Geh. Hofrat Dr. Snell, zugleich der erste Bevorworter der Realgymnasien[2]. Von Snell ging die Leitung des Turnwesens bei dieser Anstalt, und bald bei mehrern anderen, an den bekannten Turnlehrer Heusinger über, welchen wir Dresdner gewohnt sind, als unseren Turnvater zu begrüßen.

Bock war es dann auch, welcher im August 1845 unter Mitwirkung von Schreber, Professor Biedermann, Gustav Mayer a. A. den Turnverein zu Leipzig begründete und lange Jahre mit Mühen und Opfern für denselben wirkte. Diesem berühmten Leipziger Turnverein vorausgegangen war der Dresdner (Febr. 1845), welcher eine Zeit lang durch die Anzahl talentvoller, wissenschaftlicher Männer, die sich demselben widmeten, durch das von ihm begründete Journal (Steglich’s Turner), durch die Berufung des allgemeinen sächsischen Turntags, durch die Verwendung bei der Regierung, Einrichtung einer Turnlehrerschule u. s. w., an der Spitze des vaterländischen Turnwesens vorwärts ging. Nach den Maitagen 1849 aber fiel die Hegemonie von selbst und unbestritten auf den Leipziger Verein, welcher sich dieses Ehrenpostens auch bis jetzt vollkommen würdig gezeigt hat.

Bock’s Wirksamkeit für diesen Verein ist jahrelang die ausgedehnteste gewesen. Anfangs turnte er selbst mit; er beaufsichtigte den Betrieb des Turnens vom ärztlichen und vom gymnastischen Standpunkte aus; er war Mitglied des Turnraths; er führte dem Verein fortwährend Proselyten zu; er gab den Turnlehrern Unterricht in Anatomie, Physiologie und Diätetik; er hielt endlich im Verein selbst jene berühmten populären Vorträge, denen sich später ähnliche für die Voksschullehrer, dann für die gebildeten Damen Leipzigs, für eine ausgezeichnete Mädchenerziehungsanstalt und mehrere gewerbliche Bildungsvereine daselbst anschlossen. Alles das unentgeltlich, neben der eigenen anstrengenden Berufstätigkeit als Anatom, Professor, Arzt und Schriftsteller!

Soweit die turnerische Thätigkeit Bock’s. Wir fahren mit seiner Lebensgeschichte fort. Im Jahre 1839 wurde er zum außerordentlichen Professor der Medicin, 1845 zum Professor der pathologischen Anatomie ernannt, ein Zweig, welcher gerade zu dieser Zeit eine hohe Bedeutung für das gesammte Fach der Heilkunde erlangte und in immer steigendem Maße behalten hat. – Es fällt nämlich in diese Zeit jene radicale Umwälzung und Neugestaltung, welche die deutsche Heilwissenschaft und Kunst von Wien her, hauptsächlich durch den pathologischen Anatomen Rokitansky und seinen Freund Skoda, so wie durch deren zahlreiche, jetzt allenthalben berühmte Schüler in Wien und Prag erhielt (die Zeit der sogenannten neuen Wien-Prager Schule). Durch die Entdeckungen und Arbeiten, Lehren und Schriften dieser Männer wurde die deutsche Medicin auf einmal zu einer Wissenschaft der Thatsachen – statt Meinungen und Hirngespinste – und zwar so vielfach neuer und origineller Thatsachen, daß für die Aerzte und Professoren nur die Wahl übrig blieb, von Grund auf neu zu studiren, oder ins alte Eisen zu kommen. Wir wählten natürlich das Erstere. Wir gingen zusammen auf ein paar Monate nach Prag und Wien, und wiederholten diese Besuche später ab und zu. Wir verdanken ihnen die Bekanntschaft, ja Freundschaft der ausgezeichneteren Vertreter dieser Schule. Bock, dessen ganzer Lebensrichtung die Tendenz dieser Schule aufs Vollkommenste entsprach, ward natürlich ihr begeisterter und entschiedenster Anhänger. – Durch sein bald darauf erschienenes Handbuch der pathologischen Anatomie und Diagnostik, seitdem in mehreren Auflagen erschienen, trug Bock wesentlich bei, die Lehren dieser Schule in klarster faßlichster Weise über Sachsen und das übrige Deutschland zu verbreiten. Seine Leichenöffnungen im Jakobspitale, und seine dabei geübte Kunst, die Diagnose am Leichnam zu stellen, bevor er geöffnet wurde, und ohne den Verlauf der vorhergegangenen Krankheit zu kennen, galten mit Recht als Muster ärztlicher Lehrtüchtigkeit und wurden außer den Studenten noch von alten Praktikern und Professoren, wie von reisenden Aerzten eifrig besucht. Aber mit dergleichen persönlichen Erfolgen konnte einem Mann wie Bock nicht gedient sein. Die neben ihm wirkende Leipziger ärztliche Facultät bestand damals, mit wenig Ausnahmen, aus alten eingerosteten Professoren, die das Neue nicht aufnehmen konnten. Obenan der damalige Vorstand der inneren Klinik. Gegen diese kehrte sich also sofort die ganze Thätigkeit Bock’s in einer Weise, welche in kurzer Zeit zum feindseligsten Kampf ausartete.

In diesen Kampf hinein kam nun der große Streit um die Medicinalreform Sachsens, angeregt durch eine Bittschrift des Dresdner ärztlichen Vereins und durch einen ständischen Antrag auf Aufhebung der chirurgisch-medicinischen Akademie zu Dresden. Bei diesem Streit hat Bock durch sein berühmtes „Votum“, worin er allen Parteien der alten Zeit gehörig den Kopf wusch und die Homöopathie als den Gipfel des von den allen Schulen gehegten Unsinns bezeichnete, wohl die Palme davon getragen. – Endlich kam der März 1848 und machte allen diesen Häkeleien kurz ein Ende. Die Studenten traten zusammen und erklärten die alte Klinik für geschlossen. Eine Deputation derselben, von Bock begleitet, [488] kündigte diesen Beschluß dem Cultustminister von der Pfordten an und forderte ihn auf, einen Professor neuer Schule nach Leipzig zu berufen, was auch bald darauf geschah, indem der berühmte Oppolzer aus Prag (des dasigen Czechentreibens müde) den Ruf nach Leipzig annahm und dort ziemlich ein Jahr als ärztliches Wunder für Studirende und Publicum, und als intimster Freund Bock’s lebte. – In diese Zeit, während einer Ferienreise Oppolzer’s, wo ihn Bock vertreten mußte, fiel jene mörderische Choleraepidemie, wo Bock allein die ganze Spitalskrankenpflege und noch städtische Praxis dazu besorgen mußte, wobei er selbst von der Krankheit befallen wurde und ihr nur mit Mühe entging. Für diese außergewöhnliche Anstrengung, wobei Bock noch eine starke Summe Geld zugesetzt hat, indem er darauf bestand, die Choleragenesenden mit bairischem Bier zu stärken, – für diese Zeiten der Anstrengung, der Verantwortlichkeit und der persönlichen Lebensgefahr hat Bock, wie es mißliebigen Leuten ergeht, von seiner vorgesetzten Behörde nie eine Anerkennung, wie Andere in gleichem Falle, geerntet! Er hat aber auch freilich nicht danach gestrebt! Die Sache genügte ihm auch hier, wie in allen anderen Fällen. Uebrigens haben Stadtrath und Stadtverordnete seine Thäkgkeit in glänzender Weise anerkannt.

An den politischen Ereignissen der Jahre 1848–49 hat Bock weit weniger, als Manche glauben werden, Theil genommen. Seine realistische Natur mußte sich von dem vielen Ideologischen, seine nüchterne Klarheit von dem vielen Unklaren, was beigemengt war, abgestoßen fühlen. Namentlich aber behauptete er von den Führern dieser Bewegung – es klingt curios und er mag es verantworten – „sie hätten keinen Charakter und redeten anders als sie dächten.“ – Das Betrübendste für ihn war wohl meine damals erfolgte Einkerkerung und Untersuchungshaft. Er bewährte dabei den Realismus seiner Freundschaft. Als alle anderen Freunde noch von der Reaction eingeschüchtert waren, drang er schon zu mir in den Kerker, machte mir Muth, bot mir Geld und jede andere Hülfe an, schaffte mir buchhändlerische Arbeiten und endlich sogar den Redacteurposten eines großen medizinischen Journals, – Letzteres mit der Last, daß eine Anzahl mit Bock zusammengetretener Collegen die Redactionsgeschäfte so lange führen sollten, bis ich frei wäre. – Es ist nicht das einzige Mal, daß ich – und Andere – diesen realistischen Charakter der Bock’schen Freundschaft erprobt habe, – der sich in den aufopferndsten thatsächlichen Dienstleistungen bewährt, von schönen Worten aber gar nichts – oder das gerade Gegentheil hören läßt.

Nach Oppolzer’s zeitigem Abgang (er ging nach seinem geliebten Oesterreich zurück) verwaltete Bock zum zweiten Male stellvertretend die innere Klinik zu Leipzig. Er zeigte dabei, in welchem Geist er (verschieden von den meisten anderen Klinikern) ein solches Amt geführt wissen will. Es soll dabei nicht der Herr Professor durch glänzende Reden, feine Diagnosenstellung oder sonst persönlich hervortreten, sondern der Studirende soll tüchtig eingeschult werden, soll es lernen seine fünf Sinne zu brauchen, seine ganzen Geisteskräfte anzustrengen, tüchtig zu untersuchen und einen tiefen Blick in’s Innere seines Kranken zu werfen (eine gute specielle Diagnose zu machen). Daraus werde sich dann schon eine vernünftige Behandlung nach diätetischen Grundsätzen von selbst ergeben. Alles andere Curiren, aller unnöthige Arzneigebrauch sei in einer Klinik doppelt schädlich, weil es den Blick auf’s Ueberflüssige vom Nothwendigen ablenke, und weil es den jungen Arzt vor der Zeit auf den Weg führe, den das leidige Prakticiren ihn später ohnedies betreten lehre, nämlich des Zuvielcurirens. Denn – das müssen wir nur gleich gestehen – Bock hält sehr wenig von allen praktischen Aerzten, selbst mit Einschluß seines Richter und Oppolzer. Er meint, sie seien alle mehrweniger Quacksalber und nur ein Weniges besser als die Homöopathen, „das Prakticiren verderbe den Charakter.“ – Was dieser Ansicht Wahres und doch auch Einseitiges zu Grunde liegt, ist leicht zu fassen. So lange man es blos mit einer Leiche zu thun hat, oder mit grobsinnlich materiellen Zuständen und Menschen, so lange hat Bock’s Auffassung Recht. Aber die Praxis, und die private insbesondere, hat in mehr als der Hälfte aller Fälle mit geistiggemüthlichen Zuständen oder mit solcherlei lebendigen Functionsstörungen zu thun, welche dem Messer des Anatomen ganz entschlüpfen. Und auch die große Hälfte aller Mittel, unsere lateinischen Recepte nicht ausgeschlossen, die homöopathischen und fast alle berühmten Specifica oder Geheimmittel, – haben diesen psychischen Charakter, sie nützen großentheils dadurch, daß der Kranke die Beruhigung faßt: „es geschehe etwas für ihn, und es sei ein Kraut für seine Leiden gewachsen.“ – Ein Viertel oder Fünftel aller unserer Patienten besteht aus Tuberculösen (Schwindsuchtscandidaten), ein Drittel vielleicht aus Unheilbaren. Soll man sie mit dem Spruche wegschicken, daß ihnen nicht zu helfen sei und daß die Anatomie lehre, Tuberkeln lassen sich nicht zertheilen? – Nichts wäre thörichter als das. Es ist besser, man fesselt sie durch ein paar leichte Linderungsmittel an einen rationellen Arzt, dessen Rathschläge ihnen vielerlei Nutzen bringen werden; denn sie würden doch unausbleiblich zu einem anderen, vielleicht zu dem größten Charlatan laufen, der ihnen recht viel verspricht und durch seine Curversuche ihnen nur Schaden bringt (Exempla sunt odiosa.). Von solchen Standpunkten aus haben also wir, die Praktiker, Recht, wenn auch alle Philosophen des Leichenhofes uns verurtheilen. –

Begreiflich wird nun aber noch Eins, was Viele wundert. „Warum prakticirt der Bock nicht, bei dem ungeheueren Zulauf von Patienten, welche ihm seine Gartenlauben-Artikel und sein „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ (jetzt schon in 5. Auflage und in nahe an 60,000 Exemplaren verbreitet) zuführen? Warum verweist er beharrlich seit Jahren alle feste Familienpraxis an jüngere Aerzte? Warum ertheilt er blos Consultationen? Nun, er will sich eben nicht durch das Curirgewerbe den Charakter verderben lassen (wie er es nennt); er will das Recht behalten, auf alle Praktiker, und auf die homöopathischen insbesondere, allezeit zu raisonniren.

„Warum schreibt er außer den neuen Auflagen seiner wissenschaftlichen Bücher vorzugsweise gern Volksbücher und Gartenlauben-Artikel?“ Weil er der Sache dadurch am sichersten zu nützen glaubt; weil die großen Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft und Heilkunde dadurch, daß man sie unters Volk bringt, am sichersten und schnellsten gemeinnützig werden; – weil es heutzutage vor Allem die Aufgabe ist, eine gesündere, vorurtheilsfreiere, klarerdenkende, charakterfestere Bevölkerung herzustellen. Bock’s Hauptstreben in all’ seinen populären Schriften ist vor Allem das Volk über die Verhütung von Krankheiten aufzuklären; zu diesem Zwecke ward er seit Beginn der Gartenlaube (1853) ein treuer Mitarbeiter dieser Zeitschrift, die durch eben seine Artikel ein ärztlicher Rathgeber in Tausenden von Familien ward. Wie sehr Ernst es damit unserm Carl Ernst ist, das geht aus einem Umstand hervor, der Vielen neu sein wird. Das Schreiben ist ihm nämlich nicht wie Anderen (z. B. mir selbst) ein Vergnügen, sondern eine Last und Marter. Bock leidet seit Jahren, in Folge seines früheren überangestrengten Schreibens, an dem sogen. Schreibekrampf. Sobald er eine halbe Stunde schreibt, fängt sich die Hand an krampfhaft zusammenzuziehen und die Vorderarmmuskel empfindlich wehe zu thun. Unter solchen folterähnlichen Muskelschmerzen sind die meisten Gartenlauben-Artikel gefertigt; kein Wunder, wenn sie manchmal dabei etwas grimmig ausfallen. Viel mehr zu verwundern ist, daß Bock des Schreibens nicht längst überdrüssig geworden ist und sich dafür den ihm offenstehenden, weit einträglicheren und bequemeren Erwerbszweigen, besonders der chirurgisch-ärztlichen Praxis gewidmet hat.

Wir haben nur wenig über Bock’s neueste Geschichte nachzutragen. Nach dem Sieg der neuen Medicin war er eine Zeit lang hoch angeschrieben. Wie gewöhnlich kamen nach gewonnener Schlacht, und als die Sache rentabel ward, eine Menge Leute hervor, um die Früchte mit zu genießen. Viele, zum Theil hochgestellte Familien ließen ihre Söhne der neueren Heikunde huldigen und in Leipzig, Prag und Wien studiren. „Die Beamtensöhne suchten ihr Futter in den Gleisen, die Wir gefahren haben!“ – Damals war Bock eine Zeitlang Gutkind. Allein ein Charakter wie der seinige, ein Mensch der die Persönlichkeiten so gering achtet, der immer der Sache huldigt und seine Ansicht immer auf die unverblümteste Weise Jedem gerad in’s Gesicht sagt, so ein Subject harmonirt nimmer mit einer Bureaukratie, besonders in dem feinen Sachsenlande!

Im Ganzen jedoch hat Dame Büreaukratie unsern Freund immer ziemlich glimpflich behandelt, obschon er mehrere Male mit Verwarnungen und Androhungen von Entsetzung bedacht wurde. Zudem kommen wohl auf einen Feind, den Bock hat, drei gute Freunde, welche das Schlimmste von ihm abwehren. Und schließlich ist seine Stellung so, daß er bei einer Absetzung (wenn man es dahin triebe) nur gewinnen könnte; er würde sofort, und [489] sogar vielleicht zum Nutzen seines Embonpoints (siehe Abbildung) eine reichliche, praktisch-ärztliche Beschäftigung finden.

Dieses Embonpoint führt uns gleich auf den noch übrigen Theil unserer Aufgabe, nämlich die Persönlichkeit unseres Freundes. Wer dick wird, ist in der Regel ein gemüthlicher Mensch und sorgt oder ärgert sich nicht tief. Beides trifft hier zu. Die vielen Feinde Bock’s haben ihm, der schon das funfzigste Jahr hinter sich hat, noch keines seiner schönen schwarzen Haare weiß machen können! – Seine Gemüthlichkeit, sein Humor, seine unerschöpfliche Spaßhaftigkeit sind in seiner Vaterstadt allbekannt und durch die giftigsten Störungen niemals unterdrückt worden. Seine etwa angesammelte Galle macht sich immer zur gebührenden Zeit nach außen hin Luft, im Nothfall gegen die Homöopathen.

Manche Leute finden dies mit dem Charakter seiner Schriften nicht vereinbar. Ich finde im Gegentheil, daß dies ein allgemeines Gesetz ist. Die trockensten Fachmänner, Rechnungsmenschen, Juristen etc. haben gewöhnlich in ihrem Privatleben eine höchst gemüthliche oder phantastische Seite. Und so wird ein Mann, der die nüchternste Erfahrungswissenschaft, die Anatomie, betreibt und der immer nach außen hin kämpft, auch auf der anderen Seite den Bedürfnissen des Gemüths Rechnung tragen. Am angenehmsten überrascht dies manchmal die Patienten, welche Bock consultiren. Sie glauben einen schrecklich groben, rauchbärtigen Isegrimm zu finden und treten zitternd ein. Elegantes Boudoir, Epheulaube über Schreibtisch und Sopha; die seltensten Blumen (zu denen sogar Lüdicke’s Wintergarten in Dresden beitragen muß), alle neu in Blüthe; der gefürchtete Doctor selbst wohlgelockt und in der Regel (wenn die Anrede nicht albern ist) auch freundlich empfangend. Da bleiben sie dann beim Fortgehen auf der Treppe stehen und sagen: „Mein Gott, das ist ja ein ganz hübscher Mann, den habe ich mir ganz anders gedacht!“ – was dann den parterre wohnenden Lauschern von Bock’s Familie zur höchsten Ergötzlichkeit dient.

Ich will damit nicht in Abrede stellen, daß unser Freund manchmal grob und verletzend aufgetreten ist. Aber eine Mehrzahl derjenigen Geschichten, welche man in dieser Beziehung erzählt, sind erlogen oder übertrieben. Namentlich aber ist die Sage, daß Bock den Kranken ihren Tod rücksichtslos voraussage oder sie überhaupt ängstlich mache, eine Verleumdung. Ich will nur eine Geschichte mittheilen, die wirklich vorgefallen ist, und will dem Leser dann das Urtheil überlassen.

Ein alter, den Tod schrecklich fürchtender Herr ist Abends auf dem Sopha eingeschlafen, wacht auf und kann den Hals nicht bewegen. Er denkt, der Schlag habe ihn gerührt, macht (immer liegend) schrecklichen Lärm und läßt Bock aus angenehmer Gesellschaft holen. Dieser folgt denn auch der Aufforderung und findet im Hause des Kranken Alles weinend und in großem Jammer. Er tritt an’s Bett und besieht sich den Sterbenden. „Sie elender Feigling!“ ruft er plötzlich, „den Augenblick stehen Sie auf und machen, daß Sie aus der Stube kommen. Gehen Sie spazieren, Sie alter –, das ist gescheidter, wie Ihrer Familie was vorjammern!“ Bock hatte sofort erkannt, daß es ein bloßer Nacken-Rheumatismns war und der Alte folgte seinem Befehl und war fortan für immer von seiner Schlagflußfurcht curirt. – In dieser Art hat Bock mehr als Einen durch eine einzige derbe Ansprache curirt, ja zum dankbarsten Anhänger gewonnen. Diese Verfahrungsweise ist in vielen Fällen sehr gut; sie darf nur nicht zur Maxime werden.

Und damit, lieber Leser, komme ich zum Schlusse. Warum habe ich Dir dieses Lebensbild vorgeführt? Aus Cameraderie gewiß nicht; es fiel mir nicht ein dergleichen zu schreiben; ich hatte Dringendes zu arbeiten, als Freund Keil mich dazu aufforderte. Aber wenn man einmal von diesem eigenen Kauz, dem Bock, spricht, so muß man eben die Seite an ihm hervorheben, welche an ihm für das deutsche Volk die wichtigste ist. Und dies ist, mit wenig Worten gesagt, folgendes: er ist – was sich in Sachsen so schwer bildet und so selten findet – ein ganzer Mann!



Noch eine Erinnerung an Wöbbelin.
Von Apell.-Rath Ackermann in Dresden.

Mit Wehmuth greifen wir gerade in diesen Tagen nach jedem Erinnerungsblatte aus dem denkwürdigen Jahre 1813, mit Wehmuth besonders nach dem, was uns die Presse, vor Allen aber die „Gartenlaube“ über unsern jugendlichen Tyrtäus Körner brachte und bringt. Tausende ihrer Leser haben daher auch mit Dank in Nr. 27 die Mittheilung über die „Körnergräber und ihr alter Wächter“, den alten ehrwürdigen Dorfschulzen Franck, gelesen.

Nicht um das, was der biedere Greis aus jener Zeit erzählt, zu bezweifeln und zu berichtigen, sondern um Einiges zu erläutern, was ein halbes Jahrhundert und Geistesschwäche verwischt, erlaube ich mir nachfolgende Mittheilung.

Wer aber berichtigen oder auch nur ergänzen will, muß dazu berechtigt sein. Ich legitimire daher zuvörderst meine Bekanntschaft mit unsrem Körner. Er Leipziger, ich Wittenberger Student, hatten wir bei den Reibungen einiger Verbindungen beider Universitäten und bei den diesfalls vorkommenden Verhandlungen mehrfache Gelegenheit uns zu sehen und zu messen. Man reiste herüber und hinüber, als gälte es Europa’s Wohl. Dabei kam auch im Winter 1810 Körner von Leipzig zu uns. Sein freies, jugendliches, joviales, studentisch ungenirtes Wesen erwarb sich bald Freunde.

Der Krieg sprengte nach wenig Jahren die mehr als 300jährige Universität Wittenberg und schleuderte ihre Jünger nach Ost und nach West. Körnern, der inzwischen bereits seine Dichterbahn betreten, führte er auf seine blutige Bahn.

Mit Körnern zugleich focht mein Bruder, den deutscher Patriotismus aus glücklichen Verhältnissen bei seinem väterlichen Freunde Pestalozzi zu Yverdun in der Schweiz in sein Vaterland zurück und in Dresden in das Lützow’sche Corps geführt hatte. Mein edler Bruder, eine hohe, reine, deutsche Natur, gebildet durch Reisen und Wissenschaften, ward bald Körner’s Freund. Seinen Mittheilungen verdanke ich manche Erhebung und manche interessante Erzählung von dem Heldensänger, so auch über Körner’s Tod und Beerdigung.

Aus diesen mündlichen Mittheilungen, und aus den bereits vor sechzehn Jahren veröffentlichten „Erinnerungen aus den deutschen Befreiungskriegen in den Jahren 1813 und 1814“ enthaltenen Aufsätzen meines Bruders kenne ich dessen Antheil an den traurigen Feierlichkeiten nach Körner’s Tod; und ich glaube kein tadelnswerthes Plagiat zu begehen, wenn ich, unter Zugrundlegung eines Aufsatzes meines schon längst in seinem lieben Frankfurt heimgegangenen Bruders, diesen selbst sprechen lasse.




Der 20. August 1813 war für uns ein trauriger Tag; an ihm verloren wir einen unserer herrlichsten Kampfgenossen, den Streiter mit Leier und Schwert.

Unser Corps bivouakirte auf einer Trift bei Wöbbelin, in deren Mitte zwei uralte Eichen standen. Förster und ich waren mit noch ein paar Freunden an diesem Morgen zu sogenannten Corpsofficieren ernannt worden; das hieß, wir waren officiersdienstthuende Oberjäger, so lange, bis die Bestätigung des Königs, dem wir zu Officieren vorgeschlagen waren, ankam. Wer, wie wir, als Gemeine, Gefreite und Unterofficiere gedient hatte, weiß, was das sagen will, Officier zu werden. Man verläßt die Classe der Gehorchenden und tritt hinauf in die der Befehlenden. Man hat die höchste Stufe militärischer Ehre nun erreicht; ob Lieutenant, ob Feldmarschall, anderes als Officier kann man nicht mehr werden. Im Lager und in unseren Herzen war Sonnenschein; aber ein finsterer Schatten sollte bald alle Freude auslöschen. Lützow, der mit dem Corpscommando sich nicht gern viel zu schaffen machte, sondern lieber, wie er einst mit seinem Freunde Schill gethan, auf Husarenabenteuer auszog, hatte auch heute das Commando dem Major Petersdorf übertragen und war mit seinen Adjutanten und einer Schwadron Husaren weggeritten, um sich vier Stunden weit von unserem Lager in einen Hinterhalt zu legen und von da aus einen Transport Zwieback wegzunehmen, der, wie er durch Spione erfahren hatte, unter militärischer Escorte nach Hamburg gebracht werden sollte.

Man hatte mir ausnahmsweise vergönnt, bei derselben Compagnie, bei der ich bisher als Unteroffizier gestanden hatte, nun auch als Officier zu bleiben. Unter allerlei Einrichtungen für mein

[490] neues Verhältniß war der Tag vergangen. Ich lag auf meinem Strohlager. Alles schlief um mich, nur ich konnte keinen Schlaf finden. Wir hatten in diesen Tagen die Nachricht von dem abgeschlossenen Waffenstillstand erhalten, und ich fürchtete die berückende Schlauheit des Corsen noch mehr als sein Schwert. Unsere Heere waren vor ihm in die Lausitz zurückgewichen. Er gewann jetzt Zeit, sich zu verstärken. Wenn der Waffenstillstand mit einem Frieden enden, und Napoleon seinen furchtbaren Einfluß in Deutschland behaupten sollte, welches Schicksal stand dann uns armen von ihm schon geächteten Lützowern bevor? – Verbannung oder Tod, Amerika oder jene hellen Sterne, an denen bei diesen Betrachtungen meine Augen fest hingen.

Da hörte ich auf einmal weiter unten im Lager schönen Gesang; ich raffte mich auf, eilte den Tönen nach, und fand eine Gesellschaft fröhlicher Freunde, die, weil ihnen das Glück eine Bouteille Arac zugeführt, Punsch gemacht hatten, und nun nach Zelter’schen Melodien Lieder sangen, die Körner gedichtet hatte. Ich half ihnen singen und trinken bis auf die Neige. Dann suchte jeder seine Ruhestätte bei seiner Schaar. Im Lager war wieder Alles still. Nur vom Dorfe her hörte man Wagengerassel und unseres Jahn’s Stimme dazwischen. So wenig auffallend dies Letztere auch war, so sprang ich doch noch einmal auf, um zu sehen, was denn wohl Jahn jetzt noch, um Mitternacht, im Dorfe zu wirthschaften habe. Der Mond war aufgegangen, und ich sah einen langen Zug von beladenen Wagen aus dem Dorfe kommen, begleitet von Einzelnen unserer Husaren. Ich fragte den ersten, der an mich herankam, was sie da brächten; er sagte, sie wären so glücklich gewesen, den Franzosen den ganzen Transport von 40 Wagen mit Zwieback abzunehmen, nur hätten sie leider ihren Lieutenant dabei verloren. Mich interessirte dies zunächst nicht besonders, da ich unter der Cavallerie nur wenig Bekannte hatte; doch fragte ich nach dem Namen. Als mir der Husar Körner nannte, dachte ich auch nicht von Weitem daran, daß das unser Theodor sein könnte. Auf meine weitere Frage: was für ein Körner? deutete der Husar auf den nächsten Wagen, mit den Worten: „Da liegt er, da können Sie selbst sehen.“ – Es war der Dichter!! – In diesem Augenblick kam Jahn in Hast an mich heran: „es ist mir lieb, daß ich dich finde, du bist heute Officier geworden, ich übergebe dir hiermit diese 40 Wagen sammt den darauf befindlichen Gefangenen; laß die Wagen auffahren, umstelle sie mit Mannschaft und hafte für ihre Sicherheit, bis der Morgen kommt.“ Fort war er wieder, der alte Jahn! ich glaube, ich hatte nicht einmal so viel Zeit, ihm etwas von unserem großen Verlust zu sagen. Pflichterfüllung trat jetzt an die Stelle des Schmerzes. Ich ließ die Wagen möglichst nah zusammenfahren, auf mehreren lagen todte schwarze Husaren, auf anderen verwundete Franzosen.

Nun eilte ich an Körner’s Wagen. Daß er uns für immer entrissen sei, hielt ich noch nicht für möglich; ich meinte, er sei vielleicht schwer verwundet, schlafe oder liege in Ohnmacht und werde uns wohl noch einmal, so wie nach jenem fürchterlichen Hieb, der ihn schon bei Leipzig in eine tiefe Ohnmacht versenkt hatte, erhalten werden. Ich wollte mich daher von der Art der Verwundung selbst überzeugen. Den Kopf fand ich frei von jeder Wunde, ebenso die Brust; aber mitten in der Magengegend fühlte ich eine Schußwunde, die ihrer Richtung nach das Rückenmark verletzt haben mußte. Da hatte ich denn plötzlich die schreckliche Gewißheit, daß der Herrliche für uns unrettbar verloren sei. Ich weckte die Freunde und theilte ihnen die traurige Kunde mit. Bald schlief im ganzen Lager Niemand mehr. Alles war von tiefem Schmerze ergriffen.

In der Compagnie, in welcher Körner zuletzt als Lieutenant gestanden hatte, waren zwei Schreinergesellen. Diese verschafften sich sogleich im Dorfe Eichenholz und machten sich noch in der Nacht daran, ihm einen Sarg zu zimmern. Nahe bei unserem Lager stand das Häuschen des Hirten. Da hinein wurde Körner’s Leiche gebracht und in die Mitte der Hausflur auf eine lange Tafel auf Eichenlaub gelegt. Außer Körner waren noch ein Graf Hardenberg, der als Freiwilliger diese Expedition mitgemacht hatte, und ungefähr sieben von unseren Husaren gefallen. Diese wurden auf den Boden der Hausflur ebenfalls auf Eichenlaub um die lange Tafel, auf der unser Heldenjüngling lag, herumgelegt. Sie waren Alle von wohlgezielten Schüssen plötzlich getödtet und daher mit den Mienen, die sie im Augenblick ihres Todes gehabt hatten, erstarrt. Da sah man noch freudigen Muth oder Zorn in ihren Gesichtern; Einer hielt den Arm in die Höhe und die Faust geschlossen, als wollte er eben zu einem Streiche ausholen; Einer schien sogar zu lachen. Es war ein schauerlich belebtes Bild, diese sprechenden Leichen auf dem Boden umher! Körner’s Mienen waren ruhig; so schien sein Gemüth im Augenblick des Todes gewesen zu sein. Als den schwer Getroffenen, vom Pferde Stürzenden seine Cameraden auf den Wagen legten, soll er noch mit großem Gleichmuth gesagt haben: „ich habe wieder Etwas weggekriegt, doch es wird wohl nichts zu bedeuten haben.“ – Einen Augenblick darauf hauchte er sein schönes Leben aus.

Was von Malern unter unseren Freiwilligen war, kam herbei, um seine Züge auf dem Papiere festzuhalten. Förster und ich aber gingen zu Major Petersdorf, mit ihm das Nähere über unseres Freundes Beerdigung zu besprechen. Wir äußerten den Wunsch, ihm unter der größeren der beiden Eichen ein Grab allein machen zu dürfen. Indeß unser Major meinte, er finde es viel passender, ihn unter den Meilenstein zu legen, der bei dem Dorfe an der Landstraße stand; denn dieser könne dann zugleich als ein Denkmal des Dichters dienen. Wir waren entrüstet über das Unpassende dieses Vorschlags und erklärten, daß wir die Bestattung unseres Körner an solch profanem Orte nimmermehr zugeben würden, er bedürfe keines Meilenzeigers zum Denkmal, er habe sich eines in den Herzen seines Volkes auf ewige Zeiten gesetzt, übrigens wiederholt in seinen Gedichten den Wunsch ausgesprochen, wenn er bliebe, unter einer deutschen Eiche zu ruhen. Der Major, der sonst ein wohlwollender Mann war, ließ noch einige Worte über jugendlich romantische Ideen fallen, und gab nach, da er wohl fühlte, daß die Rechte des Befehlshabers denen der Freundschaft in dieser Angelegenheit weichen mußten.

Förster, Nostitz, Thümmel und ich ließen es uns als Körner’s Freunde und Landsleute nicht nehmen, ihm sein Grab zu machen.

Unter der zweiten Eiche wurde zugleich ein zweites größeres Grab für die übrigen gefallenen Cameraden gegraben.

Gegen Mittag war Alles fertig. Körner lag in seinem eichenen Sarge auf Eichenblättern, und nun setzte sich vom Hirtenhäuschen aus der Trauerzug unter dem gedämpften Schall der Trommeln in Bewegung. Was im Lager abkommen konnte, schloß sich an; auch Officiere von Regimentern des Wallmodischen Corps, die gerade vorbei marschirten. Da die vierte Compagnie des ersten Bataillons seit Körner’s Tod ohne Officier war, führte Freund Stiebel (damals Feldwebel Bär) den Leichenzug. Als wir den Sarg in das Grab gesenkt hatten, sangen Diejenigen, die vor Weinen singen konnten, noch einige Verse aus seinen Liedern, in denen er seinen Tod für’s Vaterland wiederholt voraus verkündigt hatte, dann warfen wir vier Freunde das Grab zu, und der alte Markworth von Berlin schnitt Körner’s Namen und Todestag so tief in die das Grab überschattende Eiche ein, daß diese Inschrift wohl bis auf den heutigen Tag noch nicht ganz verschwunden sein wird.

Voll Trauer, wie wir waren, wollten wir eben still auseinandergehen, als plötzlich Alarm im Lager geblasen wurde und es hieß, der Feind zeige sich. Da strahlten die traurigen Gesichter auf vom freudigsten Muthe. Was konnte uns in diesen Augenblicken des dumpfen, sprachlosen Schmerzes erwünschter sein, als denen im Kampfe zu begegnen, an denen wir unsern Zorn auszulassen nur zu sehr berechtigt waren, die durch ihre ungerechten Kriege schon so viel Elend und Schmach über unser Deutschland gebracht, die uns eben erst noch unseren herrlichen Freund geraubt hatten! – Aber leider! es war nur ein blinder Lärm gewesen. Wir mußten unsere Waffen wieder hinstellen, und hatten Zeit genug unseren trüben Gedanken weiter nachzuhängen.

Was war das ganze Ergebniß des unglückseligen Zuges gewesen? Wir hatten unsern Körner, die Zierde unseres Corps, den Stolz der Jünglinge Deutschlands hingeopfert, und was hatten wir dagegen gewonnen? – – eine Partie Zwieback!! O Krieg! o menschlicher Wahnsinn!

Ueber das Nähere von Körner’s Tod hörten wir Folgendes: Am Morgen, so lange die Schwadron im Versteck lag, hatte er sich mit Schreiben beschäftigt. Förster fand in der Brieftasche desselben den Entwurf zu dem schönen Schwertliede, den er später vervollständigte. Als der erwartete Transport in die Nähe des Hinterhaltes kam, und unsere Husaren sich auf die aus ein paar Hundert Mann bestehende Bedeckung stürzten: flüchteten sich die Feinde in ein nahe liegendes Gehölz, und richteten von da aus ihre sicheren [491] Schüsse auf unsere Reiter, die mit dem Umdrehen der Wagen zu thun hatten. Körner, der sah, wie gefährlich die Franzosen von diesem Gebüsch aus den Unsrigen wurden, rief den nächsten Husaren zu: „Cameraden, wer folgt mir da hinein?“ – der kühne Jüngling bedachte nicht, daß Reiterei in einem Walde gegen Fußvolk immer verloren ist. Er sprengt bis an einen Graben und ist im Begriff, einen der Feinde niederzuhauen, als er von demselben den tödtlichen Schuß erhält und vom Pferde sinkt. Und dieser Feind, der den deutschen Dichter erschoß, soll – ein Deutscher gewesen sein! – – So mußte damals das arme Vaterland gegen sich selbst wüthen.




Beinahe ein Jahr nach diesem Unglückstag stand unser Corps in Oudenarde in Belgien in Cantonnirungsquartieren. Ich benutzte die Zeit der Ruhe, um meinen Onkel, den verstorbenen Kunsthändler Rudolph Ackermann in London, zu besuchen. Durch ihn wurde ich mit der deutschen Correspondenz der zwei Hülfsgesellschaften beauftragt, die sich in der City und in Westminster zur Unterstützung der durch den Krieg verunglückten Deutschen gebildet hatten. Man glaubte, daß der wohl am geeignetsten sein möchte, Wunden zu heilen, der eben genöthigt gewesen war, sie schlagen zu helfen. 130,000 Pfund Sterling wurden durch diese beiden Gesellschaften allein an milden Beiträgen zusammengebracht; andere 100,000 Pfund Sterling bewilligte das Parlament, so daß nahe an drei Millionen Gulden zur Unterstützung der Nothleidenden nach Deutschland geschickt werden konnten. Die Vertheilung von London aus hatte aber ihre Schwierigkeit. Die Berichte der deutschen Stadträthe und Hülfsgesellschaften, mit deren mehr als funfzig ich zu correspondiren hatte, konnten nicht wohl als maßgebend angenommen werden, da es in der Natur der Sache lag, daß diese ihre durch den Krieg erlittenen Verluste in der Regel als die schrecklichsten im ganzen Vaterlande darstellten, um so viel als möglich von den goldenen Strömen Albions auf ihre Fluren zu leiten. Mein trefflicher Onkel, der der Urheber des ganzen wohlthätigen Unternehmens gewesen und daher die Seele beider Gesellschaften war, wußte sich indeß zu helfen. Er gab mir eine nicht illuminirte Karte von Deutschland und wies mich an, die Gegenden, in denen es während des Krieges blutig hergegangen sei, die also auch wahrscheinlich vorzüglich gelitten hätten, mit roter Dinte mehr oder weniger, je nach meinem besten Wissen, anzustreichen. Das geschah. Um Leipzig herum entstand so ziemlich ein rotes Meer, und von da aus ergoß sich ein roter Fluß die ganze Heerstraße entlang über Erfurt und Frankfurt bei Mainz in den Rhein; die vielen roten Flecken nicht gerechnet, die hier und da auf der Karte als Sporaden figurirten. Das blutige Bild war fertig, aber jedenfalls auch ein sehr unzulänglicher Maßstab der Hülfsbedürftigkeit in Deutschland. Indeß, es hatte für die alten Herren, unter welchen mehrere Bischöfe, selbst der Primas von England, der Erzbischof von Canterbury, waren, und die wohl Deutschland eben so wenig, als den Krieg je mit eigenen Augen gesehen hatten, die beiden großen Vortheile der Anschaulichkeit und der möglichsten Unparteilichkeit. Ich hatte für jede Gesellschaft ein Exemplar auf diese Weise entwerfen müssen, und in allen ungewissen Fällen, was so ziemlich alle waren, richtete man sich mit den Guineen nach der rothen Dinte.

Es war zum Theil in Angelegenheiten dieser Gesellschaften, daß ich im Winter 1814 bis 1415 eine Reise nach Deutschland, vorzüglich nach Sachsen, was bekanntlich am meisten durch den Krieg gelitten hatte, machen mußte. Auf dieser Reise kam ich nach Dresden, und wurde in Körner’s Familie mit großer Herzlichkeit aufgenommen. Ich lernte Körner’s Schwester, Emma, kennen. Es war eine hochbegabte Jungfrau, und in ihrem Kreise für des Vaterlandes Ehre und Erhebung so wirksam, wie es ihr Bruder in dem seinigen gewesen war. Sie hatte ihn nicht nur (aus der bloßen Erinnerung) als Lützow’schen Jäger in Oel gemalt, wonach der bekannte Kupferstich gemacht worden ist, sondern auch sonst noch in verschiedenen Lebensaltern. Jetzt war sie beschäftigt mit einem kleinen Miniaturbilde, welches ihn als siebenjähriges Kind vorstellte, und womit sie ihren Vater bei seinem bevorstehenden Geburtstage zu überraschen gedachte. Sie fragte mich nach meinem Urtheil über die verschiedenen Bilder, welches wohl das geistige Wesen ihres Bruders am besten wiedergebe; und ich mußte mich unbedingt, nicht für das große Oelgemälde, sondern für das kleine Bildchen aussprechen. Emma war eben mit ihren Eltern in Mecklenburg am Grabe des Bruders gewesen. Sie erzählte mir, wie sie da eine unendliche Sehnsucht ergriffen habe, ihn zu sehen, wie aber ihr Vater, zu große Gemüthsbewegung fürchtend, ihrem Wunsche nicht willfahret habe, das Grab öffnen zu lassen.

Als sie mir das sagte, stand sie noch vor mir in der ganzen Fülle jugendlicher Gesundheit, und – vier Wochen später sehnte sie sich nicht mehr nach ihrem Bruder; denn sie ruhte im Grabe unter der Eiche bei Wöbbelin neben ihm.

Kaum nach London zurückgekehrt, erhielt ich von einem Freund des Hauses die Nachricht, daß Emma am Nervenfieber darniederliege und in ihren Phantasien oft den Namen Theodor nenne; der nächste Brief brachte mir die Nachricht ihres Todes, und der dritte die, daß ihre Leiche nach Wöbbelin gebracht worden sei, um mit der des Bruders in einem Grabe zu ruhen.

Mein Vaterland, vergiß nicht das treue Geschwisterpaar unter der Eiche bei Wöbbelin! [3]




Damit wird der alte wackere Dorfschulze Franck gewiß auch einverstanden sein, und wenn sein Geist wieder einmal einen lichten Augenblick hat, sich der schwarzen Jäger um die Körnerleiche und Körnereiche erinnern.

Auf mich sind heilige Andenken unseres Körner gekommen. Mein Bruder hinterließ mir, außer einem reichhaltigen Briefwechsel mit den ihm befreundeten Kriegscameraden, wie Fr. Förster, Nostitz (nachmaligem sächsischen Minister), Thümmel und Anderen, auch einige ihm von Körner’s Familie gemachte Geschenke, wie dessen Brieftasche in seiner Todesstunde, ein von dessen Schwester Emma gefertigtes Miniaturgemälde, ihren Bruder als 7jährigen Knaben darstellend, Körner’s Bild als Lützower u. dergl. Mir sind dies und eine von meinem Bruder dem Entseelten abgeschnittene Haarlocke Heiligthümer, die mich zugleich in meinem 73. Lebensjahre mit jugendlicher Frische in eine bewegte Zeit meines Lebens zurückführen.




De Jungens von de dytsche Seemannsschool.

Als ich nach manchen Jahren die Perle deutscher Städte, das vielfach als alte Hansestadt bezeichnete Hamburg wieder sah, da fiel mir zunächst die verjüngte Schönheit, die imponirende Pracht der Neubauten, der raffinirte Comfort außen und innen der neuen Paläste, und die brillante Kaufläden-Tournure als imponirende Contraste gegen früher, nebst der mindestens verdoppelten Lebendigkeit der Gassen gegen damals in’s Auge, als ich diese deutsche Handels-Metropole zum letzten Male sah. – Aber ich wußte diesen imponirenden Steinmassen keine poetische Seite abzugewinnen. Der Fremde sucht nicht die Stadt, auch nicht die Hanse-Stadt. sondern die „An-See-Stadt“ wie die Alten das Ding naiv beim rechten Namen nannten, und daher ist es der Hafen vor allem, der uns Binnenländer magnetisch anzieht, und wo Einem dann das Herz aufquillt in Lust und Wonne, und alte Geschichten und alte Gefühle von Fernweh wieder auftauchen, wie sie einst aus Campe’s Robinson, Cook’s Reisen um die Welt u. s. w. in dem muthigen Knaben aufloderten.

Mit welcher Wonne stürzte ich mich daher in das Getümmel der Theerjacken, indem ich mich von einem alten grauen „Jollenführer“ zwischen den schnaubenden und ächzenden Schiffskolossen, die da in Reihe und Glied lagen, und deren Flaggen und Wimpel lustig im Winde flatterten, umherschaukeln ließ!

[492] An der Außenseite des Hafens angekommen, schoß plötzlich unfern von uns ein hochbordiger Ruderkutter, von mindestens zwölf strammen, aber unbärtigen Blaujacken besetzt, nach dem jenseitigen Ufer, in den sogenannten Reiherstieg hinein. Die nobele Erscheinung des Ganzen, unten und oben, das exacte Rudertempo, das schlagfertige Folgegeben des Commandos vom Steuer her, das Alles erinnerte an die wohlexercirte Mannschaft eines Kriegsschiffs; was Wunder, daß ich neugiertg war, von meinem graubärtigen Führer zu erfahren, welchem Schiffe die dralle Mannschaft angehöre.

„O, Herr, dat sind de Jungens von de dytsche Seemannsschool up Steenwarder!“ explicirte der Alte, und nun tauchte plötzlich die Erinnerung von Explicationen deutscher Journale über diese

Der Schlafsaal der deutschen Seemannsschule.

neueste Errungenschaft Hamburgs in mir auf, und daß ich bei Durchsicht derselben nur immer die äußern gemeinen Umrisse beschrieben gefunden, und die genauere Darstellung der inneren Specialitäten, den eigentlichen Kern also, vermißt hatte.

So ließ ich denn – obgleich mir mein Führer nicht sagen konnte, ob mir der Zutritt frei stehen werde – dennoch den Schnabel meiner Jolle nach Steinwärder richten, vertrauend auf das Privilegium anständiger und wißbegieriger Fremden, überall offene Thore und offene Herzen im deutschen Vaterlande zu finden. Wenige Minuten, und ich trat in demselben Augenblick an einem überaus bequemen schwimmenden Stege an’s Land, als ein kleiner, stark besetzter Passagier-Fähr-Dampfer nach dem rechten Elbufer hinüberschoß. – Auf diese Wahrnehmung hin lohnte ich meinen Jollenführer ab, nachdem er mir noch die schwarz-roth-goldene Flagge gezeigt, nach der ich zuzusteuern habe, stieg nun eine ziemlich hohe Treppe hinauf und stand somit nun auf dem Eiland Steinwärder.

Nachdem ich mich an dem imponirenden Panorama auf meinem Wege nach der Seemannsschule gemächlich geweidet, war ich allmählich bis zur verschlossenen Pforte der Anstalt angelangt, die aber auf einen kühnen Griff an die Klingelschnur schnell geöffnet wurde, wonach dann einer der jungen zukünftigen deutschen Admiräle, mit freundlicher Höflichkeit die Mütze ziehend, mich nach der Thür der Directorenwohnung zeigte. – Bevor ich so weit avancirte, besah ich mir im Fluge den weiten Vorhof, in dessen Mitte ungefähr man beschäftigt war, das Gerippe eines Schulschiffes auf einem gemauerten Untergrunde auszuzimmern. – Damit ich auf dieses erste und nothwendigste Stück einer praktischen Seemannsschule (nicht zu verwechseln mit einer Navigationsschule) nicht wieder zurückzukommen brauche, will ich hier gleich vorweg bemerken, daß dieses fast auf dem Lande erbaute Schiff der Classe nach eine kleine Fregatte bildet, an welchem außer dem unteren Schiffsgefäß alles dasjenige vorhanden ist, was eine schwimmende Fregatte zum Segeln bedarf, also namentlich auch die Masten und Takelage, an deren Segeln, Wanten, Tauen u. s. w. die Seemannsschüler praktisch alle jene Handgriffe sich anzueignen und einzuüben haben werden, deren sie in ihrem zukünftigen Berufe bedürfen. Im Uebrigen fand ich den erwähnten Hofraum zu Gemüse-Anbau benutzt, der wohl geeignet sein dürfte, einen schätzbaren Beitrag zu den sehr beliebten Tafelfreuden jugendlicher Esser zu liefern.

Von der gesunden Eßlust der jungen Mannschaft sollte mir bald genug der Augenschein einen überzeugenden Beweis liefern, denn der Zufall wollte, daß ich just zur Mittagsmahlzeit in den Speisesaal trat. – Ich muß gestehen, die Sauberkeit und Nettigkeit, die derbe und gedrungene Einfachheit der [493] ganzen Einrichtung frappirte mich eben so sehr durch ihre Neuheit als durch das Gefühl der Zweckmäßigkeit für diesen Stand. Bei den 22 anwesenden und sehr tapfer zulangenden rothbäckigen Zöglingen machten augenblicklich die Honneurs der Bootsmann und der zweite Unteroffizier, wie denn solche abwechselnd Tag und Nacht, bei irgend größerer Anzahl Versammelter, von einem oder mehreren dieser unmittelbar Vorgesetzten überwacht, geleitet und in seemännisch-geschäftlichen Handgriffen (z. B. Splissen, Knotenmachen, Malen u. dgl. m.) unterrichtet werden. Die sämmtliche Nahrung der jungen Leute besteht schon jetzt in einfacher Seemannskost, schiffsmäßig zugerichtet und, wie ich zu bemerken glaubte, gern genossen.

Vom Speisesaal begaben wir uns in die verschiedenen Magazine, Kabelgatt (ein Raum zur Aufbewahrung von Tauwerk, Segeltuch u. s. w.), Waschlocal, und von da nach oben in den Schlafsaal. – Wer je im Innern eines großen Kriegsschiffes gewesen, dem wird dieser weitgedehnte Raum mit seinen die Balken tragenden Stützen voll Hängematten ganz den Eindruck des Zwischendecks eines mäßigen Linienschiffs machen, nur daß der vorliegende zum Vortheil der Benutzer etwas höher und luftiger ist. Mehrere Reihen sogenannter Schiffskisten, die bekanntlich in seltener Compendiosität den Kleiderschrank, die Wäsch-Kommode, Schreib-Secretair, Geldschatulle, ja nicht selten sogar den Speiseschrank in sich vereinigen, waren so geordnet und gestellt, daß jede als Stufe zu dem schwebenden Nachtlager dienen konnte, in das hinein zu gelangen übrigens nicht so leicht ist, als es sich Mancher etwa denken mag. Der Neuling oder Unvorsichtige geht oft eben so schnell wieder jenseits hinaus, als er diesseits hineingekommen.


Der Takelboden der deutschen Seemannsschule.

Nicht minder interessant erschien mir der große Takelboden, wo eben in der Zeit meines Besuchs die Vorbereitungen zur Instandbringung der Takelage für das erwähnte Schulschiff unter unmittelbarer Leitung des Bootsmanns und abwechselnd der Unterofficiere getroffen wurde. Zu andern Zeiten wird daselbst vorzugsweise Tauwerk bearbeitet oder, wie die Seemannssprache es nennt, „geschiemannt“. Von hier bestiegen wir das auf dem Giebel des Hauses errichtete niedliche Observatorium, dessen ostensibler Zweck (abgesehen von der prachtvollen bis über Harburg hinausreichenden Fernsicht) den nothwendigen Unterricht im Gebrauch nautischer Instrumente in sich befaßt; denn der Unterricht in dieser umsichtig geordneten und trefflich geleiteten Anstalt umfaßt das ganze Gebiet der Navigation, Praxis und Theorie, vom Schiffsjungen bis zum Capitain hinauf.

Von den überall durchschrittenen Räumen erwähne ich nur noch das geräumige, helle und freundliche Schullocal für Sprachunterricht, so wie namentlich das Navigationsschullocal, wo in Mathematik und Nautik von einem fest angestellten Lehrer unterrichtet wird, und das ich mit den gewöhnlichen Schulbänken und Tischen höherer Lehranstalten, nebst einem kleinen Katheder und Wandkarten für mathematische Geographie u. s. w. zweckmäßig eingerichtet fand.

Der Geist, der in dieser neubegründeten Anstalt herrscht, ist, wie ich mich belehren ließ und nach der flüchtigen Uebersicht glaublich fand, der Natur des Seemannsstandes nach, ein zwar disciplinirt ernster und strenger, jedoch durch Humanität gemilderter, der auch ohne Kopfhängerei der Religiosität ihren bescheidenen Antheil nicht versagt. Es kommen gewaltig ernste Momente im Leben des Seemanns vor, wo er Gelegenheit und dringenden Anlaß findet, den Blick hoch über die brausende Woge und die Wolken hinaus in eine unbekannte Ferne zu senden.

Später begaben wir uns auf das eigentliche Element der munteren Burschen, auf den Strom, wo wir den eleganten [494] Uebungsschooner „Thusnelda“ bestiegen. Dieses schlanke und festgebaute eiserne Fahrzeug ist zugleich Schraubendampfer und Segelschiff und wurde von einem patriotischen Mitgliede des Verwaltungsraths, Herrn W. Droege, ursprünglich zu einem Lustfahrzeug gebaut, den technischen Directoren der Seemannsschule zur freiesten Verfügung gestellt, soweit die Lehrzwecke des Instituts es als wünschenswerth erscheinen ließen. Mit diesem Schooner sind bereits kurze Uebungsfahrten elbabwärts unternommen, die im Laufe des Sommers bis in die Nordsee ausgedehnt wurden, um die kecken Jungen einmal bezüglich der famosen Seekrankheit ernstlich auf den Zahn zu fühlen.

In der Reihe abwärts folgt diesem Dampf-Segel-Schooner der Clipper-Segel-Kutter „Albatroß“, ebenfalls ein schmuckes Fahrzeug, das, ausschließlich für Segelübungen auf der Elbe bestimmt, vor einigen Wochen von einem der bedeutendsten Hamburger Rheder, Herrn A. J. Hertz, dem Institut als freies Geschenk zuging. Diesem Segelkutter schließt sich dann der etwas kleinere zwölfruderige Ruderkutter an, dessen ich Eingangs erwähnte, um der exacten Schlagfertigkeit der jungen Ruderer eine verdiente Eloge zu machen, und der eben für das Exercitium dieser anmuthigen Fertigkeit aus den Mitteln der Anstalt eigens gebaut wurde. – Daß es ferner auch an kleinen Ruderjollen zum etwaigen Uebersetzen nach und von dem anderen Ufer nicht fehlt, versteht sich von selbst. – Für körperliche Bewegung am Lande sorgen die freilich noch bescheidenen Anfänge einer Turnanstalt, und bis zur guten Jahreszeit wird auch eine im Plan bereits fertig vorliegende Schwimmanstalt die Zöglinge zu einer Uebung einladen, die auf dem erwählten gefahrvollen Berufswege dereinst von nicht geringer Bedeutung sein wird.

Von den Urhebern, Begründern und Leitern des Instituts ist allgemein bekannt, daß die Herren Gerard Schuirman und Georg Thaulow vormals Officiere der deutschen Bundesflotte und später Capitaine von großen Kauffahrteischiffen waren, mit denen sie die entferntesten Häfen der Erde, China, Japan etc. besuchten, auf welchen Reisen sie Gelegenheit fanden und benutzten, unterstützt von gründlichen Navigationskenntnissen, mannigfaltige und lehrreiche Erfahrungen zu sammeln. – Der werthvolle Kern ihrer seemännischen Tüchtigkeit hat sich indeß hier nicht mit jener rauhen und knorrigen Schale umgeben, die vielleicht ausgepichten Theerjacken gegenüber zeitweise völlig am Orte, in einer Lehranstalt aber schwerlich von vortheilhaftem Erfolge sein würde. Mir schien ihre Vertrauen erregende Bonhomie so eben die gute rechte Mitte zwischen seemännischer Derbheit und weltmännischem Schliff zu halten, und die umsichtige Organisation ihres Instituts zeugt schon an und für sich – abgesehen von den noch zu erwartenden Erfolgen – für die Befähigung zu dem erwählten Berufe.

Die innere Organisation des Instituts ist sehr einfach für uns Binnenländer, aber jedenfalls von großem Interesse. Morgens 5½ Uhr wird die Mannschaft mittelst der Bootsmannspfeife „ausgepurrt“ das ist geweckt. Alle Hängematten kommen rasch in schwingende Bewegung; flink, wie Alles in diesen Räumen, ist auch das Ankleiden vollbracht, und vereint marschirt man nach dem Waschlocal, wo Jeder sich den ganzen Oberkörper, aus einer ihm eigens angehörigen metallenen Waschkumme in kaltem Wasser wäscht und das Haar kämmt. Von hier ab wird sogleich vorab zu Ruderübungen im Kutter geschritten, die bis gegen 7 Uhr währen, da dann die Anstalt gekehrt und hiernach das erste Frühstück, bestehend aus Kaffee und Butterbrod, eingenommen wird. – Um 9 Uhr beginnt der Schulunterricht. Derselbe besteht für zwei Classen abwechselnd in Mathematik, Navigation, Geographie und neueren Sprachen, während eine Classe (die Schüler sind in drei Classen und 2 Wachen – Steuerbords- und Backbordswache – eingetheilt) mit praktischen Arbeiten, wie z. B. Splissen (Taue künstlich zusammenfügen), Zimmern, Malen u. dgl. beschäftigt wird. – Um 12 Uhr ertönt das Signal zum Mittagsessen. Bevor wir jedoch der Mahlzeit beiwohnen, möge noch bemerkt werden, daß der Reihe nach 2 Zöglinge als „Backsjungen“ fungiren. – „Back“ ist nämlich auf Kriegsschiffen die technische Bezeichnung für einen an der Schiffswand befestigten Klapptisch, hier natürlich durch einen gewöhnlichen Tisch ersetzt, der als Speisetisch gilt und den die Backsjungen „auf- und abzubacken“ haben. – So auch hier, und sobald aufgebackt ist, pfeift der Bootsmann zum „Schaffen“ – was wir „Landratten“ „Essen“ zu nennen pflegen. – Von dem gesunden Appetit der jungen Mannschaft habe ich bereits geredet, und bemerke nur noch, daß die Speise mehrentheils aus Fleisch, Hülsenfrüchten, Reis und Kartoffeln besteht. Freitags giebt es regelmäßig Fische, und Sonntags Braten, Gemüse und Pudding; – in der Woche auch dann und wann dickgekochten Reis mit trockenem Obst gemischt. Erbsen, Bohnen, Graupen und Grütze spielen eine bedeutende Rolle bei den Genüssen des Seemanns.

Die Zeit von 12½ bis 2 Uhr ist der Erholung auf dem Tummelplatz draußen gewidmet, oder vielmehr jeder geht seinen Launen und Neigungen nach. – Von 2 bis 4 Uhr Unterricht wie Morgens. Um 4 Uhr schlägt die Vesperzeit; da aber auf Schiffen von Uhrschlagen keine Rede ist, so verrichten dieses allemal Menschenhände, und das nennt man dann „Glasenschlagen“. Das Vesperbrod besteht aus Butterbrod und einem Glase Bier. Bis 5 Uhr allgemeine Erholung wie vorher, Turnen etc. Von 5 bis 7 Uhr hat eine Classe Navigationsunterricht und zwei Classen haben Aufgaben zu machen. Um 7½ Uhr wird zu Abend gegessen, nämlich Thee und Butterbrod. – Nach dem Abendessen mag sich Jeder beliebig beschäftigen, lesen, schreiben, musiciren, singen, was Geist und Sinn vermag; lange kann es aber nicht währen, denn schon um 8¾ Uhr pfeift der Bootsmann unerbittlich zu „Kojes“, und müde oder munter voltigirt Jeder in seine Hängematte.

Das sind nun so ungefähr die Grundzüge der Tagesbeschäftigung, von denen nur Sonn- und Festtage eine Hauptausnahme zulassen. Kleinere Abweichungen bringt aber unter anderem auch der Mitwoch Vormittag, wo von den Zöglingen großer Wäsch- und Flicktag abgehalten wird, denn Jeder wäscht hier seine Leinwand und flickt sein Zeug selber. Sonnabends aber tritt die Generalreinigung der ganzen Anstalt ein, wo jeder Betheiligte dann seinen festen Arbeitsplatz hat. Daß dem Seemann nicht, wie unser Einem, die Nacht zur unbedingten Ruhe gewährt ist, ist wohl jeder Landratte bekannt. So ergeht es auch den angehenden Seeleuten in der Seemannsschule. Zwei derselben müssen, überwacht von einem Unterofficier, abwechselnd Wache halten, die Anstalt in Intervallen durchpatrouilliren. Am Tage hat nur ein Zögling die Wache, der dann das Thor den Ein- und Auspassirenden zu öffnen und „Glasen“ zu schlagen, d. i. alle halbe Stunden an der großen Glocke anzuschlagen hat. Zu dieser planmäßigen Beschäftigung der jungen Leute werden nun später, nach Vollendung des Schulschiffes, noch die Uebungen mit Tauen und Segeln, Klettern etc. als wesentliches Erforderniß eines tüchtigen Matrosen kommen, und es wird somit dann der ganze Complex der seemännischen Praktik vereinigt sein. Der Hauptinstructeur in den manuellen Fertigkeiten ist der Bootsmann (ein früheres Mitglied der preußischen Marine, der unter anderem auch die bekannte ostasiatische Expedition des preußischen Geschwaders mitgemacht hat, und mit schätzenswerthen Kenntnissen auch eine treffliche Begabung für seinen jetzigen Beruf vereinigt). Ferner gehört zu dem Personale 1 Zimmermann, 1 Quartiermeister, 1 Maschinenmeister für die „Thusnelda“, und für theoretische Kenntnisse 2 Sprachlehrer und 1 Lehrer der Mathematik und Navigation.

Der Leser wird eingestehen, daß für die Anfänge dieses Instituts als Privatunternehmen das irgend Mögliche geschehen und die Hoffnung begründet ist, es werde die für die deutsche Marine in jeder Hinsicht hochwichtige Anstalt durch reiche Frequenz zu einer Blüthe emporgehoben werden, von der dessen Existenz abhängig ist. – Nicht wenig wird die Hinneigung von Eltern und Pflegern seemannslustiger deutscher Söhne zur Benutzung der deutschen Seemannsschule in Hamburg durch die Zusage der ersten Rheder und Kaufleute daselbst gehoben werden, daß dieselben vacante Plätze als Decksjungen und Leichtmatrosen auf ihren resp. Schiffen vorzugsweise nur durch Zöglinge der Seemannsschule besetzen wollen. – Es ist indeß von Wichtigkeit den betheiligten Eltern wohlmeinend zu rathen, ihre Söhne nicht später als im vierzehnten Lebensjahre zur Vorbildung in die Seemannsschule zu schicken, da es sich schon jetzt durch Erfahrung herausgestellt hat, daß junge Leute, die das für die Aufnahme vorschriftsmäßige Alter von 15½ Jahren bereits überschritten haben, sich nur schwer in die ihnen neuen und von der gewohnten Lebensweise eigenthümlich abweichenden Verhältnisse fügen, und dadurch leicht Conflicte entstehen, die später bei der ersten Seereise in noch ungleich verstärkem Maße hervortreten.

[495] Ich verließ die Anstalt mit großer Freude. Wenn auch die Aussichten auf eine deutsche Flotte augenblicklich nicht die besten sind, so muß und wird doch endlich das von Millionen angestrebte Ziel erreicht werden. Dann wird die Hamburger Seemannsschule eine doppelt wichtige Bedeutung erhalten und der deutschen Kriegsmarine zur Vertheidigung der vaterländischen Küsten eben so wackere Seeleute liefern, wie sie jetzt der Handelsflotille Deutschlands tüchtige Steuermänner und Capitains bildet.





Ein Geburtstagswunsch für Herzog Ernst von Coburg-Gotha
und des Fürsten Antwort an den Dichter.




Der Wunsch.
Am einundzwanzigsten Juni 1863.

Es trübt sich zu, der Himmel blickt
Von Wolken schwer zur deutschen Erde.
Wenn Gott uns jetzt ein Wetter schickt –
Wer kündet, wie es enden werde?
Ist unten doch wie oben Spiel
Des leichten Sinns und Frevels Mode!
Es steckt die Hast sich Ziel an Ziel
Und hetzt die deutsche Kraft zu Tode.

Die jubeln in den Tag hinein
Ob unsers Siegs vor fünfzig Jahren –
Und sehen nicht den Feuerschein
Der tückisch züngelnden Gefahren.
Sie ziehen stolzerfüllt von Fest
Zu Fest mit schwarz-roth-goldnen Fahnen,
So weit man die sie tragen lässt –
Nur was uns droht, will Keines ahnen.

Und Jene sä’n der Zwietracht Gift
In’s eigne Land, den Muth zu brechen,
Der, wenn des Unglücks Pfeil sie trifft,
Allein sie retten kann und rächen.
Sie stützen keck im Hinterhalt
Ein fremdes Haus, für das sie wachen –
Und wissen nicht, wie bald, wie bald
Des eignen Hauses Balken krachen!

In solcher wetterschwülen Zeit
Erhebt den Geist der tief Gebeugten
Ein Fürstenherz, dem Volk geweiht,
Ein Mannesang’ voll Wetterleuchten.
An Ihm hebt sich das Volk empor,
Auf daß es fest zu halten wage,
Was es so bitter oft verlor:
Die Hoffnung bessrer deutscher Tage.

Um dieses Trostes willen kann
Des Herzens Stimme heut nicht schweigen,
Es sei mein Lied Dir, Fürst und Mann,
Vom Volkesdank ein kleines Zeichen.
Der Himmel führe Deinen Geist
Und Du das Volk des Heiles Pfade,
Daß segnend einst die Welt Dich preist:
Er war ein Fürst „durch Gottes Gnade“!

Fr. Hofmann.


Die Antwort.


Mit Ihren tiefempfundenen, herzlichen Worten haben Sie mir eine große Freude bereitet, mein bester Hofmann, und ich kann nicht umhin, Ihnen persönlich meinen wärmsten Dank auszusprechen.

In gebundener Sprache, im duftenden Kleide der Poesie haben Sie der tiefen Prosa der Zeit die richtigen Worte verliehen.

Ja wohl, die Zeit ist trüb! Zwietracht und Schwäche auf den Thronen, Mißgunst und Eigenliebe im Schooße der Parteien; viel hohle Phrasen und schöne Worte, wehende Fahnen und donnernde Hochs!!

Wo sind die Handlungen, wo die Thaten?

In tiefer Trauer schlägt das Herz des wahren Patrioten, und wehmüthig schweifen seine Blicke umher nach Gesinnungsgenossen. Ruhiges Erwägen, großherziges Selbstverleugnen, unbedingtes Unterordnen unter die erwählten Führer fehlen, nicht Muth und Begeisterung.

O möchte das deutsche Lied, der fromme deutsche Sänger, dem Volke vor Allem jene Tugenden preisen! Nur durch sie können wir einst werden: ein freies Volk „durch Gottes Gnade“.

Coburg, 1/7 63.

Ihr ergebener
Ernst.



Blätter und Blüthen.

Die Gelehrten des Kladderadatsch. Unter den Berliner Schriftstellern nehmen die „Gelehrten des Kladderadatsch“ eine eigenthümlich eximirte Stellung ein. Sie bilden eine besondere Trias, zu der noch der geistvolle Maler Scholz und der Besitzer des eben so einträglichen als allgemein verbreiteten Witzblattes, der Verlagsbuchhändler Herr Hofmann, treten. Der Ursprung des Kladderadatsch verliert sich in nebelgraue, mythische, vormärzliche Zeiten. Damals bestand in Berlin eine zwanglose Gesellschaft von Künstlern, Schriftstellern und Privatleuten, welche sich wöchentlich versammelten, eine geschriebene Zeitung voll Witz und Geist herausgaben und den damals noch nicht gekannten „höheren Blödsinn“ mit besonderer Liebe pflegten. Mitglieder dieser Gesellschaft, welche „das Rütli“ hieß, waren unter Andern der bekannte Feuilletonist Kossak, der Musikdirector Truhn, einer der geistvollsten Gesellschafter, Gottschall, Titus Ullrich, Ernst Dohm, Rudolph Löwenstein etc. Es wurde gescherzt, gelacht, die Thorheiten der Gesellschaft und des Tages verspottet und von Scholz, dem lustigen Carricaturenzeichner, illustrirt. Im Jahre 1848, wo die gewonnene Preßfreiheit auch den Witz entfesselte, entstand in diesem Kreise die nahe liegende Idee, ein humoristisches Blatt öffentlich herauszugeben. Bald wurde auch der geeignete Verleger gefunden, und eines Tages erschien der Kladderadatsch, der seinen drastischen Namen dem witzigen Possendichter D. Kalisch verdankte, welcher als der eigentliche Begründer des genannten Blattes angesehen werden kann. Der lustige, übermüthige, aber stets den Nagel auf den Kopf treffende Geselle fand in Berlin die freundlichste Aufnahme, sein Ruf verbreitete sich mit jedem Tage, und mit ihm wuchs die Zahl der Abonnenten, wenn auch damals noch in bescheidenem Maße. Die kühne Sprache, der schneidende Witz und die Bekämpfung der nur zu allgemein verbreiteten Phrasen erregten ein ungewöhnliches Aufsehen und verschafften dem Blatte zahllose Leser und Freunde.

Die der Bewegung aus dem Fuß folgende Reaction bedrohte jedoch das junge Leben des allzukecken Burschen; der über Berlin verhängte Belagerungszustand zwang ihn auszuwandern und zunächst nach dem nahen Freienwalde, später nach Leipzig zu flüchten, von wo er im Verlage von Ernst Keil nach wie vor seine spitzen Pfeile auf die herrschende Reaction abschoß, indem er trotz der traurigen Zeiten weder seinen Humor, noch seinen Muth verlor. Nach dieser überstandenen Krisis kehrte er lächelnd, im Kampf mit der Gewalt erstarkt und gereift, nach Berlin zurück, wo er seitdem einen glänzenden Aufschwung nahm und nach und nach eine europäische Berühmtheit erlangte. An seine Spitze trat jetzt als Redacteur der geistvolle Ernst Dohm, welcher mit seltenem Takt seitdem das Witzblatt leitete und ihm seinen Charakter und feste Haltung gab. Dohm selbst war ursprünglich zum Theologen bestimmt und studirte in Halle; verließ jedoch die kirchliche Laufbahn und arbeitete längere Zeit an dem von Professor Gubitz herausgegebenen „Gesellschafter“ und anderen Zeitschriften, für die er Feuilletonartikel und Theaterkritiken schrieb. Er besitzt eine classische Bildung, gediegene Kenntnisse, besonders der neueren Sprachen, vor Allem aber jenen schon gerühmten Takt und eine bewunderungswürdige Feinheit des Urtheils. Diesen Eigenschaften verdankt der Kladderadatsch seine geistige Ueberlegenheit, indem der einsichtsvolle Redacteur dafür Sorge trägt, daß die aufgenommenen Artikel nie trivial werden und selbst den Geschmack des Gebildeten befriedigen. Sein großes Wissen und seine Belesenheit bekundet er in der Anwendung von jenen Citaten aus bekannten Schriftstellern, welche meist in wunderbarer Weise das Schwarze treffen; seine eigentliche Domaine ist nicht der sogenannte höhere Blödsinn, sondern der feinere Witz, den er auch in der Form auf das Sauberste und Schärfste zuzuschleifen versteht. Im gewöhnlichen Leben und im Umgange erscheint der gefürchtete Redacteur des Kladderadatsch als ein liebenswürdiger, harmloser, geistvoller Gesellschafter von einer Gutmüthigkeit und Sorglosigkeit, welche ihm schon manche große Verlegenheit bereitet hat. Hülfreich für Alle, für Freunde, Bekannte und selbst Fremde, denkt er nicht an sich und seine eigenen Verhältnisse.

Wie Dohm den Geist und den Takt, so vertritt Rudolph Löwenstein das Gemüth, die eigentliche Poesie des Kladderadatsch. Auch er studirte ursprünglich in Breslau Philologie und war zum Pädagogen bestimmt. Frühzeitig entwickelte er sein poetisches Talent und schon auf der Universität machte er sich als junger, begabter Lyriker bekannt. Später veröffentlichte er jene reizenden „Kinderlieder“, die sowohl durch ihren eigenen Zauber wie durch die köstlichen Compositionen des Musikdirectors Taubert sich einer großen Beliebtheit erfreuen. Die Ereignisse des Jahres 1848 verwandelten den sanften Lyriker in einen energischen Politiker; statt naiver Kinderlieder schrieb jetzt Löwenstein geharnischte Leitartikel für ein von ihm redigirtes Volksblatt. Nebenbei betheiligte er sich an dem damals emportauchenden Kladderadatsch, dessen Redaction er in den schwierigsten Zeiten nicht ohne persönliche Gefahr während des Exils in Freienwalde und Leipzig leitete. Hauptsächlich ist ihm der poetische Theil zugefallen, jene sinnigen oder schalkhaften Gedichte, die besonders den Frauen gefallen und sich durch ihre meisterhafte Formvollendung und dichterische Empfindung auszeichnen, obgleich ihm auch der scharfe Witz nicht fehlt. Auch Löwenstein besitzt ein seltenes gesellschaftliches Talent; er ist ein Meister im Improvisiren von geistreichen Trinksprüchen und Toasten, ein allezeit fertiger Gelegenheitsdichter im Goethe’schen Sinne und in dieser Beziehung

[496] ein echter Sohn seiner schlesischen Heimath, welche bekanntlich die vorzüglichsten Gelegenheitsdichter, Männer wie Schall, Geisheim etc. hervorgebracht hat. Eine Zeit lang durfte Löwenstein in Berlin bei keiner öffentlichen Gelegenheit, bei keinem Feste, selbst bei keiner größeren Privatgesellschaft fehlen, die er durch seinen liebenswürdigen Humor und seine heitere Laune zu beleben wußte. In letzter Zeit hat er sich jedoch zurückgezogen, um mehr sich selbst und seiner heranwachsenden Familie zu leben. Er ist ein ausgezeichneter Familienvater geworden und durch die Bande der Familie mit dem Besitzer des Kladderadatsch nur noch enger verbunden, da er dessen Schwägerin geheirathet hat.

Eigenthümlich ist die schriftstellerische Laufbahn des originellen Kalisch, welcher als der eigentliche Repräsentant des höheren Blödsinns betrachtet werden darf. Als angehender Tertianer verließ er das Gymnasium, um sich dem Kaufmannsstande zu widmen. Mehrere Jahre war er Commis in verschiedenen Geschäften und selbst Disponent in einer ansehnlichen Möbelhandlung. Der Drang nach Bildung und das ihm angeborene Talent ließen ihn seine einträgliche Stellung und sichere Laufbahn aufgeben, um sie mit der unsicheren eines deutschen Schriftstellers zu vertauschen. In dieser lernte er hinlänglich die Noth des Lebens kennen; in Paris, wohin er sich begeben hatte, mußte er eines Tages sein letztes Schnupftuch auf dem Boulevard verkaufen, um seinen Hunger zu stillen. Nach Berlin zurückgekehrt, fristete er nothdürftig sein Leben durch Bearbeitung von französischen Theaterstücken und kleinen Vaudevilles, die auf dem Sommertheater in Steglitz zur Aufführung gelangten und ihm ein Honorar von wenigen Thalern einbrachten. Durch seine, ebenfalls dem Französischen entlehnte Posse „Einmalhunderttausend Thaler“, die auf dem alten Königsstädtischen Theater gegeben wurde, gelang es Kalisch die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der ihm eigene schlagende Witz, die geistreichen Couplets, die glücklichen Localfarben und vor Allen die zündenden politischen Anspielungen wurden von dem Berliner Publicum mit Jubel aufgenommen und selbst von den höher Gebildeten als Anfang einer neuen zeitgemäßen Possen-Aera begrüßt. Der arme, unbekannte Handlungsdiener wurde mit einem Schlage ein beliebter und gesuchter Theaterdichter und humoristischer Schriftsteller. Als solcher betheiligte er sich bei der Begründung und Herausgabe des Kladderadatsch, der im ersten Jahre zum großen Theil von ihm geschrieben wurde. Kalisch besitzt jenen eigenthümlich populären Witz, jene hinreißende Komik, jene überraschenden und drolligen Einfälle, welche als sogenannter höherer Blödsinn oft eine unwiderstehliche Wirkung ausüben. Was ihm an eigenthümlicher Bildung abgeht, ersetzt er durch Ursprünglichkeit und Originalität, obgleich er redlich bemüht war und noch ist, die Lücken seines Wissens durch nachträgliches Studium auszufüllen, wobei er von seinem scharfen Verstande und schneller Auffassungsgabe wesentlich unterstützt wird.

Als glücklicher Possendichter hat Kalisch in kurzer Zeit ein ansehnliches Vermögen erworben, indem er in manchem Jahre gegen 8000 Thaler Tantièmen bezieht, wozu noch sein sehr bedeutendes Honorar als Hauptmitarbeiter des Kladderadatsch kommt. Trotz dieser glücklichen Umwandlung seiner äußeren Verhältnisse und der ihm zu Theil gewordenen Anerkennung leidet Kalisch, wie die meisten wahren Humoristen und echten Komiker, an einer unerklärlichen – Hypochondrie. Der Vater so manches lustigen Scherzes, manches zwerchfellerschütternden und die Welt zum Lachen bringenden Einfalls erscheint in größerer Gesellschaft nur ungern und, wenn er dazu gezwungen wird, gedrückt und schüchtern, obgleich es ihm weder an Geist, noch gesellschaftlicher Bildung mangelt. Um so überraschender ist seine wirklich hinreißende Fröhlichkeit und übermüthige Komik, wenn er sich zu guter Stunde in vertrautem Freundeskreise befindet. Dann umschweben ihn die Geister des Witzes, der Laune, eine unwiderstehliche Heiterkeit und Liebenswürdigkeit; die finsteren Augen leuchten hell auf; die ernsten Züge verwandeln sich in ein unbeschreiblich komisches Gesicht, um die gebogene Nase und den feinen Mund zucken und spielen die ausgelassenen Genien der Freude und des Scherzes, des gutmüthigen Spottes und des satirischen Humors um so toller, kecker und übermüthiger, je seltener dies geschieht und je ernster im gewöhnlichen Leben Kalisch ist.

So ergänzen sich durch ihre verschiedenen Talente und Gaben die Gelehrten des Kladderadatsch, welche durch ein sonderbares Spiel des Zufalls alle Drei geborene Schlesier, außerdem nahe Anverwandte sind und sich ohne alle Verabredung erst nach jahrelanger Trennung in Berlin zusammengefunden haben, der ehemalige Theologe, Philologe und Handlungsdiener, um dies in seiner Art einzige Witzblatt zu gründen.

Ein Hauptreiz des Kladderadatsch besteht aber in seinen witzigen Illustrationen und geistreichen Carricaturen, welche von dem Maler Scholz herrühren. Derselbe ist ein geborener Berliner, der Sohn eines tüchtigen Beamten und von seinem Vater für dieselbe Laufbahn bestimmt. Erst nach langen Kämpfen gestattete ihm dieser, seiner Neigung zu folgen und Maler zu werden. Er war Schüler eines wegen seiner frommen Richtung bekannten Meisters, unter dessen Leitung Scholz mit Heiligenbildern debutirte. Bald aber wandte sich sein Pinsel minder frommen Stoffen zu, indem er der ihm angeborenen Neigung für die komischen Seiten des menschlichen Lebens folgte. Schon als Mitglied des „Rütli“ überraschte Scholz durch seine humoristischen Zeichnungen und seine unwiderstehliche Laune. Er ist in der That ein geborener Humorist, und schon die bloße Erscheinung des langen, stets heiteren Scholz genügt, um die fröhlichste Stimmung zu erwecken. Unerschöpflich in lustigen Einfällen und überraschenden Wendungen besitzt er einen trockenen Humor, ein komisches Darstellungstalent, wie es nur wenig Schauspieler aufweisen können. Man muß Scholz bei dem Berliner Künstlerfest seine eigenen Carricaturen erklären hören, oder ihn in den ausgelassenen Festspielen und Partien bald als Tyrann, bald als schmachtende Dame sehen, wo sich der finsterste Hypochondrist des Lachens nicht erwehren kann. Der lange Scholz als Vater und der kleine Kalisch als sein Kind bilden zusammen eine komische Gruppe, die jedem Zuschauer unvergeßlich bleiben wird. – Mit ihm wetteifert noch Hofmann, der glückliche Besitzer des Kladderadatsch, der ebenfalls ein seltenes komisches Darstellungstalent entwickelt und im Vortrage kleiner witziger Begebenheiten seines Gleichen sucht. Unter andern Verhältnissen wäre er vielleicht ein ausgezeichneter Komiker, ein bedeutender Schauspieler geworden. Jedenfalls zieht er es jedoch vor, Eigenthümer des Kladderadatsch zu sein, der ihm ein fürstliches Einkommen sichert. Er kann nicht nur lachen, sondern er versteht auch die Kunst, Andere zum Lachen zu bringen und sich und die Welt zu amüsiren.



Ein Versuchsvogel, gewissermaßen ein Probestückchen der Natur, ist neuerdings in den Kaltsteinschichten von Solenhofen, die den in der ganzen Welt bekannten lithographischen Schiefer geben, entdeckt worden. Man kannte bis jetzt noch keine Ueberreste von Vögeln, welche in eine so frühe Entwickelungsperiode der Erde hinaufreichen, als die ist, in der jene Solenhofener Gesteine sich auf dem Grunde des Wassers absetzten. Jetzt erscheint auf einmal aus dem lang verschlossen gewesenen Grabe das Skelet eines Thieres auf das Feinste in der zarten Gesteinsmasse abgedrückt, das den vollständigsten Uebergang von den Reptilien zu den Vögeln bildet. Es ist von der Größe eines Raben, an den Vordergliedern zeigt sich ein Besatz scharf ausgeprägter Federn, aus denen sich fächerartige Flügel bilden, eben solche Federn stehen an dem Schwanz, der eine Länge von sechs Zoll hat und aus gegen 20 Wirbeln besteht. Der Befiederung nach haben wir einen Vogel vor uns, der Wirbelsäule nach eine jener merkwürdigen Flugeidechsen, welche in den Solenhofener Schiefern so häufig angetroffen worden sind. Und doch ist das Geschöpf keines von beiden. Es steht auf der Grenze zwischen beiden – weder Fisch noch Vogel. Es ist ein Uebergang von der einen unvollkommneren Form zu einer höher entwickelten andern; der erste Versuch der Natur, die Eidechse in einen Vogel umzugestalten. In der Folge haben sich die Eigenschaften der Reptilien mehr und mehr verwischt, neue dagegen hervorgehoben, und endlich nach unendlichen allmählichen Vervollkommnungen hat das Vogelgeschlecht seine jetzige Ausbildung erhalten.

Das so höchst wichtige Belegstück aus der Entwickelungsgeschichte des thierischen Organismus, entdeckt von dem Herrn Oberjustizrath Witte, haben die Deutschen leider von dem British Museum ankaufen lassen, welches einen Gelehrten lediglich dieser Erwerbung wegen nach Deutschland schickte.



Carl Maria von Weber, ein Lebensbild von Max Maria v. Weber. Unter diesem Titel erscheint in der nächsten Zeit eine ausführliche Biographie des großen Meisters, die dessen Sohn zum Verfasser hat. Das Werk wird zwei Bände umfassen (nebst einem Nachtrag), von denen der erste die Darstellung der Jugend-, Lehr- und Wanderjahre, der zweite die der Meister- und Jochjahre enthalten wird. Außer den Familientraditionen, Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen, die sich schon in seinem Besitze befanden, hat der Verfasser durch siebenjähriges unablässiges Sammeln ein ganz ungemein reiches noch nie veröffentlichtes Material an Correspondenzen und Mittheilungen zusammengebracht, das ihm theils auf zahlreichen deshalb unternommenen Reisen, theils auf briefliche Anforderungen von Behörden und Privatleuten mit einer Bereitwilligkeit geliefert worden ist, durch die sich das warme Interesse an dem volksthümlichen Componisten und der pietätvollen Unternehmung des Sohnes deutlich documentirt hat.

Eingedenk des Goethe’schen Ausspruches, daß nur ein Gespräch über Musik noch unfördersamer sei als eins über Malerei, hat sich der Verfasser von musikalischen Reflexionen und kritischen Zergliederungen der Werke fern gehalten und war dagegen bemüht den Entwickelungsgang des Meisters aus den innerlich und äußerlich auf ihn einwirkenden Einflüssen mit möglichster Lebendigkeit darzustellen. Mehr, als es in einer uns bekannten Künstlerbiographie der Fall ist, hat er dabei die Wechselwirkungen zwischen Publicum und Künstler kräftig hervorgehoben.

Der Sohn ist bei Ausarbeitung dieses wichtigen Buches mit großer Objectivität verfahren, und sein Werk ist nichts weniger als ein Panegyrikus auf seinen Vater. Wer aber die glänzende Darstellungsweise dieses talentvollen Autors kennt, wird mit uns die Ueberzeugung haben, daß aus dieser Feder nur etwas ganz Ausgezeichnetes und durch und durch Fertiges zu erwarten ist. Wie wir hören, wird das glänzend ausgestattete Buch mit einem vortrefflichen Portrait des Meisters und einer Abbildung des Denkmals (beides Stahlstich) geziert werden.



Zum deutschen Nationalturnfest. Ein Gedanke, ein Gefühl wird es sein, welches die Tausende und Abertausende unserer lieben Leser nah und fern beseelen wird in dem Augenblicke, da sie dies Blatt zur Hand nehmen werden: der Gedanke an das festliche Leipzig, an die große Festgenossenschaft, die zur selben Stunde einzieht aus allen Gauen des Vaterlandes, an alle die erhebenden Scenen, von denen der Antritt eines großartigen Nationalfestes begleitet ist. So wird das dritte deutsche Turnfest ein Fest sein, an dem sich das ganze Volk weit und breit erhebt; mitfeiern und geistig miterleben soll es jeder deutsche Mann und jede deutsche Familie als ein Fest der Wiedergeburt unseres nationalen Bewußtseins und unserer unumstößlichen Zusammengehörigkeit. In diesem Sinne rufen wir allen unseren Freunden, die nicht mit uns feiern und jubeln können, zu: Seid froh im Gedanken an das Fest Eurer Brüder in Leipzig, vereinigt mit ihnen Eure Wünsche und Gelübde, daß sie emporsteigen zum weiten Himmelszelt als das Morgengebet eines großen, jugendlich erstehenden Volkes!

Die „Gartenlaube“ hat schon früher über den Verlauf des Festes berichtet. Seitdem hat sich kaum etwas Wesentliches in der allgemeinen Anordnung geändert, so daß unsern Lesern das Mittel geboten ist, die Festlichkeiten im Geiste zu verfolgen; wie es dann in Wirklichkeit geworden, wie der Himmel – und von ihm hängt ja ein großer Theil des Gelingens ab – auf das Fest herniedergeschaut: das Alles werden wir berichten, wenn der erste Festesjubel vorübergerauscht und die große Festgenossenschaft erhoben und gestärkt in das ruhige Geleis des Alltagslebens zurückgekehrt ist. Vorläufig verweisen wir – bis unsere, freilich erst in 14 Tagen erscheinende Schilderung erfolgt – auf die Berichte der „Festzeitung“.



  1. Man erzählte vom alten Bock eine Anekdote, die seine gänzliche Furchtlosigkeit veranschaulicht. Eines Abends hielt er eine Leiche in beiden Armen aufrecht, an welcher sein Professor R. ein feines Präparat herausarbeitete. Letzterer löscht das Licht aus. Er geht, um es wieder anzuzünden, und bittet Bock: „Die Leiche ja nicht aus den Händen zu lassen, damit nichts verderbe.“ In den Korridors des Paulinum forttappend findet er in einer Stube lustige Gesellschaft. Er muß ein Glas Grog mittrinken, muß sich einsetzen, einen Robber Whist zu spielen: seine schwache Seite! Endlich – nach einer Stunde – fällt ihm sein Profector ein! und dieser (Bock sen.) hatte während der ganzen Zeit mit der Leiche in den Armen gemüthsruhig im Finstern gewartet!
  2. K. Ch. Snell, über Zweck und Einrichtung eines Realgymnasiums. Dresden und Leipzig 1834.
  3. Der alte Körner trat später in preußischen Staatsdienst. Als ich die nun kinderlosen Eltern nach einigen Jahren in Berlin wieder besuchte, zeigten sie mir auch das kleine Miniaturgemälde, als die theuerste Verlassenschaft ihrer Emma, das letzte Zeichen der Liebe für ihren Vater, dessen Geburtstag sie nicht mehr erlebt hatte. Ich theilte ihnen mit, was ihre Tochter darüber noch mit mir gesprochen hatte, und so schenkten sie es mir, als dem Vertrauten ihres Vorhabens, damit es in Freundes Hand bleibe.