Erinnerungen an das dritte deutsche Turnfest zu Leipzig
Das waren herrliche Tage, die Leipzig und seine Gäste jetzt durchlebt haben.
Schon einmal sah man Deutschlands Söhne aus allen Gauen nach unserer Stadt ziehen; aber zu jener Zeit galt es nicht die friedliche Feier eines Freudenfestes, damals galt es die Befreiung unseres geknechteten Vaterlandes vom Drucke tyrannischer Fremdherrschaft. Die kampfesmuthigen Männer, welche in jenen Tagen zur blutigen Auferstehungsfeier deutscher Freiheit nach Leipzigs Fluren zogen, zählten nach Hunderttausenden, und viele Tausende von ihnen sollten das glorreiche Ende des heiligen Kampfes, den sie mit ihrem Bluten gewinnen halfen, nicht mehr sehen; aber sie starben freudig, denn sie gingen mit dem Bewußtsein hinüber, durch ihren Tod das neue Leben das Vaterlandes begründet zu haben.
Wie anders jetzt! Wieder waren es deutsche Männer und deutsche Jünglinge, die von allen Seiten hieher strömten. Die Vaterlandsliebe, welche die Kämpfer jener großen Zeit zu unsterblichen Helden weihte, sie beseelte auch die Festgenossen, die in Leipzigs Mauern einzogen; aber es galt jetzt keinen Kampf auf Leben und Tod, man wollte nur ein Fest der Liebe und der Eintracht, ein Verbrüderungsfest aller deutschen Stämme feiern.
Eine ausführliche Beschreibung dieses herrlichen Festes zu geben, ist hier wohl nicht möglich, denn sie müßte viele Bogen füllen, wenn sie nur einigermaßen den vorhandenen Stoff eingehend behandeln würde. Es sind daher auch nur, wie der Titel dieses Aufsatzes besagt, Erinnerungen, Erlebnisse, die ich, noch bewegt von dem mächtigen Eindrucke des Festes, hier niederlegen will. So manchem Festtheilnehmer werden die einfachen Schilderungen mangelhaft erscheinen, weil er vielleicht Momente darin vermißt, die gerade für ihn von unvergeßlicher Bedeutung waren. Von den Festgenossen aber will ich meine anspruchslose Arbeit auch nur als das leichte Gewebe betrachtet wissen, in welches sie die glänzenden Perlen ihrer eigenen Erinnerungen einfügen und dadurch das Ganze erst zu einem für sie werthvollen Angedenken gestalten mögen.
Wenn man von Seiten des Festausschusses auch eine sehr große Theilnahme der auswärtigen Turner am Feste vorausgesetzt hatte, so glaubte man damit, dieselbe auf die Zahl von ungefähr zehntausend anwachsen zu sehen. Es erwies sich aber sehr bald durch die massenhaft eingehenden Anmeldungen, daß jene Annahme weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben sollte, denn die Zahl der auswärtigen Festgenossen stieg bis auf sechszehntausend! Dazu kamen noch etwa viertausend Turner Leipzigs und der nächsten Dorfgemeinden, also zusammen nicht weniger als zwanzigtausend Festtheilnehmer!
Ueber die anfänglich schweren Sorgen des Wohnungsausschusses und wie dieselben mit jedem Tag leichter wurden und endlich in die Freude vollendetster Befriedigung ausschlugen, ist bereits Allgemeines und Einzelnes berichtet, weshalb wir hier sogleich zum Feste selbst übergehen können.
Am Morgen des Sonnabends (1. August) strahlte die Stadt im vollen Festschmucke, und die Spannung der Einwohner hatte ihren Höhepunkt erreicht, denn auf diesen Tag war ja das Eintreffen der Festgäste bestimmt, und den sehnlich Erwarteten schlugen alle Herzen schon jetzt lebhaft entgegen. Das Quartierbureau war auf dem reich geschmückten Rathhause eingerichtet worden, und unten auf dem Marktplatze wogten schon seit früher Morgenstunde dichte Massen auf und nieder, die ankommenden Turnerzüge, die ihre Gäste brachten, sehnsüchtig erwartend. Inmitten der Menschenmenge war jedoch ein großer freier Raum offen gehalten, der durch die 800 jugendlichen Turnschüler Leipzigs mit nicht genug anzuerkennender Energie begrenzt wurde; denn diese Knaben hatten der Aufforderung ihrer Lehrer, den eintreffenden Gästen als Führer nach ihren Wohnungen zu dienen, jubelnd Folge geleistet. Auf den fünf Bahnhöfen der Stadt waren aber Deputationen des Wohnungsausschusses und Musikchöre zum festlichen ersten Empfang der Festgenossen aufgestellt, und lauter, heilverkündender Jubel erschallte von allen Seiten, als in früher Morgenstunde die ersten zwar noch schwachen Züge der eintreffenden Turner mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen ihren Einzug in die Stadt hielten. Ihnen war es vergönnt, im Laufe des Tages Zeuge der sich immer mehr steigernden Herzlichkeit des Empfanges der ununterbrochen eintreffenden Zuzüge sein zu können, nachdem sie in den ihnen angewiesenen Wohnungen von Seiten ihrer freundlichen Wirthe auf das Freudigste begrüßt worden waren.
Wer aber möchte im Stande sein, die Gefühle der anlangenden Festgäste oder des ihrer an allen Bahnhöfen massenhaft harrenden Publicums in Worten wiederzugeben? Wer von den lieben Festgenossen wußte sich die Thränen zu erklären, die so vielen unter ihnen im Augenblicke der Ankunft bei all dem Jubel in die Augen traten? Das Willkommen, welches Allen ohne Ausnahme zugerufen wurde, kam aus aufrichtigem Herzen und fand um so leichter den Weg zum Herzen der Ankommenden, von denen so Viele im überwältigenden Hochgefühle dieser Augenblicke sich oft nur durch Schwenken der Hüte, oder mächtig hervorquellende Freudenzähren äußern konnten. O, versucht es nur, wenn Ihr nicht Zeugen oder Theilnehmer solcher Auftritte gewesen seid, diese Thränen zu bespötteln! Nicht rasche feurige Jünglinge allein waren es, auch über die Wangen ergrauter und in des Lebens Stürmen hart geprüfter Männer sah man diese Zähren rollen, aber fragt sie, ob sie sich dieser gewiß unvermutheten Gefühlsäußerung schämen, und Ihr werdet ein offenes Nein zur Antwort erhalten. Wie oft ist an jenem Tage gewiß insgeheim von verschiedenen Turngenossen sowohl aus dem leicht erregbaren Süden als auch aus dem ruhigen überdenkenden Norden auf dem Wege zur Stadt die Frage gestellt worden: Was haben wir gethan, daß Ihr uns wie Sieger nach einer gewonnenen Schlacht empfangt? Und hier ist die Antwort darauf: Brüder, wir feierten ein wahrhaft deutsches Fest; wir betrachteten Eurer Kommen als einen Beweis der echten treuen Vaterlandsliebe, und ist ein solcher friedlicher Sieg nicht weit eher eines Triumphzuges würdig, als die Niederwerfung eines Volkes, das wir nur aus diplomatischen oder dynastischen Gründen als Todfeinde zu betrachten gezwungen sind? Warum giebt es überhaupt auf Erden noch einen anderen Kampf als den der Seelengröße um die höchste Achtung?
Man glaube übrigens nicht, daß nur die Ankommenden jene überwältigende Regung fühlten; auch die harrenden Empfänger fühlten sich mächtig bewegt, und oft hatten Viele im ersten Augenblick für die Festgäste wohl auch nur den stummen Händedruck und das feuchte Auge als Willkommen, weil das, was das Herz bei solchen Begegnungen fühlt, viel zu erhaben scheint, um sich mit den alltäglichen Worten ausdrücken zu lassen. Der herzliche Empfang wirkte aber auch maßgebend auf die Festbestimmung der Gäste, die sich hier doch auf der Stelle wohl fühlen mußten, wo man sie mit so viel Herzlichkeit empfing.
Oft brachten die Extrazüge auf den Eisenbahnen tausend und noch mehr Turner auf einmal nach der Feststadt, und in stattlicher Reihe ging es dann hinein zur Stadt, ein Musikchor an der Spitze des Zuges. Besonders in den Abendstunden von sechs bis zehn Uhr trafen ohne Unterbrechung von allen Seiten die Turner ein, und man kann mit Bestimmtheit annehmen, daß in jener kurzen Zeit allein acht- bis zehntausend unserer Festgäste hier anlangten.
Unvergeßlich bleibt mir die Ankunft der Schleswig-Holsteiner. Als der sie bringende Extrazug signalisiert wurde, war das Publicum von dem zur Bequemlichkeit der Ankommenden immer frei gehaltenen innern Raum des Bahnhofs nicht mehr zurück zu halten, und Alles fluthete herein. Mit dem Liede „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ wurde der herannahende Zug empfangen, und tausend Hände streckten sich den geknechteten Landeskindern entgegen, ihnen treue Hülfe in der Stunde der Gefahr verheißend. Aber hat denn diese Gefahr seit einer langen Reihe von Jahre für sie auch nur einen Augenblick aufgehört? Sinnen nicht in derselben Stunde schon dänische Schergen eifrig auf die Rache, die sie an allen den Theilnehmern unsres großen Festes bei deren Rückkehr auszuüben gedenken? In den Thränen, welche die Schleswig-Holsteiner bei ihrer Ankunft hier vergossen, konnte man neben der freudigen Rührung wohl auch noch einen bittern Vorwurf für ganz Deutschland finden. Der Trauerflor, der noch immer die von ihnen entfaltete Fahne [543] überschattet, ist ein herzzerreißender Hülferuf, an ihre deutschen Brüder gerichtet, und ein Fluch für die niedrige auswärtige Diplomatie, welche im fernen Amerika oder in Asien weniger geknechteten Völkern mit scheinheiligem Edelmuthe Hülfe bringt, während sie hier der Knechtschaft eines hochherzigen Volkes den verdammenswerthesten Vorschub leistet. Einige der Schleswig-Holsteiner stimmten auf ihrem Zuge nach der Stadt das Lied an: „Eine feste Burg ist unser Gott!“ allein die stürmischen Zurufe des Publicums übertönten dieses heilige Zeugniß schmerzlicher Ergebung in ein unverdientes Schicksal, aber zugleich auch eines noch ungebrochenen Muthes. Ein Schleswiger äußerte zu einem sein inniges Mitgefühl lebhaft ausdrückenden Begleiter bitter lächelnd: „Wer kann dafür, daß wir keine Mexicaner sind?“ – Möge die Liebe, welche bei dem Feste dem schmachvoll unterdrückten Bruderstamme von allen Seiten so lebhaft entgegengebracht wurde, ein Beweis des tiefen Mitgefühls sein, das mit Sehnsucht der Gelegenheit harret, wo es zur kräftigen, helfenden That werden darf!
Auch die deutschen Brudervölker wurden auf das Herzlichste begrüßt, von welcher Seite her sie auch immer kommen mochten. Mit jedem ankommenden Zuge wuchs auch die Begeisterung der Einwohnerschaft, und wie Mancher bereuete jetzt, daß er aus irgend einem Grunde sich nicht zur Aufnahme von Turnern gemeldet hatte. Viele suchten diese Saumseligkeit jetzt dadurch gut zu machen, daß sie an die auf dem Markte aufgestellten und der Auslieferung der Festzeichen harrenden Turner herantraten und alle Ueberredungskunst anwandten, um Gäste mit sich heim zu nehmen, welche schon anderen Wirthen, die sich früher gemeldet, zugewiesen waren. Zuweilen gelangen wohl auch solche ungerechte Bestrebungen zum großen Leidwesen der jetzt daheim vergeblich auf ihre Gäste harrenden Wirthsleute, die nun oft auch bei dem Wohnungsausschusse ihre Klagen anbrachten. Am betrübtesten gebehrdete sich ein biederes Ehepaar, das bis zur sinkenden Nacht bei jedem auf dem Marktplatze eintreffenden Zuge die Reihen auf und ab nach seinen „vier Berlinern“ forschte, welche es sich in’s Quartier erbeten hatte. Die drei großen Berliner Extrazüge waren jedoch längst eingetroffen, und die sehnlichst erwarteten vier Söhne der Spreestadt mochten jedenfalls anderen wirthlichen Verlockungen nicht widerstanden haben, denn endlich gingen die betrübten Eheleute ohne Turner heim; sie haben aber aus Rache gleich am nächsten Morgen sich an einem anderen Bahnhofe postirt und dafür fünf als Nachzügler eintreffende Oesterreicher gekapert. Man sieht hieraus, wie rasch nationale Sympathie umzuschlagen vermag.
Die Fahnen der Vereine wurden stets nach dem großen Saale des Schützenhauses gebracht und hier von künstlerischen Händen entsprechend aufgestellt. Mehr als hundert Fahnen waren stets dicht bei einander gruppirt, und nahe an sechshundert Stück überhaupt abgeliefert worden. Die Schleswig-Holsteiner Fahne aber hatte für sich allein einen Ehren- oder wohl auch Trauerplatz in der Mitte des Saales erhalten; man mochte fühlen, daß der schwarze Flor sich unter den übrigen Fahnen gar zu betrübt ausnehmen würde, und man wollte vielleicht auch diese Mahnung an eine Blutschuld den hier anwesenden Söhnen Deutschlands recht deutlich vor Augen halten.
Von unbeschreiblichem Eindrucke war die officielle Empfangsfeierlichkeit in der achten Abendstunde des Sonnabends. Der wahrhaft glänzend eingerichtete und zauberisch erleuchtete Garten des Schützenhauses diente den eintreffenden Turnern als erster allgemeiner Versammlungsort. Hier fand die herzliche Begrüßung der Festgäste durch den Bürgermeister Dr. Koch, so wie durch den Vorsitzenden des Festausschusses, Bassenge, statt. Die aufrichtig gefühlten Worte wurden durch den Vorstand des Fünfzehnerausschusses, Th. Georgii aus Eßlingen, der zum Festpräsidenten erwählt worden war, eben so herzlich als patriotisch erwidert. Dem großen Vaterlande, der Turnerschaft, der Feststadt galten die mit Jubel aufgenommenen Worte, und nach dieser kurzen Feierlichkeit entfaltete sich hier ein reges Leben, wie es vorher wohl Niemand mochte vermuthet haben. Es waren ungefähr sechs- bis achttausend Turngäste in diesen Räumen versammelt, und unaufhörlich wogte diese Menge auf und ab. Hier fanden sich alte Freunde ganz unvermuthet, dort wurden neue Freundschaften schnell, aber trotzdem gewiß für die Dauer geschlossen. Ein engeres Beisammensein aller einzelnen Nationalitäten unseres Vaterlandes war nicht wohl zu denken, und wie rasch und aufrichtig befreundeten und verbrüderten sich hier die Vertreter aller Volksstämme! An einem Tische zum Beispiel saßen Ostpreußen und Südbaiern beisammen; sie erzählten sich ihre lustigen Reiseerlebnisse und fanden bald an einander das innigste Gefallen. Ein allgemeiner Brüderschaftstrunk wurde vorgeschlagen und von jeder Seite jubelnd aufgenommen. Der Weihekuß für Alle wurde zwischen dem ältesten Preußen und dem ältesten Baierländer ausgetauscht, und Letzterer konnte bei dieser Gelegenheit nicht umhin, Jenem zuzurufen: „Herzbruder, das gilt für die Ewigkeit! Aber ich hätte mir nimmer träumen lassen, daß Ihr im abscheulichen Norden droben dennoch so kreuzbrave Leut’ wäret. Nach unsern Zeitungsblättern freilich müßtet Ihr ganz anders ausschauen.“ „Für Menschenfresser haben wir Euch zwar nicht gehalten, aber so etwas halbwegs Duckmäuseriges stellten wir uns in Euch schon vor,“ entgegnete eben so offen der Preuße. „Jetzt sehen wir aber auch unser Unrecht ein und von Herzen bitten wir Euch um Verzeihung. Her mit der Hand!“ Allein der Baier bot die verlangte Hand nicht dar, dagegen zog er den neuen Freund an seine Brust, und die dabeisitzenden Genossen riefen wie aus einem Munde: Hoch unser ganzes, großes Vaterland! Und wie viele solcher erhebender Auftritte konnte man an jenem Abende sehen! Wie umdrängte man die anwesenden Vertreter des Londoner deutschen Turnvereins, von denen jedoch einige als Engländer blos erst deutsch zu turnen verstanden, aber nicht im Geringsten deutsch sprechen konnten. Mit Liebe und verdienter Hochachtung begegnete man den Siebenbürgen, welche nach einer fast wochenlangen Reise am ersehnten Ziele angelangt waren und hier den Beweis gaben, daß deutsche Sitte und Vaterlandsliebe auch mitten unter dagegen ankämpfenden Nationen sich bei edlem Charakter unverkürzt und unveränderlich zu erhalten vermag.
Gegen 11 Uhr Nachts kam erst noch die Mehrzahl der österreichischen Turner im Schützenhause an, nachdem sie vor etwa einer Stunde mit einem großen Extrazuge von Dresden her eingetroffen und so rasch als möglich ihre Quartiere in Empfang genommen hatten. Ihr Erscheinen erregte allgemeinen Jubel, der sich auch schon am Bahnhofe und bei ihrem mit Fackeln geleiteten Einzuge in die Stadt zu erkennen gegeben hatte.
Die Zuzüge dauerten am Sonnabend bis tief in die Nacht hinein, und immer suchten die Ankommenden noch die versammelten Turngenossen im Schützenhause auf, um an der allgemeinen Freude brüderlichen Beisammenseins wenigstens noch einen kurzen Antheil zu haben. Die an jenem Abende verlebten Stunden aber werden in eines Jeden Erinnerung fortleben, und Mancher wird sich in ihnen gewiß noch für trübe Tage in späteren Jahren Trost und Kraft suchen.
Der Sonntag Morgen bot ebenfalls freundliche Bilder in Menge überall dar. Der durch alle Straßen früh um 5 Uhr ertönende musikalische Weckruf fand so viele der Gäste eben nur in dem ersten Schlummer, und so Mancher mag vielleicht die ihn nur auf Augenblicke halbdeutlich umgaukelnden Töne für Bruchstücke einer Serenade gehalten haben. Der Weckruf wurde also in den meisten Fällen blos zu einem Wendepunkt für die unmittelbar darauf sanft fortträumenden Festschläfer.
Wo im Laufe des Vormittags auf der Straße und auf öffentlichen Orten Turner oder deren Wirthe einander trafen, da gab es immer blos dieselben Fragen, nämlich von Seiten der Ersteren: „wie gefällt Dir Dein Wirth?“ und von Seiten der Letzteren: „wie gefallen Dir Deine Gäste?“ Und immer wieder hörte man glücklicher Weise blos die beiden Antworten: „Ich hätte ein besseres Unterkommen gar nirgends finden können!“ oder: „meine Turner sind prächtige Leute, es thut mir nun doch leid, daß ich anfangs nicht noch mehr für mich ausdrücklich bestellt habe.“ – Diese allgemeine gegenseitige Zufriedenheit machte die Feststimmung zu einer wahrhaft gehobenen, die bis zum Ende der herrlichen Festtage unverändert anhielt.
Die Vormittagsstunden des Sonntags wurden hauptsächlich der Besichtigung der glänzend geschmückten Stadt gewidmet. Besonders war der Schmuck an Guirlanden und Fahnen ein überreicher, und in einzelnen gar nicht etwa sehr langen Gassen und Straßen zählte man 4 bis 500 Fahnen. Einen prächtigen Anblick gewährte das wahrhaft geschmackvoll verzierte, altehrwürdige Rathaus, und hier war der Glanzpunkt wieder eine unmittelbar unter der Thurmuhr angebrachte große rosettenartige Decoration, welche auf schwarz-roth-goldenem Grunde ringsherum und fast der Eintheilung der darüber befindlichen Uhr entsprechend das Wort „Willkommen“ enthielt. Diese Decoration ward zu beiden Seiten von Fahnen in [544] den Farben aller Bundesstaaten umgeben, und so ergab sich hieraus die höchst sinnige Erklärung des Ganzen von selbst: daß nämlich die hier zusammenströmenden deutschen Männer ohne Unterschied des engeren Vaterlandes in den Mauern Leipzigs und unter dem Schutz seiner Behörde zu jeder Stunde willkommen seien. Die Süddeutschen, welche Meister sind in der Kunst, ihre heimischen Volksfeste durch die sinnreiche Anbringung prächtiger Kernsprüche nicht wenig zu heben, werden freilich einen gleichen Schmuck hier fast allgemein vermißt haben, doch steht hierin unseren süddeutschen Brüdern längere Erfahrung und öftere Gelegenheit zur Erprobung solcher Künste zur Seite.
Besonders glanzvoll ausgestattet war der Eingang der Grimmaischen Straße, und einen nicht weniger günstigen Eindruck machte die Ausschmückung der Petersstraße, die zu beiden Seiten fortlaufende Reihen blumenumwundener und mit Flaggen gezierter hoher Masten zeigte. Viel Beifall fand die Festdecoration eines Eisenhändlers, welcher aus den verschiedensten eisernen Werkzeugen ein großes Tableau zusammengesetzt hatte, in dessen Mitte vier eiserne Winkelmaße die vier turnerischen F bildeten. Jahn’s und Arndt’s Büste waren zu beiden Seiten angebracht, und ringsherum zog sich als Inschrift der Anfang des Arndt’schen Liedes:
Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte!
Eine ebenso originelle Verzierung hatte, in einem nur wenig von den fremden Gästen betretenen Hausdurchgange, ein Eierhändler angebracht. Zwischen grünen Blättern glänzten lange Guirlanden von – Eiern in der Reihenfolge von schwarzer, rother und goldener Färbung. Diejenigen aber, welche diese seltsame Verzierung lächelnd betrachteten, ahnten vielleicht nicht, daß in jenem unscheinbaren Durchgange ein wahrhaft großartiger Eierhandel betrieben wird, der von Jahr zu Jahr zunimmt, und schon jetzt setzt der einfache, bescheidene Mann jährlich gegen 2½ Millionen Stück Eier um, die aus Schlesien, Westphalen und Thüringen hierher geliefert werden.
Auch am Sonntage trafen noch immer Turngäste ein und zwar darunter viele, die sich erst nachträglich entschlossen hatten. So wurde z. B. von den Nürnbergern Turnern der herliche und glänzende Empfang am Sonnabend Nachmittag voller Freude telegraphisch nach ihrer Heimath gemeldet, und dort entschlossen sich in Folge dessen noch eine Anzahl Nachzügler, auf der Stelle zu ihren Turngenossen in die Feststadt zu eilen. Nicht ohne einige Sorge wegen des Unterkommens, da sich sich vorher nicht angemeldet hatten, trafen sie hier am Sonntag ein, aber noch ehe sie den Weg vom Bahnhofe bis zur inneren Stadt zurückgelegt, waren sie auch sämmtlich bei freundlichen Bürgern, die sich sofort auf der Straße zu ihrer Aufnahme freudig erboten hatte, vortrefflich untergebracht. Mag auch die glänzende Aufnahme, welche die Nürnberger vor zwei Jahren den fremden Sängern bei ihrem großen Feste bereiteten, von Manchem als Grund für die Vorliebe für die biederen Bürger der alten Reichsstadt angeführt werden, so sind doch noch eine Menge ähnlicher Beispiele, welche andern Landeskindern begegneten, bekannt geworden, und der Wohnungsausschuß mußte oft genug die betrübte Klage einzelner Quartiergeber hören, daß die ihnen zugesicherten Turner nicht erschienen seien und höchst wahrscheinlich von anderen zungenfertigen Turnerfreunden ihren rechtmäßigen Wirthen abspenstig gemacht worden wären. Diese Klagen waren gewöhnlich nur durch zugesagten raschen Ersatz zu stillen.
Während auf dem im Schützenhause abgehaltenen Turntag Vereinsangelegenheiten besprochen und als Ort für das nächste allgemeine deutsche Turnfest 1866 Nürnberg gewählt wurde, fand draußen in der früher schon ausführlich beschriebenen Festhalle das erste große Festmahl statt, welches außerordentlich zahlreich besucht war. Die dabei ausgebrachten Toaste haben die verschiedenen politischen Tagesblätter schon berichtet, und es genügt deshalb wohl auch nur die Bemerkung, daß alle von Begeisterung für das große, allgemeine Vaterland durchweht waren. Dem Könige von Sachsen, der beim Fest leider nicht erschien, übersandte die Turnerschaft Deutschlands auf telegraphischem Wege ein aufrichtiges Gut Heil und erhielt dafür auf gleiche Weise einen Dank zurück.
Weit über funfzig telegraphische Festgrüße, darunter deren aus Amsterdam, Triest, Reval, Worms, Memel, u. s. w., gingen während der Festtafel ein, aber bei Ausdehnung der Festhalle und der Menge an Theilnehmern verhallte so manches bedeutende Wort, so mancher tief-ernste Gruß ungehört, oder war nur für die der Rednerbühne zunächst Sitzenden vernehmbar. Dagegen war der gesellige Verkehr zwischen den Festgenossen ein ungemein belebter, und als die charakteristische Seite des sich schon jetzt immer herzlicher gestaltenden festlichen Verkehrt muß hervorgehoben werden, daß nicht etwa ein ängstliches Bestreben nach der ausschließlichen Vereinigung von Landsmannschaften hervortrat, sondern daß man grade mit richtigem Takte die nationale Bedeutung einer solchen großartigen Zusammenkunft in dem innigsten Verkehr der sonst durch weite Länderstrecken von einander getrennten Festgenossen suchte. Man darf in dieser Hinsicht wohl blos an das echt freundschaftliche Band erinnern, welches während der ganzen Festtage die Schleswig-Holsteiner mit den Tyrolern vereinigte; doch gab es solcher Beispiele im Großen und Einzelnen noch viele, während von einem selbstsüchtigen Abschließen oder einem stolzen Zurückziehen auch nicht die geringste Spur zu bemerken war.
Wie fast bei allen großen Festen die Turner und Sänger sich einander mit brüderlicher Hülfe unterstützen, und wie auf diese Weise eine Art von Zusammengehörigkeit Beider sich herausgestellt hat, so waren auch die Sänger Leipzigs (900 an Zahl) zusammengetreten, um durch eine große musikalische Aufführung in der Festhalle am Sonntag Abend den gesammten Festgästen eine Huldigung darzubringen. Ein für diese Gelegenheit eigens bestimmter Festgruß eröffnete die musikalische Feier, welche den Gästen meistentheils die vorzüglichsten Compositionen anerkannter deutscher Tondichter vorfürhte. Leider verhinderte jedoch die auf akustische Wirkung nicht berechnete Bauart der Festhalle die von der Sängertribüne entfernter Sitzenden, den musikalischen Vorträgen zu folgen; dagegen wurde von dem näher befindlichen Festpublicum den Sängern enthusiastischer Beifall gezollt.
Während des ganzen Tages war aber auch draußen auf dem kolossalen Festplatze und in den verschiedenen hier errichteten Restaurationen ein außerodentlich reges Leben. Ueberall sah man die Turngenossen im freundschaftlichen Verkehr mir den Bürgern und deren Familien; auf Aller Mienen war mit glänzenden Zügen zu lesen, welch herzliches Wohlgefallen man aneinander fand. Die Turner gaben fortwährend ihre ungeheuchelte Freude über die ihnen von allen Seiten entgegengebrachten Aufmerksamkeiten zu erkennen, und die Bewohner der Stadt erklärten ebenso offen, daß auch selbst ihre kühnsten Erwartungen durch das Fest schon jetzt übertroffen seien. Wo war nun die Scheu hin, welche noch vor so kurzer Zeit mancher Bedenkliche vor dem Feste gehabt hatte? Wenn es aber wirklich hier und da immer noch erst halbbekehrte Gegner des schönen Festes geben mochte, so sollte auch für diese am morgenden Tage das Stündlein der reuigen Umkehr schlagen.[1]
[556]Auf die Mittagsstunde des Montags war der große Festzug angesetzt, und mit nicht geringen Erwartungen sah man demselben entgegen, da er eigentlich gleichsam der Weiheact für das ganze Fest sein sollte.
Seit den frühesten Morgenstunden strömten der Stadt Tausende von Gästen zu, welche Zeugen der herrlichen Feier sein wollten. Alle Geschäfte ruhten, weil man diesen Tag als einen Festtag in der wahrsten Bedeutung des Wortes betrachten wollte. In den Straßen wogte es auf und nieder; die herbeigekommenen Fremden staunten den reichen Schmuck der Häuser an; Turner in ihren einfachen Anzügen eilten in Massen auf die ihnen angewiesenen Sammelplätze, wo schon seit geraumer Zeit die ihrer Würde sich stolz freuenden Leipziger kleinen Turnschüler aufgestellt waren, welche Standarten mit den Namen derjenigen Städte trugen, die zum Feste Turngenossen hierher gesandt hatten.
Um wenigstens hier eine kurze Uebersicht der Betheiligung zu geben, sei nur bemerkt, daß aus etwa 830 Ortschaften Turner zum Feste anwesend waren. Die deutschen Turnvereine vertheilen sich auf 15 Kreise, und unter diesen hatte das Loos die Reihenfolge beim Zuge entschieden. Dem vierten Kreise (Norden) war die erste Nummer zugefallen, und der vierzehnte Kreis (Sachsen) bildete als derjenige, in dessen Gebiete das Fest gefeiert wurde, natürlich den Schluß des Zuges. Bekanntlich hat nirgends das Turnen einen günstigeren Boden gefunden als in Sachsen; 150 Ortschaften [558] des kleinen, aber stark bevölkerten Staates hatten über 5000 Festgäste gesandt; wenn man nun hierzu die Turner Leipzigs (2350) und die der nächsten Umgebung, unter dem Namen: Verband der Turnvereine des Leipziger Schlachtfeldes (2442) rechnet, so waren etwa 10,000 sächsische Turner bei dem Zuge. Hiernach war der dritte Kreis Mark und Pommern nebst dem größten Theile der preußischen Provinz Sachsen am stärksten und zwar durch 3800 Turner vertreten; der dreizehnte Kreis, Thüringen, hatte weit über 2000, und der funfzehnte, Oesterreich, fast 1300 Turner gesandt. Der auswärtigen Festgäste waren ungefähr 16,000, und wenn man die obenbezeichneten 4800 Turner Leipzigs und der Umgegend dazu rechnet, so stellt sich die Stärke des ganzen Zuges auf 21,000 Mann! Ein Festzug von gleicher Stärke war bisher wohl noch nie dagewesen, aber nicht nach seiner Größe, sondern nach seinem Wesen muß man ihn beurtheilen, und auch hierin dürfte er wohl unerreicht dastehen. Da war kein deutscher Stamm, kein einziger Staat des großen Bundes unvertreten, und alle waren in Liebe und Eintracht vereinigt.
Zur Aufstellung des riesigen Zuges war ein mächtiger Flächenraum erforderlich, und derselbe erstreckte sich nicht nur fast um die ganzen breiten Promenaden und Plätze, welche die innere Stadt umgeben, sondern einzelne Turnerkreise mußten sich bis in die Straßen der Vorstädte ausdehnen. Die Anordnung des Ganzen war jedoch so vortrefflich, daß bei dem Einrücken der verschiedenen Abtheilungen nicht die geringste Störung eintrat. Mit dem Schlage Zwölf setzte sich der Zug in Bewegung; das Geräusch in den Straßen, welche er zuerst berührte, verstummte plötzlich und machte einer fast lautlosen, erwartungsvollen Spannung Platz. Kaum hatte aber die Spitze des Zuges die Stadt betreten, so brach auch mit einem Male ein Jubel los, der keine Grenzen kannte. Von der Straße her, aus den dicht besetzten Fenstern rief man den Heranziehenden Willkommen und endlose Lebehochs zu. Die Männer schwenkten die Hüte, und Frauen und Mädchen wehten mit den Tüchern. Alle diese Freudenbezeigungen wurden aber von einem unaufhörlichen Blumenregen begleitet, der sich aus allen Fenstern herab und von den Zuschauern auf der Straße über den Zug ergoß. Kostbare Blumensträuße, prächtige Kränze wurden gespendet, und die Glücklichen, welche diese duftenden Liebesgaben auffingen, dankten mit jubelndem Gut Heil! Dieser turnerische Freudengruß brauste wie ein unaufhörlicher Donner von der Spitze des Zuges bis zu dessen Ende und ward in gleicher Weise von der zahllosen Menge der Zuschauer erwidert. Wenn man aber die Straßen, durch welche der Zug ging, hinauf oder hinab sah, so flatterte es ununterbrochen in der Luft von Blumen, als wollte man damit die dahinziehenden Festgäste überschütten. Noch lange nachher bezeichnete eine breite Bahn von zertretenen Blumen deutlich den Weg, den der Jubelzug genommen hatte. Viele der schönen Blumenspenderinnen hatten in ihrer Freigebigkeit nicht bedacht, daß dieser gewaltige Zug eine Länge von fast zwei Stunden einnahm, und mit innigem Bedauern sahen Manche den reichen Blütenvorrath doch bald erschöpft. Allein auch die Freude und Wonne kann erfinderisch sein, und so flatterte bald hier eine Bandschleife, da wieder die künstlichen Blumen des Kopfputzes auf die vorüberziehenden Turner herab, und jauchzend wurden diese Trophäen auf die Hüte gesteckt. Als in dem Geschäftslocal eines Thüringer Fabrikanten dessen Angehörige ihren Blumenvorrath zu Ende gehen sahen, öffneten sie, um nicht mit leeren Händen die braven Turner vorüberziehen zu sehen, eine Waarenkiste, und nun flogen bunte wollne Häubchen, Kinderstrümpfe, Shawls und dergleichen auf die Straße hinab, zum nicht geringen Ergötzen der Zugtheilnehmer und des Beifall rufenden Publicums.
In anderen Straßen wußte man sich auf eine nicht minder erfinderische Weise bei dem eintretenden Mangel an Blumen dadurch zu helfen, daß man die vor den Fenstern stehenden Blumenstöcke hinabtrug und sie den lieben Turngästen überreichte. Viele dieser duftenden Angedenken sind mit ihren neuen Eigenthümern in die ferne Heimath gewandert, und dort werden sie gewiß zur Erinnerung an das herrliche Fest sorgsam gepflegt.
Aber auch Erfrischungen wurden den in der glühenden Mittagshitze dahinziehenden Turnern in Menge gereicht. Auf der Straße drängten sich oft Männer und Frauen durch die Reihen der Zuschauer und brachten bald Wein, bald Bier als Labetrunk herbei; andre vertheilten ganze Batterien von Flaschen mit kohlensaurem Wasser. Einer der eifrigsten Wohlthäter hatte sich sogar mit einer großen Tonne Bier dicht am Wege postirt und füllte die im Zuge befindlichen großen Trinkhörner so lange, bis er traurig gestehen mußte, daß sein Vorrath zu Ende sei. Dort wurde wieder perlender Rheinwein kredenzt, und oft genug sah man aus den Fenstern an langen Schnuren Flaschen mit Wein auf die Straße hinabschweben, die unten von den Turnern jubelnd in Empfang genommen und auf das Wohl der Geber und der gastfreundlichen Stadt geleert wurden.
Auch die Kinder stimmten in den Jubel ein, und rührend war es, von ihren klaren, hellen Stimmen das freudige Gut Heil! ertönen zu hören. Manche von ihnen wollten aber nicht blos unthätige Zuschauer bleiben, und mehr als einmal sah man, daß sie ihr Liebstes, buntes Spielzeug, opferten und dies den Turnern hinabwarfen, da sie glaubten, daß diese darüber eine ganz besondere Freude haben müßten.
Großen Enthusiasmus erregte es, als ein junges, reizendes Mädchen, mit oder ohne Absicht (ich glaube an das erstere!), ihr Taschentuch in den Zug hinabwarf. Ein gewandter Fahnenträger fing das Tuch geschickt auf und befestigte es sofort an der Spitze seiner Fahne, wo es, wie er laut versicherte, für immer seinen Ehrenplatz behalten sollte. Aber das Tuch war auch dieses Ehrenplatzes würdig, denn es hatte Thränen der Freude und Begeisterung von den schönen Augen einer deutschen Jungfrau getrocknet. Wie Mancher trüge ein solches Kleinod nicht voll Entzücken auf dem Herzen!
Die Thränen im Auge jener lieblichen Jungfrau waren jedoch nicht die einzigen, welche dem Zuge geweiht wurden. Ich möchte im Gegentheil behaupten, daß nur wenig Augen ganz trocken geblieben sind. Der Eindruck dieses Triumphzuges heißersehnter Eintracht war so überwältigend, daß sich wohl Niemand ihm ganz entziehen konnte. Selbst Solche, die noch kurz vorher das Fest ignorirt oder ihm eine nachhaltige Bedeutung abgesprochen hatten, fühlten ihren Spott besiegt, und ihre Gleichgültigkeit wurde in Theilnahme verwandelt. Ja, es war etwas Erhabenes, einundzwanzigtausend Söhne eines großen, ehrwürdigen, wenn auch zersplitterten Reiches, von reinster Vaterlandsliebe begeistert, unbekümmert um den ehrgeizigen Hader der Cabinete, sich die deutsche Bruderhand reichen zu sehen. Wo war hier, zwischen den Söhnen des Volkes, jene Kluft zu sehen, welche die Staatsweisheit wie eine häßliche, todbringende Wunde künstlich offen zu erhalten sucht?
Den Zug eröffneten die Mitglieder des Fünfzehnerausschusses und der zahlreiche Festausschuß, dem in Anerkennung seiner rastlosen Bestrebungen und Mühen mancher Kranz unter donnernden Lebehochs zugeworfen ward. – Ehe noch die 15 Turnkreise Deutschlands folgten, hatte man den Turnern des Auslands den Ehrenplatz angewiesen; doch konnte man sie nicht alle als eigentliche Ausländer betrachten, denn die Mehrzahl der Schweizer sind durch die heiligen Bande gleicher Sprache und Sitten unsere Bundesbrüder, und im ganzen großen Zuge gab es sicher nicht aufrichtigere Deutschgesinnte, als jene braven fünf Siebenbürgen, die von Kronstadt gekommen waren, um am Feste Theil zu nehmen. Sonst war noch Italien durch Pisa, Holland durch Rotterdam (10 Mann), England durch London (12 Mann), Rußland durch Dorpat und Reval, Amerika durch St. Louis und Hoboken und Australien durch Melbourne vertreten. Die Londoner hatten ihre prachtvolle Fahne mit über den Canal gebracht; Amerika wußte sich auf andere Weise zu helfen. Als der Zug nämlich durch eine der ersten Straßen passirte, sah man an einem Fenster auch eine amerikanische Flagge, welche einer Ruderbootgesellschaft junger Leute gehörte und zum Schmuck vom Boote in die Stadt verpflanzt war. Als die Amerikaner dies sahen, eilten sie aus dem Zuge hinauf in jenes Haus, erbaten sich und erhielten die Fahne, und nun wehte auch das Banner der Union im Zuge. Wohl hatte sie ein Recht auf diesen Platz, denn wie vielen bedrängten Deutschen wurden die amerikanischen Freistaaten das zweite Vaterland, und Tausende unserer Landsleute haben diese große Schuld jetzt durch ihr im Kampfe für die gerechte Sache des Nordens vergossenes Blut abgetragen.
Bei der Verloosung der Zugreihenfolge hatte der vierte Kreis (Norden) den ersten Platz erhalten, und so gingen wie ein Mahnruf für ganz Deutschland die Schleswig-Holsteiner voran. Dieselben Männer und Jünglinge wären mit gleicher Freude auch in den heiligen Kampf für ihr mit Füßen getretenes Vaterland gezogen, und wo ist der Deutsche, der sich ihnen nicht begeistert anschließen [559] möchte! Der brausende Zuruf der unabsehbaren Menge war Bürge dafür. Möge der Trauerflor von der blau-weiß rothen Fahne beim nächsten großen Turnfeste Deutschlands verschwunden sein!
Wie viel rührende und erhebende Scenen boten sich aber auch im Publicum selbst dar! – An einer Straßenecke stand auf einer Erhöhung ein ehrwürdiger Greis mit entblößtem Haupte, das nur von wenigen Silberhaaren noch umspielt wurde. Die zitternde Rechte schwenkte mit sichtlicher Anstrengung den Hut zum Willkommen der vorüberziehenden Turner, und das Tuch in der Linken wurde oft zu den Augen geführt, die dem würdigen Alten vor freudiger Rührung übergingen. Die beiden Ordensbänder im Rocke zeigten, daß der Greis vor vielen Jahren seine Kräfte der Befreiung des Vaterlandes geweiht hatte, und bald sollte eine lebendige Erinnerung an jene gewaltige Zeit an ihm vorüberziehen. Als der Brehnaer Turnverein nahete, sah man unter den Mitgliedern desselben einen alten Invaliden in preußischer Uniform, der von zwei jüngeren Turnern geleitet daherschritt und den der endlose Jubel fast zu verjüngen schien. Wie jener Greis den alten Kriegsgenossen erblickte, da richtete auch er sich höher auf und anstatt des Gut Heil rief er mit aller Anstrengung seiner Stimme ein dreimaliges Victoria! hinüber. Zwar verschlang der allgemeine Jubel diesen Siegesruf, aber mein Freund, welcher dem Greise zunächst stand, stimmte in den Ruf mit ein, und glänzenden Auges reichte Jener ihm die zitternde Hand wie zum Danke. „Der Ruf paßt wohl eigentlich nicht recht hierher,“ meinte der Greis. – „Im Gegentheil,“ erwiderte mein Freund, „es ist ein großartiger Sieg über die unselige Spaltung der deutschen Stämme, der heute ohne Blut errungen wird und dem hoffentlich noch andere folgen werden. Wir sollten heute alle Victoria! rufen.“ – „Mir kam dieser Ruf nur so unwillkürlich aus dem Herzen, als ich jenen Invaliden so mitten zwischen dem jungen kräftigen Nachwuchs daherschreiten sah,“ sprach der alte Herr weiter. „O, ich kenne den Mann recht wohl, ’s ist ein preußischer Landwehrmann, der vor fünfzig Jahren dem blutigen Feste bei Leipzig auch mit beiwohnte. Ich habe ihn heute schon gesprochen, ehe der Zug begann. Ach ja, lieber Herr, es ist noch etwas Anderes als die Freude über Deutschlands kräftige Jugend, die mir altem Manne Thränen abpreßt, deren sich ein ergrauter Soldat doch wohl erwehren sollte. Aber die Erinnerung an jenen Einzug, dem ich als kräftiger Krieger vor fünfzig Jahren hier in denselben Straßen nach dem errungenen Siege über den Erzfeind beiwohnte, sie ist es, die mich so weich stimmt, die Erinnerung an meinen besten Freund und treuesten Cameraden, den ich hier an meiner Seite sterben sah. Es war ein furchtbarer Tag, jener 19. October 1813, überall Blut und nichts als Blut, grenzenlose Verwüstung, unendlicher Jammer! Ich war auch Landwehrmann, lieber Herr, und wir zogen genau an derselben Stelle in die Stadt ein, wo heute dieser Friedenszug sie betrat; aber damals stand dort noch ein hohes finsteres Thor, durch das wir uns hindurchdrängen mußten. Aus den Fenstern aller Häuser und in allen Straßen tönte uns auch endloser Jubel entgegen, denn man begrüßte uns als Befreier; aber das waren keine festtäglich geputzten Menschen, sondern bleiche, abgehärmte, hungernde Gestalten, von denen viele selbst schon dem Tode verfallen schienen. Blumen und Kränze gab es auch nicht, mit denen man uns den Weg bestreuete, aber Kugeln und Waffenstücken, die der fliehende Feind weggeworfen, lagen genug da. Die Straßen, welche wir durchzogen, wurden jedoch hinreichend bezeichnet, denn unter uns waren Viele, denen bei jedem Schritte das Blut aus den noch unverbundenen Wunden träufelte. An Schmerz und Blutverlust dachte aber in jenem Siegestaumel kein Mensch, es war Alles vergessen, und der Donnerruf Victoria! drang hunderttausendfach gen Himmel. Ich habe damals wacker mit gerufen, so schwer es mir auch wurde, denn an meiner Seite schleppte sich, von mir nach Kräften unterstützt, mein bester Camerad mühsam hin. Aus drei Wunden blutete er, zwei davon waren im linken Arm und eine Kugel hatte ihn in die Seite getroffen; ich schämte mich fast, daß ich weiter nichts als den Hieb über die Stirn – Sie sehen die Narbe noch hier oben! – aufzuweisen hatte. Mein Camerad wurde von Secunde zu Secunde schwächer, ich wollte mit ihm aus dem Gliede treten, aber dazu war er nicht zu bringen. Er habe noch Kräfte genug, meinte er, und des Sieges wollte er sich aus voller Seele freuen. Da bogen wir um die Ecke des Marktplatzes, und dort empfing uns neuer Jubel; unaufhörlich wurde den Siegern Hurrah zugerufen. Da erhob sich mein Freund plötzlich wie mit neuer Kraft, er machte sich von meinem stützenden Arme frei, richtete sich hoch auf und rief dreimal mit wahrer Löwenstimme: Victoria! Dann aber sank er neben mir zusammen; diese Anstrengung war seine letzte gewesen – mein bester Camerad lag todt neben mir! Um den Todten bekümmerten sich aber die Anderen nicht, sondern es hieß nach wie vor: Victoria! Was war auch ein Menschenleben in jener Zeit, wo der Tod seine Ernte nach Tausenden zählte!“
Welcher Contrast zwischen jenen furchtbaren Stunden und dem friedlichen Jubel am heutigen Tage! Und doch wurde jetzt wie damals ein Sieg gefeiert. Das Siegesgeschrei von heute hieß jedoch nur Gut Heil! und der Weg ging nicht durch Blut, sondern über Blumen.
Schon aber ertönte immer wieder neuer Freudenruf, der den massenhaft anrückenden sächsischen Landsleuten galt. Allgemeinen und wohlverdienten Beifall fand das Trompeter- und Trommlerchor der Knaben, welche dem Bornaischen Turnvereine zugehörten. Hatten doch auch die Leipziger Turner, welche den Schluß des Riesenzuges bildeten, aus ihrer Mitte in wenigen Wochen ein vortreffliches Trommlerchor rekrutirt, und der demselben voran schreitende schweizerische Tambourmajor warf seinen gewaltigen Stab während des Marsches haushoch in die Luft, denselben stets wieder mit bewunderungswerther Geschicklichkeit auffangend.
Aber nicht solchen Einzelnheiten galt der Zuruf, welcher die Luft erschütterte, er galt dem erhabenen Ganzen, der Vereinigung deutscher Söhne aus allen Gauen des großen Vaterlandes. Die Begeisterung und Liebe, die man ihnen entgegen brachte, ist gewiß die schönste Erinnerung, welche die Festtheilnehmer für alle Zeiten bewahren werden.
Die Spitze des Zuges, von Kanonendonner begrüßt, erreichte den Festplatz, während die letzten Abtheilungen von ihren Sammelplätzen sich erst in Bewegung setzen konnten. Auch auf dem Festplatze war der Empfang ein enthusiastischer, denn Tausende harrten dort schon längst der Ankommenden. Die Masse der kostbaren Fahnen ward nun oben im Mittelschiff der riesigen Festhalle angebracht und verlieh dieser ein herrliches Ansehen. Einige Vereine trugen anstatt der ihnen noch fehlenden Fahnen junge Eichbäume ihren Zugabtheilungen voran. Ein Berliner Verein führte einen kleinen Tannenbaum mit sich, der mit kleinen deutschen Fahnen geschmückt war. Wohl keine der prachtvollen Fahnen aber war zu sehen, die nicht während des Zuges mit einem oder mehreren Kränzen geschmückt worden wäre.
Auf dem großen Festplatze waren 720 Turngeräthschaften aufgestellt, und inmitten denselben befand sich der freie Raum für die Freiübungen, so wie das zu den Feuerwehrübungen bestimmte Steigerhaus, welches zugleich nach einer Seite einen großen Balkon für die Festredner, Preisvertheilung u. s. w. aufwies. Als nun die Turnerschaaren vereint standen, da ergriff ein Mitglied des Fünfzehnerausschusses, Dr. Goetz aus Lindenau, das Wort, um in eindringenden Worten die Bedeutung des Festes, den Werth des Turnens zu schildern, ein freies, einiges Vaterland als das höchste Ziel aller Bestrebungen bezeichnend.
Unmittelbar hierauf traten über 7000 Turner zu den Freiübungen an. Ueber die ausgezeichneten Leistungen der Festturnerschaft ist bereits so viel anderwärts berichtet, daß wir hier billig darüber hingehen können. Unvergeßlich wird ohnedies der Augenblick bleiben, wo die vierzehntausend erhobenen Arme mit einem Male an die Körper gleichmäßig niederfielen und ein Geräusch entstand, das sich am besten mit dem Knattern des Kleingewehrfeuers vergleichen läßt. Der Abend des Montags schloß mit einem Nachtmanöver der Leipziger Feuerwehr.
Konnte man den Verkehr auf dem Festplatze bereits am gestrigen Tage einen freundschaftlichen nennen, so gewann er heute nur noch immer mehr an Herzlichkeit. In der Festhalle, wo des Abends Concert stattfand, hatten 6000 Menschen Platz zum Sitzen, aber die Summe der Anwesenden stieg zu jener Zeit auf das Doppelte, weil sich in dem breiten Mittelgang, an den Seiten und zwischen den Tischen ebensoviel hin und her drängten. Oft stockte der Verkehr ganz, doch da wußten die Turner schnell Rath; einer legte beide Hände auf die Schultern des Vormannes, und auf gleiche Weise ging es fort in endloser Reihe, die sich nun wie eine Schlange durch die dichte Menge leicht Bahn brach.
Die Standarten mit den Städtenamen, welche im Zuge den betreffenden Turnern vorangetragen wurden, waren denselben fortan [560] überlassen, und nun sah man sie theils in der Festhalle, theils in den Restaurationslocalen auf dem Festplatze aufgepflanzt, um den Sammelplatz für die Turngenossen jener Städte zu bezeichnen. Man würde sich indeß sehr getäuscht haben, wenn man die in der Nähe einer solchen Standarte Sitzenden immer ohne Ausnahme für Söhne der bezeichneten Stadt halten wollte, denn eine solche Absonderung hätte dem Charakter des schönen Festes auch geradezu widersprochen. Es war im Gegentheil eine fortwährende fröhliche Wanderschaft, auf welcher man dem ganzen deutschen Reiche seinen Besuch machte, und überall sah man, wie sich der Norden mit dem Süden und wie sich Ost und West verbrüderten. Die wenigen Tage des Beisammenseins wollte man nützen, um sich Alle zu Freunden zu machen; denn wie bald lagen ja wieder Hunderte von Meilen trennend zwischen den hier so eng vereinten Festgenossen! Wie begeistert aber wurden überall, wo sie sich nur zeigten, die hervorragenden Männer der Wissenschaft, der Dichtkunst und der Volksvertretung aufgenommen! Die Schleswig-Holsteiner besonders waren es, die nicht müde wurden, den Größen deutschen Geistes ihre Huldigungen darzubringen; sie glaubten dadurch am eindringlichsten das ganze Brudervolk zu ehren.
Immer inniger war aber auch der Verkehr zwischen den lieben Gästen und ihren glücklichen Wirthsleuten geworden, und wo man nur fragte, überall hörte man die herzlichsten Versicherungen gegenseitiger Zufriedenheit. Auf dem Festplatze suchte man sich auf und war glücklich, wenn man sich fand, um auch hier einige Stunden gemeinschaftlich verbringen zu können. War dann die Mitternachtsstunde gekommen, wo der Platz sich leerte, dann suchte man wieder das gastliche Obdach auf, sich freudig der herrlichen Eindrücke des Tages erinnernd. War aber ein Turner, dessen zögernder Schritt in den Straßen die Unkenntniß der fremden Stadt verrieht, so brauchte er den Heimweg nicht erst bittend zu erfragen, sondern auf der Stelle waren heimkehrende Bewohner der Stadt bereit, die fremden Gäste bis an Ort und Stelle zu bringen.
Es war jedoch nicht allein die Stadt, welche sich so bereitwillig zur Aufnahme der fremden Turner erboten hatte, auch die umliegenden Dörfer wetteiferten hierin mit der großen Nachbarin auf die edelste Weise. Diese Dörfer gleichen aber sowohl an Ausdehnung als an Bauart ansehnlichen Landstädtchen, und die dort einquartierten Turner waren über den festlichen Empfang und die reiche Ausschmückung in jenen Ortschaften nicht wenig erstaunt. Mehrere dieser Dörfer, besonders aber Eutritzsch, hatten zur Nachtzeit auf dem ganzen Wege von der Stadt an in gewissen Entfernungen oder an Kreuzwegen Posten aufgestellt, welche die heimkehrenden Turngäste zurechtwiesen, gewiß eine anzuerkennende Opferfähigkeit, die solch ein Nachtwachposten voraussetzen läßt.
Ein ebenso origineller als komischer Aufzug versetzte am Dienstag diejenigen, welche so glücklich waren, ihn beobachten zu können, in die größte Heiterkeit. Es wird gewiß Niemand auffällig erscheinen, daß sich unter den sechszehntausend fremden Turnern eine ziemliche Anzahl befanden, die trotz des Turnens einen ganz beträchtlichen Leibesumfang zeigten und die vielleicht das Turnen theilweise als wirksames Gegenmittel der Körperfülle betrachteten; im letzteren Falle war freilich von einem großen Erfolge bei den Betreffenden noch nichts zu bemerken, wenn man nicht Einsicht in die Gewichtaufzeichnungen ihrer Vergangenheit nehmen konnte. Jeder dieser dicken Herren hatte daheim wahrscheinlich gefürchtet, er möchte der einzige dicke Turner sein, der zum Feste in Leipzig erscheinen würde, und man kann sich deshalb auch die Freude und Beruhigung jedes Einzelnen vorstellen, als er unter den Turngenossen noch eine ziemliche Anzahl dicker Leidensgefährten antraf. Da nun gemeinschaftliche Leiden die Herzen fast noch rascher binden, als gleiche Freuden, so wird ein rasch geschlossener Sonderbund der Dicken leicht erklärlich scheinen. Der Gewichtigste unter ihnen, ein trotz seiner gewaltigen Körperfülle ungemein lebendiger und heiterer preußischer Gutsbesitzer, hatte schon am Montage den Plan gefaßt, die zum Feste anwesenden wohlbeleibten Turner auf einem Platze zu versammeln, und man hatte für den nächsten Morgen den unmittelbar vor dem Polizeiamte gelegenen Naschmarkt bestimmt. Hier war nun eine Brückenwage aufgestellt und das Minimalgewicht, welches zum Eintritt in die „dicke Riege“ berechtigte, auf 180 Zollpfund festgesetzt. Jeder erscheinende Adspirant mußte sich der Gewichtsprüfung unterziehen; die Mindergewichtigen wurden von dem dicken Gutsbesitzer der Ehre, in die dicke Riege eintreten zu können, für untheilhaft erklärt, denjenigen aber, die 50 oder gar 100 Pfund Uebergewicht aufwiesen, wurden die Ehrenplätze zugetheilt, und dann setzte sich der ganze Zug, der 40 bis 50 Mann zählen mochte, unter dem Jubel der Zuschauer in Bewegung hinaus nach dem Festplatze, wo sie im Schweiße ihres Angesichtes anlangten. Die von ihnen später abgelegten Proben turnerischer Befähigung sollen zum Theil überraschendsten Resultate ergeben haben; noch mehr aber erwarb sich ihr liebenswürdiger Humor Aller Herzen, und man wurde lebhaft an Silen erinnert, als einer der dicken Herren sich auf ein Faß setzte und mit diesem auf den Schultern von vier seiner kräftigen Genossen in Triumph über den Festplatz getragen wurde, wobei er in improvisirten Versen der Feststadt und der Turnerei, das mächtige Trinkhorn schwingend, ein Hoch brachte.
[567]
Im Festleben bot auch der Dienstag viel des Interessanten. Die Morgenstunden auf dem Festplatze waren dem Schauturnen des Leipziger Turnvereins gewidmet, und am Mittag fand in der Halle das zweite Festessen statt. Man konnte dasselbe eigentlich als das Abschiedsmahl der Festgenossen betrachten, denn die speciell turnerische Feier schloß mit diesem Tage. Wieder trafen beim Festmahle eine Menge telegraphischer Grüße (u. A. aus Kronstadt, Tilsit) ein, und herzliche, aber auch inhaltsschwere Worte wurden gesprochen. Eindruck machte die begeisterte Rede des Advocat Wiggers aus Rendsburg, der Bezug nahm auf die zwar am Ehrenplatz der Festhalle aufgepflanzte, aber leider noch immer mit dem Trauerflore umhüllte Fahne seines geknechteten Vaterlandes, zu dessen Erlösung wohl noch eine Bluttaufe der mit Füßen getretenen Farben nöthig sein würde. Dem freien, einigen Deutschland, dem die Erlösung des nordischen Bruderstammes ohne Schwierigkeit gelingen müßte, brachte er ein Hoch. – Lecher aus Wien weihte ein Glas den verfassungstreuen preußischen Landtags-Abgeordneten, und einer derselben, Parisius aus Brandenburg, dankte durch ein Hoch auf Deutschlands Freiheit. Von gewaltigem Eindrucke war Benedey’s Rede, welcher gerührt bekannte, daß die beiden großen Tage, die er erlebt, jenen Einzug der deutschen Parlamentsabgeordneten in Frankfurt und dann wieder den gestrigen Festzug der Turner in sich faßten. Einmal habe er unter Spott und Hohn vor Schmerz geweint über die Verwirrung, welche jene mit Jubel begrüßte Versammlung dem traurigen Verfall zuführte; am gestrigen Tage aber vor Freude beim Festzuge der Turner, im vollen Bewußtsein des Sieges, den die gute Sache feierte. Den Gründern der Turnerei weihte er ein Hoch.[2]
Unmittelbar nach dem Festmahle begann das Wettturnen und zwar 1) im Wettlauf; 2) im Hochspringen und 3) im Steinstoßen und Weitspringen. Die hier sich kundgebende Gewandtheit und Kraftentwickelung war von großem Interesse, und man hatte für jede Abtheilung drei Preise (Siegeskränze) bestimmt.
Die für den Wettlauf abgesteckte Bahn entsprach dem griechischen Stadion (574 rhein. Fuß) und wurde von dem ersten Sieger in 26, von den beiden nächsten in 27 Secunden durchlaufen. Um einen Begriff von der Geschwindigkeit dieses Laufes zu geben, muß bemerkt werden, daß die deutsche Meile bei gleicher Schnelligkeit in etwa 18 Minuten zurückgelegt würde. Die Sieger im Wettlauf waren sämmtlich Preußen und zwar ein Merseburger und zwei Berliner.
Den höchsten Freisprung (mit Absprung auf kurzem Brete), 66 rhein. Zoll, erreichte ein Eßlinger. Die beiden nächsten Sieger, ein Uelzener und ein Hamburger, sprangen 62 Zoll hoch.
Die dritte Aufgabe war eine doppelte. Zuerst galt es einen Stein von einem Dritttheil Zollcentner Schwere mit einer Hand zu werfen oder zu stoßen. Von den drei jedem Bewerber gestatteten Würfen galt der letzte. Nachdem Alle geworfen hatten, wurde auch von Allen gesprungen, und das Resultat der zusammengerechneten Wurf- und Sprungweite war für die Zuerkennung des Preises maßgebend. Der erste Sieger war ein Gießener, der beim Steinstoß 17 und beim Weitsprunge 18 rhein. Fuß erreichte; der zweite, ein Münchner, hatte zwar beim Stoß 18, aber beim Sprung nur 16 rhein. Fuß erlangen können, und der dritte aus Asch gebürtige Sieger erreichte bei Stoß und Sprung gleichmäßig je 17 Fuß.
Nach den beendeten Uebungen wurden diese neuen Sieger vom Festpräsidenten Georgii auf dem Balcon am Steigerhause deln Publicum vorgestellt und mit den Siegeskränzen geschmückt. Bei Verkündigung der Namen herrschte stets eine lautlose Stille über den ganzen weiten Raum, der mit Menschen dicht besetzt war. Nur einmal wurde diese gespannte Aufmerksamkeit unterbrochen. Wie nämlich der Präsident als den ersten Sieger der dritten Abtheilung Haustein aus Gießen verkündete, da erschallte aus dem Häuflein der Londoner Turner von einer wahren Stentorstimme ein echt englisches Hurrah, das im geschlossenen Raume die Fensterscheiben zersprengt haben würde. Das Publicum, welches sich den Grund dieses Frendenrufes nicht erklären konnte, gebot auf der Stelle Ruhe, welche auch sogleich wieder eintrat. Später aber erfuhr man, daß Haustein früher in London dem hier vertretenen Turnvereine angehört und dort beim großen Turnfeste des vergangenen Jahres ebenfalls den ersten Preis errungen habe. Aus diesem Grunde hatte der Londoner Turngenosse seine Freude nicht zurückdrängen können, als er den Freund auch hier wieder als Sieger verkünden hörte.
Nachdem Georgii noch zwei andre einfache, aber bedeutsame Liebesgaben: eine junge Eiche aus Lanz, dem Geburtsorte Jahn’s, von dort der Stadt Leipzig als ein Erinnerungszeichen an den Gründer der Turnkunst und an das herrliche, gegenwärtige Fest übersandt – und einen Strauß frischer Alpenrosen und Edelweißblüthen, der von den fernen Alpen als Gruß und Liebeszeichen für die beim Feste anwesenden Schleswig-Holsteiner hierher geschickt worden war – übergeben hatte, leerte sich der Balcon; aber kaum waren die bekänzten Sieger unten angelangt, als sich Tausende um sie drängten und sie jubelnd beglückwünschten. Dann wurden sie von kräftigen Turnern auf deren Schultern gehoben und im Triumph zur Festhalle getragen, wo man sie dem jauchzenden Publicum nochmals nannte und vorstellte. Alles drängte sich zu ihnen hin, und am liebsten hätte jeder Einzelne seinen Festwein oder sein Bier mit ihnen getheilt. Neben mir, jedoch leider zu fern von dem Standpunkte der gefeierten Sieger, befand sich ein augenscheinlich mit Glücksgütern reich gesegneter Turngenosse aus Pommern, der sein wohlgefülltes Portemonnaie in die Höhe hielt und dabei immer ausrief: er wolle die Sieger nicht in Rothwein, wohl aber in Champagner baden! Ehe er sich jedoch durch die dichte Menge Bahn brechen konnte, hatten die Gefeierten ihren Ehrenplatz schon wieder verlassen, und ich vermochte dem freigebigen Pommer nicht zu folgen, weiß deshalb auch nicht, ob der gute Mann seinen eben so menschenfreundlichen als gefährlichen Vorsatz ausgeführt hat. Der freundschaftliche und gesellige Verkehr in der Festhalle und auf dem Festplatze entwickelte sich aber heute womöglich noch herzlicher als bisher, denn die Scheidestunde, die für Viele sogar schon geschlagen hatte, rückte auch für die Uebrigen immer näher.
Der letzte Festtag (5. August) galt einer nicht minder erhebenden Feier: dem Andenken an Leipzigs große Tage vor funfzig Jahren, wo dieselben Fluren, die heute jubelnde Festgenossen belebten, von dem Blute der Freiheitskämpfer gedüngt wurden. Es war ein herrlicher Gedanke, das erhebende Friedensfest, welches deutsche Männer aus allen Gegenden des Vaterlandes hier vereinigte, auch der Erinnerung an eine Zeit zu weihen, welche den Beweis geliefert hatte, daß dem einmüthig auftretenden Deutschland kein Feind zu widerstehen vermochte.
Wieder versammelten sich die Turngenossen in den Morgenstunden zum gemeinschaftlichen Zuge nach dem Festplatze, wo jene ergreifende Feierlichkeit stattfinden sollte. Den Turnern schlossen sich heute auch die Sänger Leipzigs an, welche an der Feier thätigen Antheil nehmen wollten. Stand auch dieser Festzug an Stärke hinter dem am Montage zurück, so brachte ihm das Publicum doch wieder ganz dieselbe herzliche Theilnahme entgegen. Wieder waren die Straßen dicht besetzt, aus allen Fenstern wehten Tücher den Vorüberziehenden Grüße zu, und ein Blumenregen, der dem ersten nicht nachstand, ergoß sich von allen Seiten über den Zug. Man wollte den Gästen dadurch den Beweis geben, wie sehr man sie in den wenigen Tagen ihres Aufenthaltes liebgewonnen habe. Auch die Turner gaben ihre Freude und Dankbarkeit in jeder Weise zu erkennen. Der Verkehr zwischen ihnen und den gastfreundlichen Bewohnern der Stadt war ein wahrhaft freundschaftlicher geworden. Ueberall hörte man Turngäste beim Namen rufen, und wenn diese ihre Wirthsleute unter der Menge der Zuschauer erkannten, so ertönten Lebehochs und das mächtige Gut Heil, in das dann immer sämmtliche Landsleute des Begrüßten einstimmten; [568] denn sie betrachteten es als einen Liebesdienst für Alle, was man Einem von ihnen Gutes erwiesen hatte. Auch mannigfaltige Erfrischungen wurden den Zugtheilnehmern wieder von allen Seiten kredenzt und dankbar angenommen, denn eine glühende Hitze lag über der Stadt, und ferne Gewitterwolken prophezeiten eine spätere, unwillkommene Störung des Festes.
Als der Zug den Festplatz erreicht hatte, wurde ein mächtiger Halbkreis um den Balcon geschlossen, wo sich die Rednerbühne befand. Zwei von den sämmtlichen Männergesangvereinen Leipzigs vorgetragene Lieder (die Wacht am Rhein und das Schwertlied) eröffneten die Feier, und hierauf betrat der Festredner, Professor Dr. v. Treitschke, den Balcon.
Was der begeisterte Redner sprach, war nicht blos ein rhetorisches Meisterstüick, sondern auch der volle Erguß eines von Vaterlandsliebe überströmenden Herzens. In Hunderttausenden von Exetmplaren der verschiedenen Zeitschriften ist jene Rede schon über ganz Deutschland verbreitet, aber sie verdient, wie in die Paläste, so auch in die kleinste Hütte zu dringen und Eigenthum Aller zu werden. Die Jugend möge sie sich einprägen und das Alter sie als einen warnenden Spiegel der durchlebten Knechtschaft betrachten. Erheben aber wird sie Jung und Alt, und wo die Liebe zum großen deutschen Vaterlande noch nicht recht Wurzel schlagen oder noch nicht durchdringen konnte, da werden jene Feuerworte sich unwiderstehlich Bahn brechen. Neben der Verherrlichung der Helden des Freiheitskampfes war die Rede eine Mahnung vor Lauheit und Phrasenpolitik, und schlagend führte sie auch die Gebrechen unseres Vaterlandes Allen vor Augen. Es hieß darin:
„Noch steht unser Volk rechtlos, unvertreten, wenn die Völker tagen. Noch grüßt kein Salutschuß im fremden Hafen die deutsche Flagge; denn heimathlos ist sie auf dem Meere, wie die Farben der Seeräuber. Noch blutet die Wunde, die im Frieden nimmer heilen darf: die schmerzliche Erinnerung, daß dies große Deutschland dem sieglosen Sieger, dem schwachen Dänemark, ein Glied von seinem Leibe, der edelsten einen unter seinen Stämmen schmählich preisgegeben hat.“
Den großen Zweck des Festes schilderte der Redner wie folgt:
„Für Millionen unseres Blutes ist der Name „deutsche Einheit“ nur ein großes, wohltönendes Wort, nicht eine begeisterte Ueberzeugung, die jeden Entschluß des Mannes durchdringt und heiligt. So gehet denn hin, Ihr unsre lieben Gäste, und verkündet daheim, was Ihr hier geschaut. Verkündet, wie Ihr im bewegten Austausch der Gedanken und Gefühle, in der Uebung der gemeinsamen deutschen Turnkunst empfunden und im tiefsten Herzen erlebt habt, daß wir zu einander gehören, daß wir ein Fleisch und ein Blut. Erzählet, wie der Mann aus dem Norden dem Manne aus dem Süden das Wort von den Lippen nahm, und wenn Ihr nicht wisset, ob die Wirthe oder die Gäste, ob die Schwaben oder die Niedersachsen das Meiste gethan für die Freude dieses Festes, so gedenket: das ist ein Bild der deutschen Geschichte. Seit Jahrhunderten haben unsere Stämme im Wetteifer gewirkt für die Herrlichkeit unseres Volkes, und kein Weiser hat ergründet, welcher Stamm das Edelste gab, welcher das Größte empfing.“
Wohl ist es ein Unrecht, welches man begeht, nur einzelne Stellen jener Rede anzuführen; mich leitet dabei aber der Zweck, daß diejenigen, welche jenes Meisterstück noch nicht kennen lernten, dasselbe sich vollständig zu verschaffen suchen werden. Nur der Schluß sei hier noch angeführt: „Laßt es nicht von uns heißen, wie von dem großen Griechenvolke: die Väter retteten alle Schätze reiner Menschenbildung vor dem fremden Eroberer, die Söhne aber gingen schmachvoll zu Grunde, weil sie nicht vermochten, Zucht und Recht und Frieden zu bewahren auf dem befreieten Boden. Nein, diese blühende Jugend- und Männerkraft, die sich prächtig zusammenfand in unserer gastlichen Stadt, ein erhebendes Bild von dem Adel und der Stärke unseres Volks, sie wird das Werk unserer Väter nicht zu Schanden werden lassen. Sie wird helfen, es zu vollenden. Die Zeit ist dahin, für immer dahin, wo der Wille der Höfe allein die Geschicke dieses großen Landes bestimmte. Auch der Geringste unter uns ist heute berufen, mitzuwirken an der Arbeit unserer politischen Erziehung, auch der Geringste ladet eine schwere Schuld auf seine Seele, wenn er dieser heiligen Pflicht sich feig versagt.
Deutsche, geliebte Landsleute! Ihr, die Ihr wohnet, wo die Thürme von Lübeck und die weißen Felsen von Arkona dem heimwärtssegelnden deutschen Seemanne die Nähe seines Landes künden, und Ihr Mannen, die Ihr daheim seid, wo die Schweizer Alpen sich spiegeln in dem schwäbischen Meere, und Ihr, deren Wiege stand, wo die graue Pfalz aus dem Rheine steigt und in der Neujahrsnacht des großen Krieges Vater Blücher den deutschen Strom überbrückte! Ihr Alle, weß Stammes, weß Gaues Ihr seid, stimmet ein in den Ruf: Es lebe Deutschland!“
Vergeblich wäre es, die Wirkung schildern zu wollen, welche diese Rede hervorbrachte. Tief ergriffen stand Alles, und selbst dem losbrechenden Beifallssturme konnte man deutlich anhören, wie viele der in das Hoch einfallenden Stimmen vor gewaltiger Bewegung zitterten.
Kaum war diese herrliche Feier durch einen Schlußgesang beendet, so brach in der bis dahin ruhigen Natur ein orkanähnlicher Sturm mit Gewitter los. Man eilte in die Zelte oder in die Festhalle, doch sollten die in letztere Geflüchteten noch einen argen Schreck bestehen. Der Sturm riß nämlich die Holzbekleidung des einen Mittelthurmes los, und derselbe wurde durch die Gewalt des tobenden Elementes bedeutend zur Seite geneigt. Der Lärm der auf das Dach fallenden Breter und der Angstruf: „Die Halle stürzt ein!“ brachte eine furchtbare Verwirrung hervor, da Viele schon ein ähnliches Unglück wie bei der Frankfurter Schützenfesthalle vor Augen haben mochten. Die Angst war jedoch überflüssig gewesen, denn der Thurm senkte sich nicht tiefer; die Halle hätte aber auch noch stärkeren Stürmen getrotzt, und so war bald Ruhe und Festfreude wieder hergestellt, da auch der Himmel wieder im schönsten Blau strahlte.
Immer mehr aber lichteten sich die Reihen der Festgäste, denn jeder abgehende Eisenbahnzug führte viele Hunderte mit sich fort. In den Nachmittagsstunden wurde von einem Theile der Gäste der Grundsteinlegung des neuen Kugeldenkmales in der Marienvorstadt beigewohnt. Jenes Denkmal bezeichnet den Platz, wo am 19 Oct. 1813 das erste zu einem Vorwerke gehörige Haus Leipzigs von preußischen Freiwilligen und Landwehrmännern den Franzosen entrissen wurde. Mancherlei auch auf das Turnfest bezügliche Schriften und Gegenstände wurden dem Grundstein einverleibt, u. A. auch ein Kranz von der Körnereiche bei Wöbbelin, den die Grabower Turner zu diesem Zwecke hierher geschickt hatten. Begeistert von der patriotischen Feier nahm der Fahnenträger des Prager Turnvereins seine kostbar gestickte Fahnenschärpe und legte sie mit in den Grundstein.
Eine weitere Feierlichkeit fand vor dem Rathhause statt, wohin sich der Zug hierauf begab. Dort war als Erinnerungszeichen an das schone Fest eine von den Turnvereinen Deutschlands gestiftete prachtvolle Marmortafel eingemauert worden, und der Festprästdent Georgii enthüllte und übergab dieselbe dem Bürgermeister Dr. Koch mit tiefgefühlten, warmen Worten des Dankes für die den Festgenossen bereiteten schönen Tage. Jene Tafel trägt die Inschrift:
an das dritte deutsche Turnfest
den 2. bis 5. August 1863
die deutschen Turnvereine der Stadt Leipzig.
Der Bürgermeister dankte voll tiefer Rührung im Namen der Stadt und brachte den deutschen Turnern und ihren Führern ein Lebehoch, welches Georgii mit einem Hoch auf die Feststadt erwiderte.
Die fröhliche Feststimmung der vorhergehenden Tage hatte jetzt schwermüthigeren Gefühlen weichen müssen, denn auch für die letzten der Festgenossen schlug nun bald die Trennungsstunde. Wohin man nur blickte, konnte man Zeuge der rührendsten Auftritte sein. Hier brachte die Familie des Wirthes die Allen so liebgewordenen Turngäste zum Bahnhofe, und da wurden beim Scheiden so bittere Thränen vergossen, als trennte man sich auf Nimmerwiedersehen. Die Turner waren ja keine Fremden mehr, sie wurden als liebe Angehörige betrachtet, von denen man vielleicht für immer schied. Die Dankesworte, die mancher der Scheidenden vielleicht vorher im Geist recht wohl gesetzt hatte, sie wurden von Thränen erstickt, noch ehe sie vom Herzen bis zu den Lippen gedrungen waren. Wo gäbe es aber einen schöneren, beredteren Dank als jene Thränen? – Dort sah man wieder, wie den die Stadt verlassenden Turnern noch auf der Straße duftende Blumen überreicht wurden, mit der Bitte, dieselben in die Heimath mit zu nehmen, aber der Geber noch zu gedenken, wenn von jenen Blüthen nichts mehr [569] übrig sei. Dieser Bitte bedurfte es jedoch nicht, wie die Beschenkten versicherten, als sie die Blumen an ihr Herz drückten. – Ein alter, biederer Bürger der Stadt, der im vorigen Jahre die Todesnachricht seines einzigen in Rußland gestorbenen Sohnes erhielt, hatte seinem liebenswürdigen Turngast, einem Hanseaten, das Geleit zum Bahnhofe gegeben, und als der Alte nun traurig heimkehrte, meinte er: „Mir ist, als wenn mir heute mein Sohn zum weiten Male gestorben.“
Wie erhebend war die Abschiedsfeier, welche am Abend des 5. August die Schleswig-Holsteiner und die Tyroler im Hotel de Prusse begingen! Der Kranz von Edelweiß, welchen die Söhne der Alpen ihren nordischen Freunden übergaben, möge den in der Heimath zurückgebliebenen Brüdern der letzteren ein Zeichen sein, wie gewaltig man bis zu den fernsten Grenzen Deutschlands von dem verhöhnten Rechte des verlassenen Bruderstammes überzeugt ist und wie sehnlich man die Zeit herbeiwünscht, wo man statt Blumen Waffenhülfe senden könnte.
An einem andern Orte der Stadt feierten wieder Schwaben, Oesterreicher, Preußen und Siebenbürgen ihr Abschiedsfest, und selbst im Theater fand an jenem Abend eine eigenthümliche Feier statt. Nachdem während des ganzen Festes zu Ehren der Festgäste in dem sinnig gschmückten Hause nur Stücke patriotischen Inhaltes aufgeführt und dieselben noch durch v. Meyer’s: „Heinrich von Schwerin“ abgeschlossen worden waren, erhob sich den stürmisch hervorgerufenen Künstlern gegenüber im Parterre ein Turner aus Berlin und brachte in fließenden Reimen der Bühne Leipzigs ein herzliches Gut Heil, welches einen nicht endenwollenden Wiederhall im ganzen Hause fand.
Schon am Mittwoch rief ein großer Maueranschlag in einfachen, aber tiefempfundenen Worten den Abschied und Dank der Turner aus Oesterreich den Bewohnern Leipzigs zu. Die Turner von Rostock und Schwerin, so wie die vom Mittelrhein folgten am nächsten Tag in ähnlicher Weise, und wochenlang brachten die Tagesblätter Leipzigs an jedem Morgen ganze Seiten voll Danksagungen aus allen Gegenden, überströmend von den innigsten Gefühlen.[3]
So war das herrliche Fest vorüber, begünstigt vom schönsten Wetter bis auf den letzten Tag, wo noch ein entsetzlicher Regenguß am Abend leider das Losbrennen des Feuerwerkes verhinderte. Wie stachen aber die darauf folgenden Tage mit ihrer wiederkehrenden Ruhe und Einförmigkeit von dem festliche Wogen und Treiben ab! Die Blätter der zahllosen Eichenlaubguirlanden waren verdorrt und rauschten unheimlich beim leisesten Lüftchen; dafür aber grünte in den Herzen Aller die erhebende Erinnerung an die köstlichen Tage, deren Segen unmöglich ausbleiben wird. Auge in Auge, Hand in Hand lernten sich die Söhne Deutschlands von den Alpen bis zur Nordsee, vom Riemen bis zu Mosel kennen, lieben und achten. Im Laufe des Festes stürzten mächtige Schranken zusammen, die bisher nur das Vorurtheil zwischen einzelnen Volksstämmen aufrecht erhalten hatte, und so geschah wieder ein gewaltiger Schritt zu dem uns immer deutlicher vorschwebenden herrlichen Ziele der Einheit. Das ist aber die große Bedeutung solcher Feste, daß sie uns in Liebe und in Frieden jener erhabenen Bestimmung näher führen. Und ist erst Deutschlands innere Feindschaft, der alte Hader glücklich überwunden, dann zeigt uns den äußeren Feind, den wir zu fürchten hätten!
Und somit Gut Heil Euch Allen, Ihr Festgenossen, die Ihr jetzt längst wieder in der Heimath weilt! Gedenkt noch manchmal der Stadt, die Euch so freudig begrüßte und die noch jetzt mit hoher Freude Euer gedenkt. Gut Heil dem Vaterlande!
- ↑ Die auf das Turnfest bezüglichen Illustrationen werden in zwei bis drei Wochen erscheinen.
- ↑ Es ist nicht möglich, hier den Inhalt dieser und der übrigen Reden genauer wiederzugeben; dieselben sind in den „Blättern für das dritte deutsche Turnfest“ meist wörtlich enthalten, ebenso die Specialitäten über Wett- und Schauturnen u. s. w.
- ↑ Auch der Redaction der Gartenlaube sind von vielen Seiten Briefe heimgekehrter Festtheilnehmer zugekommen, welche von den freudigen Rückerinnerungen berichten und von den dankbarsten Gesinnungen gegen die Feststadt überfließen. Das Schreiben eines Schleswig-Holsteiners, der im Namen seiner Landsleute auf wahrhaft rührende Weise für die gastliche Aufnahme und das herzliche Entgegenkommen sowohl einzelner, namentlich angeführter Bürger, als auch der ganzen Bevölkerung Leipzigs dankt, ist ein neuer Beweis (wenn es dessen überhaupt noch bedürfte) von der treuen Liebe, mit welcher jener brave Volksstamm am deutschen Vaterlande festhielt. Aber wir können diese Dankesergießungen nicht annehmen ohne den Gegendank für die herrlichen unvergeßlichen Tage, welche die Stadt ja eben nur dem Erscheinen so vieler von treuester Vaterlandsliebe durchdrungener Festgenossen zuschreiben kann. Ja, wo die Gäste und die Gastgeber gleichen Genuß hatten, da muß die Festfreude gewiß eine reine, erhebende gewesen sein! D. Red.