Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1863)/Heft 14

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[209]
Almenrausch und Edelweiß.
Aus dem bairischen Hochgebirge.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


3. Vater und Sohn.

Frisch und scharf kam der Morgen in die Ramsau heruntergestiegen; die Häupter und Rücken der Berge waren mit grauem Gewölk bedeckt, aber es brach hie und da hell und sonnig durch die Massen und verkündete, daß der Nebel sich heben und das schöne Wetter des Spätherbstes beständig bleiben werde. Das Gewölke gerieth in Bewegung, wie ein weites wehendes Tuch; es wallte und stieg und stieg und zerriß und verflatterte zuletzt in kleine krause Wellen und Flocken, die glänzend und weiß im sonnigen Morgenhimmel dahin schwammen. Auf den Bergen selbst hatte sich ein anderer Bote beständiger Witterung eingefunden: es hatte angeschneit, und der Watzmann streckte sein silberglänzendes Horn über den breiten Rücken des Steinbergs herein, auf welchem hie und da ebenfalls die weiße Decke gebreitet lag und sich wie flatternde unregelmäßige Bänder in den Felsklüften und Steinrissen streifenweise gegen das Thal niedersenkte. Auch gegenüber auf der Sonnenseite war es winterlich geworden, und weiß schimmernder Reif hing an den starren Halmen auf den Wiesen und Bergweiden des Lattenbergs. Oben am Schwarzeck, wo sich eine Schaar Häuser in den Schutz des Tannenwaldes einschmiegt wie eine Heerde an einen windfreien Abhang, war Alles schon rührig und geschäftig, und die Arbeiten des Vorwinters hatten begonnen. Aus den Städeln tönten in abwechselndem vieltheiligem Takte die Schläge der Drischeln, während vor den Häusern die Flachsbrech’ klappte, und hie und da die Schafe blökten, die auf den überfrorenen Hängen genügsam herumgras’ten. Anderwärts waren Leute beschäftigt, einen Rest Grummet, der noch im Freien geblieben, an die Heuhütten heran zu bringen, die, auf schmalem Unterbau stehend, sich nach oben gleichmäßig erweitern und ausladen, daß sie das Aussehen haben, als wären es kleine, von einer ungeheueren Fluth auf den Bergrücken zurückgelassene Fahrzeuge; wieder an anderen Orten war man emsig daran, Dünger auf die Rasenhänge zu breiten, wenn sie auch mitunter so steil sich absenkten, daß es der Steigeisen bedurfte, um sich daran zu erhalten.

Im Hause des Bühelbauern am Schwarzeck war die erste Lege von Getreid’ durchgedroschen und die Ehhalten saßen in der schönen geräumigen Wohnstube um den mit grobem Linnen gedeckten Tisch, auf welchem die Schüssel mit Milchsuppe dampfte. Knechte und Mägde saßen durcheinander auf den Bänken und führten tapfer die Blechlöffel zu Schüssel und Mund, unter Späßen, Gelächter und Neckereien, wie die Arbeiten des Tages, Jahreszeit und Persönlichkeiten Anlaß gaben. Auch Evi war unter den Mägden, aber sie mischte sich nicht in das Gespräch und warf besorgte Blicke auf das Gesicht der Bäuerin, welche wohl mit am Tische saß, aber nach den ersten Bissen den Löffel weggelegt hatte, weil ihr gar so letz (übel) sei. Dann sah sie noch befremdeter nach dem Platze des Bauern, der ganz gegen seine Gewohnheit an der Morgensuppe nicht Theil nahm.

Auch ihr gegenüber war eine Lücke in der fröhlichen Reihe; sie vermißte Mentel’s dunkle Augen, die ihr sonst mit fragenden und betheuernden Blicken gar viel zu schaffen machten.

Die Bauerin war ein kleines, schwächlich aussehendes Weibchen; sie war, wie man das so häufig an Bauersfrauen findet, vor der Zeit gealtert; sie hatte das Aussehen, als habe sie sich überarbeitet und ausgearbeitet und als sei keine Kraft mehr zurückgeblieben, um den Körper frisch und rege zu erhalten für die Zeit, wo Ruhe Bedürfniß und Belohnung zu werden beginnt. Das schmale Gesicht war blaß und faltenreich und von grauschimmernden Haaren umgeben; es trug das Gepräge der Schlaffheit und der Ermüdung – nur in den blauen Augen glänzte ein Frauengemüth, dessen Reichthum an Liebe und Güte unversehrt geblieben war.

Ein Bild von ganz anderer Art bot der Bühelbauer, eine große und doch gedrungene Gestalt, welcher das Alter wohl äußerlich seine Spuren aufgedrückt, innerlich aber dessen Kraft höchstens starrer gemacht, doch nicht gebeugt und gebrochen zu haben schien. Wenn man sich die breite, vortretende und kahle Stirne statt des schmalen Silberkränzchens mit Mentel’s krausem, dunklem Gelock umgeben dachte, so hatte man in dem Vater das nur wenig gealterte, nur leicht verschärfte Ebenbild des Sohnes vor sich. Er saß seitwärts an einem kleinen in die Ecke geschobenen Tischchen, das zum Schreiben eingerichtet war; ein gläsernes Schreibzeug, einige langbärtige Federn und einige Bogen Papier zeugten ebenso davon, als das darüber angebrachte weißgehobelte Bretchen, auf welchem Bücher lagen und unter einigen Schreibereien sogar ein Stängen Siegellack hervorsah. Der Alte hatte einen Bogen Papier in der Hand, welchen die Form und das Siegel daran als einen landgerichtlichen Erlaß bezeichneten, aber obwohl er den Blick fest auf die Schrift richtete, waren seine Gedanken doch mit anderen Dingen beschäftigt; vergaß er doch, seine Nasenbrille aufzusetzen, ohne welche er nur höchst schwer und unvollständig zu sehen und zu lesen vermochte.

„Solltest dich auch hersetzen und einen Löffel Suppe mitessen,“ sagte die Bäuerin und unterbrach den Knecht, der eben [210] eine Erzählung von den Vorgängen der Nacht begonnen hatte, so weit sie durch das Gerücht schon bekannt geworden waren. „Es würde Dir gewiß gut thun!“

„Laß mich in Ruh’,“ erwiderte der Bauer, „mir ist aller Appetit vergangen. Der Hies soll weiter erzählen.“

„Das ist schon Alles, was ich weiß,“ sagte der Knecht. „Die Jäger und die Gensd’armen und die Grenzwächter sind im Wimbachthal mit den Tyroler Schwärzern zusammen ’troffen, und es ist scharf her’gangen. Ich hab’s vom Botenschuster gehört; der hat noch vor Tag einspannen und in aller Eil’ nach Bertelsgaden fahren müssen, den Bader zu holen – es liegen ihrer sieben oder acht schwer Blessirte draußen beim Bauern am Kniebis...“

„Das ist wohl nur ein Gered’,“ rief die Bäuerin, indem sie sorgsam nach dem Bauer blickte, als ob sie in seinen Mienen die Zustimmung zu ihren Worten lesen wollte. „Ein Jeder, der so was weiter erzählt, macht noch einmal so viel dazu.“

„Nein, nein, es ist Alles wahr!“ sagte der Knecht. „Und Einer geht ganz und gar ab – der Jäger Gaberl ist auch dabei gewesen, aber er ist nit mit heim ’kommen, und kein Mensch weiß, was aus ihm ’worden ist!“

Der Bauer erwiderte nichts, aber über sein Gesicht zuckte eine Bewegung, welche der ohnehin besorgten Mutter nicht entging. Auch Evi quoll der Bissen im Munde, und das Herz schlug ihr bis an den Hals empor; sie dachte an Mentel’s Abwesenheit, an seine offenkundige Feindschaft mit dem vermißten Jäger, und eine entsetzliche Möglichkeit zuckte ihr durch Sinn und Herz.

Eine peinliche Stille war eingetreten, und es war gut, daß die Schüssel geleert war und der Oberknecht durch sein Aufstehen das Zeichen zur allgemeinen Erhebung und zum allgemeinen Gebete gab. Der Reihe nach kniete Alles an den Bänken hin, die gefalteten Hände aufstützend und nachbetend, was die Hausfrau mit ihrer klaren, freundlichen Stimme vorsprach. Laut wurden dann die Bänke gerückt und Alle verließen die Stube, indem sie der Reihe nach in das zinnerne Weihwasserkesselchen am Thürgerüst langten, sich besprengten und mit dem Kreuze bezeichneten. Bald klangen die Schläge der Drischeln wieder von der Tenne herüber.

Evi war bereits unter der Thüre, als der Bauer sie zurückrief. „Ich hab’ dir nur sagen wollen,“ sagte er, indem er sie mit Wohlgefallen betrachtete, „daß ich zufrieden mit Dir bin. Du hast das Vieh schön und gut besorgt, hast keins abfallen lassen und hast mehr Butter und Käs zusammenbracht, als keine von meinen frühern Sennerinnen. Du bist eine ordentliche Person, und wenn’s dir recht ist, bleiben wir bei einander...“

„Mich freut’s, wenn Du einsiehst, daß ich meine Schuldigkeit thu’, Bühelbauer,“ erwiderte Evi, „und wenn’s Dir recht ist, daß wir bei einander bleiben, hab’ ich auch nichts dawider! – Willst sonst auch noch was?“

Der Bauer sah sie verwundert an; daß er Jemand solche Lobsprüche ertheilte, war etwas so Ungewohntes, daß er staunte, sie so gleichmüthig aufgenommen zu sehen. „Ob ich sonst noch was will?“ sagte er, beinahe lachend. „Nein, ganz und gar nichts! Sei nur nit harb, daß ich dich aufgehalten hab’!“ Sie ging, der Bauer aber sah ihr kopfschüttelnd nach. „Eine saubere Person,“ brummte er, „und eine prächtige Dirn – aber hoffärtig wie ein Pfau!“

„Das ist sie nit, Vater,“ sagte die Bäuerin, „sie hat nur ein so gesetztes Wesen an ihr – aber stolz ist sie nichts und hat gar ein gutes Gemüth!“

„Meinetwegen,“ rief der Bauer, indem er aufstand und mit bedächtigen Schritten die Stube durchmaß, „wenn sie ihre Schuldigkeit thut als Dienstbot, was geht mich dann ihr Gemüth an! Mir geht ganz ein anderes Gemüth im Kopf herum ...der Mentel macht mir Sorg’, Bäuerin, mit dem Mentel ist’s nit richtig!“

Er blieb vor ihr stehen und sah ihr, die Hände über’m Rücken gekreuzt, wie forschend in’s Gesicht. „Ach was,“ erwiderte sie und machte sich an dem Spulen ihres Spinnrades zu schaffen, um den Blick nicht aushalten zu müssen. „Was soll denn schon wieder nit richtig sein mit ihm? Du hast alleweil was auszusetzen und zu beschandeln an ihm – er läßt sich in keiner Arbeit spotten, mein’ ich...“

„Und ich bleib’ dabei, es ist nit richtig mit ihm! Er ist bei der Arbeit, ja – aber nur halb! Der beste Theil von seiner Kraft und seinen Gedanken ist anderswo und fliegt wahrscheinlich in der weiten Welt umeinander – vermutlich bei den Gambsen am Gewand und bei den Hirschen im Wald! Das verfluchte Wildpretschießen – – – wenn der Unglücksbub’ nur in seinem Leben keine Büchs zu sehen ’kriegt hätt’!“

„Mach’ dir keine unnütze Sorg’! Er wird’s wohl lassen, seit Du’s ihm verboten hast!“

„Verboten! Was braucht’s da noch Verbieten von meiner Seiten? Ist das Gesetz nit genug? muß ich ihm erst noch verbieten, daß er nit stehlen soll?“

„Stehlen! Wer red’t denn davon? das ist ja doch ganz was Ander’s!“

„Stehlen! Ich sag’s noch einmal! Oder ist das nit gestohlen, wenn er das Wildpret schießt, das nit ihm, sondern dem König gehört?“

„So hab’ nur Geduld – er wird’s wohl lassen, hoff’ ich...“

„Ich wär’ froh, wenn ich’s glauben könnt’, aber es schaut nit darnach aus. Wo treibt er sich alleweil ’rum, der Unnutz? Warum ist er heut wieder nit bei der Morgensuppe gewesen?“

Die Alte sah beklommen zu Boden. „Ich weiß es nit,“ sagte sie, „aber ich denk’ halt...“

„Ja Du denkst und denkst alleweil, wie du ihm hinaushelfen kannst!“ brauste der Bauer auf. „Warum ist er nit da? Wo kann er sein um die frühe Tageszeit?“

„Vermuthlich ist er schon fort in’s Holz...“ erwiderte stockend die Bäuerin. „Hast ihm nit angeschafft, er soll einmal den Schlag übergeh’n?“

„Hab’ mir’s eingebild’t, daß du was ausstudirst!“ lachte der Bauer unwillig. „Bäuerin, ich sag’ dir’s, wenn ich mir so Alles einfallen laß’, was möglich ist... es steigt mir ganz heiß auf in den Kopf! Wenn ich daran denk’, was passirt sein soll diese Nacht – und daß der Mentel vielleicht gar nit daheim gewesen ist...“

„Wer wird denn auch gleich das Schlimmste denken,“ sagte die Bäuerin anscheinend ruhig, aber innerlich von derselben Furcht noch ärger als der Alte gefoltert.

„Ich weiß nit, was ich thät’,“ fuhr der Bauer fort, „wenn etwas passiren thät’, ich will gar nit sagen, was... Das wäre so das Rechte für einen Gemeindevorsteher! Hab’ ohnehin Verdruß genug, Schererei und Lauferei mit der Vorsteherei, und was wird die Geschichte von heut’ Nacht wieder Alles zu thun machen! – Hab’ da erst heut’ wieder einen Befehl vom Landgericht bekommen, hab’s aber noch nit dazu bringen können, zu lesen, was drinnen steht! Ich hab’ meine Augengläser verlegt und kann nur so viel herausbringen, daß es sich um ein davongelaufenes Weibsbild handelt. …“

Er suchte unter den Papieren auf seinem Tischchen und auf dem tiefen Fenstergesims herum und tastete nach der Brille; dabei fiel sein Blick wie zufällig durch die Scheiben in’s Freie, und ein Ruf des Unmuths entfuhr ihm.

„Aber so fluch’ doch nit gleich so lästerlich!“

„Da müßt’ ein Kapuziner scheltend werden! da schau hinaus, Bäuerin, da kommt er just auf’s Haus zu, der Mentel! Ueber den Bühel, vom Thal kommt er her, nit vom Schlag! Und wie er ausschaut – ich brauch keine Brillen, um das zu seh’n! Blaß und übernächtig, verrissen, schmutzig und voll Ruß, kommt man so aus dem Schlag zurück? Da schau hinaus, Mutterl, weil Du doch alleweil hätschelst und pantschelst mit ihm... schau’ das Früchtel an und sag’ selber, ob der im Schlag gewesen ist... der Lump ist richtig gar nit daheim gewesen, die ganze Nacht!“ Während dieser Worte hatte er hastig den Fensterreiber aufgedreht und rief durch den halbgeöffneten Flügel hinaus: „Da herein, Mentel! Schleich nit um’s Eck’ in’s Haus, wie ein Dieb... da komm’ herein, wenn Du ein gutes Gewissen hast!“

Der Bursche stand und zögerte einen Augenblick, ob er dem Rufe folgen solle; er sah ein, daß wieder einer jener Auftritte zwischen Vater und Sohn bevorstand, wie sie leider seit geraumer Zeit keine Seltenheit mehr waren auf dem sonst so friedlichen Bühelhofe. Es war aber keine Möglichkeit, der unangenehmen Erörterung zu entgehen; deshalb wandte er sich entschlossen um und schritt der Hausthüre zu.

„Guten Morgen, Vater!“ sagte er beim Eintreten, indem er den Hut bei Seite legte, auf welchem neben Gemsbart und Spielhahnstoß der Strauß von Alpenrosen und Edelweiß prangte. „Was schaffst?“

Der Bauer hatte sich gesetzt und wehrte mit einer Handbegung [211] die Bäuerin ab, die ihm flüchtig zuwinkte und zunickte und flüsterte: „Sei gut mit ihm, Vater, und mach’s nit zu scharf!“

„Wo kommst her, Mentel?“ fragte er mit künstlicher Gelassenheit. „Hast Dich ja schon gewaltig früh aus den Federn gemacht! Oder,“ fuhr er in gesteigertem Tone fort, als der Sohn nicht augenblicklich antwortete, „bist vielleicht gar nit in’s Bett’ kommen? Bist herumgestreunt die ganze Nacht wie ein Landstreicher? Red“ schrie er aufspringend und ließ seinem Zorne freien Lauf. „Stier nit so vor Dich nieder auf den Boden, wie ein rechter verstockter Sünder – red’, wo bist gewesen?“

Mentel stieg es blutroth in’s Gesicht, aber er schwieg; es widerstrebte ihm zu lügen, und er wußte nicht, wie er die Wahrheit vorbringen sollte.

„Sag’ es,“ schrie der Bauer heftig, „oder soll ich Dir die Zung’ lösen und vorerzählen, wo Du gewesen bist? Soll ich Dir sagen, ob der schmuzige, zerrissene Janker und das verschundene Gesicht ein Aufzug ist für einen ordentlichen Burschen, für einen Bauernsohn und für meinen Sohn?“

„Und wenn ich’s sag’, was thät’s nutzen, Vater?“ sagte Mentel zögernd. „Es ist doch, wie’s ist!“

„Und ich will’s wissen! Ich will, daß Du’s sagst!“

„Ich bin doch kein Schulbub mehr, der sich muß ausfragen lassen!“ entgegnete Mentel trotzig und steigerte dadurch noch die Entrüstung des Alten.

„Ich hab’ ein Recht zum Ausfragen, kecker Bursch!“ rief er. „Bist Du mir nit Gehorsam schuldig als Deinem Vater? Bring’ mich nit auseinander, Mentel – gieb mir Antwort auf meine Frag’, damit nit ein Anderer über Dich kommt, der Dich zum Antworten zwingt! – Wo bist gewesen, Mentel?“

Der Sohn sah störrisch und finster zu Boden. „So red’,“ sagte die Mutter, indem sie ihm schmeichelnd die Hand auf die Schulter legte, „thu’ dem Vater seinen Willen und sag’s – es wird ja nichts Unrechtes sein!“

„Nichts Unrechtes?“ rief der Bauer. „Schau’ ihn an, Mutter, ob ihm nit das Unrecht auf der Stirn geschrieben steht: – so schaut das böse Gewissen aus! ... Mentel, wenn ich denken müßt’, daß das, was heut’ Nacht geschehen ist, Dich auch anging’, wenn ich denken müßt’ ...“

„Ich bin kein Schwärzer!“ sagte Mentel unwillig.

„Aber ein Wildschütz – ich kehr’ die Hand nit um zwischen Beiden! – Also ist es gewiß und wahr,“ fuhr er etwas gemäßigter fort, „und kann ich mich darauf verlassen, daß Du nichts davon weißt?“

„Ich weiß davon,“ antwortete Mentel, „aber ich bin nit dabei gewesen. Ich bin auf dem Weg gewesen, hab’ mich auf den Hundstod auf ein Gambs anpürschen wollen – da haben’s mich versprengt, und ich bin die ganze Nacht in einer Kohlhütten versteckt gewesen!“

„Wenn man Dich gefunden, wenn sie Dich mit den Schwärzern erwischt hätten!“ rief der Alte und schritt hastig die Stube auf und nieder. „Es wär’ mein Letztes! So lang mein Vater und mein Großvater auf dem Bühelhof gehaust haben, liegt kein Buchstaben beim Landgericht oder im Prälatenstock. Sie können kein Protokoll aufweisen von uns, und wenn mein Sohn der Erste wär’, der aus der Art schlagen thät ... Herrgott, Herrgott ... ich glaub’, ich müßt’ ein Narr werden!“

„Sorg’ nit, Vater!“ sagte Mentel. „Ich bin nit dabei gewesen und in Zukunft –“ er zögerte und das Kommende schien ihn offenbar Ueberwindung zu kosten ... „in Zukunft will ich das Wildschießen bleiben lassen... Die Nacht, wie ich so allein gewesen bin und hab’ mir vorgestellt, wie es hätt’ gehen können und wie nah’ ich hingestreift bin an’s Erwischtwerden ... da hab’ ich mir’s vorgenommen, daß ich es lassen will...“

„Mentel! Bub!“ rief der Alte und blieb stehen und streckte wie versteinert die Arme nach ihm aus.

„Siehst, Vater,“ sagte die Mutter zwischen Lachen und Weinen: „er ist doch ein gutes Kind – er will’s lassen!“

„Bub!“ rief der Alte wieder, und seine Stirne war sonnenhell und in seinem Auge schimmerte eine Freudenthräne. „Wenn das wirklich Dein Ernst wär’ – eine größere Freud’ könntest Du mir nit machen... Alles sollt’ verziehen und vergeben und vergessen sein!“

„Ich habs gesagt, Vater, und ich halt’s!“ erwiderte Mentel fest und streckte dem Alten die Hand hin, in die dieser freudig einschlug.

„Ich nehm’ Dich beim Wort!“ rief er. „Wirst es nit bereuen! Glaub’ mir, es wär’ noch einmal Dein Unglück geworden! Bleib’ dabei, Mentel, und wann Dir die Versuchung kommt, dann arbeit’ tüchtig und bet’ ein Vaterunser... und es geht vorbei, ich weiß es ja von mir selber! – Meinst, ich bin nit auch einmal jung gewesen? Meinst, es hätt’ mich in Deinem Alter nit gejuckt, wenn ich die Hirsch’ und die Gams’ g’seh’n hab’ im Wald und auf den Bergen, und hab’ gewußt, daß ich beim Scheibenschießen allemal in’s Schwarze hineing’langt hab’ und daß es nichts braucht, als den Finger rühren, so schnellt’s das schöne Thierl nieder? ... Da schau hinaus dort auf dem Abhang, wo sich das dichte Buschwerk nach dem Graben hinunter zieht... da bin ich einmal an einem Abend gestanden und hab’ auf einen Rehbock gepaßt, den ich am Tag zuvor gespürt hab im grünen Korn. Es hat auch keine halbe Viertelstund’ gedauert, so ist der Bock heraus’kommen, dort an der Waldspitz auf zwei Ackerläng’ und hat sich kerzengerad’ hingestellt, daß ich ihn nur hätt’ hinaufbrennen können, mitten auf’s Blatt. … Ich duck’ mich und spann’ den Hahn und will just auffahren, – da hat’s in der Ramsauer Kirche angefangen Ave Maria zu läuten... ich hab schon losdrucken wollen – da hat sich was Eigen’s gerührt in mir, und ich hab’ mir ’denkt, was gescheidter ist, zuerst schießen und dann beten oder zuerst beten und nachher schnallen lassen. … Das Beten geht doch vor, hab’ ich mir ’denkt und hab’ abgesetzt, bis das Läuten zu End’ gewesen ist – ich mach’ gerad’ das Kreuz und will wieder nach meiner Büchs langen ... da kracht’s auf einmal neben mir, der Bock stürzt, und der Jäger kommt keine dreißig Schritt’ von mir aus dem Gebüsch. … Hätt’ ich geschossen, so hätt’ er mich auf der That erwischt. … Das Vaterunser hat mich vom Zuchthaus gerettet, und das Wildpretschießen ist mir verleidet gewesen für alle Zeit! – Merk’ Dir’s, Mentel, und gieb mir noch ’mal Deine Hand darauf, daß es Dir Ernst ist mit dem Vorsatz!“

„Völliger Ernst!“ erwiderte Mentel und schüttelte dem Vater die Hand, der nun ebenso feurig in der Freude war, als er sich zuvor in Unmuth und Besorgniß ausgesprochen hatte.

„Dann will ich auch Ernst machen mit dem Vorsatz, den ich schon lang in mir herum trag’!“ rief er aus. „Was meinst, Bäuerin, wenn wir nächste Woche nach Bertelsgaden hineinfahren thäten und thäten uns beim gestrengen Herrn Landrichter einen Tag ausbitten? Wir geh’n in Austrag miteinander, der Mentel soll das Gut übernehmen und heirathen!“

Ueber Mentel’s dunkles Angesicht flog der Wiederschein einer freudigen Erregung, die zu rasch kam, als daß er vermocht hätte, sie zu bewältigen. Die Mutter aber trat zu dem Alten und sagte mit gerührtem Tone: „Ich will, was Du willst, Vater – der Mentel wird ja ordentlich sein, wird gut thun und wird uns gewiß in Ehren halten!“

Dem Bauer war die Gemüthsbewegung des Burschen nicht entgangen. „Schau, schau,“ rief er lachend, „wie ist denn das? Du bist ja auf einmal wie umgewandelt, und Deine Augen funkeln wie Pfenning-Lichteln! Ich hab’s also getroffen? Du hast Dir wohl gar schon was ausgesucht?“

„Wär’ das möglich?“ sagte die Mutter. „Ich hab’ doch gar nichts gemerkt!“

„Ja, Vater,“ sagte Mentel zutraulich und warm, „ich hab’ mir Eine ausgesucht, die ich für mein Leben gern hab’... und wenn Du mir doch übergeben willst, Vater – die will ich zur Bäurin machen auf dem Bühelhof! ... Sie wird Dir wohl recht sein..?“ setzte er etwas unsicher und zaghaft hinzu.

„Warum sollt’ sie mir nit recht sein?“ sagte der Bauer fröhlich. „Ich hab’ nichts dagegen! Du wirst Dir Keine ausgesucht haben, die man zum Spatzenschrecken brauchen könnt’... und dann, Du mußt mit ihr hausen, Mentel, nicht ich! Auf’s Geld brauchst Du, Gott sei Lob und Dank, nit aufzupassen, und sonst weißt Du ja so gut wie ich, was Brauch ist in der Ramsau!“

„Und brav und ordentlich,“ schaltete die Mutter ein, „wird sie ohnedem sein!“

„Ob sie brav und ordentlich!“ rief Mentel begeistert. „Es ist keine auf sieben Meilen Wegs...“

– Die Thüre ging auf und Evi trat ein. „Es ist Zeit zum Kochen,“ sagte sie zur Frau, indem sie einen raschen verwunderten Blick auf die vergnügte Gruppe der Anwesenden warf. „Du sollst das Schmalz zu den Nudeln hergeben“

„Ich hab’ jetzt wahrhaftig keine Zeit,“ sagte diese und reichte [212] Evi ihren Schlüsselbund. „Gieb du das Schmalz her, du weißt es so gut wie ich …“

Die Dirne nahm die Schlüssel und wollte sich wieder entfernen, Mentel aber hielt sie bei der Thüre an. „Da schaut’s her, Vater und Mutter,“ rief er, indem er die Staunende ihnen entgegen in die Mitte des Zimmers führte, „die ist’s!“

Eine selige Ahnung durchzuckte das Mädchen, aber sie war stark genug sie niederzukämpfen. Gelassen entzog sie Mentel die Hand und sah ernsthaft um sich. „Was soll das bedeuten?“ fragte sie. „Was soll ich sein?“

Die Bäurin war bei den Worten Mentel’s in einem Athemzug kirschroth und todtenblaß geworden; der Bauer war von dem Stuhle, den er behaglich wieder eingenommen hatte, blitzschnell aufgefahren, aber ebenso geschwind auf den Sitz zurückgekehrt. „Das ist ein dummer G’spaß!“ sagte er. „Den kannst bleiben lassen!“

„Es ist kein G’spaß, Vater,“ rief Mentel herzhaft entgegen, „es ist mein völliger Ernst. Warum sollt’s die Evi nit sein? Was hast dagegen, Vater?“

„Das ging’ mir just noch ab,“ lachte der Bauer roh, „und ein Loch im Kopf dazu! Ein Dienstbot’, ein hergelaufenes Weibsbild, das nichts ist und nichts hat, als wie sie geht und steht!“

Der Sohn mochte den Widerstand in einiger Weise erwartet haben, er hielt daher an sich und erwiderte in gemäßigtem Tone: „Hast ja selber erst vor zwei Minuten gesagt, daß ich auf’s Geld nit zu schauen brauch – dafür ist sie brav und ordentlich!“

„Wie kann ich, wie kannst du das wissen?“ zürnte der Alte. „Da gehört mehr dazu, als daß man eine Kuh ordentlich melken und einen Kaser zusammenhalten kann! Weil sie Dir die Augen eingefüllt hat, glaubst du, es müßt’ dem Vater auch so gehen? Und wenn Alles wär’ was nit ist – sie ist eine Fremde, sie ist keine Ramsauerin!“

Mentel sah ihn bedächtig und fragend an. „So was sollst nit sagen, Bühelbauer!“ sagte er. „Wenn’s der Gemeind’ Vorsteher hört, müßtest du dich schämen! Wie lang ist es denn her, daß Du’s selber mitgebracht hast vom Herrn Landrichter, daß es nit gut ist, wenn die Ramsauer alleweil untereinander heirathen?“

„Der gestreng’ Herr,“ entgegnete der Bauer, „kann sagen, was er will, das versteht er nit! Ich hab’ mit dem Herrn Vikari geredt – der hat’s in den alten Büchern gefunden, daß wir Ramsauer ein ganz besonderer Stamm sind und eine ganz extere Abkommenschaft haben! Wir haben Recht, wenn wir zusammenhalten und Niemand hereinlassen – und kurz und gut, ich leid’s einmal nicht! Eine fremde Magd wird niemals meine Schwieger, und dabei bleibt’s!"

Evi war während dieses Gesprächs unbeweglich gestanden, wenn auch ihre funkelnden Augen verriethen, wie sehr sie an demselben Antheil nahm. Mentel’s wiederholte Versuche, sich ihr zu nähern und ihre Hand wieder zu fassen, hatte sie kurz und entschieden zurückgewiesen und stand so kaltblütig entschlossen dem zürnenden Bauer gegenüber, als sie im Scharten-Kaser die ergrimmten Feinde auseinander gebracht hatte.

„Seid Ihr jetzt bald fertig miteinander?“ sagte sie in einem Tone, der sogar von einem spöttischen Anfluge nicht frei war. „Mir kommt’s beinahe vor, als wenn die Sach’ mich auch anging’ und als wenn ich auch was drein zu reden hätt’!“

„Du hast gar nichts zu reden, du … du Verführerin!“ brach der Bauer auf sie los. „Thät’s dir gefallen, dich mit deinem Wanderbündel hereinzusetzen in einen prächtigen Hof? Hast gemeint, du kriegst mich auch so leicht herum, wie meinen Lappen von Sohn?“

„Nimm’ dich in Acht, Bühelbauer,“ erwiderte Evi zitternd, „damit Du nit zu viel redst! Ich soll deine Schwieger werden? Der Mentel will mich heirathen? Eh’ du darüber einen solchen Lärm’ aufschlagst, wär’s doch das Gescheiteste, denk’ ich, daß Du mich fragst, ob es mir recht ist? ob die fremde Dirn’ Deine Schwieger werden mag?“

Der Alte erwiderte nur durch Achselzucken und höhnisches Lachen; Mentel aber trat rasch zu ihr, faßte kräftig ihre widerstrebende Hand und rief feurig: „Sei nit bös’, Evi, daß es noch nit geschehen ist, wie sich’s gehört – das Ganze ist so unverhofft daher ’kommen! Aber ich frag’ dich jetzt, Evi – ich sag’ dir’s vor meinen Eltern, daß ich dich gern hab’, wie man ein Madel nur gern haben kann – daß ich das Wildpretschießen verred’t hab’ um deinetwegen – daß ich kein Glück und keine Freud’ haben werd’ mein Leben lang, wenn du nit mein Weib und meine Bäurin wirst … Da ist meine Hand, Evi! denk’ an den Scharten-Kaser und an den Buschen dort auf meinem Hut – schlag’ ein und gieb mir auf meine ehrliche Frag’ eine fröhliche Antwort!“

(Fortsetzung folgt.)



Der Föhn.
Von Carl Vogt in Genf.

„Es wird wohl schlechtes Wetter geben, Herr, der Föhn drückt von oben,“ sagt zuweilen der Führer in den Alpen, indem er Morgens beim Ausmarsche nach allen vier Windrichtungen ausschaut und den Kopf schüttelt.

„Warum nicht gar, Hans! der Himmel ist ja ganz klar, und die paar Nebelstreifchen, die dort unten stehen, werden wohl bald von der Sonne verscheucht werden.“

„Sie mögen’s glauben oder nicht,“ antwortet der Mann, „es ist das so, der Föhn drückt, und es sieht ganz so aus, als ob er es gewinnen wolle und die Bise fliehen müsse. Sehen Sie nur das Gras an – es ist ganz trocken – kein Thautröpfchen daran! Vielleicht kann’s aber die Bise noch gewinnen – wir wollen aber beim Wetterloch sehen!“ In der That steckt der Mann, nachdem man eine Zeitlang bergan gestiegen ist, die Hand in eine unscheinbare Ritze am Felsen, die aber augenscheinlich in einen tiefen Spalt führt, der das Gebirge bis in’s Innere zerklüftet. „Fühlen Sie nur selbst her,“ sagt er dann, „es bläst ganz warm heraus! Er kommt! Halten wir uns nicht zu lange unterwegs auf! Es ist besser, unter Dach zu sein, wenn der Föhn da ist!“

Wie in allen Gebirgsgegenden, so ist auch in der Schweiz die Beobachtung der herrschenden Winde und der Wetterveränderungen, die daraus hervorgehen, die erste Bedingung für den Landmann wie für den Hirten, für den Jäger wie für den Fremdenführer. Das Volk hat seine eigenen Namen sowohl für die mehr allgemeinen, wie für die besonderen Localwinde, die aus der Beschaffenheit der Gegend selbst hervorgehen. Sehen wir uns ein wenig näher in diesem luftigen Gebiete um.

Die tief eingeschnittenen Gebirgsthäler, auf beiden Seiten von hohen Felsmauern eingefaßt, deren schmale Thalsohle oft ganz von dem Bache ausgefüllt ist, welcher sie durchströmt, gestatten meist nur zwei Windrichtungen, den Oberwind und den Unterwind. Jede Luftströmung, welche von der Seite her auf den oberen Thalkessel oder die untere Thalmündung trifft, fängt sich in dieser Oeffnung und lenkt nun der Thalrichtung entlang ab. In dem einen Thale kann der Unterwind, in dem andern der Oberwind der Regenwind sein, je nach der Rund Beschaffenheit des Thales – verschiedene allgemeine und locale Winde können, durch die Gestalt des Thales gezwungen, dieselbe Richtung annehmen, und es kann dann nur der mit der Oertlichkeit seit Jahren Vertraute aus anderen Anzeichen, als der bloßen Windrichtung, bestimmen, welchen Einfluß der jeweilige Wind auf das Wetter haben wird. Thäler dieser Art sind zum Studium der Winde also durchaus nicht geeignet.

Desto mehr aber die sogenannte ebene Schweiz und die breiteren Gebirgsthäler. Dort herrschen hauptsächlich nur zwei allgemeine Winde: der trockene, aber kalte Nordost, die Bise, der Byswind, und der meist warme, aber feuchte Südwest, der Luft, in der französischen Schweiz le vent geheißen, während dort la bise vollkommen eingebürgert ist. Der Nordost kommt über die trockenen und kalten Ebenen Rußlands und Sibiriens vom Eismeere her; er löst die Wolken auf, macht besonders das Barometer steigen und bringt im Winter trockene, scharfe Kälte bei heiterem Himmel, im Sommer wenigstens kühle Nächte und im Frühjahre leicht Fröste. Der kalte Luftstrom erzeugt leicht im Sommer im Gebirge durch locale Verdichtung Morgennebel, die Bysnebel,

[213]

Die Verheerungen eines Föhnsturmes.
Originalzeichnung von H. Jenny in Solothurn.

[214] welche bald unter dem Einfluß der Sonne schwinden und für das sicherste Anzeichen schönen Wetters und heller Fernsicht für die Tagesmitte gelten. Nur im Beginnen ihres Auftretens bringt die Bise zuweilen Regen oder im Winter gern Schnee, wenn sie in die erwärmte, mit Dünsten gesättigte Atmosphäre hinein bläst; – dauert sie länger (und der Volksmeinung zu Folge hält sie 3, 9 oder 27 Tage an), so wird der Himmel unausbleiblich hell. Im Augenblicke, wo ich dieses schreibe (1. März 1863) haben wir in Genf seit mehr als fünf Wochen beständig hellen Himmel ohne Spur von Wolken, warmen Sonnenschein, aber empfindliche Kälte, besonders gegen Morgen bei gelindem Bisezug.

Anders der Südwestwind, der Wind oder der Luft. Ueber den Ocean vom Aequator herstreichend, trifft er auf die kälteren Hochebenen, die kühlere, sie umgebende Atmosphäre. Es entstehen Wolken, die stets dunkler und schwerer werden, über den Himmel von Südwesten her gegen Nordost vorschreiten; es wird wärmer im Winter, kühler dagegen im Sommer, weil der Himmel sich bedeckt, Regen und Schnee fallen, häufig in bedeutender Menge. Fast jeder Ort hat sein Wetterloch, wonach man ausschaut. Sieht der Genfer Morgens, gegen Frankreich zu, im Einschnitte des Fort de l’Ecluse kleine Wölkchen sich ballen, so nimmt er seinen Regenschirm für den Abend. Hält aber der Südwind lange genug an, um die ganze Atmosphäre um die Berge herum erwärmen zu können, so wird es endlich heiter und warm – nur giebt es dann im Sommer häufige Gewitter und Hagelschläge. Daher das Sprüchwort, daß das Wetter am schönsten ist, wenn es beim Luft heitert.

Die Bise hebt die Ausdünstungen in die Höhe – der Luft wälzt sie dem Boden entlang – die Bise gleitet über die Seen weg und wühlt sie nur da auf, wo das Land Widerstand leistet oder der Weg sich zukeilt, wie bei Yverdon und Genf – der Luft dagegen wirft große und gefährliche Wellen. Die Pfahlbauer aus der Steinzeit wußten das schon vor Adam und den Patriarchen – ihre Ansiedelungen am Ufer sind stets so gewählt, daß sie der Bise ausgesetzt, vor dem Winde aber möglichst geschützt sind.

Aber der Föhn? fragt der Leser. Nun gut, wir kommen dazu. Er ist weder ein sogen. Localwind, noch ein so weit herkommender Wind, wie Bise und Luft – er ist der Continentalwind der Schweiz, der heiße Wüstensohn der Sahara, der Samum der Araber, der Scirocco der Italiener. Aus der glühenden Sandebene des nördlichen Afrika erhebt sich die heiße Luftströmung, streicht über das Mittelmeer, übersteigt die Alpenkette und stürzt sich nun durch die Thäler und Schluchten des Gebirges gegen die Ebene fort, auf der sie allmählich erstirbt. Gewöhnlich geht dem Föhn eine kurze, starke Bise voraus – vielleicht ein Resultat der Aspiration, welche durch das Aufsteigen der heißen Luftsäule hervorgebracht wird. Der Föhn braust Anfangs hoch oben in der Luft, die Bise unten; beide Winde kämpfen sichtlich mit einander; feine, leichte Wolken jagen übereinander hin in entgegengesetzten Richtungen. Das Barometer sinkt tiefer und tiefer, es kündet den Sturm voraus – das Thermometer steigt. Personen mit erregbaren Nerven, die während der Bise sich mehr in aufgeregtem, gereiztem Zustande befinden, werden schlaff, abgespannt, träge – man hört überall Klagen über Kopfschmerz, Migräne, allgemeines Unwohlsein, Trägheit des Körpers und des Geistes. Die Sonne wird bleich, ihr Licht weiß – ein eigenthümlicher feiner Dunst hüllt die Höhen ein – auf der Nordseite der hohen Gipfel zeigen sich leichte Nebel – der Montblanc raucht seine Pfeife – der Mond hat einen verschwommenen, leuchtenden Hof – die Sterne flimmern auffallend mit schwachem Lichte. Dabei wird im Sommer die Hitze drückend, die Luft schwer – während bei der Bise die Vorräthe austrocknen und Brod fast augenblicklich sich spachert, faulen sie beim Föhn mit überraschender Schnelligkeit. Ich erinnere mich, daß ein botanisierender Freund uns Forellen brachte, wohl eingepackt zwischen frischen Kräutern und Pflanzen, die er gesammelt und deren Fange aus den frischen Wassern der Reuse im Traversthale er beigewohnt hatte. Es herrschte drückend schwüler Föhn. Zwei Stunden nach dem Fange begann das Fleisch sich schon von den Knochen zu lösen!

In den westlichen Cantonen, so wie in Bünden, wird der Föhn selten zum Sturm und ist im Frühjahre fast überall ein gern gesehener Gast. Die Wärme, die er dann mitbringt, wirkt noch nicht erschlaffend, und ihre Wirkung auf das Schmelzen des Schnees und das Hervorlocken der Vegetation ist wirklich überraschend. „Der Herrgott und die liebe Sonne können Nichts, wenn der Föhn nicht kömmt.“ sagt ein Sprüchwort der Centralschweiz. Freilich lockern sich dann häufig die Schneelehnen mit einem Male, und die Lawinen stürzen zu Thal, um so verderblicher, je größer die Schneemasse war, die im Winter gefallen ist - wo aber dies nicht zu fürchten ist, da thut der Föhn in einem Tage mehr, als 14tägiger Sonnenschein bei Bise, und unmittelbar sprießen unter seinem Hauche die Schlüsselblumen, Veilchen und Wald-Anemonen. Ebenso erhält er im Herbst die Wärme länger und scheint besonders zu den schönen Tagen mitzuwirken, die im December, wo Nebel das Thal deckt, auf den Höhen Sonnenglanz und Wärme verbreiten.

Vielleicht könnte man einen oberen, hohen und einen niederen Föhn unterscheiden. Der erstere streicht hoch, ist weniger mit Wasserdampf gesättigt – der letztere hält sich tiefer, sättigt sich über dem Mittelmeer mit Wasserdunst und schlägt ihn dann an den Alpen nieder. Beide Föhne aber bringen Platzregen, Schneewirbel (sogenannte Guxeten – franz. tourmentes) am Anfang und am Ende ihrer Herrschaft, wenn der kalte Nordstrom in der Luft mit dem heißen, dunstigen Südstrom kämpft. Oft sieht man dann auf höheren Pässen, z. B. dem Gotthard, der Grimsel, den Kampf unmittelbar vor sich. Der Nordwind wälzt schwere Wolken heran, die sich über den Paß hinüber ergießen. Drüben liegt das Thal im glitzernden, warmen Sonnenschein – jeder Ballen, der eindringt, löst sich auf, wie der Dunstballen, den eine Locomotive ausstößt - bis auf den Paß ist es schauderhaftes Wetter, Sturm, Kälte, Nässe – drüben ist der Himmel blauer als je, die Luft gewitterschwül, warm. Hält der Föhn mehrere Tage an, so wird der Himmel tiefblau, und die Tinten der Landschaft erhalten eine außerordentliche Frische und Sättigung. Föhntage im October geben die schönsten, wunderbarsten Gebirgsansichten, von deren Pracht und Farbenglanz der Tourist sich keine Vorstellung machen kann, der die Alpen nur in dem staubigen, grauen Sommergewande gesehen hat.

Betrachtet man eine Karte der Alpen, so findet man leicht, daß in Folge der eigenthümlichen, hakenförmigen Krümmung dieses gewaltigen Gebirgszuges ein von Süden kommender Luftstrom gerade in der Gegend des Gotthard am härtesten antreffen und dort auch gewissermaßen sich sacken muß, ganz so wie die Bise bei Genf in dem Winkel zwischen Jura und Alpen sich sackt und deshalb dort heftiger wird, als irgendwo in der Schweiz. Es giebt fast alljährlich in Genf Tage, wo man kaum wagen kann, über die Bergues-Brücke zu gehen, und wo das ganze hebräische Alphabet, das die Genfer in Gestalt von Blechröhren auf ihre Kamine zu setzen pflegen, Flügel zu bekommen scheint. Ganz so geht es mit dem Föhn in der Centralschweiz. Er rast am heftigsten durch die Thäler in der Nähe des Gotthard, in den Cantonen Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarns. Dort gelten die alten Feuerordnungen noch, wonach die Feuer gelöscht werden müssen, wenn der Föhn sich erhebt; und den Föhn schildert die wunderschöne Stelle aus Schiller’s Wilhelm Tell:

                         Wenn der Sturm
In dieser Wasserkluft sich erst verfangen,
Dann ras’t er um sich mit des Raubthiers Angst,
Das an des Gitters Eisenstäbe schlägt!
Die Pforte sucht er heulend sich vergebens;
Denn ringsum schränken ihn die Felsen ein,
Die himmelhoch den engen Paß vermauern.

Die Gewalt solcher Föhnstürme, die besonders auf dem Urner- und Wallensee hausen, erreicht diejenige der indischen Wirbelstürme. Durch einen heftigen Föhn wurde der Flecken Glarus vor zwei Jahren in Asche gelegt. Ein Föhnsturm hauste auf dem Wallensee an dem Tage, wo Heinrich Simon sein Leben verlor. Ein noch viel stärkerer Sturm durchraste in der ersten Woche des Januar die Ostschweiz, entwurzelte und knickte die unbelaubten Bäume und richtete unendlichen Schaden an Gebäuden, Wohnungen und Stallungen an. In dem kleinen Halbcanton Appenzell-Innerrhoden allein wird jetzt der Schaden, den der Föhnsturm vom 7. Januar an Wäldern, Obstbäumen und Gebäuden anrichtete, amtlich auf mehr als hunderttansend Thaler (400,000 Franken) geschätzt.

Föhnstürme, welche im Winter kommen, laden auf der erkältenden Quermauer der Alpen ungeheure Schneemassen ab. Dies war in dem heurigen Winter der Fall. Daher die Unglücksfälle im Tessin, im Bedretto-Thale, in Locarno, im Misox, wo die Dächer von den wuchtenden Schneemassen eingedrückt und zahlreiche Menschen erschlagen wurden. Ueberhaupt aber bildet die [215] durch den Föhn vermittelte Zuführung warmer Wasserdünste, welche an den Alpen sich als Schnee niederschlagen, den Grund jener auffallenden Erscheinung, daß auf der Südseite der Alpen mehr Schnee fällt, als aus der Nordseite, daß die Schneefelder und Gletscher dort, trotz der stärkeren Sonnenwärme, tiefer hinabsteigen, die Linie des ewigen Schnees gegen Italien hin also um einige hundert Fuß tiefer sich hinzieht, als auf der deutschen Alpenseite.

Diese gewaltsamen Aeußerungen der entfesselten Naturkraft bilden die Kehrseite des Föhns, der sonst im Ganzen eine wohlthätige Einrichtung genannt werden müßte, wenn überhaupt bei solchen Dingen von einer Absicht für den Menschen die Rede sein könnte. Denn dem Föhn verdankt die Schweiz vorzugsweise die verhältnismäßige Milde ihres Klimas, das frühere Eintreten des Frühlings, sowie die baldige Befreiung der Ebene von Schnee. Bleibt der Föhn im Frühjahre aus, so giebt es einen späten und schlechten Sommer. Nicht mit Unrecht hat Escher von der Linth, der verdienstvolle Geologe, darauf aufmerksam gemacht, daß einer der Factoren, unter welchen die Eiszeit schwand und die Gletscher, welche früher die ebene Schweiz deckten, sich in ihre jetzigen Grenzen zurückzogen, im Föhn zu suchen sei. Als die Sahara noch ein Binnenmeer war – und sie war es vor nicht langer Zeit, nämlich noch in der letzten geologischen Epoche – konnte kein Scirocco, kein Föhn entstehen. Damals deckten Gletscher die Schweiz bis zum Jura, krönten Gletscher die Höhen der Vogesen und des Schwarzwaldes. Als aber mit der Austrocknung der Sahara eine ungeheuere Wüstenfläche geschaffen war, die, einer erhitzten Ofenplatte gleich, Ströme heißer Luft nach Norden entsandte, welche sich Bahn brachen über die Alpen, schmolzen unter dem Hauche des Föhn die alten Gletscher und zogen sich in ihre Berge zurück. Nun erst konnte der Mensch sich in der Schweiz ansiedeln, die anfangs noch, wie Auerochs und Rennthier es beweisen, ein strengeres Klima hatte als jetzt. Ob der Mensch auch schon vor dieser Eiszeit in der Schweiz hauste, ist freilich eine andere Frage – jedenfalls ist soviel gewiß, daß der Föhn erst die seit voradamitischen Zeiten begonnene und bis in die neueste Zeit ununterbrochen fortgesetzte Ansiedelung ermöglichte.

Unsere Abbildung ist von der Hand eines Künstlers, an dessen Augen über hundert solcher Stürme mit all ihren Schrecken vorübergegangen. Was er uns auf dem beschränkten Raume zeigt, ist nur ein kleines Stück von dem Bereiche, über das der Föhn seine wahrhaft unermeßliche Kraft der Zerstörung ausbreitet. Gegen sie verschwindet aller menschliche Widerstand; die Flucht aus seinem Wege ist des Menschen einzige Rettung. Felsen und Schneemassen reißt er mit sich fort und fegt mit ihnen den zitternden Boden. Selbst die festest gebauten Alpenhütten schützen nicht, die fortgerissenen Dachsteine und Balken gefährden nur die Flucht; die stärksten „Schirmtannen“, die den Kampf mit mancher Lawine bestanden, knickt er. Da hat er sie vor uns auf die „Prügelbrücke“ geschleudert und versperrt den einzigen Pfad der fliehenden Familie, als ob er sie so lange hemmen wolle, bis er sie unter den Trümmern ihres eigenen Hauses begraben habe. Alles sucht sein Liebstes zu retten, die Tochter die alte Mutter, die junge Frau ihre Kinder, das Kind seine Puppe und der Vater mit kräftigem Arm den einzigen Fluchtweg für die Seinen und seine beste Habe, seine Thiere zu bahnen; aber der Föhn hat kein Erbarmen. – Zwei Zeugnisse seiner Thaten zeigen uns die beiden Eckbildchen: dort, links, graben die Geretteten die Leichen ihrer Lieben aus dem Schnee unter den Trümmern ihres Hauses; und hier, rechts, hat die vom Föhn zerrüttelte Kirche St. Antonio zu Locarno die zum Himmel flehenden Gläubigen mit dem eigenen Gestein erschlagen. Das Bild erzählt Alles, was der Föhn Schreckliches verbrechen kann.

D. Red.



Aus den Sprechstunden eines Arztes.
V. Der Fettbäuchige und die Wespentaillige.

Sprechen wir aber erst einige Wörtchen mit dem Publicum und zwar über die Rücksichtslosigkeit, mit welcher nicht Wenige aus den sogenannten gebildeten Ständen ihren Arzt behandeln. Wir waren zwar früher schon so frei, über diese Rücksichtslosigkeit von der Leber weg zu sprechen, allein – das kann gar nicht oft genug geschehen, und deshalb heraus mit der Sprache!

Und wenn auch an allen Thüren der ärztlichen Wohnung mit großen Buchstaben angeschrieben steht: „Sprechstunde von – bis - “, so verlangen doch gar nicht selten Kranke (zumal dickthuige Geldprotzen), die sich recht wohl mit ihren Geschäften so einrichten konnten, daß sie zur richtigen Zeit beim Arzte einzutreffen im Stande waren, daß derselbe auch nach dieser Zeit noch, auf Kosten seiner Studien- oder Erholungszeit, ihr Genörgele über unbedeutende Beschwerden mit Aufmerksamkeit anhören soll. Und warum verlangen sie das? Weil sie den Arzt für eine Art Dienstmann ansehen, der für Geld zu jeder Zeit den Leuten zu Diensten stehen muß. – In diesem Sinne honoriren sie auch sehr oft den Arzt in einer Form, die äußerst verletzend für denselben ist. Der Eine sucht in allen Taschen nach dem Portemonnaie herum und langt, wenn er’s endlich gefunden hat, mit großer Behäbigkeit die Groschens heraus, um sie dem Arzte in die Hand zu zählen. Ein Anderer wünscht auf einen Fünfthalerschein vier und einen halben Thaler zurück; ein Dritter drückt dem Arzte wie einem hübschen Dienstmädchen, welches ihm die Treppe herableuchtete, mit einer Art von Gefühl einen Thaler in die Hand. Selbst Personen von sogenannter feiner Bildung lassen sich diese Handgelddrückerei zu Schulden kommen, anstatt das Honorar (wo möglich in ein Couvert eingeschlagen) ohne auffallendes Gebahren auf den Tisch zu legen oder nachträglich zu übersenden.

Auch von der Inhumanität solcher Kranken gegen einander, welche einen beschäftigten Arzt in seiner Sprechstunde besuchen, läßt sich Manches sagen, denn nicht nur, daß der später gekommene wohlhabendere oder höher gestellte Patient gar oft vor dem schon länger wartenden ärmern Kranken aus niedrigerm Stande den Vortritt haben will, auch in ihrer langweiligen Unterhaltung mit dem Arzte bedenken Manche gar nicht, daß im Vorzimmer noch andere Kranke auf Rath warten.

Viele Kranke nehmen den ertheilten ärztlichen Rath in einer Art und Weise hin und versprechen denselben zu befolgen, gerade als ob sie dem Arzte einen ganz besondern Gefallen damit erzeigten, für den er sich womöglich noch bedanken soll. – Von innerem Grimm kann aber der Arzt verzehrt werden, wenn Patienten, die entweder Jahre lang ihren Körper mißhandelten und sich dadurch ein langwieriges Uebel zuzogen, oder kürzlich von einem schweren Leiden heimgesucht wurden, dem Arzte Vorwürfe über die langsam fortschreitende Besserung machen. Vorzüglich wohlhabende Geschäftsleute sind es, die sich dies gegen den Arzt erlauben und ihr ebenso unartiges wie unverständiges Benehmen dadurch noch verletzender machen, daß sie sich auf diesen oder jenen Freund berufen, der bei einem ähnlichen Leiden wie das ihrige von diesem oder jenem Arzte weit schneller hergestellt wurde. Sie scheinen die Herstellung der Gesundheit wie eine Schuhflickerarbeit zu betrachten.

Kurz, aus dem Benehmen der Patienten gegen ihren Arzt läßt sich recht deutlich auf die Bildungsstufe derselben schließen. Nun, merken Sie sich das, geehrter Leser.

1. „Muß ich denn durchaus nach Carlsbad?“

Mit diesen Worten warf sich mein dicker, spitzbäuchiger Freund, vom Treppensteigen noch ganz außer Athem, in die Sophaecke, daß Alles krachte.

„Ein Muß ist’s nicht. Aber –“

„Nun, das ist mir lieb, denn ich möchte meine Familie und mein Geschäft nicht gern verlassen.“

„Aber dann mußt du freilich zu Hause auch Alles das auf’s Strengste befolgen, was Dir von deinem überflüssigen Fette verhelfen kann. Und das thun die allerwenigsten Schmeerbäuche gern. Uebrigens kenne ich das schon, wenn ein solcher dicker Patron sein Geschäft als Hinderniß gegen die Badereise vorschiebt; nur Bequemlichkeitsliebe und das Nichttrennenkönnen von den lieben alten Gewohnheiten halten den Herrn zu Hause fest.“

„So hat meine Frau auch gesprochen.“

„Wenn das ist, dann rathe ich jedenfalls zur Badecur. Denn Gnade Gott mir und dir, wenn du auf meinen Rath hin nicht nach Carlsbad gingst und nächsten Winter wieder deine alte Staupe [216] hättest; das Genörgele von Deiner Familie: siehst Du, nun hast Du’s, warum bist Du nicht nach Carlsbad gegangen u. s. f., nähme gar kein Ende, und ich müßte, wie immer, ganz gewiß als Sündenbock dafür herhalten, daß Du meinen ärztlichen Verordnungen nicht ordentlich nachgekommen wärst.“

„Nein! Da kennst Du meine Frau schlecht. Was Du sagst, hält sie für ein Evangelium.“

„Nun denn, ordentlich aufgepaßt, denn ihr Halbkranken hört immer nur mit halbem Ohre zu. – Alle Beschwerden, von welchen fettleibige Personen, zumal solche, die schnell in wenigen Jahren fett wurden, heimgesucht

Die gesunde Mannesleber.

werden, haben ihren Grund in widernatürlicher Fettablagerung im Innern des Körpers, ganz besonders in lebenswichtige Organe, wie das Herz, die Leber, die Gefäßwände etc. Es ist deshalb die Aufgabe jedes Fettsüchtigen, nicht nur neue Fettablagerung zu vermeiden, sondern auch das schon in zu reichlicher Quantität vorhandene Fett zum großen Theile wieder wegzuschaffen. Damit sich nun neues Fett in ungehöriger Masse nicht mehr absetzen (aus dem Blute ausscheiden) kann, muß eine solche Diät eingehalten werden, welche im Genusse fettarmer Nahrung besteht und ebenso wie fette auch fettbildende Nahrungsstoffe (z. B. Zucker, Mehlspeisen, Spirituosen) vermeidet, sodaß also die Kost hauptsächlich aus magern Fleischspeisen und wässrigen Getränken zusammengesetzt sein darf. Natürlich soll nicht alles Fett, aller Zucker und alles Mehl ängstlich vermieden werden, auch schadet von Zeit zu Zeit ein Gläschen Bier oder Wein nicht, aber nur sehr mäßig ist dies Alles zu genießen.

Zum Wegschaffen des unnützen Fettes dient nun aber nichts besser als tüchtige Bewegung und kräftiges Athmen in frischer, freier und besonders sonniger Waldluft, weil dadurch der Blutlauf und die Fettverbrennung im

Die verkrüppelte Frauenleber.

Blutstrome sehr gefördert wird. Das Faulenzen, lange Schlafen, überhaupt das Pomadigsein muß aufhören und dafür Frühaufstehen, Spazierengehen, Hantiren im Hause oder Garten, Holzfällen, Kegeln, Turnen eintreten. Das kräftige, tiefe Ein- und Ausathmen werde ordentlich gelernt und executirt, auch durch enge Kleidungsstücke nicht etwa behindert.

Ein prächtiges Unterstützungsmittel dieser Entfettungscur ist sodann das Wasser, aber in größerer Menge als sonst getrunken und, weil der Magen weniger dadurch beschwert wird, von heißer Temperatur. Doch kann ein guter Magen auch kaltes Wasser vertragen. Verstopften thut ferner ein schwachabführendes Mineralwasser (wie das Carlsbader) ganz gut, nur lasse man davon ab, sobald der Appetit dadurch vermindert wird. – So einige Biergläser heißen Wassers früh vor dem Kaffee und sodann während des Spazierengehens recht fleißig und kräftig, aber langsam Ein- und Ausathmen, das räumt auf in dem Fettbauche und bewirkt eine Blutmauserung aus dem ff. Wer’s nicht glaubt, der thut mir leid.

Uebrigens muß Jeder, der sich in Carlsbad mit Erfolg entfetten will, hier ebenfalls die soeben angegebenen Regeln streng beobachten; er muß fette oder fettbildende Nahrung so viel als möglich meiden und beim Abarbeiten in freier Luft kräftig athmen, Nach der Cur ist’s natürlich nothwendig, wenn sich nicht von Frischem die Verfettung einfinden soll, die angerathene Entfettungsdiät, nur in etwas milderem Grade, fortzuführen.“

Mein Freund ging dick nach Carlsbad dieses Jahr – und Weib und Kinder sah’n ihn dünne wieder.


2. „Ich leide an der Leber.“

„Es sollte mich wundern, wenn’s nicht umgekehrt wäre, mein Fräulein, wenn Ihre Leber nicht vielmehr an Ihnen litte. d. h. an einer schlimmen Behandlang von Ihrer Seite und zwar durch Ihre Kleider. Denn eine solche Taille, die einer Wespe keine Schande macht, kann nur das Product von Gewaltthätigkeiten gegen die Lebergegend sein.“

„Ich habe aber auch gelbe Flecke auf der Haut.“

„Solche Flecke haben mit der Leber ebensowenig zu thun, wie die Sommersprossen und der brünette Teint. – Ueberhaupt sind Leberleiden, für sich als Krankheiten, äußerst selten (s. Gartenl. 1856. Nr. 29), zumal bei jungen und so wohl aussehenden Damen, wie Sie.“

„Und ärgerlich bin ich im höchsten Grade; das muß doch mit der Galle zusammenhängen.“

Daß dieses leichte Aergerlich- und Zornigwerden eine tadelnswerte Unart ist, sagt man natürlich als artiger Mann der Dame nicht, denk sich’s aber.

„Auch werde ich sehr oft von stechenden Schmerzen in der Lebergegend (unter den letzten Rippen auf der rechten Seite) gepeinigt, die besonders beim tiefen Athmen sehr heftig sind.“

„Solche Schmerzen in der Lebergegend rühren fast stets von einem Entzündungszustande der Leberkapsel her und sind bei eigentlichen Leberkrankheiten äußerst selten vorhanden.“ – Uebrigens kommen wir durch unser Reden nicht zum Ziele, die Lebergegend muß durchaus mittels Beklopfens und Befühlens genau untersucht werden.

Und was ergiebt sich da? In der Haut der obern Bauchgegend geht ein ziemlich tiefer, fast kleinfingerbreiter, etwas gerötheter Eindruck quer von einer Seite zur andern herüber, und dieser rührt von den Unterrocksbändern (selbst wenn diese nur ganz locker gebunden werden) her. So wie in der Haut findet sich nun aber auch in der Leber selbst ein solcher Schnürstreifen, und durch diese Schnürung geräth, abgesehen von der Verunstaltung dieses Organs (s. Gartenlaube 1853. Nr. 26) und der Quetschung des Magens, die Leberkapsel in der Umgebung dieser Furche sehr leicht in einen Entzündungszustand, der jene Schmerzen veranlaßt. Nicht selten hilft auch noch das Schnürleibchen beim Maltraitiren der Leber mit, insofern dasselbe die Rippen in deren weiche Substanz hineindrückt und ebenfalls zur Leberkapselentzündung Veranlassung giebt.

Mein Rath geht deshalb dahin: lassen Sie an Ihre Unterkleider entweder Achselbänder (Heben) oder recht breite Bunde mit Hefteln nähen, und schnüren Sie das Leibchen nur in seinem untern [217] Theile, zwischen Hüfte und Brustkasten. Jedenfalls muß sich der Brustkasten im zugeschnürten Leibchen so weit als nur möglich durch tiefes Einathmen ausdehnen können.

Bei der Wiederkehr der Schmerzen sind warme Breiumschläge auf die Lebergegend zu appliciren. Blutegel, Schröpfen, Senfteige und spanische Fliegen sind unnütze Quackeleien.

Noch muß bemerkt werden, daß durch diese von fest geschnürten Schnürleibchen und von den Unterrocksbändern veranlaßte Verkrüppelung der Leber auch die Thätigkeit dieses gallebereitenden Organs gestört wird, also die Reinigung des Blutes von unbrauchbaren Stoffen, die Verjüngung des Blutes und die Verdauung benachtheiligt wird. Die beistehenden Abbildungen zeigen den Unterschied zwischen einer gesunden Mannsleber und einer verkrüppelten Frauenleber.

Bock.



Der verbannte Häuptling.
Eine Reise-Erinnerung.

„Da ist Pembina,“ rief unser stattlicher Führer aus und parirte seinen Rappen, daß das Thier fast kerzengrade auf den Hinterfüßen stand; „noch einen scharfen Ritt von einer Stunde, und wir sind da!“ Ein willkommener Ruf für unsere kleine Cavalcade, denn wir hatten die letzten 200 Meilen durch ein unwegsames, menschenleeres Land in weniger als vier Tagen zurückgelegt, ohne länger als einige Stunden des Nachts zu halten. Athemlos standen unsere Thiere am Rande des hohen Prairieplateau’s, und es bedurfte der Sporen, um das im schönsten Sonnenschein daliegende Ziel unserer Reise in der gegebenen Frist zu erreichen. Pembina! liebliche Idylle des Nordwestens! gewiß haben wenige deutsche im alten Vaterlande deinen wohlklingenden Namen gehört, und doch wird es nicht lange dauern, bis das Pfeifen der Locomotive und das Schnauben der Dampfer dir die Freuden und Leiden der Civilisation einimpfen wird. Ursprünglich ein Fort der weitherrschenden Hudsonbay-Compagnie, hat der Platz vermöge seiner überaus schönen und günstigen Lage am Nord-Redriver und dicht an der Grenze von Minnesota, Dacota und dem britischen Gebiete jetzt schon eine commercielle Bedeutung erlangt, da die zahlreichen Pelzhändler, welche die weiten Strecken bis zum Eismeer durchziehen, hier ein großes Depot angelegt haben und von den Kaufleuten des Ortes viele ihrer Bedürfnisse beziehen.

Trotz der Grenzstreitigkeiten zwischen der britischen Regierung und den Verein. Staaten haben die Ansiedler beider Parteien sich hier immer gut vertragen und nach echt angelsächsischer Weise ein Selfgovernment gestiftet, dessen Gesetze von dem Volke um so williger befolgt werden, als sie gerade aus dieser Urquelle aller gesetzgebenden Gewalt stammen. Die Umgegend ist paradiesisch schön, und trotz der nördlichen Lage (49 Grad nördl. Br.), gedeihen hier fast alle Feldfrüchte Minnesota’s und Wisconsins, und der goldene Weizen giebt Ernten, die einen preußischen Landesökonomiecommissär in Erstaunen setzen würden. Einen noch viel bedeutenderen Aufschwung wird Pempina nehmen, wenn erst die neuen Goldminen, welche am Saskatchawanflusse weiter westlich entdeckt wurden, mehr ausgebeutet werden, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß die nördliche Hälfte der Felsengebirge an ihrer Ostseite unendlich reich an diesem edlen Metalle ist.

Nichts konnte die freundliche Aufnahme übertreffen, welche uns in diesem entfernten Winkel der Erde zu Theil wurde; Jedermann bemühte sich, uns gefällig zu sein, und für alle Gastfreundlichkeit verlangte man Nichts als die letzten Neuigkeiten aus den Staaten; war doch seit drei Wochen keine Post angekommen! Man riß sich um die paar veralteten Zeitungen, welche wir von St. Paul mitgebracht hatten, und der Bericht über die Schlacht von Solferino (es war gerade zur Zeit des italienischen Kriegs) wurde gierig verschlungen. Unter dem Haufen, welcher sich dicht vor der Niederlage der großen Pelzcompagnie versammelt hatten, wo wir unser Absteigequartier genommen hatten, zeichnete sich ein kurzer dicker Mann dadurch aus, daß er, heftig gesticulirend, den Hinterwäldlern die Ursache und den Zweck des Krieges in schlechtem Englisch zu erklären suchte. Ich erkannte ihn sofort für einen Deutschen und gab mich als Landsmann zu erkennen, worüber er eine große Freude äußerte, da er seine Muttersprache Jahre lang nicht gehört hatte. Er nahm mein Pferd am Zügel, indem er mich bat, sein Gast zu sein, und führte mich zu seinem Blockhause, in welchem er eine Masse verschiedener Waaren und Getränke feil bot. Bei näherer Erkundigung erfuhr ich, daß mein Wirth, aus Frankfurt a. M. gebürtig, bei dem Aufstande 1849 betheiligt gewesen war und in Folge davon hatte flüchten müssen. Auf welche Weise ihn nun die hochgehenden Wellen der Revolution nach Pembina an die Grenze der Civilisation verschlagen hatten, wäre zu weitläufig zu erzählen.

Mein guter Frankfurter, der trotz des Bundestages noch immer für seine Vaterstadt schwärmte, stellte mir sogleich seine beiden Kinder vor, einen schwarzäugigen Knaben und dito Mädchen von zimmtfarbigem Teint, die die Indianische Mutter nicht verleugnen konnten. Er hatte sie nach heimischer Sitte „Schampetist“ (Jean Baptiste) und „Babettchen“ taufen lassen, und diese beiden Namen, welche in der schönen Mainstadt so populär sind, machten in der That hier am Nord-Redriver einen fast possirlichen Eindruck. Nach beendigtem Mahl führte mich mein Wirth in den kleinen Garten hinter dem Hause und zeigte mir mit Stolz eine Anzahl junger Apfelbäume, welche er mit eigener Hand gepflanzt hatte. „Nächstes Jahr,“ rief er aus, „werden sie tragen, daß es eine Lust ist, und dann will ich einen Aepfelwein machen, wie ihn kein Bockenheimer Wirth besser schenkt, und wenn der Schampetist die Bäumchen wieder plündern will, soll sein brauner Rücken dafür zahlen.“ Nun sage Einer, daß die Welt nicht fortschreitet, wenn man in Pempina, mitten zwischen den Trappern und Indianern, an einem heißen Sommertage seinen Durst mit kühlem Cider löschen kann.

Schon längst hatte ich gewünscht, einmal das Missionswesen unter den Indianern kennen zu lernen, und hier bot sich eine ausgezeichnete Gelegenheit dazu dar, denn weiter abwärts am Fluß, im englischen Gebiete, hatte ein katholischer Priester mit großer Selbstaufopferung eine Anstalt der Art angelegt, die sich eines ungewöhnlichen Gedeihens erfreuen sollte. Ich miethete deshalb ein Canoe und engagirte einen tüchtigen Halbblutindianer, der mit der Fahrt auf dem Flusse vertraut war. Da die Strömung außerordentlich reißend ist, so legten wir die 40 Meilen rasch zurück, fast zu rasch, weil die Gegend wunderbar schön ist.

Bei unserer Ankunft fanden wir die ganze Bevölkerung der Mission auf der Prairie versammelt, welche sich von der Höhe des Bluffs, wo die Kirche steht, nach dem Strome herunter zieht. Vater B. aus Mecheln, der liebenswürdige Vorstand der Station, empfing mich herzlich inmitten seiner rothen Kinder und lud mich ein, den festlichen Spielen der Indianer beizuwohnen. Es war gerade erster Pfingsttag, und der kluge Missionär, nachdem er Morgens Gottesdienst und Schule abgehalten, beaufsichtigte nun die athletischen Spiele seiner Pflegebefohlenen, weil, wie er sagte, diese ohne seine Gegenwart häufig einen gar zu wilden Charakter annehmen würden.

„Den abscheulichen Scalptanz abzuschaffen, ist mir gelungen, dafür begünstige ich das Drachenspiel, was ich früher auf der Hochebene von Quito, als ich dort stationirt war, kennen lernte und hier eingeführt habe. Es ist so ein echtes Spiel für Leute, die Indianeraugen haben. Schauen Sie nur.“ Aus der Menge traten jetzt zwei junge Männer hervor, so daß sie freien Spielraum hatten, und ließen jeder einen großen, nach chinesischer Weise geformten Drachen steigen. Die Zuschauer machten bereitwillig Platz, und die beiden Indianer manövrirten nun mit einer immer wachsenden Schnelligkeit über die Wiese, um sich den Wind abzugewinnen, während die beiden Drachen zu einer Höhe stiegen, wo ein europäisches Auge die Bewegungen kaum verfolgen konnte. Mehrere Male kreuzten sich hoch oben die Schnüre, und die beiden Spieler entfernten sich rückwärts schreitend von einander, stets darauf bedacht, mit ihrem Bindfaden einen Druck und Zug auf den des Gegners auszuüben, bis die scharfe Klinge eines Federmessers, welche ungefähr 20 Fuß unterhalb des Drachens an der Schnur befestigt ist, mit der der andern Partei in Berührung kommt und dieselbe durchschneidet, so daß das papierne Ungeheuer mit einem Saltomortale zu Boden schießt, während die Freunde des Siegers ein lautes Triumphgeschrei ausstoßen.

[218] Wenn man nun bedenkt, wie außerordentlich schwer es ist, in einer solchen Höhe die leiseste Luftströmung zu berechnen und zu benutzen, und um wie viel schwieriger es noch ist, gerade diejenige Stelle der Schnur, wo das nur zolllange Messerchen eingeflochten ist, mit einem gewissen Druck über die Schnur des Gegners, der ebenfalls sein Bestes versucht, wegzuziehen, so muß man sich über die Sehkraft und Geschicklichkeit der Indianer nicht wenig wundern. Die Preise, welche der kluge Vater B. für die Sieger, denn es traten mehrere Preiskämpfer auf, aussetzte, bestanden aus Messern, schottischen Mützen u. dergl., und es kann kein Opernsänger, wenn die Kränze auf die Bühne fliegen, mehr Anstand und Bescheidenheit simuliren, als unsere jungen Rothhäute in diesem Falle.

Gegen Abend, als die Spiele vorüber waren, folgte ich der gastfreundlichen Einladung des Missionärs, der mir in seinem kleinen bescheidenen Blockhause (die so nothwendige Sägemühle war noch nicht fertig) einen landesüblichen Imbiß bot. Während des Mahles erzählte mir mein Wirth so Manches über seine Erlebnisse in dieser wilden Gegend und über das Entstehen der Mission, wie er oft mit knapper Noth seine Kopfhaut gerettet hatte, auch zeigte er mir ein dickes Manuscript über die verschiedenen Dialekte der Algonquinsprache, deren Studium er in seinen Mußestunden begonnen hatte und von der er behauptete, daß sie mit dem alten Aztekischen nahe verwandt wäre.

Wie der Pflanzer in dem bekannten Seume’schen Gedicht schlief ich herrlich, aber mit besserem Gewissen auf den weichen Bärenfellen, bis das Läuten der Kirchenglocke mich erweckte. Ach, wie klang das so heimisch! Es war ja zweiter Pfingsttag, und die Sonne leuchtete hell, und ein blauer Himmel wölbte sich über den breiten Strom, die grünen Prairien und die zackigen Bluffs.

In Lederhemden und Mackinawdecken gekleidet, schritten die zimmtbraunen Kinder der Natur zur Messe. Die kleine roh aus Baumstämmen gezimmerte Kirche war inwendig mit einer schneeweißen Kalkschicht überzogen, und der Altar war besser decorirt, als ich in diesem entlegenen Winkel der Welt erwarten konnte, da dessen Ausstattung ein Geschenk des Bischofs von Montreal war. Als die Messe celebrirt wurde, sah ich einen hochgewachsenen Indianer als Sacristan ministriren, dessen würdevolles Wesen mir unwillkürlich Achtung abzwang, obgleich in seinem wild scheuen Blick etwas Unheimliches lag, während er die vorgeschriebenen Ceremonien pünktlich ausführte. Das ganze Benehmen des Ministranten erinnerte mich nicht etwa an Schiller’s Fridolin, der mit kindlicher Frömmigkeit dem Priester die Stola und das Cingulum umhängt, sondern an die düstere Trauer von Lord Byron’s Mönch, der in seinem Giaur sich in Selbstzerknirschung kasteiet.

„Aus brauner Kutte stiert voll Graus
Unheimlich scheu der Blick heraus,
Des Auges Blick, geöffnet weit,
Spricht zu viel von vergangner Zeit.“

Nach beendigtem Gottesdienst, als ich unter Vater B.’s gastfreundlichem Dache die einfache Mittagsmahlzeit mit verzehren half, konnte ich nicht umhin, mich über den Eindruck zu äußern, den der seltsame Meßner auf mich gemacht hatte, und bat den ehrwürdigen Missionär, mir etwas über die Geschichte des Mannes mitzutheilen.

„Sie haben Recht,“ sagte der Geistliche, „Neykeemie ist kein gewöhnlicher Indianer, er besitzt einen großen Verstand und tiefes Gefühl, auch hat kein anderer auf der ganzen Mission solche Fortschritte in den göttlichen Lehren gemacht, als er, und darum habe ich ihn zu jener Stellung erhoben, um die ihn Alle beneiden. Ein großes Unglück hat seinen Stolz, den er als Häuptling der Odjibbewas früher zur Schau trug, gebrochen. Von seinem eigenen Stamme wegen einer That der Verzweiflung verbannt und im Herzen zerknirscht, kam der früher so rauhe Krieger hieher, um bei dem Gotte der Blaßgesichter Versöhnung zu suchen. Seine Geschichte ist wirklich interessant, und wenn Sie dieselbe hören wollen, so will ich sie Ihnen erzählen. Aber ich sage Ihnen, es ist eine traurige Geschichte, voll von Verzweiflung, die selbst in diesem Lande der blutigen Scalps und Hände fast unerhört ist. Hören Sie!

Neykeemie war noch vor wenigen Jahren der angesehenste Häuptling der Odjibbewas. Als ich vor einiger Zeit in das Land kam, sagte er mir für einen kleinen Dienst, den ich ihm erwies, seinen Schutz zu, und er hat treulich sein Wort gehalten, indem er der Mission jedweden Vorschub leistete, trotz der Eifersucht der Methodisten in Assiniboja, welche ihn und andere Sagamores gegen mich aufzuhetzen suchten. Bei allen sonstigen guten Eigenschaften war er nichtsdestoweniger in den Vorurtheilen seiner Stammgenossen befangen und er war stets der Erste, wenn es darauf ankam, den blutigen Kriegspfad zu betreten. So bereitete er vor einigen Jahren mitten im Winter einen Zug gegen die Yanktons über die Grenze von Dacota vor, von dessen Ausgang er sich viel versprach. Ach! hätte er das Ende voraussehen können!

Denken Sie sich ein großes Indianerdorf mitten zwischen schwarzen Schierlingstannen, unter denen die Hütten von Birkenrinde und die mit buntbemalten Fellen bedeckten Wigwams vor dem eisigen Nordwinde Schutz suchen. Die ganze Bevölkerung vom Greise bis zu den Pagoosen hinunter ist auf den Beinen, und die jungen Squaws haben ihre buntesten Decken umgeworfen, um vor den Tapfern des Stammes zu glänzen; um den gestreiften Pfahl, der in der Mitte des Lagers steht, versammeln sich stillschweigend die rothen Krieger, den Federputz im schwarzen Haar und mit phantastisch gemalten Gesichtern. Diesem so grimmig schauenden Farbenwechsel liegt aber keine planlose Idee zu Grunde, sondern jeder Strich, jeder Punkt hat seine Bedeutung; man möchte diese blauen, schwarzen und rothen Streifen ebenso gut entziffern können, wie die primitive Keilschrift der altägyptischen Denkmäler. Der eine Krieger hat sich wie ein Skelet bemalt, weil er den Feinden schon früher den Tod gebracht, der andere hat auf seiner Brust ein blutendes Herz gezeichnet, und schielt dabei verstohlen nach einer jungen Squaw, die eben beschäftigt ist, einem Trupp langhaariger Pferde Mais vorzuwerfen. Und wie werden jene Jünglinge von den Mädchen des Stammes bewundert, wenn sie ihre mit Zobelfellen und Fuchsschwänzen verzierten Häupter schütteln und die mit Falkenflügeln und Streifen rothen Tuchs geschmückten Lanzen mit drohender Gebehrde schwingen! –

Unter einem solchen Haufen seiner Krieger stand in tiefem Nachdenken Neykeemie, denn er hatte die Nacht einen beängstigenden Traum gehabt, und alle Indianer sind abergläubisch. Doch war es die kalte Morgenluft oder der Anblick seiner Braven, er warf die Sorgen von sich und gab den Zurückbleibenden die nöthigen Befehle. Stolz ließ er die Narben sehen, welche ihn zierten, und sein befriedigter Blick fiel auf die Scalps, die an seinem Gürtel hingen, wie auf die Krallen des grauen Bären, welche, auf eine Schnur gereiht, über seine breite Brust herabfielen. Die dumpfe Trommel schlug in immer rascherem Tempo, der herausfordernde Kriegsgesang seiner Braven stieg und fiel in immer wilderen Cadenzen, und jeder Krieger schlug, seinen Schlachtruf ausstoßend, den Tomahawk in den gestreiften Pfahl. Neykeemie, auf den nackten Rücken seines Pferdes springend, gab nun das Zeichen zum Aufbruch und setzte sich an die Spitze seiner Leute, die einer hinter dem andern reitend bald im Dunkel des Waldes verschwanden, während der gedämpfte Schall der Trommel ihnen nachtönte. So zogen sie hin zum blutigen Werke, entschlossen, den ersten besten Feind, sei es aus dem Hinterhalt heraus oder im offenen Kampfe, zu tödten, und die zum Schutz des Dorfes zurückgebliebenen alten Krieger machten mißmuthig die Runde, weil sie die Gefahren ihrer Brüder nicht theilen konnten.

Dieses Mal war Neykeemie nicht glücklich auf seinem Kriegspfade, da die Yanktons, frühzeitig von luchsäugigen Spähern unterrichtet, ihre Vorkehrungen getroffen hatten und so ein erfolgreicher Ueberfall nicht gut möglich war; zudem fing ein heftiger Nordwind an zu wehen, der über die Polargegenden herstreifend hier stets eine grimmige Kälte mit sich führt, so das das Liegen in den Wäldern selbst den Odjibbewas zu beschwerlich wurde. Daher entschloß sich der Häuptling, um doch nicht ganz ohne Beute heimzukehren, die große Truppe seiner Krieger in kleinere Banden zu vertheilen, weil eine solche jedenfalls mehr Aussichten hat, dem Feinde auf Schleichwegen beizukommen. Ihm selbst in Begleitung von etwa einem Dutzend seiner Braven gelang es auch, während eines heftigen Schneegestöbers eine kleine Abtheilung der Yanktons zu überfallen, mehrere derselben zu tödten und einige Squaws gefangen zu nehmen, worauf er beschloß, da das Wetter immer rauher wurde, ungesäumt nach dem Dorfe zurückzukehren. Nach einem mühsamen Ritt durch die Wälder gelangte Neykeemie endlich auf die weite schneebedeckte Prairie, die sich längst des Assiniboinflusses hinzieht, und glaubte sich nun mit seinen Gefangenen in Sicherheit, als auf einmal die Pferde stutzig wurden und deutliche Zeichen des Schreckens von sich gaben. Ja, es nahten sich Feinde, aber grimmiger und [219] unversöhnlicher als die verhaßten Yanktons, Feinde, deren Heulen das wildeste Schlachtgeschrei an Schrecken übertraf. Als der Häuptling mit seinen Begleitern zurückschaute, gewahrte er eine dichte Masse dunkler Gegenstände aus dem Walde hervorbrechen, die sich mit reißender Schnelligkeit über die hinterlassene Spur ergoß. Auf den ersten Blick erkannte er die Gefahr; er wußte, daß in strengen Wintern die großen nordischen Wölfe, von Hunger getrieben, in zahlreichen Haufen in dieser Gegend erscheinen und dann, von maßloser Raubgier erfaßt, selbst den Menschen angreifen. Der stolze Neykeemie, der früher oft zum Spott ein Paar vereinzelter Wölfe auf der Prairie niedergeritten hatte, wurde nun selbst von diesen Raubthieren gejagt, als er, von der Nutzlosigkeit jedes Widerstandes überzeugt, sich zur Flucht wandte. Er wußte, daß wenige Meilen entfernt ein verlassenes Fort der Hudsonbay-Compagnie am Flusse lag; dieses suchte er mit seinen Kriegern und Gefangenen auf dem kürzesten Wege zu erreichen. Allein die ermüdeten Pferde, so sehr sie das eigene Entsetzen und die wuchtige Peitsche der Reiter trieb, vermochten es nicht mit derselben Eile über die Prairie zu fliegen, wie ihre leichtfüßigen Verfolger, die über den halbgefrorenen Schnee, ohne einzubrechen, heransprangen.

Als die Verfolger immer näher kamen und deren gieriges Geheul immer lauter ertönte, gab Neykeemie einem jungen Krieger, der dicht neben ihm ritt, ein stummes Zeichen, was dieser sogleich verstand. Er parirte sein schnaubendes Roß einen Augenblick und wartete, bis eine gefangene Squaw, die letzte des Zuges, herankam; ohne eine Miene zu verziehen und ohne ein Wort zu sagen, drängte er sich an den Pony des Weibes und durchschnitt im Nu mit seinem Messer die große Sehne an einem der Hinterschenkel des Thieres. Dann jagte er seinen Cameraden nach, so schnell er konnte, um die verlorene Strecke wieder einzuholen. Als diese sich umschauten, gewahrten sie eine Scene, die selbst die stoischen Indianerseelen mächtig ergriff. Das Pferd war gestürzt, und die unglückliche Reiterin focht wild mit den Armen in der Luft, doch nur einen Augenblick, denn gleich darauf verschwanden Beide unter dem dichten Knäuel der herangekommenen Bestien.

Neykeemie und seine Gefährten hatten durch dieses grausame Stratagem freilich einen Vorsprung gewonnen, indessen setzte die große Masse der Wölfe, da sie keinen Antheil an der Beute erhalten konnte, mit verschärfter Blutgier die Verfolgung fort. Einzelne Schüsse, welche die Indianer im Fliehen auf sie abfeuerten, hatten nur wenig Effect, denn wenn auch die vordersten fielen und die nächstfolgenden anhielten, um diese sofort zu verzehren, ließen sich doch Hunderte von der Fährte nicht abbringen; die Nase dicht über den Eindrücken der Hufe haltend und den buschigen Schweif in gerader Linie mit dem Rückgrat tragend, flogen sie wie eine Schaar rächender Dämonen über die eisige Decke der Prairie dahin, als wenn sie ihrer Beute gewiß wären. Neykeemie, der mit sicherm Auge die Distanz zwischen den Pferden und den Verfolgern berechnete, gab nun dem oben bezeichneten jungen Krieger ein zweites stummes Zeichen, d. h. eine andere gefangene Squaw mit ihrem Pony zu opfern. Dieses Mal wagte der Indianer nicht abzusteigen, sondern ließ seinen Tomahawk mit solcher Gewalt auf den Kopf des Thieres niedersausen, daß dasselbe betäubt zusammenbrach und so sammt seiner Reiterin von den Bestien augenblicklich in Stücke zerrissen wurde. Wieder gewann man auf diese Weise einen Vorsprung, indessen da die schützenden Palissaden der Factorei noch weit entfernt waren, sah sich der Häuptling genöthigt, sämmtliche gefangene Weiber nach und nach mit ihren Pferden den wüthenden Wölfen zu opfern.

Endlich erblickte man das kleine Fort auf einer mäßigen Anhöhe vor sich, und das scharfe Auge Neykeemie’s entdeckte auch, daß das Thor weit offen stand; es galt nun, die letzte Meile im Fluge zurückzulegen; allein zwischen dem allmählich aufsteigenden Grunde und den flüchtigen Indianern lag noch eine Niederung, die weithin mit einer Schneewehe bedeckt war; hier konnten die schnaubenden und bis auf den Tod gehetzten Pferde nicht so schnell weiter, weil sie bei jedem Sprunge bis über die Kniee einbrachen. So kam es denn, daß die von entsetzlichem Heißhunger angestachelten Bestien in immer rascheren Sätzen sich nahten. Da wurden die Rosse von zwei Odjibbewas matt und knickten zusammen; als die Reiter sahen, daß weder Peitsche noch Zuruf etwas nützten, ergaben sie sich ruhig in ihr Schicksal, stimmten ihren Todtengesang an und Rücken an Rücken gelehnt, erwarteten sie den Anlauf; doch wenn auch Tomahawk und Messer manchen Wolf tödteten, so war ihr verzweifelter Widerstand doch vergebens, da sie in unglaublich kurzer Zeit mit ihren Pferden zerrissen wurden. Während sich noch ein Rudel der Bestien um die Knochen stritt, setzte der große Haufen mit doppelter Gier die Verfolgung fort und wurde nicht eher aufgehalten, als bis ein älterer Odjibbewa, der zwei Söhne unter den Fliehenden besaß, sich selbst opferte, indem er seinem keuchenden Rosse die Kehle abschnitt; dieses taumelte hin und her, stürzte endlich, und der edle Vater, nachdem er seinen Kindern noch einen liebenden Blick nachgeschickt hatte, setzte sich ruhig auf den Schnee nieder und erwartete resignirt sein gräßliches Schicksal. Neykeemie, der jetzt mit dem Rest seiner Begleiter am Fuße der Erhöhung angekommen war, auf der die schützende Stockade stand, warf einen verzweifelten Blick hinter sich, zeigte auf das offenstehende Thor und jagte, von den letzten Kräften seines Hengstes getragen, bergauf; die Uebrigen folgten, so schnell wie es der erschöpfte Zustand ihrer Pferde zuließ. Doch auch jetzt waren die Wölfe dicht hinter ihnen, und es unterlag keinem Zweifel, daß ihnen noch ein letztes Opfer gebracht werden mußte, wenn sie nicht Alle zu Grunde gehen wollten. Ein solcher Gedanke durchzuckte Neykeemie’s Gehirn, schnell entschlossen ergriff er seine Büchse und schoß das Pferd des dicht hinter ihm reitenden Odjibbewas durch den Kopf, so daß Roß und Reiter überschlugen. Letzterer suchte sich loszumachen, doch ehe es ihm gelang, fühlte er schon den heißen Athem der Bestien an seiner Kehle; er wollte seinen Todtengesang anstimmen, doch zu spät!

Diese kurze, durch eine barbarische That erkaufte Spanne Zeit genügte jedoch, um den Häuptling mit den noch übrig gebliebenen Kriegern in Sicherheit zu bringen. Sie jagten durch das offene Thor in die Einzäunung hinein und warfen augenblicklich die zum Glück unversehrte Pforte zu, so daß sie endlich eine feste Barriere zwischen sich und den Verfolgern hatten. Wüthendes Geheul ertönte um die Palissadenfenze herum, als die Wölfe sich um die Beute betrogen sahen; sie versuchten einzudringen, indem sie sich unter der festen Einzäunung durchzuwühlen suchten, allein der festgefrorene Boden widerstand allen Versuchen, während die todbringenden Büchsen der Odjibbewas unter ihnen aufräumten. Sobald eine der Bestien fiel, stürzten die anderen darüber her, um sie zu verzehren, doch minderte sich die Masse der Angreifenden nicht, da fortwährend neue Zuzüge erschienen. Die eingeschlossenen Indianer beschlossen daher, ihre Munition nicht unnütz zu vergeuden, zündeten vor dem einstöckigen Blockhause, welches in der Mitte der Stockade verlassen dastand, ein mächtiges Feuer an und warfen nur von Zeit zu Zeit gewichtige brennende Holzstücke zwischen die Wölfe, um dieselben aus dem nächsten Umkreise zu verjagen. Jetzt pfiff und heulte es auf einmal in den Lüften, und die Schindeln flogen wie dürres Laub von dem alten baufälligen Gebäude herunter, so daß die angebundenen Pferde sich losrissen und wie toll in der Einzäunung herumgaloppirten. Einer jener nordischen Schneestürme, welche an Schrecknissen den Samum der Sahara bei weitem übertreffen, fegte mit einem Ungestüm über die nächtliche Winterlandschaft, daß der Hügel, auf welchem das Fort stand, in seinen Grundfesten erzitterte, und daß das Toben des Orcans das Heulen der lauernden Bestien übertönte. Kaum war es möglich, das Feuer zu unterhalten, so viel trockenes Holz man auch hinein warf, denn der durch die Spalten der Steckade hereinbrechende Wind drückte die Flamme nieder und drohte sie durch die wirbelnden Schneemassen zu ersticken. Man versuchte in dem alten Blockhause selbst noch ein zweites Feuer anzumachen, doch drang der Schnee durch das schadhafte Dach in solcher Menge und häufte sich innen dermaßen an, daß der Versuch aufgegeben werden mußte. So kauerten denn die Indianer stumm in ihre Blankets gehüllt rings um die wärmende Flamme, wie bronzirte Marmorstatuen, während die buschigen Köpfe ihrer Ponies über ihre Schultern lehnten.

Neykeemie, der zweimal die Runde innerhalb der Stockade gemacht hatte, um zu sehen, ob Alles in Ordnung sei, rollte nun einen Baumstamm herbei, setzte sich, die Ellenbogen auf die Kniee gestützt, auf denselben nieder, und seine starren Augen musterten das finstere, drohende Firmament. Der eisige Orcan trieb aus Norden dichte Schneewolken vor sich her, die durch sich kreuzende Windstöße phantastische Gestalten annahmen, welche der abergläubische Häuptling als Erscheinungen einer andern Welt betrachtete. Auch glaubte er, von Gewissensbissen erfaßt, in dem Heulen und Toben des Sturmes die Stimmen der geopferten Squaws und des Kriegers zu vernehmen, den er zuletzt so meuchlings den Wölfen preisgegeben. Es war nicht die eisige Kälte, nicht das in Absätzen [220] deutlich zu vernehmende Wuthgeschrei der blutgierigen Meute draußen vor den Palissaden, was seinen athletischen Körper zittern machte, sondern der maßlose Schmerz, der in dem Bewußtsein lag, daß er als Häuptling seine Pflicht verletzt hatte. Ihm kam es zu, sich zuerst zu opfern, denn das war bei solchen Fällen die Sitte und Tradition seines Stammes; statt dessen hatte er einen der besten Krieger, der stets tapfer an seiner Seite gefochten hatte, dem grauenvollsten Tode überliefert.

Theilnahmlos sah er die schreckliche Nacht der grauen Dämmerung weichen, theilnahmlos hörte er die frohe Meldung seiner Leute, daß das Unwetter die Bestien vertrieben, nur als sein geliebtes Schlachtroß freundlich den blutigen Kopf an seiner Schulter rieb, überflog ein milder Zug sein entstelltes Gesicht. Die Krieger, welche sonst auf jedes seiner Worte und Zeichen geachtet hatten, schienen kaum mehr Notiz von ihm zu nehmen, höchstens warfen sie ihm vorwurfsvolle Blicke zu. Da der Nebel noch auf der niedrigen Prairie wogte, jagte man einstweilen ein Pferd aus der geöffneten Pforte den Hügel hinunter, um aus dessen Betragen zu erkennen, ob die Wölfe noch in der Nachbarschaft seien. Das Thier aber trabte muthig durch den tiefen Schnee und zog die frische Morgenluft mit den großen Nüstern ein und gab seinen Cameraden durch ein helles Wiehern, das augenblicklich erwidert wurde, zu erkennen, daß die schrecklichen Feinde weit aus der Witterung seien. Aus diesem Grunde schlossen die Odjibbewa’s, daß keine Gefahr mehr vorhanden sei, und als die Sonne den Nebel vollends vertrieb, und sie die Gegend nun mit ihren scharfen Augen genau überschauen konnten, setzten sie ihre Waffen in Stand und schickten sich zum Aufbruch an. Dieses Alles thaten sie, ohne den Häuptling zu fragen, ein Beweis, daß sie seine Würde nicht mehr anerkannten. – Den Abziehenden folgte Neykeemie in einer gewissen Entfernung und gelangte so ohne weitere Unfälle in das Dorf, wo seine That der Verzweiflung schon durch die früher angekommenen Krieger ruchbar geworden war.

Am nächsten Tage war der ganze Stamm auf dem Berathungsplatze am gestreiften Pfahle versammelt, und die ältesten Sagamoras hielten Gericht über den Häuptling, der seine Pflicht so grob verletzt hatte. Trotzdem, daß ihn einige Blutsverwandte vertheidigten, er selbst sprach kein Wort, wurde er mit großer Majorität verurtheilt und schimpflich ausgestoßen. Die Squaws rissen ihm die Adlerfedern aus der Kriegslocke, beraubten ihn seiner Scalps und anderer Ehrenzeichen und vertrieben ihn mit Ruthen aus dem Bereich des Lagers. Zerknirscht, mit sich selbst zerfallen und geächtet, irrte Neykeemie in den Wäldern herum, bis ihn eines Tages die Leute der Mission in einem bemitleidenswerthen Zustande fanden und unter mein Dach brachten. Dort fand er Theilnahme, Trost und Pflege, und ich hatte die Freude, ihn von den Rachegedanken, über welche er fortwährend brütete, durch christliches Zureden abzubringen. Seit jener Zeit nahm er täglich mehr an religiöser Erkenntniß zu, und ich hatte denn auch bald die Genugthuung, ihn als ein gläubiges Mitglied unserer Kirche aufzunehmen. Sein Benehmen ist freilich noch finster, und wenn die Frühlingssonne den Schnee auf den Prairien schmilzt, mag er sich wohl manches Mal nach seinen frühern Jagdgründen sehnen, indessen die Zeit wird wohl auch diesen Schmerz heilen. Nächstes Jahr, wenn er in der Erkenntniß so fortfährt, werde ich ihn nach Montreal in das Priesterseminar schicken. Das ist die Geschichte von dem verbannten Häuptling.“

T. v. B.



Feuerjagd auf Hyänen.
Von Fr. Gerstäcker.

Seit ich in Amerika vor vielen vielen Jahren die Feuerjagd getrieben und wieder nach Europa zurückgekehrt war, hatte ich stets den Wunsch gehegt, den Versuch mit der Pfanne auch einmal in anderen Ländern zu machen – aber immer vergebens. Entweder war bei sonst günstiger Gelegenheit keine Pfanne oder kein Kien da, oder irgend ein anderes Hinderniß bot sich, und es blieb stets bei dem guten Willen. In Deutschland versuchte ich es ein einziges Mal in der Nähe von Leipzig auf Enten. Als ich eines Tages aber, vollständig ausgerüstet, mit dem Bahnzug an Ort und Stelle fuhr und meine Experimente beginnen wollte, erhob sich ein furchtbarer Wind, daß ich unverrichteter Sache wieder heimkehren mußte. Es unterblieb also auch diesmal, und erst hier in Cairo, wo ich vortrefflichen Kien fand, erwachte auf’s Neue die Lust in mir, diese wundervolle Jagd, die bis jetzt nur allein in Nordamerika getrieben wird, auch in Afrika anzuwenden.

Ich habe die Feuerjagd allerdings in meinen „Streif- und Jagdzügen“ genau genug beschrieben, darf aber nicht voraussetzen, daß die Beschreibung dem, der jene wirklich gelesen, noch geläufig ist, und es wird deshalb nöthig sein, vorher ein paar Worte zur Erläuterung beizufügen. In Nordamerika, besonders in den westlichen Wäldern dieses wildreichen Landes, ist die Feuerjagd etwas ganz Allgewöhnliches, und trotzdem schüttelt der deutsche Jäger gewöhnlich dazu den Kopf, weil er gewohnt ist, aus alten Jagdbüchern – leider ist das jetzt bei uns nicht mehr nöthig – gelesen zu haben, daß man das Wild gerade durch Feuer abhält und verscheucht; er hält also eine Jagd damit für unmöglich. In Afrika ist dasselbe der Fall. Die Raubthiere werden durch angezündete Feuer abgehalten, und trotzdem habe ich eine glückliche Jagd gerade auf Raubthiere und mit Feuer gemacht.

In Nordamerika ist das Wild allerdings die Feuer gewöhnt, denn überall im Westen werden, besonders im Frühjahr, die Wälder angezündet, um das dürre Gras und die Dornen abzubrennen, und Wild und Heerden frische und freie Weiden zu bieten. Eine Menge von alten Stämmen glimmen und brennen dann noch Monate lang nach, und besonders im April, wo die Insecten dem Wild am schärfsten zusetzen, stellen sich die Hirsche außerordentlich gern in den Rauch eines solchen alten Baumes, um hier etwas mehr vor den Bissen der Mosquitos und Fliegen geschützt zu sein. Geht nun der Jäger mit seiner Fackel oder Pfanne, in welcher Kien brennt, in den Wald, so darf man nicht etwa glauben, daß das Wild zum Feuer kommt und gewissermaßen heran gelockt wird, aber es scheut sich wenigstens nicht davor, oder es wird von der plötzlichen Erscheinung der hellen, sich bewegenden Flamme so überrascht, daß es staunend stehen bleibt und den Jäger dadurch in Schußnähe kommen läßt.

In Nordamerika wird die Feuerjagd auf zwei verschiedene Arten betrieben. Bei der einen errichtet sich der Jäger an irgend einer der zahlreichen natürlichen Salzlecken, die sich dort überall im Walde finden, ein Gestell, auf das er vier bis fünf Zoll Erde legt und auf diesem die gespaltenen Kienspähne entzündet. Die Hirsche, die gewohnt sind, die Salzlecke zu besuchen, kehren sich nicht im Geringsten an das Feuer, sondern kommen zu der Lecke wie gewöhnlich, wo sie den unter dem Gestell sitzenden Schützen nicht sehen können und von diesem leicht erlegt werden. Der Jäger sitzt nämlich vollkommen im Schatten, und das Wild wird, wenn es nach ihm hinschaut, durch die über ihm lodernde Flamme geblendet. Der Wind scheint hierbei auch nicht von großem Einfluß zu sein, wenn man besonders die Flammen gut in Brand hält, weil der Geruch des Kiens die Witterung des Menschen ziemlich zerstört; wenigstens ist mir Wild an der Salzlecke von allen Seiten und selbst mit schlechtem Winde angekommen.

Viel vorsichtiger muß man dagegen sein – wofür ich eigentlich keinen Grund anzugeben weiß – wenn man mit der Pfanne oder Fackel in den Wald geht. Möglich, daß das Wild durch das sich bewegende Licht und die Gestalt des Jägers (wenn es diese auch nur sehr undeutlich sehen kann) scheuer und vorsichtiger gemacht wird, aber Thatsache ist, daß man mit schlechtem Wind Nachts nie an ein Stück Wild hinan kommt.

Zu der Fackeljagd gehört eine eiserne, langstielige Bratpfanne, deren Stiel auf ein etwa vier Fuß langes und etwa vier Zoll breites Bret so fest als irgend möglich aufgebunden wird. Vorn in das Bret wird dann ein Loch eingebohrt und eine Holzgabel eingesteckt, um darein beim Schießen die Büchse zu legen, und in der Pfanne selbst der Kien entzündet, daß er seine helle Flamme weit umher wirft.

Die Eigenthümlichkeit bei der Feuerjagd ist aber die, daß man [221] nicht etwa das Wild bei dem Schein der Fackel zu sehen bekommt, denn dazu müßte man ihm schon wenigstens bis auf 30 Schritt genaht sein, sondern nur die Augen oder „Lichter“ des Wildes leuchten sieht. Ist das Stück Wild noch weit entfernt, so bilden die beiden Augen ein einziges Licht. Kommt man näher, so trennen sich diese langsam, und man ist in Schußnähe, wenn man sie in der richtigen und natürlichen Entfernung vor sich sieht. Nicht immer kommt man auch nahe genug, selbst nur die Umrisse des Körpers – der bei dem Fackellicht fast vollkommen weiß erscheint – unterscheiden zu können, und es bleibt dann nichts übrig, als mit der Kugel nur zwischen die Augen hinein zu halten. Es schießt sich überdies bei Fackellicht vortrefflich und sicher, denn die Büchse liegt fest in der Gabel vorn, und das Licht der Flamme wirft seinen Schein so deutlich auf das helle Korn gerade von hinten, daß man es klar und genau im Visier unterscheiden kann. Beim Angehen beobachte man aber ja, daß man nie direct auf das Wild zugeht, sobald man erst in dessen Nähe ist, sondern immer etwas seitwärts davon abhält. Es wird in dem Fall viel eher stehen bleiben und in die Flamme schauen. Geht man zu scharf darauf zu, so erschrickt es schon an und für sich vor der sich nähernden Flamme und entflieht oder weicht wenigstens eine weite Strecke zurück, so daß man von vorn beginnen muß. Auch davor muß man sich ganz besonders hüten, daß man nicht auf dürres Holz tritt oder sonst ein Geräusch macht. Sobald das Wild nur Verdacht schöpft, daß ein Mensch mit dem Feuer in Verbindung steht, ist es spurlos verschwunden und zeigt seine Lichter nicht wieder. Sind die Lichter des Wildes nach dem Schuß verschwunden und hört man gar nichts sich entfernen, so kann man ziemlich fest annehmen, daß man gefehlt hat. Ist das Wild dagegen getroffen, so verschwinden die Lichter allerdings ebenfalls, aber man hört es hastig und wild davon poltern, und in dem Fall kann man fest darauf rechnen, daß man auf dem Anschuß Schweiß findet.

Gerstäcker’s nächtliche Feuerjagd auf Hyänen.
Originalzeichnung von Robert Kretschmer.

Unbedingt nothwendig zu einer Feuerjagd ist aber eine vollkommen dunkle und ruhige Nacht, mit eben Luftzug genug, den Rauch zurück zu treiben. Je offener die Gegend dabei ist, desto besser, denn desto weiter ist man in dem Fall im Stande, die Lichter zu erkennen.

Als wir nach Mensa, in die Hochgebirge Abyssiniens und in ein vortrefflich zu dieser Jagd geeignetes Plateau gekommen waren, stellten sich ihr zwei Hindernisse entgegen. Erstlich war Mondschein, und dann – gab es kein Wild, auf das man hätte in der ganzen weiten Ebene jagen können. In Nordamerika wenigstens gelang es uns nie, einen Panther – bei Fackellicht und mit der Pfanne – zu schießen, denn der amerikanische Panther sieht wohl einen Moment scheu in die Flamme, wendet aber dann rasch wieder den Kopf und umkreist den Jäger, der die Fackel trägt, so lange, bis er Wind von ihm bekommt und dann entflieht. Nur ein einziges Mal, in den langen Jahren, glückte es mir, einen Panther bei Feuerlicht an der Salzlecke, unter einem Gestell sitzend, zu schießen. Der Panther war an die ziemlich hochausgewaschene Salzlecke gekommen, [222] um nachzusehen, ob er nicht vielleicht einen Hirsch darin fände und ihn anspringen könnte.

Aus diesem Grund machte ich gar keinen Versuch, mit der Pfanne hinauszugehen, und erst den letzten Abend, als wir vergebens die mondhellen Nächte auf dem Anstand gesessen, und durch die ganze Gesellschaft erst eine einzige Hyäne erlegt war, holte ich den mitgenommenen Kien vor. An dem nämlichen Morgen war überdies ein Stück Vieh nicht weit hinter unserem Lager gefallen, und es ließ sich denken, daß sich die Bestien rasch darüber hermachen würden. Der Mond war jetzt ebenfalls im Abnehmen und ging erst etwa um elf Uhr auf – Zeit genug also bis dahin, um einen Versuch zu machen.

Dicht hinter unserem Lager befand sich ein mit rauhen Granitblöcken von allen Größen wild überstreuter Platz, den ich passiren mußte, um zu der Stelle zu kommen, wo das gefallene Rind lag. Hier war mir der Wind auch nicht günstig; ich achtete aber nicht darauf, weil ich die Raubthiere alle an jener Stelle glaubte. Mit der Pfanne, in welcher der brennende Kien loderte, auf dem Rücken, einen Sack mit gespaltenem Kien zum Nachlegen umgehängt, die Büchse in der Hand, stieg ich langsam in die Felsen hinein, und „suchte“ noch nicht einmal.

Man „sucht“ nämlich bei der Fackeljagd dadurch, daß man den Schatten des eigenen Kopfes – der durch die hinten getragene Flamme nach vorn fällt – überall langsam im Kreis umhergleiten läßt, denn nur in diesem Schatten oder unmittelbar daneben leuchten die Lichter des Wildes (der Jagdausdruck „Licht“ paßt bei dieser Jagd wirklich vortrefflich). Der Boden war hier auch sehr rauh, und ich hatte genug zu thun auf den Weg zu sehen, als ich, kaum fünfzig Schritt vom Lager entfernt, zufällig einmal emporschaute und dicht vor mir nicht allein die blitzenden Augen einer Hyäne leuchten sah, sondern sogar die ganze ekle, in der Flamme lichtgelb aussehende Gestalt der Bestie erkannte. Sie stand kaum zehn Schritt vor mir und hatte mich wahrscheinlich schon eine ganze Weile betrachtet.

Ueberrascht fuhr ich mit der Büchse in die Höhe; die Bestie war aber zu nah, in dieser Entfernung lange auszuhalten. Ehe ich zielen konnte, glitt der helle Körper zwischen die Felsbrocken hinein, und eine halbe Minute später vielleicht sah ich auf etwa fünfzig Schritt Entfernung erst die Lichter wieder scheinen.

Hätt’ ich mir Zeit genommen, so mußte ich ihr die Kugel jetzt mitten dazwischen hineinsetzen, so aber war ich zu hitzig geworden, zielte rasch und drückte ab, und mit dem Knall war die Bestie verschwunden. Jedenfalls schoß ich zu hoch. Ich hatte in der That gar nicht darauf gerechnet, zum Schuß zu kommen, und deshalb meine Kugeltasche sogar im Zelt gelassen. Jetzt sprang ich rasch genug zurück, sie zu holen und den abgeschossenen Lauf wieder zu laden, und umging diesmal den steinigen Platz, um mit besserem Wind der Hyäne in den Rücken zu kommen.

Der Platz, wo der gefallene Stier gelegen – denn seit Dunkelwerden hatten ihn diese gefräßigen Bestien schon total verzehrt oder zerrissen und in das Dickicht geschleppt – war eine kleine offene Wiese, von vielleicht zweihundert Schritt im Durchmesser, und hier begegnete ich zuerst einem der keinen Schakals, die kaum etwas größer als ein starker Fuchs sind. Er sah mich mit den kleinen brennenden Lichtern einen Moment scharf an, verschwand dann aber im Nu und ließ sich, obgleich ich überall aufmerksam absuchte, nirgends wieder blicken. Er hatte die Flamme außerordentlich übel genommen. Weiter durch die Büsche gehend traf ich wieder auf die Lichter einer Hyäne, die mich lange und aufmerksam anglotzte. Die Lichter standen aber noch zu nah zusammen; sie war zu weit entfernt, und als ich sie angehen wollte, wich sie furchtsam zurück, verschwand für wenige Minuten und tauchte viel weiter zurück wieder auf. Ich folgte ihr auch dahin, aber sie kreuzte jetzt eine dicht mit Dornbüschen bewachsene Schlucht, und dahin konnte ich ihr nicht mit der Pfanne nachgehen, denn die stachligen Zweige hätten mir die brennenden Kienspähne bei jedem Schritt hinabgeworfen. Ich suchte nachher noch einen großen Theil der Hochebene ab, ob sich nicht vielleicht ein anderes Raubthier in die Nähe der menschlichen Wohnungen gezogen hätte, aber es blieb Alles leer und dunkel, und ich mußte endlich, als mein mitgenommener Kienvorrath verbrannt war, unverrichteter Sache wieder umkehren.

Am nächsten Morgen brachen wir zurück nach Munkullo auf. Ich hatte aber doch jetzt den Beweis bekommen, daß es in Afrika möglich sei, auf Raubthiere mit Feuer auszugehen, und wenn unsere Zeit dort auch nur auf zwei Nächte beschränkt war, wollte ich doch noch wenigstens einen Versuch machen.

Am ersten Abend war ich zu erschöpft, denn ich hatte den ganzen Tag durch die glühende Samhera gepirscht und kam erst etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang mit einem tüchtigen Semaringibock in Munkullo an. Am nächsten Tag bereitete ich aber Alles vor, und da Fürst Hohenlohe der nächtlichen Suche gern einmal beiwohnen wollte, holte ich ihn etwa elf Uhr Nachts ab, wo die Hunde zum ersten Mal anschlugen, und ich also wußte, daß sich unsere nächtlichen Besucher wieder eingefunden.

Schon als ich mit der Fackel nach den nächsten Gebäuden hinüberging, sah ich die Lichter von zwei Hyänen scheinen, die etwa zweihundert Schritt entfernt sein mochten und die Flamme erstaunt anstarrten. Ich ließ sie aber noch unbelästigt stehen und suchte dann, etwa zehn Minuten später, mit dem Fürsten zusammen, und jetzt mit gutem Winde, den Platz wieder ab, ohne sie gleich wieder zu finden. Etwas weiter hin trafen wir aber eine andere Hyäne, der wir jetzt mit aller Vorsicht und gutem Winde anzukommen suchten – umsonst. Die Bestie wich scheu vor uns zurück, hielt bis auf etwa hundert Schritt und drehte dann den Kopf ab, um nach einer Weile wieder eine Strecke entfernt auf’s Neue herüber zu starren.

Um das Lager herum machten wir jetzt einen Bogen und trafen nach kaum einer Viertelstunde wieder eine Hyäne, die uns gerade so behandelte. Sie ließ sich das Licht nicht gefallen, obgleich nichts auf dieser Jagd Nöthiges versäumt und jede Regel befolgt wurde. Allerdings ging der Fürst vor mir her, weil ich mit der Flamme hinter ihm bleiben mußte, damit er die Augen konnte leuchten sehen, und es mag vielleicht sein, daß die Bestien dadurch die Umrisse der von der Flamme erleuchteten Gestalt zu deutlich sahen, aber anderthalb Stunden wanderten wir etwa herum, ohne zum Schuß zu kommen, und gaben die Jagd endlich in Verzweiflung auf.

Ich begleitete den Fürsten mit der Fackel bis zu seiner Wohnung, denn die Nacht war stockdunkel, und kehrte dann nach meinem eigenen Zelt zurück, um mich ebenfalls schlafen zu legen.

Die Entfernung zwischen den beiden Häusergruppen betrug etwa vier- bis fünfhundert Schritt – vielleicht etwas mehr durch die vollkommen flache, nur mit einzelnen niedrigen Büschen bewachsene Ebene, und gleich dicht an den Häusern traf ich wieder einen der keinen Schakals, der aber ebenfalls nicht Stand hielt und im Nu verschwand. Ich hatte nur für einen Moment seine Lichter blitzen sehen. Ich kümmerte mich auch weiter nicht um ihn, sondern legte nur frischen Kien auf, um meinen Weg zurück zu finden, und schritt dann rasch den andern Häusern zu. Noch hundertundfunfzig Schritt mochte ich etwa davon entfernt sein, als ich plötzlich wieder die zwei Paar Lichter vor mir sah, die ich schon früher einmal getroffen. Ich hatte nun heute Abend nur meine Zündnadelflinte mitgenommen und grobe Hasenschrotpatronen darin, weil ich den Fürsten zum Schuß zu bringen hoffte. Die Patronen halten aber tüchtig zusammen, und ich suchte an die jetzt stehenden Hyänen heranzukommen. So wie ich aber die Flinte mit der rechten Hand in die Höhe hob, setzten sich die Thiere wieder in Bewegung, und so dicht war ich jetzt an die eine Hyäne herangekommen, daß ich den lichten Schein ihres Körpers erkannte, wie sie, den Kopf mir zugedreht, etwa funfzig Schritt fortgaloppirte. Dort blieb sie wieder stehen, die beiden großen Lichter leuchteten wie ein Paar glühende Kohlen, der Wind war ebenfalls günstig; ich hielt rechts von ihr ab, als ob ich mit der Fackel an ihr vorübergehen wollte, die Flinte dabei schon vorn in die Gabel des Brets gelegt, und als ich mich jetzt, selbst für einen Schrotschuß, nah genug wußte, drückte ich ab.

Fast mit dem Schuß verschwanden die Lichter, aber ich sah für einen Moment den glühenden Schein am Boden, und als ich rasch darauf zuging, lag die Hyäne, ein großes, ekles Weibchen, mit blutigem, schäumenden Gebiß verendet am Boden. Sie zuckte wenigstens nicht einmal mehr. Die Augen blitzten mich aber noch so tückisch an, daß ich, um ganz sicher zu sein, ihr auch noch den zweiten Schrotlauf gab und sie dann liegen ließ und zu Bett ging. Die zweite Hyäne war nach dem Schuß verschwunden.

Irgend ein anderes erlegtes Thier wäre nun von diesen Bestien schon vor Tagesanbruch vollständig zerrissen und verzehrt gewesen. Ihr eigenes Geschlecht rühren sie aber nicht an, bis es wirklich in Verwesung übergeht und den ihm eigenthümlichen Geruch [223] verloren hat – dann fressen sie es ebenfalls. Es war eine gefleckte Hyäne gewesen, die in dieser Gegend ausschließlich vorzukommen scheint; alle wenigstens, die unsere Gesellschaft gesehen oder erlegt hatte, gehörten dieser Gattung an. Am nächsten Morgen kamen aber schon die Aasgeier in Schwärmen herbei, und gleich nach Sonnenaufgang, als sie nur die erste Scheu überwunden hatten, fielen sie darüber her, ihr ekles Mahl zu halten.

Ueber die Farbe der verschiedenen Augen der Thiere bei Feuerlicht möchte ich nur noch ein paar Worte erwähnen. Am schärfsten leuchten natürlich und glühen mit rothem Licht die Augen sämmtlicher Raubthiere, vorzüglich der Katzenarten. Die Lichter der Hyäne strahlten ebenfalls groß und roth, aber schienen nicht so concentrirt. Das Rothwild hat einen prächtigen rothen Feuerschein, aber ebenso Pferd und Hund, und wo diese frei draußen herumlaufen, muß man sich in Acht nehmen, sie für ein Wild zu halten. In Nordamerika hat schon mancher Farmer Nachts aus Versehen sein eigenes Füllen erschossen, das er für einen Hirsch hielt. Die Augen des Rindviehs dagegen leuchten mit einem sehr matten, grünlichen Licht, das man nur auf geringe Entfernung sieht. Ebenso ist es mit dem Hasen der Fall. Der Alligator hat Augen, die wie rothglühende Kohlen leuchten, Wiesel und Marder wie helle Johanniskäfer.



Blätter und Blüthen.

Karl und Franz Moor. In einem Spätsommer der fünfziger Jahre machte ich mit zwei Commilitonen von Tübingen aus eine Fußreise durch Tyrol. Es war einige Stunden nordwestlich von Meran, zwischen diesem tyrolischen Paradies und der Ortelesspitze, als wir nach mehrstündigem angreifendem Marsche unter dem dichten Weingerank uns lagerten, das dort an Bogengestellen über die Chaussee hinweggeleitet ist, so daß man stundenlang in Weinlauben marschirt. Meine Freunde pflegten der Ruhe, ich aber entfernte mich eine Strecke weit bis zu einem hoch und frei liegenden Punkte, von dem aus ich die ganze während des Morgens zurückgelegte Strecke bis zum Orteles übersehen konnte. Im Hintergrunde lag er, der gewaltigste und höchste der deutschen Bergriesen, dessen Spitze zu ersteigen uns ein unerreichbares Ideal hatte bleiben müssen. So erwartungsvoll ich mich dem schönen Etschthale, in welchem Meran liegt, entgegensehnte, das Bild, welches nun vor mir sich ausbreitete, war so anziehend und großartig, daß ich, ganz in den Anblick versunken, endlich ein Skizzenbuch hervorzog, um mir den Genuß unvergeßlich zu machen.

Als ich so dasaß und einen Berg nach dem andern, so gut es gehen wollte, auf’s Papier übertrug, hörte ich in meinem übergroßeren Künstlereifer nicht die Tritte eines Herantretenden und erschrak daher nicht wenig, als sich plötzlich eine gewichtige Hand auf meine Schulter legte und hinter mir die Worte tönten: „Brav, junger Mann, Ihr habt den besten Aussichtspunkt in der ganzen Gegend aufgefunden.“

Als ich hinter mich sah, erblickte ich einen bejahrten Tyroler in seiner bunten Nationaltracht und mit einen gewaltigen weißen Bart um das braune durchfurchte Gesicht, welches indeß durch einen offenbar gutmüthigen Zug sofort mein Interesse weckte.

„Ja, hier bei euch ist es schön,“ erwiderte ich. „Aber Ihr seid doch aus der Gegend diesseits des Orteles. Denn wäret Ihr von jener Seite des Berges nach Landeck zu, dann verdientet Ihr das Lob nur halb. Denn dort war’s mir geradezu unheimlich und nicht geheuer. Gewiß, Ihr habt viel schlechtes Gesindel, das in den öden Bergschluchten haust, nicht wahr?“

Der Alte lachte. „Nein, lieber junger Herr,“ sagte er, „dem ist doch nicht so. Der Tyroler ist eine brave, ehrliche Haut. Ja, als ich noch ein Kind war – da hätte ich Keinem gerathen, sich unbewaffnet auf die Landstraße zu wagen, aber da standen auch noch die Burgen, die Ihr jetzt in Ruinen da rings umher liegen seht, und die Schnapphähne, welche dieselben bewohnten, ließen Keinen ungeschoren vorüber.“

Jetzt war das Lachen an mir. „Mir,“ sagte ich, „macht Ihr das nicht weiß, Alter! Die Burgen sind ja seit Jahrhunderten schon leer und zertrümmert.“

„Einige wohl,“ versetzte der Alte, „aber bei weitem nicht alle. Seht einmal da hinüber –“ und er deutete mit der Hand südwärts auf eine Ruine, die, noch besonders gut erhalten, wie eine gewaltige Riesenfaust aus der Hochebene emporragte. – „Dort in dem alten Neste hauste in meiner Kindheit noch ein altes Rittergeschlecht, das jetzt ausgestorben ist. Ja, ich mache diesen Weg nun seit funfzig Jahren fast monatlich, früher mit meinem seligen Vater, und obwohl ich nicht aus dieser Gegend bin, kenne ich sie doch so gut wie ein hiesiger, und daher kenne ich auch all die Burgen und ihre Geschichten.“

Obgleich ich noch immer kopfschüttelnd dasaß, fuhr der redselige Alte dennoch fort: „Und eine Famille lebte vor einem halben Jahrhundert noch in voller Kraft, die jetzt im Absterben begriffen ist, die war weit und breit bekannt, aber nicht durch Schandthaten, sondern durch ihr edles Verhalten gegen Arm und Reich. Und doch wurde sie besonders genannt in Folge eines unseligen Familienzwistes. Man hat mir erzählt, daß die Geschichte gar auf das Theater gebracht ist. Die Familie war die der Grafen von Moor und das Haupt derselben im vorigen Jahrhundert ein ehrwürdiger Greis, der beliebt und berühmt war, denn er war ein gelehrter und ein guter Mann dazu. Der alte Herr besaß zwei Söhne, der erstgeborene hieß Karl, der jüngere Franz –“

Ich unterbrach den erzählenden überrascht: „Karl, sagt Ihr, und Franz Grafen von Moor?“ Mir standen plötzlich die Hauptfiguren aus Schiller’s Räubern vor Augen.

„Ja,“ fuhr der Tyroler fort, „Grafen von Moor.“ Und wie ich es schon erwartet hatte, erzählte er mir den ganzen Inhalt des Schiller’schen Dramas.

Mir wurde es schwer, mich des Lächelns zu enthalten und den Alten nicht zu unterbrechen, aber als er zu Ende war, sagte ich aufstehend zu ihm: „Das müßt Ihr in eurem Leben Keinem wieder erzählen, denn gerade heraus, das Alles hat man euch aufgebunden. Die Geschichte ist nicht wahr! Die hat unser Schiller ja erfunden und daraus sein Trauerspiel „die Räuber“ gemacht.“

Aber so leicht ließ sich der Greis nicht zur Ruhe bringen; er beharrte bei seiner Behauptung, das sei Alles so geschehen, bis ich endlich, überdrüssig des Hinundherzankens, ihm einen guten Abend bot und mich zu meinen Freunden zurück begeben wollte. Indeß kamen die gerade des Weges, mich zu suchen, da es Zeit wurde, weiter zu gehen, denn wir wollten noch nach Meran. So konnte ich mich von dem Alten, der dasselbe Ziel hatte, nicht losmachen und mußte nolens volens noch länger seine Behauptung ertragen: die Geschichte, die er mir erzählt, sei so wahr, und der alte Graf Moor und seine Söhne Karl und Franz hätten wirklich in jener Gegend gelebt.

Allmählich wurde mir in der That das Gespräch unerträglich, und ich suchte auf ein anderes überzugehen, aber der Alte ließ mich nicht los, bis wir in das Dörfchen Latsch eintraten, wo er mich mit den Worten anhielt: „Ich merk’ es wohl, daß Ihr mir immer noch nicht glaubt, und ich kann es auch nicht gar sehr verdenken, denn Ihr seid ein gelehrter Herr, und ich bin nur ein schlichter Bauersmann, der nichts gelernt hat. Aber wenn ich Euch auch verspreche, nichts mehr davon zu reden, einen Gefallen müßt Ihr mir noch erweisen: Ihr müßt mit mir ein paar Schritt abseits gehen auf den Kirchhof!“

Und damit faßte er mich an den Arm und führte mich mit sich. Der Kirchhof lag links an der Straße. Durch das Thor führte ein Weg gerade auf die Kirche zu. Diesen gingen wir. Die ganze Mauer der Kirche war mit Grabsteinen bedeckt. Gerade oben am Wege blieb der Alte stehen und auf einen der Steine deutend, sagte er triumphirend: „Ich kann zwar nicht lesen, aber hier steht es geschrieben. Les’t Ihr!“

Und ich las. Der Grabstein hatte zwei Flügel. Ueber beiden standen die einleitenden Worte:

Hier in dieser Gott geweihten Stätte ruhen sanft ihrer seligen Auferstehung harrend und dem frommen Andenken und Gebete hiesiger Pfarrgenossen bittlich empfohlen die irdischen Reste des

Und nun folgte auf dem Grabsteinflügel links:

Hochgebornen
Karl
des heiligen römischen Reiches
Grafen von Mohr
Freiherrns in Landstein, Lichtenegg, Neuhaus, Gerichts-Inhabern auf Obern- und Nieder-Montani, Herrn von Tarantsberg, Hoch-Naturns, dann Falkenstein und Montelbon etc.
eines Freundes der Wissenschaften, vorzüglich der vaterländischen Geschichte,
geboren zu Dornsberg am 11. Dec. 1738,
gestorben in Latsch am 22. Juli 1809
mit
dessen Gemahlin der Frau Josefa geborene Reichsgräfin von Arz und Vaferg
auch dessen zwei im Jahre 1825 ihm nachgefolgten Söhnen Karl und Franz
Grafen von Mohr
nebst des ersteren Gattin Johanna Gräfin von Alberti.
etc. etc. etc.

Als ich soweit gelesen, sah ich überrascht auf meinen Begleiter.

„Nun, junger Herr?“ sagte er. „Hatte ich Recht, wenn ich behauptete, der alte Moor und seine Söhne Karl und Franz hätten wirklich gelebt?“

Gegen diesen Beweis ad oculos war allerdings nichts mehr einzuwenden, und ich hielt es für gerathener, alles ferneren Widerspruchs mich zu begeben. Desto mehr hatte ich zu denken. Die Uebereinstimmung der Namen war doch zu überraschend. Daß von Allem, was Schiller in der Familie des Grafen Moor vorgehen läßt, nicht das Geringste auf diese wirklich ehrenwerthe tyrolische Grafenfamilie Bezug hatte, davon überzeugte ich mich durch näheres Nachfragen in Meran sehr bald. Schiller konnte also unmöglich hier den Stoff zu seinen „Räubern“ geschöpft haben.

Ich hatte also einen jener gewiß seltenen, aber interessanten Fälle vor mir, wo Dichtung zur Sage geworden war. Aus Unwissenheit oder Böswilligkeit – wer weiß das? – hatte man, geleitet durch die zufällige Uebereinstimmung der Namen, die Schiller’sche Tragödie zur Geschichte gemacht. Steht dieser Fall vereinzelt da? Wir halten es für eine beachtenswerthe Aufgabe, auch in dieser Richtung der Sage nachzuspüren. Waren nicht zum größten Theil die Sagen der griechischen Götterwelt ein Product der dichterischen Phantasie? Heißt es doch, Homer habe den Griechen ihre Götter geschaffen. –

[224] Ich hatte damals nur eine Notiz in mein Tagebuch geschrieben, hingegen versäumt, eine Abschrift des Grabsteins aus Latsch mitzunehmen. Ich wandte mich deshalb vor Kurzem an den Pfarrer des Ortes, der mir mit dankenswerther Bereitwilligkeit den oben mitgetheilten Wortlaut der Inschrift übersandte. Aus seinem Begleitschreiben entnehme ich, daß die Mohr’sche Grafenfamilie noch in zwei Söhnen fortlebt, von denen der erstere, Namens Joseph, blind ist und in Meran oder Trient sich aufhält, der zweite, Namens Karl, in den Orden der Jesuiten getreten, wo er jetzt als einfacher Pater Mohr lebt. Mit dem Tode dieser Zwei stirbt dann die gräfliche Familie Mohr aus.

Friedrich Dörr.



Ein Besuch bei den heulenden Derwischen in Cairo. Es war im Sommer 1860, als die Nachricht von dem entsetzlichen Blutbad in Damascus den ganzen Orient in Aufregung versetzte. Auch bei uns in Cairo besprach man ernstlich die Möglichkeit eines bevorstehenden Aufstandes der Muhamedaner, und die europäischen Consuln bestürmten den Vicekönig, strenge Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen, um gleich den ersten Versuch im Keime ersticken zu können. In dieser Zeit allgemeiner Aufregung begegnete mir eines Tages einer meiner Bekannten, ein Freund überspannter Genüsse, und raffinirt in der Art und Weise, wie er seine erschlafften Nerven von Zeit zu Zeit wieder in Schwingung zu versetzen weiß. Er lebte seit Jahren, blos um diesen Lebensberuf besser verfolgen zu können, im Orient.

„Wissen Sie was,“ redete er mich an, „jetzt sollten wir einmal zur Derwischmoschee reiten, es sollen ganz verteufelte Kerls aus Damascus und selbst aus Mekka angekommen sein, da bekommen wir gewiß ein vorzügliches Ballet zu sehen.“ Meine Einwendungen wußte er bald mit der ihm nie fehlenden Waffe des Spottes zu entkräften, und der nächste Freitag traf uns wirklich auf dem Wege nach der kleinen bei Alt-Cairo gelegenen Moschee. Dort angekommen, fanden wir bereits verschiedene elegante Equipagen und Esel vor der Thür, die uns bewiesen, daß wir nicht die einzigen waren, die sich das interessante Schauspiel auch unter diesen gefährlichen Umständen mit ansehen wollten. Wir traten in den Vorhof und sahen da bereits eine zahlreiche Gesellschaft versammelt. Rings herum auf Divans saßen Araber und Türken, die sich zum großen Theil durch ihre Kopftracht, eine zuckerhutförmige graue Filzmütze, als Klosterderwische kennzeichneten. Die Laienbrüder, die sich in allen Ständen finden, trugen ihre gewöhnlichen Anzüge. Auffallend war mir, daß wir auch Negersoldaten unter ihnen bemerkten, da man im Allgemeinen annimmt, daß sich unter diesen erkauften Sclaven nur wenige befinden, die der Religion Mohamed’s mehr als rein äußerlich zugethan sind. In der Mitte des Hofs unter einer großen Sykomore saßen auf eleganten Mahagonistühlen etwa 10 bis 15 Europäer. Der Schech der Derwische ließ uns Kaffee und Schibuk präsentiren, denn er betrachtete uns als seine Gäste, und so warteten wir der Dinge, die da kommen sollten. Bald erhoben sich auch die Derwische und traten gemessenen Schrittes in die Moschee. An der Thür legten sie die Schuhe ab, verbeugten sich dreimal bis zur Erde und ordneten sich dann in einem weiten Halbkreise um die Gebetnische herum, indem sie sich auf den ausgebreiteten Teppichen mit gekreuzten Beinen niedersetzten. Die Uebungen begannen. Eine Flöte, eine Pauke und noch ein paar andere erbärmliche Instrumente vollführten eine ohrenzerreißende Musik, zu welcher einige Capitel des Koran von einem Vorsänger abgeleiert wurden. Dann setzte sich der Schech vor die Gebetnische, mit dem Gesicht gegen die im Kreise herumkauernden Derwische, es mochten etwa 35 bis 40 sein, gewendet, und begann leise zu singen: Allah, Allah, Allah, ut, indem er jedesmal bei der ersten Sylbe den Kopf etwas neigte. Der ganze Chor fiel dann ein und wiederholte etwa zehn Minuten lang unisono diese Worte unter fortwährenden Verbeugungen. Da sie immer nur denselben Ton sangen, aber immer stärker und stärker, so war es, als ob allmählich die ganze große Kuppel der Moschee auf diesen Ton gestimmt worden wäre, so schauerlich hallte das Gewölbe wieder. Endlich trat eine Pause ein, es wurde wieder ein Capitel aus dem Koran abgeleiert, und dann dieselbe Uebung so lange wie vorhin wiederholt. Schon funkelten die Augen der Derwische in wilder Begeisterung, als nochmals eine kurze Pause gemacht wurde.

Nachdem wieder ein Capitel aus dem Koran abgesungen war, erhoben sich die Derwische, einzelne warfen ihre Oberkleider und Mützen weg, so daß ihr Haar fußlang auf den Rücken wild herunterhing. Abermals begann die vorige Uebung; doch jetzt geschah die Verbeugung stehend aus dem Kreuz heraus, und so tief herunter, daß die fliegenden Haare die Erde peitschten. Der Gesang, oder vielmehr das Geheul, wurde immer wilder und wilder, so daß eine junge englische Lady neben mir, die bisher nur so bleich wie Wachs gewesen, jetzt die Farbe des Schnees annahm, und auch ich unwillkürlich nach der Thür sah und mir die Möglichkeit eines Kampfes überlegte. Während dessen waren zwei junge Derwische, die bis jetzt sich ruhig verhalten, in den Kreis getreten, und drehten sich, wie von einer Maschine getrieben, blitzschnell um ihre Achse, ohne dabei ihren Standpunkt auch nur einen Fuß breit zu verlieren. Die Arme waren weit ausgestreckt, eine Hand mit der innern, die andere mit der äußern Fläche nach oben gerichtet, ihre langen, sehr weiten Kleider bildeten die schönste kegelförmige Crinoline, ihre Augen blitzten und funkelten, doch ihr Mund war fest geschlossen, und Nichts verrieth, daß dieser rasende Tanz sie irgendwie anstrengte. Endlich, nachdem sie über 10 Minuten, ich hatte diesmal die Uhr in der Hand, so gewüthet, wurde das Zeichen zur Pause gegeben. Die Mehrzahl hörte auch auf, die Tänzer traten ab, doch einige der Heuler knickten noch eine ganze Weile, dumpf Allah, Allah murmelnd, mit ihrem Körper hin und her, ehe sie vollständig zur Ruhe gebracht werden konnten. Die Musik begann nochmals, und wieder wurde ein Capitel aus dem Koran abgeleiert, wie wir glaubten, zum Schluß des Gottesdienstes, als plötzlich zu unserm Entsetzen die Derwische sich noch einmal zu ihren Uebungen ordneten. Kaum hatten aber die wilden Verbeugungen etwa fünf Minuten gedauert, als schon bei verschiedenen der Schaum vor den Mund trat, ihr Geschrei zu einem dumpfen Röcheln erstarb, und sich alle Anzeichen der Epilepsie einstellten. Doch ihre Nebenmänner faßten sie fest, und ohne Unterbrechung dauerte der wahnsinnige Tanz weiter fort. Das ganze Gewölbe dröhnte in gewaltigen Schwingungen, die Stimmen der Einzelnen ließen sich gar nicht mehr unterscheiden, sondern Allah, Allah schien fort und fort die ganze Natur in Todesangst zu stöhnen. Die Fäuste der Derwische ballten sich, daß ihre Nägel blutig in’s Fleisch drangen, und hatten Anfangs die Haare den Boden gepeitscht, so schlug jetzt mehr als eine Stirn auf den harten Marmor, ohne daß deswegen der Körper das Gleichgewicht verloren hätte. Der Wahnsinn leuchtete aus ihren Augen, es war grausig anzusehen, noch grausiger aber zu hören. Ich versuchte einmal, um nicht schwindlig zu werden, die Augen zu schließen, doch da war es noch viel schlimmer.

Eine Dame, ich glaube es war eine Griechin, wurde halb ohnmächtig von ihren Begleitern hinausgeführt. Da sah ich zum ersten Mal wieder nach meiner Nachbarin, doch wie erstaunte ich! Kühn war sie vom Stuhle aufgestanden, die kleine weiße Hand schwang nachlässig die Reitgerte, höhnisch zuckte die Unterlippe, sie hatte ihre volle Selbstbeherrschung wieder. Kein Moslem, selbst der rasendste Derwisch nicht, hätte sie in diesem Augenblicke anzurühren gewagt, sie hätte ihn mit ihren Augen zu Boden geschmettert. Da ertönte das Zeichen zum Halt. Fast alle kamen nur nach und nach unter gräulichen Zuckungen zum ruhigen Stehen, zwei wälzten sich auf der Erde in epileptischen Krämpfen. Nur mit Mühe gelang den Andern, sie hinauszuführen. Einer indessen schien von Allah begeistert worden zu sein. Er setzte seine wilden Verbeugungen fort, brüllte wie ein Thier im Todeskampf, sprang hin und her, und versuchte endlich mehrmals, in großen Sätzen gegen die Mauer stürzend, sich den Kopf einzurennen. Da faßte ihn der Schech am Arm, und durch seine begütigende Zusprache kam auch er wieder zu sich. Er küßte jenem die Hand und taumelte zur Thür hinaus.

Jetzt erhob sich auch die europäische Gesellschaft und eilte in’s Freie, viele gewiß recht froh, mit heiler Haut davon gekommen zu sein. Lächerlich aber nahm es sich aus, als man nun an der Thür für das gehabte Schauspiel um einen Bakschisch (Trinkgeld) angebettelt wurde; das zerstörte wieder alle Illusionen. Nur mit Mühe konnte ich übrigens einen deutschen Arzt, der uns begleitet hatte, abhalten, den im Hof noch immer in Krämpfen umhertaumelnden Derwischen beizustehen und ihnen wo möglich zur Ader zu lassen. Das hätte uns denn doch schlecht bekommen können. Als wir wieder auf der Straße waren und auf unsern Eseln friedlich zur Stadt ritten, die Sonne heiter wie immer schien und die ganze Natur im Feierkleide prangte, war mir, als hätte ich eben einen schweren Traum von mir geschüttelt. Und doch war es nackte Wirklichkeit!

N-r in Cairo.



Literarische Notizen. Von G. A. Wislicenus, der seit seiner Uebersiedelung nach Amerika literarisch geschwiegen hat, dürfen wir nächstens ein größeres Werk, das Product jahrelanger Studien, erwarten. Wislicenus lebt, wie wir unseren Lesern bereits früher mittheilten, jetzt in Zürich, wo er an der Spitze einer bedeutenden Pensionsanstalt steht. – Eckhof und seine Schüler, der neueste Roman Otto Müller’s, des bekannten Verfassers der „Chartotte Ackermann“ etc., findet neuerer Zeit bei der Kritik wie beim lesenden Publicum großen Anklang. Wenn wir auch nicht verschweigen wollen, daß die Einleitung etwas breiter und gedehnter gehalten ist als nöthig, so fesselt doch der Autor durch das Interesse, mit dem er seine Figuren zu zeichnen verstand, die Leser bis zum letzten Augenblick und liefert zugleich den abermaligen Beweis seiner Meisterschaft in Beherrschung culturhistorischer Stoffe. Allen Freunden einer gediegenen Lectüre empfehlen wir das Buch angelegentlichst. – Julius Rodenberg, der bisherige Redacteur des in Berlin erscheinenden „Deutschen Magazins“ hat die Redaction dieses Blattes niedergelegt und wird nächstens in Gesellschaft seiner jungen Frau, einer geborenen Triestinerin, eine große Reise nach Italien und den Küsten der Adria antreten. Wir freuen uns, den Lesern dieses Blattes mittheilen zu können, daß Rodenberg von jetzt ab seine bedeutende literarische Kraft vorzugsweise der Gartenlaube zuwenden wird.



Für Theodor Körner’s Pflegerin gingen mir wieder zu: 4 Thlr. 11 Ngr. Ertrag einer Sammlung im Hotel de Saxe in Leipzig, durch Ludwig Würkert – 1 Thlr. B. in Leipzig – 1 Thlr. Unbekannter aus Merseburg, mit einem längern Gedicht auf die wackere Matrone, aus welchem wir nur zwei Strophen mittheilen:

Heil Dir, dem braven Mütterlein,
Dem liebvollen, greisen,
Das einst ihm hat so wohl gethan,
Dem Sänger goldner Weisen,
Dem Sänger unsres Vaterlands,
Der gottgeweihten Lieder,
Die uns in schmerzbewegter Brust
Noch heute tönen wieder!

Heil Dir, Du Samariterherz,
Das so getreu ihn pflegte,
Und auf die heißen Wunden ihm
Der Kühlung Balsam legte!
Nur um sein Leben still besorgt,
Dir vor Gefahr nicht bangte,
Bis seiner Rettung sichern Port
Er bei dem Freund erlangte.

Ernst Keil.