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Die Gartenlaube (1862)/Heft 37

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[577]

No. 37.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Sophie Dorothea.

eine Hofgeschichte.
(Fortsetzung.)


Philipp sah die Gräfin Platen durchdringend an, dann leerte er mit einem Zuge sein Glas und fuhr mit dem feinen Spitzentuche über sein blondes Schnurbärtchen, an dessen Spitzen einige Tropfen des Burgunders zitterten. Dann stand er auf und neigte sich vertraulich über den Stuhl der Gräfin. – Er war ein schöner, sehr schöner Mann, wie er so dastand – leicht vornübergebeugt, seine weiße, feine Hand auf den Sammt des Kissens gelegt, und seine dunklen Augen herabgesenkt. So etwas mußte die Gräfin denken, als sie zu ihm aufblickte.

„Gräfin,“ sagte er, „gestehen Sie, es handelt sich um eine Rache.“

Die Gräfin sah noch immer zu ihm auf. In der rechten Hand hielt sie einen schwarzseidenen Fächer, um sich vor der Gluth des Kaminfeuers zu schützen – vielleicht auch, um ihr Gesicht zu beschatten. Die Hand, welche diesen Fächer hielt, ruhte in der Luft, und das Kaminfeuer ließ Millionen Funken und Flammen aus ihren Diamantringen sprühen. Plötzlich klappte sie den Fächer zu. „Ja,“ sagte sie mit klarer und fester Stimme.

Die Augen des Grafen schossen einen Blitz, welcher sich mit den Strahlenreflexen der Ringe kreuzte. „Und das Opfer dieser Rache soll die Prinzessin Sophie Dorothea sein?“

Die Gräfin legte ihre weiße Hand auf seine Schulter, und ihre Augen hielten die des Grafen gleichsam gefangen. „Sie errathen gut, Graf,“ sagte sie. „Es ist so. Wollen Sie mir helfen, Philipp?“

Philipp hatte sich wieder aufgerichtet und trat einen Schritt zurück. „Gräfin,“ sagte er, „stellen Sie mich einem ganzen Bataillon von Feinden gegenüber, und ich will eine Schleife Ihres Corsets mit meinem letzten Blutstropfen vertheidigen. Aber was Sie mir da vorschlagen, ist kein Geschäft für einen Mann, für einen Cavalier.“

Die Gräfin lachte und faßte seine Hand. „Das sind große Worte, Philipp. Es handelt sich ja um eine bloße Intrigue. Die Prinzessin hat mich beleidigt, und ich will mich ein wenig rächen. Helfen Sie mir! Wollen Sie? Sie ist Ihnen ja doch gleichgültig. Nicht?“

Ein seltsames Lächeln spielte um Philipp’s Lippen. „Ja.“

Aber die Gräfin betrachtete ihn so aufmerksam, daß dieses Lächeln bald verschwand.

„Sie haben neulich bei der Vorstellung Muße gehabt, die Prinzessin zu mustern. Wie gefällt sie Ihnen?“

Philipp beugte seinen Kopf zurück, so daß sein Gesicht im Schatten war, und warf nachlässig hin: „Ich habe mir wahrlich nicht die Mühe genommen, dies zu thun.“

„Sie haben sich nicht die Mühe genommen!“ rief die Gräfin mit einem leichten Stirnrunzeln. „Sie, der Graf von Königsmark, der berüchtigte Libertin, Sie haben sich nicht die Mühe genommen, eine der schönsten Frauen unserer Zeit zu mustern? Und noch dazu eine Frau, welche Sie haßt! Denn sie muß Sie hassen, Philipp,“ fügte sie mit erhabener Keckheit hinzu – „sie ist eine ehrbare Frau.“

Königsmark lachte laut auf. „Sie haben Recht!“ rief er. „Alle ehrbaren Frauen hassen mich – ich vernichte ihrer aber auch, so viel ich kann!“

„Nun also – wollen Sie mir helfen?“ fragte die Gräfin hastig, indem sie ihre Hand ausstreckte. „Soyons amis, Cinnay!“

Der Graf trat einen Schritt zurück. „Gräfin,“ sagte er, „mein Grundsatz ist: Thue nichts ohne eine Ursache. Geben Sie mir also eine Ursache, einen Grund, die Prinzessin zu hassen, und ich stehe Ihnen mit allen Mitteln der Intrigue zu Gebote. Bis jetzt ist sie mir gleichgültig. Weshalb sollte ich sie also bekämpfen? Lassen Sie die Dame aber einmal feindlich gegen mich auftreten, und Sie sollen sehen, wie treu ich Ihnen dienen werde! Bis dahin aber werde ich neutral bleiben.“

Die Gräfin runzelte die Stirn. „Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich,“ sagte sie. „Sie sind der Jugendfreund, der Vertraute des Prinzen Georg. Sie theilen seit einer Woche schon alle Orgien und Tollheiten mit ihm. Und ist das nicht Grund genug, die zu hassen, die Ihr Freund haßt?“

Der Graf machte eine spöttische Grimasse. „Ich bin gewöhnt, meinen Haß und meine Liebe auf eigene Rechnung zu führen,“ sagte er. „Also bleibe ich, wie gesagt, für jetzt neutral.“

„Gut,“ sagte die Gräfin nach einem kurzen Nachdenken. „Ich gebe Ihnen vierzehn Tage Bedenkzeit. Sind Sie bis dahin entschlossen mein Bundesgenosse zu werden, so melden Sie mir’s persönlich. Nanette wird Sie einlassen. Ist aber das Gegentheil der Fall, so …“

„So sende ich Ihnen eine verwelkte Rose,“ sagte Königsmark lachend. „Ganz wie in dem Schäferspiele des Meister Gryphius.“

„Es sei. Ich werde dann wissen, daß ich Sie als Feind zu betrachten habe.“

„Als Feind? Nie!“ lächelte Königsmark galant, indem er die Fingerspitzen der schönen Gräfin küßte. „Höchstens als Gegner.“

Die Gräfin hatte sich erhoben. „Nehmen Sie sich in Acht, Graf!“ sagte sie. „Ich bin als Gegnerin unerbittlich und grausam.“

[578] „So grausam wie in der Liebe?“ flüsterte der Graf, indem sich die Spitzen seines Schnurrbärtchens leicht in die Höhe zogen.

„Sie sind impertinent!“ lachte die Gräfin. „Noch eins, Sie können mich hier nicht mehr besuchen. Es wäre doch zu riskirt.

Einmal ließ sich das wohl arrangiren, aber ein zweites Mal wäre es zu gefährlich. Georg ist eifersüchtig, und ich habe meine Stellung viel zu lieb, um sie Ihretwegen auf’s Spiel zu setzen.“

„Aber wie soll ich Ihnen dann meine Ergebenheit melden, im Falle ich Ihr Bundesgenosse zu werden wünsche?“

Die Gräfin sann einen Augenblick nach. Der Fächer klappte auf und zu, und die Diamantenringe sprühten einen Funkenregen aus. Plötzlich lächelte sie. Sie hatte augenscheinlich gefunden, was sie suchte. „Sie bewohnen ein Appartement im Schlosse?“ fragte sie.

Königsmark nickte.

„Und Ihr Boudoir besitzt gewiß irgend eine kleine Seitenthür, zu der man durch irgend einen dunklen Corridor gelangt, der auf den Wall mündet? Prinz Georg wird doch seinem „Trinkcumpan“ ein solches Appartement angewiesen haben, um ihm ungestörte Besuche machen zu können?“

Philipp lachte. „Errathen! Sie kennen das Terrain des Feindes vollkommen, Gräfin – und das ist immerhin ein Vortheil. Aber was soll Ihre Frage?“

„Geben Sie mir den Schlüssel dieser Thüre!“ sagte die Gräfin, indem sie ihre Hand ausstreckte.

„Aber –“

„Geben Sie mir den Schlüssel dieser Thüre.“

„Wer soll –“

„Geben Sie mir den Schlüssel dieser Thüre!“ wiederholte Frau von Platen, indem sie mit dem Fuße stampfte. „Ich will Sie in vierzehn Tagen besuchen. Ganz wie ein guter Camerad, der seinen Collegen besucht. Bei uns Beiden hat es wohl keine Gefahr – wir lieben uns ja nicht – nun?“

Königsmark zog lachend einen kleinen Schlüssel aus seiner Westentasche und reichte ihn der Gräfin. „Bei Gott, Amelie,“ sagte er, „Sie sind ein reizendes Wesen. Ich könnte mich beinahe noch einmal in Sie verlieben!“

Die Gräfin klingelte. „Eine Liebschaft zwischen uns Beiden wäre mehr als absurd!“ sagte sie.

„Sie haben Recht,“ sagte der Graf mit einer galanten Verbeugung und mit einem Blick auf das lebensgroße Portrait des Prinzen Georg, „sie wäre ungeschickt.“



4. Das Deutsch des Mylord Walpole.

Das Studirzimmer des Kurfürsten war ein düsteres, ungemüthliches Gemach, dessen dunkle Tapisserien und Möbeln dasselbe noch ungemüthlicher machten. In einer weichen Causeuse lehnte der alte dürre Fürst und trommelte mit seinen gelben Fingern auf die Marmorplatte eines kleinen Leuchterhalters, welcher vor ihm stand. Mylord Walpole stand an das Kaminsims gelehnt und blicke mit seinem liebenswürdigen zerstreuten Lächeln nach allen Seiten, nur nicht auf den Kurfürsten.

„Also, Mylord,“ sagte Ernst August mit einer ungeduldigen Betonung in seiner Stimme, „weshalb zögert die britische Majestät mit der Erklärung, daß sie meinen Sohn als unbestrittenen Nachfolger anerkennt? Welcher Grund kann die Königin Anna abhalten, diese Erklärung abzugeben? Sie selbst behaupteten ja, daß sie den Prinzen allen andern Prätendenten vorziehe – es muß dennoch ein geheimer Grund da sein, welcher ihr oder vielmehr uns im Wege steht. Sprechen Sie doch zum ersten Male in Ihrem Leben offen heraus, Herr Gesandter, und wir wollen bald alle Hindernisse bei Seite schaffen. Bei Gott, die Krone Großbritanniens ist wohl eines kleinen Opfers werth!“

Mylord Walpole lächelte mit seiner gutmüthigsten Miene. „Aufrichtig sein? Wie gern!“ lispelte er. „Aber Sie wissen, daß ich mit der deutschen Sprach’ nicht so gut fortkomme, als ich wollte …“

„Da geht es Ihnen mit dem Deutschen, wie mir mit dem Englischen!“ brummte der Kurfürst. „Und das lateinische Geträtsche ist uns Beiden zuwider. Aber versuchen Sie es nur immerhin, Mylord! Zum Teufel, Herr von Walpole, wenn wir uns gegenseitig ergänzen, wollen wir uns schon verstehen!“ fügte er bedeutsam hinzu, indem er das letzte Wort betonte.

„Wenn mein Sohn nach dem Tode der Königin Anna – den Gott noch lange hinausschieben möge! …“

Mylord neigte leicht das Haupt.

„… den Thron von England besteigt, so wird er sich jedenfalls glücklich schätzen, wenn er einen so treuen und ergebenen Rathgeber an der Seite hat, der zugleich ein wenig deutsch kannyou understand me?“

Und der Kurfürst, zog die Winkel seiner dünnen Lippen aufwärts, während Mylord abermals sein Haupt neigte.

Yes – perfectly.

Der Kurfürst fuhr fort. „Sie sehen also, daß es für beide Theile nur nutzbringend sein kann, wenn Sie sich in den deutschen Sitten und vor allem in der deutschen Sprache so fleißig als möglich üben. Vor allem in der Sprache. Vous comprenez toujours?

Every word,“ lächelte Mylord.

„Jedes Wort? Gut. Aber den Sinn?“

And the matter,“

„Nun also. Fangen wir gleich mit einer kleinen Redeübung an. Weshalb zögert die Königin, meinen Sohn als Erben anzuerkennen?“

Mylord hüstelte leicht in seine Hand und hub mit seinem gemüthlichsten Lächeln an: „Unsere gute Königin – die Gott beschützen möge! – ist eine große Liebhaberin der Geschichte und giebt sich mit großer Vorliebe dem Studium derselben hin.“

„Teufel! Teufel!“ murmelte der Kurfürst. „Sie wollen wieder meiner Frage ausweichen, Mylord? Wie oft soll ich Ihnen sagen, daß wir hier in keinem Conseil sind. Wir sind hier unter uns – wozu also alle diese Winkelzüge?“

Mylord hustete stärker. „Ich sagte Ew. Durchlaucht wohl, daß ich mit dem Deutschen zu langsam fortkomme. Wir wollen es also doch mit dem Latein versuchen.“

Der Kurfürst biß sich in die Nagel und lächelte. „Nein, nein, Mylord – fahren Sie nur fort – ich werde Sie nicht mehr unterbrechen. Uebrigens sind Sie allzu bescheiden. Sie sprechen ja das Deutsche, als ob es Ihre Muttersprache wäre! – Also?“

„Also. Wie ich mir vorhin zu erwähnen erlaubte, besitzt meine gute Königin eine große Vorliebe für das Studium der Geschichte. In allen Chroniken nun hat sie – wie sie mir in einer vertrauten Unterredung gestand – gefunden, daß fremde Königinnen dem Throne Englands stets Unheil bringen.“

Der Kurfürst horchte auf. „Ah! ah!“ machte er.

„So groß nun auch ihre Achtung und Neigung für das Haus Ew. Durchlaucht ist, so besitzt Prinz Georg dennoch einen Fehler, der ihn – vom Standpunkte der Geschichte aus betrachtet – für den Thron von England un…“

„Nun, nun?“

„Hier läßt mich mein Deutsch im Stiche, Durchlaucht.“

„Untauglich macht, Mylord? Untauglich macht?“

„Ich habe das nicht gesagt,“ entgegnete Mylord mit seinem unschuldigsten Lächeln.

Der Kurfürst sprang auf und faßte Mylord an beiden Schultern. „Jetzt wird mir Alles klar! Das also ist’s!“ Dann steckte er die Hände in die Tasche und eilte aufgeregt hin und her. „Teufel! Teufel!“ murmelte er, „das ist schlimm! Dieses bleichsüchtige Wesen soll mir immer und ewig im Wege stehen? Diese hochmüthige Bettelprinzessin soll mir also alle meine Pläne kreuzen? Was ist da zu thun? Was zu thun?“

Mylord Walpole betrachtete sich im Spiegel und zupfte seine Halskrause zurecht.

Plötzlich blieb der Kurfürst stehen. „Mylord, was sagen Sie zu einer Scheidung?“

Walpole wandte sich langsam um und betrachtete den Kurfürsten mit seinen wasserblauen Augen. „Scheidung?“

„Ja, Scheidung – divortium.

„Scheidung!“ wiederholte Walpole. „Aber die gute Königin Anna ist ja eine so entschiedene Feindin von jedem Scandale!“

Der Fürst fuhr auf. „Scandal?“

„Nun ja,“ entgegnete Mylord. „Eine freundschaftliche Trennung zweier Fürstenhäupter ist doch ein Scandal? Denn in diesem Falle tragen beide Parteien einen Theil der Schuld. Etwas Anderes ist es freilich,“ fügte er leise, fast unhörbar hinzu, „wenn [579] die Scheidung ein Urtheil ist, mit dem die Untreue des einen Theiles bestraft wird.“

„Und wenn der schuldige Theil die Frau ist, nicht wahr?“ flüsterte der Kurfürst ebenso leise, „als desto strengerer Züchter steht dann der Gemahl da. O, Sie sind ein Juwel, Mylord!“ lachte er dann laut heraus. „Und ich werde nächstens bei Ihnen Stunden nehmen in der deutschen Sprache!“

Mylord verbeugte sich lächelnd. Dann nahm er sein rothes Portefeuille von der Leuchtersäule und öffnete es. „Es ist aber wahrhaftig unverzeihlich von mir, gnädigster Herr, daß ich von Dingen rede, die nicht hierher gehören – anstatt Ihnen die Depeschen vorzulegen, welche ich heute aus London erhalten habe.“

Der Kurfürst lachte laut auf. „Von Dingen, welche nicht hierher gehören, sagen Sie?“

„Nun ja,“ entgegnete Mylord, indem er emsig seine Schriften durchblätterte; „wie kann sich das, was wir soeben besprachen, auf irgend ein Ehepaar unserer Umgebung beziehen? Die Damen Ihres Hofes, gnädigster Herr, sind sämmtlich Muster von Treue und Sittsamkeit und Würde, in welchen Tugenden die schöne Prinzessin Sophie Dorothea allen Andern als glänzendes Beispiel voranstellt. – Hier ist der neue Handelsvertrag gnädigster Herr, den Ihre Majestät mit Frankreich abgeschlossen hat …“



5. Herr von Königsmark amüsirt sich.

Der Hof Ernst August’s zeigte noch immer sein altes Gesicht. Prinz Georg ging mit seinem Busenfreunde Königsmark allnächtlich auf Abenteuer aus, die gewöhnlich mit kleinen Orgien endigten, und die petites maisons des Kurprinzen wiederhallten von dem Jauchzen und Singen seiner Gefährten und Freundinnen. Sophie Dorothea lebte eingezogener als je und verließ nur selten ihre Gemächer. Seit jenem Abende der Vorstellung hatte der Prinz nicht mehr mit ihr gesprochen. Umsonst ließ sie ihn täglich und stündlich um eine kleine Audienz ersuchen – umsonst bat sie ihren Gatten um eine Gunst, welche er dem Geringsten seiner Unterthanen gewährte. Selbst der alte Kurfürst behandelte sie schroff und zuckte mit den Achseln, wenn sie sich mit einer Klage an ihn wandte. Sie erstickte beinahe in der feindlichen Atmosphäre dieses Hofes, an welchen sie durch die Etiquette und die Convenienz gefesselt war wie an eine Schandsäule, der ihr eine Heimath sein sollte und der ihr nur ein Kerker war. Ihr Gemahl und ihr Schwiegervater haßten sie – und dennoch durfte sie nicht fort - denn sie war ja in den Augen der Welt die Gattin des Einen und die Tochter des Andern.



Das Toilettezimmer des Prinzen Georg war an diesem Abende freundlicher als je. Die offenen Fenster desselben gingen in den Garten und ließen den Duft tausendfältiger Blumen und Blüthen herein. Eine leichte, frische Brise machte die Reben erzittern, welche die Fenster umrankten, und die Vögel zwitscherten der sinkenden Sonne ein lustiges „Auf Wiedersehen!“ zu. Alles war voll Sonnenschein und Sommerduft. Der Graf von Königsmark lehnte am Fenster und trällerte ein Liebchen, während sich Prinz Georg, vor seinem Spiegel stehend, ein wenig Rouge auflegte und seinen Augenbrauen mit einem parfümirten Cosmetique eine dunklere Färbung verlieh.

„Heute muß ich besonders schön sein!“ meinte er lachend. „Heute kommt die kleine Italienerin zur Tafel, die unserm Kapellmeister empfohlen worden ist.“

„Und die möchten Sie gern unglücklich machen, Prinz?“ lachte Königsmark, „o weh! und ich wäre Ihnen da so gern in’s Garn gegangen –! Aber wenn Sie sich so unwiderstehlich machen, muß ich freilich alle Hoffnung aufgeben!“

„Spotte nur, Du Glücklicher! mit Deinem südlichen Teint brauchst Du freilich keine Rouge, um beim Lampenschein den Eclat Deines Gesichtes zu erhöhen, aber wir armen Blondins! – Ah, wie die verdammte Sonne blendet!“

„Aber es ist doch ein herrlicher Abend, Prinz. Wir sollten wahrhaftig eine kleine Streiferei durch den Park machen, ehe wir uns in die schwüle Atmosphäre der Frau von Wimpffen begeben.“

Georg seufzte. „Unmöglich. Denke Dir, Philipp, ich muß noch eine Audienz geben.“

„Jetzt – am Abend?“

Georg nickte.

„Und wem?“

„Du wirst es nie errathen, – meiner Frau.“

Königsmark horchte aus. „Bah! Ich denke, Sie sprechen nicht mehr mit ihr.“

„Ja, ich verabscheue sie. Du hast mich ja selbst meiner Festigkeit wegen gelobt. Aber sie hat endlich ihren Stolz gebeugt und giebt nach.“

„Wirklich?“

„Sie hat mir angetragen, Frau von Platen zur Palastdame zu erheben, wenn ich ihr eine Unterredung gewähre. Ist das nicht göttlich? O die Weiber! Früher oder später werden sie doch kleinlaut!“

Königsmark runzelte die Stirne. „Auch diese?“ murmelte er.

„Du begreifst also wohl, daß ich diese Unterredung nicht gut abschlagen konnte.“

„Ja,“ sagte Königsmark, indem er seinen Hut ergriff, „ich begreife es und will daher nicht länger lästig fallen.“

„Du gehst, Philipp?“

Mais …

„Was fällt Dir denn ein?– Du mußt hier bleiben, damit wir dann gleich zusammen ausfliegen können.“

„Aber die Unterredung, welche die Prinzessin von Ihnen erbat, soll doch jedenfalls eine geheime sein?“

„Das soll sie auch. Geh hier in dieses Cabinet – da sieht sie Dich nicht.“

„Nein aber, Prinz, ich höre Alles …“

„Nun, und?“

Königsmark sah den Prinzen mit einem seltsamen Ausdrucke an. „Es ist nicht ritterlich, Monseigneur, die Geheimnisse eines Frauenherzens so preiszugeben.“

„Du bist ein Narr! Bist Du denn ein Fremder? Allons! Nimm Dich in Acht, daß Du nicht einschläfst – die Apostrophen meiner Frau sind schrecklich langweilig. Ich glaube, ich höre sie schon.“

„Ihre Durchlaucht, die Frau Prinzessin Sophie Dorothea!“ meldete in diesem Augenblicke der einäugige Jean, des Prinzen Kammerdiener.

Georg ließ die Portiere des Cabinets, worin Königsmark verschwunden war, niederfallen und näherte sich wieder dem Spiegel. Die Prinzessin trat ein. Sie schritt rasch einen oder zwei Schritte vor, mit ausgestreckten Armen und fliegendem Athem. Als sie aber ihren Gemahl erblickte, der sich im Spiegel besah und dessen kalte Miene wie ein eisiger Frost auf ihr Herz fiel, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihre Arme sanken herab, und das Feuer ihrer Augen erlosch.

Georg wandte sich halb um. „Nun, Madame?“ sagte er.

Sophie preßte ihre Hände aneinander und sagte mit thränenschwerer Stimme, der sie vergebens den Ton der Fassung zu geben suchte: „Georg! Georg! So empfängst Du mich? Nachdem ich wochenlang umsonst versucht habe, zu Dir zu dringen – nachdem ich, Deine Gattin, Dich umsonst angefleht habe, daß Du mich anhörst nachdem ich endlich diese Unterredung mit einer Unterschrift erkauft habe, welche mir noch jetzt die Schamröthe in’s Gesicht treibt: jetzt empfängst Du mich so? O Georg, Georg! Ich bin Deine Gattin, die Mutter Deiner Kinder! Und Du hast mich doch einst geliebt!“ Und unfähig, die hervorquellenden Thränen länger zurückzuhalten, barg sie ihr Gesicht in ihren zitternden Händen.

Georg maß sie mit seinen insolenten Blicken. „Ist das Alles, was Sie mir zu sagen haben, Madame?“ sagte er – „Sie sind also mir gekommen, um mir Vorwürfe zu machen und mich in meiner Eigenschaft als „Ungeheuer“ anzuklagen? – Das ist gewiß sehr amüsant – aber machen Sie schnell, ich habe Eile.“

Sophie fuhr auf. Ihr Auge blitzte und ihr bleiches Antlitz röthete sich. „Nein,“ rief sie, „nein, Georg, ich komme weder um Dir Vorwürfe zu machen, noch um Dich anzuflehen – ich komme nicht als ein schwaches, liebendes Weib zu Dir, die sich zu Bitten erniedrigt, ich komme als Deine Gattin, als die Fürstin, welche Deinen Thron theilt, zu Dir, um mein Recht zu fordern. Es muß endlich in’s Reine kommen mit uns Beiden, Georg. Ich bitte nicht mehr, ich verlange!“

Georg versuchte ein Lachen, aber vor diesen gebietenden Augen, welche durch ihren Thränenschleier Blitze schossen, und vor dieser [580] entschiedenen Haltung bebte er zurück, und sein Gelächter brach schrill ab. „Zu verlangen, Madame!“

„Ja, ich verlange!“ wiederholte Sophie mit einer gebieterischen Bewegung. „Du mußt mich hören, Georg – zum ersten und zum letzten Male. Ich habe Dich nie geliebt.“

„Ah!“

„Ja – in dieser Stunde wäre jede Heuchelei eine Feigheit – ich habe Dich nie geliebt! Du weißt wohl, daß wir Beide gezwungen und mit Widerwillen an den Altar traten. Erinnerst Du Dich noch der ersten Nacht unserer Ehe? Wo ich mit meinem kostbaren Spitzengewande weinend im Parke umherirrte, weil ich Dich verabscheute – und wo Du beim Scheine unserer Hochzeitsfackel an Deine Geliebte schriebst, daß Du mich hassest? – O, was habe ich seit jener Nacht geweint! Wie viele Thränen der Verzweiflung habe ich seit jener Nacht vergossen! Aber ich bin Dir immer ein treues Weib, eine gehorsame Gefährtin gewesen, Georg. Oft, wenn mein armes, vernachlässigtes Herz aufjammerte und aufschrie in seiner Verlassenheit und nach ein wenig Liebe lechzte – denn auch ich bedarf der Liebe, Georg! – da habe ich es gepreßt und gedrückt, als wolle ich es ersticken, und neigte das Haupt in meiner Resignation und in meiner stillen Verzweiflung. Denn vor der Welt wenigstens warst Du mein ergebener Gatte. Als Du aber dann Deine skandalösen Liaisons offen zur Schau trugst, als Du mich zwangst, Deine Maitressen neben mir zu dulden, und mich dadurch zum Gespötte des ganzen Hofes machtest: da bäumte sich mein Stolz wie ein scheugewordenes Roß – und ich wagte es, mich zu beklagen. Und seitdem quälst und erniedrigst Du mich, wo Du es nur vermagst – Du behandelst mich nicht wie Deine Gattin, sondern wie Deine Feindin. Ich bin nicht mehr die Erste dieses Landes, ich bin elender als die letzte Bettlerin, denn ich bin nicht einmal frei. Von meinen Kindern hast Du mich getrennt und sie fremden Weibern anvertraut, die mir ihre Herzen und ihre Seelen entfremden, meine Freunde werden vom Hofe entfernt, Dein Vater haßt und verfolgt mich mit tausend kleinlichen Quälereien, Du meidest mich und verleugnest mich vor aller Welt.“

„Sophie!“

„Ach! Ich bin noch nicht zu Ende, Georg. Wenn Du wüßtest, was ich in dieser fürchterlichen Einsamkeit des Lebens gelitten habe, Georg, ich glaube, auch Du müßtest Mitleid mit mir haben. Ich bin Deinem Vater zu Füßen gefallen und habe ihn mit heißen, blutigen Thränen angefleht, er solle in unsere Scheidung willigen, ich könne es nicht länger hier aushalten, ich müsse wahnsinnig werden oder sterben! Da hat er die Achseln gezuckt und mir begreiflich gemacht, eine Scheidung könne nie ein freundschaftliches Uebereinkommen sein, sondern nur ein Urtheil, welches einen Schuldigen treffe. Ich habe das nicht verstanden, ich begriff nur, daß man mich hier festhalte, wo man mich haßt, daß ich eine Gefangene sei, und daß ich nur bei Dir noch Rettung hoffen könne! Und hier bin ich, um Dich anzuflehen, Georg – laß mich zu meiner Mutter nach Celle zurückkehren, trenne Dich von mir, laß mich fort, fort, fort!“ Und schluchzend faßte sie die Hände ihres Gemahls und sah ihm flehend in’s Antlitz.

Georg blickte sie finster und drohend an. „Sind Sie toll, Madame?“ rief er. „Sie wissen also nicht, daß dies unmöglich ist? daß wir umringt sind von den Spähern der Engländerin, welche unsere geringsten Handlungen interpretirt und kritisirt? Sehen Sie denn nicht, daß eine Scheidung unmöglich ist? Ah, bei Gott! Wenn Sie ein ungetreues Weib wären, dann könnte ich Sie verstoßen – aber ich kann mich nie von Ihnen scheiden lassen!“

Sophie fuhr auf. „Ich soll also hier bleiben, Georg, umgeben von feindseligen Verwandten und kaltherzigen Dienern, erröthend unter dem Blicke Deiner schamlosen Maitressen, gemartert von Deiner Kälte und von Deiner Geringschätzung, verspottet von Deinen Freunden und Schmeichlern? Georg, Georg, nimm’ Dich in Acht, daß nicht zu viel von mir verlangt wird!“

Georg richtete sich hohnlächelnd auf. „Schön, jetzt kommen die Drohungen!“

„O!“ murmelte Sophie, indem sie zurückwich und mit ihren Fäusten die Spitzen ihrer Robe zerknitterte. „O, Du bist ein Feigling! Denn Du läßt mich weinen und Du verspottest mich!“

In diesem Augenblicke fiel ihr Blick auf die Portière des Nebenzimmers und sie sah den Grafen von Königsmark, welcher dieselbe hoch emporhielt, den Kopf vorgeneigt, mit keuchender Brust, die funkelnden Augen fest auf sie gerichtet.

„Ah!“ schrie sie, außer sich durch diese letzte Demüthigung, welche ihr Gemahl ihr anthat, indem er ihre Klagen und ihren Jammer einem eiskalten Freunde preisgab. „Was ist das? – Herr von Königsmark? – O, das ist infam! Also selbst bis in Ihre Gemächer wollen Sie mich zum Gespötte Ihrer Diener machen, Georg? O wie infam – wie elend!“

„Madame!“ schrie Georg wüthend, während Königsmark einen Schritt zurücktrat.

„Ah, bleiben Sie nur,“ fuhr Sophie in immer wilderer Aufregung fort, „bleiben Sie nur, Herr von Königsmark, denn ich will meinem Gatten nicht länger lästig fallen! Nicht wahr, Sie haben sich soeben köstlich amüsirt, und werden die Geschichte dieses Auftrittes in einer Orgie ausschreien, unter Leuten Ihres Gleichen und schamlosen Dirnen? Es ist also nicht genug, daß Sie meinen Gemahl von einer Ausschweifung zur andern treiben durch Ihren Rath und durch Ihr Beispiel, – es ist nicht genug, daß Sie bei seinen Liaisons den gefälligen Freund machen, Sie spielen auch noch den Horcher?! Ah! Sie beschimpfen Ihren Namen und beflecken Ihr Wappen, mein Herr Graf von Königsmark – Sie sind kein Edelmann, Sie sind nur ein Lakai! Et maintenant, je veux passer – rangez-vous!

Und mit einer wahrhaft königlichen Gebehrde die Beiden abwehrend, und sie mit ihrem stolzen Blicke beherrschend, schritt sie zur Thüre hinaus.

Georg ballte wüthend seine Fäuste und machte einen Schritt, um ihr zu folgen, während Königsmark wie betäubt auf einen Stuhl sank.

„Wie schön sie ist!“ murmelte er. „Wie schön sie ist! – Andere Frauen haben nur Blicke, sie aber hat Blitze. – Sie haßt mich! – O! der Haß eines Weibes ist eine unbekannte Wollust für mich, und ich will sie genießen. – Wie schön sie ist! Wie reizend!“

„Philipp!“ rief Georg, indem er halb zornig, halb lachend auf ihn zutrat. „Mein armer Freund, Du bist schön angekommen! Nun, was sagst Du?“

„Ich sage,“ entgegnete Königsmark, indem er sich erhob und aus der Vase, welche auf der Toilette des Prinzen stand, eine halbverwelkte Rose nahm, „ich sage, daß es schon spät ist und daß wir eilen müssen, wenn wir beim Souper noch zurecht kommen wollen. Prinz, Sie werden wohl heute nach dem Goûter noch das Glück haben, die Frau Gräfin von Platen zu sehen?“

„Natürlich! Aber wie kommst Du zu der Frage, Philipp?“

„In diesem Falle würde ich Sie ersuchen, Monseigneur,“ fuhr Philipp fort, indem er dem Prinzen mit einem lustigen Lächeln die Rose reichte, „der Gräfin diese Rose in meinem Namen zu übergeben.“

„Bah!“

„Ja. Es gilt eine Wette, Prinz.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Leipziger Großhandels-Haus.

Wenn der nordamerikanische Trapper seine im fernen Westen erbeuteten Felle verhandelt, der sibirische Zobel- und Hermelinfänger die Frucht seiner mühseligen Arbeit abliefert, der Seehund- und Seeottern-Jäger aus den Süd- und Nordpol-Regionen den Ertrag seiner Expedition heimführt und der Mischling in Chili der Chinchilla auflauert: da ahnt Keiner von Allen, daß sie in einem fernen Mittelpunkte Deutschlands, den die Meisten von ihnen kaum dem Namen nach kennen, sich durch ihre Erzeugnisse gegenseitig die Hände reichen werden. Und die elegante Welt in Petersburg und Paris, Turin und New-York, welche im Glanze ihrer theuern Pelze aus allen Theilen der Erde prunkt, weiß ebensowenig, daß es vor Allen dieselbe deutsche Stadt ist, die den größten Theil der civilisirten Welt mit diesem gediegensten und ersehntesten Schmucke aller Fashionablen versorgt, und durch den eigenen Geschmack in der

[581]

Die Pelzniederlage von Heinrich Lomer in Leipzig.

[582] Zubereitung und Verarbeitung den der übrigen Menschheit bestimmt.

Wie der Fremde, welcher die engen Straßen des innern Leipzigs außer der Meßzeit durchwandert, sich selten eine Vorstellung bilden mag, welche Reichthümer einzelne dieser düstern, spitzgiebligen Häuser bergen, so mag er auch vor einem unscheinbaren Gebäude im Brühl, das die einfache Firma „Heinrich Lomer“ trägt, stehen, ohne eine Ahnung von den Schätzen zu haben, die sich darin dem kundigen Auge aufthun und selbst Königinnen ein rascheres Herzklopfen entlocken könnten. Er steht vor einer der bedeutendsten derjenigen wenigen Großhandlungen Leipzigs, welche in sich den Haupt-Centralpunkt des gesammten Pelzhandels der Welt vereinigen, und wem es vergönnt ist, unter der Leitung des freundlichen Besitzers einen Blick durch ihre Räume zu werfen, dem eröffnen sich Vorstellungen, an die er, trotz aller Achtung für Leipzigs allgemeinen Handel, früher kaum geglaubt haben würde.

Treten wir einmal in das riesige, vier Etagen hohe Lagerhaus, das sein gesammtes Licht durch das Dach empfängt, und machen einen Rundgang, der uns am schnellsten eine Idee von der Großartigkeit des Etablissements geben wird. Ob auch die verwendbaren Pelzarten aller Erdstriche sich hier in großen oder kleineren Vorräthen vereinigt finden, so herrscht doch überall eine solche systematische Ordnung und Übersichtlichkeit, daß wir in unseren Betrachtungen kaum irren können.

Hier treffen wir zuerst auf Landsleute: Marder, Füchse, Iltisse, Fischottern, Dachse und dergl., die uns nur durch ihre Masse einen Augenblick festhalten. Hier diese gewaltigen Fässer z. B. schließen sämmtlich rothe Fuchsfelle ein, allein ungefähr 100,000 Stück[WS 1]. Interessiren muß es indessen, daß von den Fellen dieser einheimischen Thiere allein jährlich für mehr als zwei Millionen Thaler in Leipzig zum Umsatz kommen.

Lassen wir auch einmal diese holländischen Katzen-, Schwan- und Gänsepelze, sammt jenen französischen Kaninchenfellen, so schön und vielgekauft sie auch in ihrem silberfarbenen Naturzustande, wie in ihrer braunen Färbung sind, bei Seite und treten wir zunächst in das russische und sibirische Departement ein.

Da sind zuerst Massen des grauen sibirischen Eichhörnchens, roh und bearbeitet; wir dürfen bequem 200,000 Felle annehmen. Die getrennten Bauch- und Rückentheile bilden zwei durchaus verschiedene Zeichnungen und werden auch gesondert zusammengesetzt und verwandt. Diese Zusammensetzung bildet einen völligen Industriezweig in unserer Nähe; ganz besonders sind es die Bürgerfrauen in Weißenfels und Naumburg, die sich eine solche Fertigkeit darin erworben haben, daß ihre Arbeit in der ganzen pelzverbrauchenden Welt gesucht wird. Es mögen wohl jährlich 1½ Millionen solcher bearbeiteter Fellchen von Leipzig nach allen Himmelsgegenden versandt werden.

Dort sind sibirische Zobel – nur die Kleinigkeit von 100 Thalern das Stück; daneben schneeweiße Hermeline roh und bereits bearbeitet – die Hermelin-Mäntel zur letzten Krönung des preußischen Königspaars waren aus Herrn Lomer’s Etablissement hervorgegangen. Beiläufig bemerkt, erzählt man sich vom Hermeline, daß es eher durch das Feuer, als durch Schmutz laufe, und so gilt sein Pelz in der Heraldik als Bild höchster Reinheit. Hier sind Angora-Ziegenfelle, die nur nach Leipzig wandern, um fein bearbeitet nach Rußland wieder zurückzugehen, und da ein großartiges Sortiment von Astrachanfellen, in deren Verschönerung durch Farbe und Bereitung unser nahegelegenes Markranstädt einen besonderen Ruf erworben – darunter wunderbar zarte persische Lammfelle, die, seltsam genug, in Ungarn von den Männern der National-Partei und in Paris von der weiblichen Hautevolée als Schmuck der Kleidung verwandt werden.

Jetzt einige Schritte in den Bereich Nordamerika’s. Da ist der Biber, der uns sofort in die ganze Romantik Cooper’s versetzt. Das nützliche Thier soll in neuerer Zeit anfangen zu verschwinden; allzu gefährlich scheint es indessen noch nicht damit, denn vor uns lagern die Häute von sicher 100,000 Stück[WS 2]. neben beiläufig etwa 400,000 Bisamfellen. Beide wurden früher nur zur Hutfabrikation benutzt; in seiner jetzigen Bearbeitung zu Pelzwerk aber sticht der Biber in Weiche und Zartheit den feinsten Flaum aus.

Nun folgen Zobel und Luchse, Wolfshäute aller Farben, Waschbären, schwarze und graue Bären – das gesammte Hinterwaldsleben des amerikanischen Jägers und Trappers mit seinen Gefahren und seiner räthselhaften Anziehungskraft steigt vor uns auf – Eisbären, Vielfraße und Skunke schließen sich an. Aber hier ist das Fuchs-Departement: weiße, blaue und Kreuzfüchse; Silberfüchse zu 125 Thlr. das Stück – und da die Sehnsucht jeder echten Modedame: schwarzer Fuchs bis zu 250 Thalern das Fell.

Daran reiht sich Südamerika. Seehundsfelle aus der Südsee – hier ein Exemplar, das die Wunder der Pelzbereitung zeigt. Zur Hälfte ist es im Naturzustande mit seinem eigenthümlichen harten Oberhaar; auf der andern Hälfte ist dieses hinweggenommen und zeigt nun einen Pelz, der an Feinheit und Weiche dem präparirten Biber gleichkommt. Ein in gleicher Art bearbeitetes Fell befindet sich auf der Londoner Ausstellung. Daneben aber hängt die Königin aller Pelzthiere in mehrfachen Exemplaren: Seeotter zu 300 bis 350 Thalern das Stück, und ein begehrliches Herz thut wohl, die Augen davon abzuwenden.

Mit der Chinchilla, dem Felle der „Hasenmaus“ in Nord-Chili, einem feenhaft zarten, schwarz in grau gezeichnetem Pelzwerke, schließen wir unsern Rundgang und werfen noch einmal einen Blick über das ganze großartige, mit ausgestopften Pelzthieren prächtig decorirte Local, um uns dann in dem anstoßenden Comptoir des Herrn Lomer noch einige weitere Notizen zu holen.

Dieses gesammte, sich immer erneuernde Lager ist Eigenthum des Herrn Lomer, welcher in dem Leipziger Pelzgeschäft, dessen Haupttheil nur in drei oder vier Händen ruht, eine hervorragende Stelle einnimmt. Und der Leipziger Gesammtumsatz in Rauchwaaren beträgt jährlich über sechs Millionen Thaler.

Außer dem hiesigen Geschäft mit seiner Menge Zubereitern und zerstreuten Arbeitern besitzt der Genannte noch eine Commandite und Zurichtungsanstalt in London; seine Bezüge an Fellen erfolgen entweder direct aus den Vereinigten Staaten und Rußland, oder durch die Hudsonsbay-Compagnie in Britisch-Amerika, welche von der englischen Regierung das Monopol für den gesammten dortigen Pelzhandel erhalten hatte. Für den hohen Aufschwung der hiesigen Pelzbereitung aber mag es sprechen, daß Amerika und Rußland, welche die Hauptmasse des Rohmaterials hierher liefern, es im bearbeiteten Zustande wieder von hier beziehen.




Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 6
Ein Reiterobrist als Käfersammler – Zusammensetzung und Unterscheidungsmerkmale der Käfer – Jagd des Laufkäfers auf Maikäfer und Hofrath Perner – Der Todtengräber – Der Marienkäfer – Die Rüsselkäfer und deren Industrie – Der Rebensticher und seine Thätigkeit – Ein Proceß gegen die Rüsselkäfer.

Meine Herren!

Wenn auch die Käfer weder durch Kunsttrieb, noch durch die Vorzüge ihrer Organisation an der Spitze der Insecten stehen, wo man sie gewöhnlich hinzustellen pflegt, so bilden sie dennoch diejenige zahlreichste Ordnung der Insecten, welche die Blicke der Sammler und Naturfreunde am meisten auf sich gezogen hat. Die harten, hornigen Flügeldecken, welche nur in seltenen Fällen, wie z. B. bei den Maiwürmern (Meloë) einen Theil des Hinterleibes frei lassen, sonst aber denselben vollständig von der Rückenseite decken; die festen, panzerähnlichen Schilde, mit welchen Kopf und Vorderbrust bekleidet sind, gestatten eine Leichtigkeit der Aufbewahrung und bieten einen Widerstand gegen äußere zerstörende Einflüsse, den man bei anderen Insectenordnungen vergeblich suchen würde. Kommt nun noch dazu eine außerordentliche Mannigfaltigkeit der Formen des Körpers im Ganzen, wie in seinen einzelnen Theilen, und eine bei vielen Arten wirklich geschmackvolle Anordnung lebhafter, fast unzerstörbarer Farben, so darf man sich nicht wundern, wenn Käfersammlungen zwar zu den gewöhnlichsten Dingen [583] gehören, wohl geordnete und reiche Käfersammlungen aber schon deshalb eine Seltenheit sind, weil die Zahl der Arten außerordentlich groß und die Bestimmung bei der Feinheit der einzelnen Unterscheidungszeichen, namentlich an den Mundtheilen der kleinen, zuweilen fast mikroskopischen Arten äußerst schwierig ist. Eine der größten und reichhaltigsten Käfersammlungen der Neuzeit, namentlich was europäische Arten betrifft, war diejenige des Grafen Dejean. Wissen Sie, wie sie zusammengebracht wurde? Der Graf war unter Napoleon Oberst eines Reiterregiments, und so wie im österreichischen Heere die Artilleristen der Brigade Vega eine Blechbüchse trugen mit den Logarithmenrechnungen, die sie für ihren Chef anstellten, so hatte jeder Dejean’sche Reiter in der Satteltasche eine Spiritusflasche, worin er zu allen Zwischenzeiten, die ihm der Dienst ließ, Käfer sammelte. Da nun das Regiment in allen Ländern gebraucht wurde, in welchen Napoleon Krieg führte, so konnte es nicht fehlen, daß der größte Theil von Europa in das Bereich der sammelnden Reitertruppe fiel. Die Liebhaberei des Grafen war aber sogar bei den feindlichen Heeren so bekannt, daß man nach stattgehabten Gefechten und Schlachten die Käferflaschen der Getödteten und Gefangenen ihm mit ritterlichem Gruße zusandte.

Fassen wir in wenig Worten die Charaktere der Käfer, die uns hier interessiren können, zusammen. Betrachtet man einen Maikäfer von der oberen Fläche aus, so scheint derselbe aus drei Theilen zusammengesetzt: vorn der kleine, fast viereckige Kopf, der an seinem Grunde die dunkelschwarz glänzenden, vorzugsweise nach unten gerichteten Augen trägt, während vorn daran die Fühlhörner sitzen, deren vorderes Ende wie ein aus Blättern bestehender Kamm gebildet erscheint. Unten an dem Kopfe sitzen die Mundwerkzeuge, die scharfen Kinnladen nebst den gegliederten Tastern, welche fast in beständiger Bewegung sind. Hinter dem Kopfe zeigt sich ein breiter, schildförmiger Theil, braun oder schwärzlich mit grauen Haaren bewachsen: es ist der erste Brustring, der niemals Flügel, wohl aber an seiner unteren Fläche das erste Fußpaar trägt. Hinter diesem Halsschilde, das bei den Käfern oft sehr eigenthümliche Formen und Auswüchse zeigt, sind nun die harten Flügeldecken eingelenkt, welche nur zum Schutze des Hinterleibes, nicht aber zum Fliegen dienen und bei einigen Käfern sogar in der Mitte zusammengewachsen sind, so daß die eigentlichen Flügel, die auf dem dritten Brustringe angebracht sind, aus seitlichen Spalten hervorgestreckt werden müssen. Diese hinteren Flügel, die ganz unter den Flügeldecken versteckt getragen werden, sind gewöhnlich mehrfach zusammengefaltet und eingeknickt, lang und von starken Flügeladern durchzogen. Zwischen den Flügeldecken zeigt sich an ihrer Anheftungsstelle meist in der Mitte ein kleiner dreieckiger Raum, der beim Maikäfer glänzend schwarz ist und das Schildchen genannt wird. Häufig tritt, wie gerade beim Maikäfer, hinter den Flügeldecken noch das zuweilen in eine Spitze ausgezogene Ende des Hinterleibes hervor. Die drei Paar Beine, welche an den drei Brustringen befestigt sind, sind gewöhnlich nur zum Laufen, seltener zum Springen oder Schwimmen eingerichtet. Fast möchte man sagen, daß sie nach dem Typus der menschlichen Beine gebaut sind, denn sie haben eine Hüfte, einen Schenkel und ein Schienbein, die häufig noch mit Dornen und Borsten besetzt sind, und dann noch eine Reihe von Fußgliedern, fünf, vier oder drei, und tragen gewöhnlich am Ende zwei scharfe Krallen, mit welchen die Käfer fest einhaken und demnach leicht klettern können. Die Fühlhörner, deren Gestalt außerordentlich mannigfaltig ist, die Mundwerkzeuge und Füße dienen meistens in erster Linie als Unterscheidungszeichen, um die größeren Gruppen, Familien und Gattungen, zu erkennen. Nach diesen also hat man zuerst zu sehen, wenn es sich darum handelt, einen gefundenen Käfer zu bestimmen; nachher erst sucht man die übrigen Unterscheidungsmerkmale in Größe, Färbung und besonderen Gestaltungen zur Bestimmung der Art auf.

Die Käfer haben vollständige Metamorphose, und die meist walzigen Larven, deren einzelne Körperringe sehr leicht unterscheidbar sind, besitzen stets einen hornigen Kopf mit scharfen Kiefern, zuweilen ziemlich lange, gewöhnlich nur kurze, manchmal auch gar keine Füße, die nur an den drei Brustringen angebracht sind. Niemals besitzt eine Käferlarve falsche Bauchfüße, wie die Raupen und Afterraupen; selten auch sind sie behaart oder vielfarbig, gewöhnlich nur einfarbig, röthlich, gelblich oder schwarz. Manche sind Räuber und jagen von ihren Erdlöchern aus auf dem Boden anderen Insecten nach; die meisten aber leben verborgen in der Erde, im Mulm, in Aesern, im Miste, im Holze und in anderen lebenden Pflanzenstoffen. Die Puppen ruhen, sind nur selten eingesponnen, häufig aber in einem festen Erdklumpen wie eingebacken.

Unsere Freunde unter den Käfern sind bei weitem nicht so zahlreich, als unsere Feinde, und die wenigen, die wir besitzen, werden noch obendrein größtentheils von den Landleuten verfolgt und in ihrer nützlichen Thätigkeit gestört. Auch muß man zugestehen, daß die meisten von ihnen sich grade nicht durch allzu angenehme Eigenschaften auszeichnen. Fast alle Fleischfresser stinken, und die fleischfressenden Käfer, welche sich von lebender Beute nähren, oder diejenigen, welche, wie die Todtengräber, mit Vertilgung von Aas sich beschäftigen, können gerade nicht auf Wohlgeruch Anspruch machen. Die räuberischesten Familien sind die Sandkäfer (Cicindela), meist glänzend grün gefärbte Käfer mit hellen Tupfen, die man überall auf sonnigen Wegen und Plätzen findet, wo sie bald mit großer Schnelligkeit laufen oder auch streckenweit fliegen und nach Raub umherjagen. Ihre Larven sind seltsam gebaut, indem sie einen buckligen Halsring besitzen, der zur Schließung ihres in den Sand gegrabenen Ganges dient, aus dem heraus sie sich auf Mücken und andere Insecten stürzen.

Unsere wesentlichsten Freunde sind aber fast sämmtliche der Familie der Laufkäfer (Carabida) angehörige Arten und vor allem der goldene Laufkäfer (Carabus auratus), der Gärtner oder Goldschmied, jener prächtige Käfer mit goldgrünen Flügeldecken, schwarzem Bauche und braunrothen Füßen, der, einen Zoll lang, in allen unsern Gärten und Wiesen umherläuft und erstaunliche Verwüstungen unter dem Ungeziefer anrichtet. Denn nicht nur andere Insecten, sondern auch Gartenschnecken, Regenwürmer, Ohrwürmer und Tausendfüße greift er mit seinen starken Kiefern an, und wo er allein zur Bewältigung nicht hinreicht, helfen ihm auch wohl die Genossen, die sich mit großer Schnelligkeit versammeln. In dem Augenblicke, wo ich dieses niederschreibe, nähern sich schon die Maikäfer der Oberfläche, und gerade für dieses Jahr sagt man uns für die Umgegend von Genf die Wiederkehr eines Maikäferjahres an. Es wird also leicht sein, die Jagd des Laufkäfers auf den zwar schwereren, aber weit unbehülflicheren Maikäfer zu beobachten. In wenig Schritten hat der Räuber seine Beute erreicht, stürzt sich mit einem Sprunge auf sie und packt sie mit den scharfen Kiefern an dem spitzen Hinterende. Der Maikäfer sucht zu fliehen, der Laufkäfer aber hält fest und reißt seinem unglücklichen Opfer die letzten Hinterleibsringe ab. Der Darm und die übrigen Baucheingeweide sind aber an diesen Ringen befestigt, und so haspelt sich der Maikäfer, während er mit sinkender Kraft zu entfliehen strebt, die Eingeweide förmlich aus dem Leibe, während der Laufkäfer, beständig fressend und festhaltend, ihm nachfolgt und sein gräßliches Mahl in exquisit grausamer Weise fortsetzt, bis endlich der Maikäfer sterbend zusammenstürzt. Es bietet sich hier, wie man sieht, ein weites Feld für die Thätigkeit des Herrn Hofrath Perner und seiner hochgestellten Vereinsgenossen.

Denn wenn auch der Maikäfer keine Schonung verdient, so dürfte es doch von dem Standpunkte der sittlichen Weltordnung aus nicht ganz gerechtfertigt sein, daß man den Verbrecher auf so entsetzliche Weise vom Leben zum Tode bringt. Da wir aber an der Verantwortung unserer eigenen Sünden schwer genug zu tragen haben und man uns diejenigen der Laufkäfer nicht auch noch aufbürden kann, selbst in dem Falle, wo wir sie leben lassen, so glauben wir Gärtnern und Landbauern den wohlgemeinten Rath geben zu müssen, diese Käfer durchaus zu schonen und ihnen nicht, wie anderem Ungeziefer, mit Hacke oder Spaten einen Hieb zu versetzen, wenn sie ihnen gerade in den Wurf kommen. Denn ein lebender Laufkäfer wiegt eine Menge schädlicher Feinde auf.

Auch die schwarzen stinkenden Raubkäfer (Staphylinus) mit den kurzen, frackschößenähnlichen Flügeldecken und dem langen Hinterleibe, den sie bei der Berührung wie drohend in die Höhe richten, sowie die glänzend schwarzen, meist mir dunkelrothen Tupfen gezierten Todtengräber (Necrophorus) möge man ruhig gewähren lassen. Die ersteren sind nicht minder nützlich, als die Laufkäfer, die letzteren aber schaffen mit großer Emsigkeit die Aeser der kleineren Säugethiere und Vögel unter die Erde, um dann ihre Eier hineinzulegen und ihre Larven auf Kosten derselben zu ernähren. Sie scheinen viel Intelligenz in diesem Geschäfte zu bewähren, indem sie die leichteren Aeser in Gruben schleppen, [584] welche sie zur Seite graben, die schwereren dagegen so unterminiren, daß sie allmählich hinabstürzen. Ja man sagt sogar, daß einige dieser Todtengräber, deren sich manchmal ein halbes Dutzend zu gemeinschaftlicher Arbeit zusammen findet, einen in die Erde gesteckten Stock, auf den man unverständiger Weise eine Kröte gespießt hatte, so unterminirten, daß sie ihn zuletzt zum Falle und die Kröte auf diese Weise in ihre Gewalt brachten.

Ein Wort der Gunst noch für die niedlichen, kleinen Marien- oder Sonnenkäferchen (Coccinella), die schon mit den ersten Strahlen der Frühlingssonne aus den Verstecken, in welchen sie überwinterten, hervorkriechen und durch die gewölbten polirten Flügeldecken mit schwarzen und rothen Tupfen allen Kindern ebenso bekannt sind, wie durch ihren leichten Flug und die gelbe stinkende Flüssigkeit, die in Tropfen aus ihren Beingelenken hervortritt. Ihre Larven sind schildförmig, mit Borsten besetzt und meist über und über struppig von Büscheln feiner Wachsfäden, die sie aus dem Leibe schwitzen. Beide aber, Käfer wie Larven, sind unersättliche Feinde der Blattläuse, denen sie von Knospe zu Knospe, von Zweig zu Zweig zerstörend folgen. Wir werden unter den Florfliegen und Mücken noch andere Blattlausfeinde finden, welche den Sonnenkäferchen an Gefräßigkeit nicht nachstehen, und alle diese Larven verdienen höchste Schonung, ja sogar Pflege und Wartung. Denn man kann eine Topfpflanze vollständig von Blattläusen reinigen, indem man mittels eines Pinsels einige dieser leicht kenntlichen Larven auf die Pflanze überträgt.

Gehen wir nun zu den schädlichen Käfern über, so tritt uns hier vor allen Dingen die außerordentlich zahlreiche Familie der Rüsselkäfer (Curculionida) entgegen, welche ohne irgend eine Ausnahme zu den schädlichsten Zerstörern gehört, die wir in dem Thierreiche kennen. Die Käfer lassen sich nicht verkennen, ihr Kopf ist in einen harten, unbeweglichen Rüssel ausgezogen, der zuweilen außerordentlich lang und dünne wird, länger selbst als der ganze Körper, und an dessen vorderer Spitze die sehr kleinen, aber messerartig scharfen und kräftigen Kiefer stehen. An der Seite des Rüssels und zwar gewöhnlich an dessen Mitte sind die meistens knieförmig gebogenen Fühlhörner eingelenkt, welche oft in eine besondere Grube an der Seite des Rüssels zurückgelegt werden können. An dem Grunde des Rüssels stehen die kleinen, oft halbmondförmigen Augen; der Körper ist gewöhnlich stark gewölbt und die Flügeldecken oft so hart, daß es kaum möglich ist, sie mit einer Nadel zu durchbohren. Nur die größten Arten unserer Gegend erreichen die Länge eines halben Zolles, die meisten werden höchstens eine bis zwei Linien lang.

Die Länge des Rüssels steht im Verhältniß zu dem Orte, an welchen diese Käfer ihre Eier zu bringen haben. Denn ihre Larven leben im Innern von Kernen und Früchten, von Blättern, Sprossen, Stengeln und Stämmen, sind alle fußlos, gewöhnlich im Halbkreise gekrümmt und können nur in der nächsten Umgebung bohren, nicht aber von einem Platze zum andern sich bewegen. Die Industrie der Rüsselkäfer besteht nun darin, mittels der scharfen Kiefer die Pflanzen anzuschneiden und so tief hineinzubohren, bis sie den Ort erreicht haben, an welchem die Larve sich nähren soll. Dann nehmen sie das Ei, das gewöhnlich mikroskopisch klein ist, zwischen die Kiefer und schieben es an den Ort, bis zu welchem der gebohrte Canal reicht. Deshalb haben die Haselnußkäfer (Balaninus), deren röthliche, ekelhafte Larve schon mancher meiner Leser statt des süßen Kernes in einer Haselnuß gefunden haben wird, einen so außerordentlich langen, feinen, gebogenen Rüssel, weil sie bei den noch jungen und weichen Haselnüßen alle äußern Hüllen, Kapsel, Haut, Fleisch und Schalen, durchbohren müssen, um ihr Ei bis an den innersten Kern hineinstecken zu können, während die Erbsenkäfer (Bruchus), welche nur die äußere Samenhaut anzubohren brauchen, um das Ei in die Erbse oder Bohne zu legen, nur einen kurzen, breiten Rüssel besitzen. Außer dem unmittelbaren Schaden, welchen die Larven dadurch anrichten, daß sie Samen und Kerne auffressen und häufig die Früchte schon in der Blüthe zerstören, werden aber viele dieser Rüsselkäfer, wie der Reb- und Apfelsticher (Rhynchites bacchus), dadurch außerordentlich schädlich, daß sie die Schossen der Gewächse und die jungen, jährigen Zweige, in welchen ihre Larven leben sollen, so weit anschneiden, daß die Schossen welk werden und verdorren.

Wir wählen unter der großen Menge schädlicher Rüsselkäfer nur zwei aus, die uns ein Bild von dem Leben der übrigen geben können und die zugleich durch die massenhaften Zerstörungen, welche sie an den ersten Lebensbedürfnissen, Brod und Wein, anrichten, fast jedem von uns bekannt sind.

Der Rebensticher, Drechsler, Augenschneider (Rhyncites Betuleti) ist ein namentlich im Süden Deutschlands, Elsaß und Burgund durch seine Verwüstungen an dem Weinstocke leider nur zu wohlbekannter Käfer, von der Größe einer Stubenfliege, mit langem, nach unten zu gebogenem Rüssel und hohen Beinen, der in mannigfaltigen metallischen Farben spielt. Gewöhnlich ist er prächtig stahlblau, häufig aber auch goldgrün, bronzefarben und selbst kupferroth, stets aber vollkommen glatt und unbehaart. Nicht nur die Reben leiden unter seinem Treiben, sondern auch verschiedene Wald- und Obstbäume und vorzugsweise die Birnen, auf denen er sich leicht durch die Eigenthümlichkeit bemerklich macht, daß er ein Dutzend zarte, junge Blätter und mehr förmlich in eine Cigarre zusammenrollt. Im ersten Frühling scheint er sich mehr in den Wäldern aufzuhalten; sobald aber die Rebe beginnt auszuschlagen, wandert er wohl auf die Lieblingspflanze hinüber und findet sich dann oftmals in ungeheurer Menge in den Weinbergen. Hier ist nun seine Thätigkeit eine äußerst mannigfaltige. Zu seiner Nahrung schabt der Käfer auf der Oberseite der Blätter gerade Streifen von mehreren Linien Länge und von der Breite des Rüssels ab, auf welchen er das Blattgrün wegfrißt und nur die durchsichtige Unterhaut stehen läßt. Das Blatt verdorrt. Dann werden die weichen, noch krautartigen Schossen, sowie später die Stiele der jungen Trauben zur Hälfte abgeschnitten, so daß sie herabknicken und schließlich verdorren. Wie es scheint, liebt der Käfer mehr die Nahrung von halbverwelkten, als von frischen Pflanzentheilen. Unterdessen haben sich die Blätter des jungen Weinstockes vollständig entwickelt, und nun beginnt die Sorge für die Brut. Die Blätter werden an ihren Stielen halb durchgenagt, so daß sie zu welken und sich aufzurollen beginnen. Der Käfer hilft nach, oft mit großer Anstrengung, und fertigt endlich eine Rolle, die aus mehreren großen und einigen kleineren Blättern besteht. Männchen und Weibchen arbeiten meistens gemeinschaftlich, und wenn die Rolle gefertigt ist, werden von außen her mehrere Löcher hineingestochen und die Eier durch diese Löcher in das Innere geschoben. Die Larven schlüpfen nach etwa acht Tagen aus, und nun – schweigt die Geschichte.

Kaum ist es glaublich, daß man von einem Insect, welches in manchen Jahren in der Pfalz und in Baden scheffelweise zusammengelesen werden konnte, welches man von Obrigkeitswegen im Elsaß und Markgrafenland zusammenlesen lassen mußte und gegen welches, wie ich sogleich ausführlicher mittheilen werde, im Mittelalter Staatsprocesse geführt wurden – kaum ist es glaublich, sage ich, daß von einem solchen Insect die Lebensweise nicht näher bekannt sein sollte. Und doch ist es so. Denn über die Entwickelung der in den Blätterrollen verborgenen Larven, über ihre Einpuppung und über die Generationsdauer des Thieres herrscht die größte Unsicherheit. Man schwankt in der Angabe über die Lebensdauer der Larven zwischen 14 Tagen und 6 Wochen; die Einen lassen sie in der Erde, die Andern in Rindenritzen sich verpuppen, und nur so viel scheint festgestellt, daß im Spätsommer, August und September, junge Käfer erscheinen, welche aber zu dieser Jahreszeit niemals Blattwickel verfertigen, keine Cigarren drehen, aber nichts destoweniger häufig in der Begattung getroffen werden. Ueberwintern nun die im Herbste ausgeschlüpften Käfer, um im Frühjahr zu erscheinen, oder legen sie Eier, deren Larven noch genug Nahrung finden, um sich vor Eintritt des Winters verpuppen und unter der Erde das Erwachen des Frühlings erwarten zu können? Keine dieser Fragen ist bis jetzt gelöst. Man weiß also nicht, ob der Käfer eine einfache oder doppelte Generation im Jahre durchmacht.

Wie groß der Schaden sei, den sie anrichten können, beweisen indessen jene Processe, die im Mittelalter gegen sie geführt wurden, und von welchen ich Ihnen einen aus unserer Nähe mittheilen kann. (Ich bedauere nur, daß der eigenthümliche Reiz, der in dem naiven Altfranzösisch sich findet, in der Uebersetzung nothwendiger Weise verschwinden muß.)

Im Jahre 1554 hatten die Rüsselkäfer die Weinberge von St. Julien in der Nähe von St. Jean de Maurienne in der savoyischen Provinz Maurienne verwüstet. Eine gerichtliche Untersuchung wurde eingeleitet und vor dem bischöflichen Gerichte von St. Jean de Maurienne von den Einwohnern Klage erhoben. Den Käfern wurde ein Fiscal bestellt, der eine Vertheidigungsrede [585] hielt, das Urtheil aber suspendirt, da die Käfer plötzlich verschwanden. Aber nach 42 Jahren, 1587, erschienen sie aufs Neue. Die Gemeindebehörden strengten abermals den Proceß beim Generalvicar des Bischofs der Maurienne an, der sogleich den Käfern einen Sachwalter und einen Advocaten ernannte, zugleich aber ein Kreisschreiben an die Gläubigen ergehen ließ, worin er öffentliche Gebete und Prozessionen empfahl und zugleich dem Volke auseinandersetzte, daß diese Plage eine Strafe des Himmels für die unregelmäßige Entrichtung der Zehnten sei und daß sie derselben in Zukunft entgehen könnten, wenn sie Zehnten und geistliche Gefälle pünktlich und reichlich bezahlen würden. Der Proceß ging unterdessen seinen gemessenen Gang fort. Es wurde hin- und herplaidirt, und da der Anwalt der Käfer das Recht zum Leben für seine Clienten, die auch Geschöpfe Gottes seien, in Anspruch nahm, so beriefen die Bürgermeister die Bürger von St. Julien zu öffentlicher Versammlung auf den Platz, wo sie auseinander setzten, „wasmaßen es nöthig und nützlich sei, obbemeldeten Thieren hinreichenden Weide- und Nährplatz außerhalb der Weinberge von St. Julien anzuweisen, damit sie dort leben könnten, ohne genöthigt zu sein, besagte Weinberge aufzufressen und zu verwüsten.“

Die Bürger boten hierauf einstimmig den Insecten ein Stück Gemeindeland von etwa 50 Morgen an, „wovon die Herren Sachwalter und Prokuratoren der Thiere ein Einsehen nehmen und sich begnügen möchten, wasmaßen besagtes Feld mit manchen Sorten Holz, Pflanzen und Kräuter bewachsen, als da sind: Elsbeeren, Kirschen, Eichen, Buchen, Eschen und andere Bäume und Gesträuche, sowie schönes Gras und Weide in ausreichender Menge.“ Bei diesem Anerbieten behielten sich aber die Einwohner von St. Julien das Recht vor, über das Stück Land, welches sie abtreten, passiren zu dürfen, „ohne daß sie indeß damit der Nahrung der Käfer in irgend einer Weise Abbruch thun wollten. Da aber dieser Ort ein sicherer Zufluchtsort in Kriegszeiten ist und gute Brunnen hat, deren sich die Käfer ebenfalls bedienen können, so behalten sich die Bewohner ferner das Recht vor, in Zeiten der Noth und Bedrängniß dorthin flüchten zu dürfen, versprechen aber jedenfalls unter bemeldeten Bedingungen über die Abtretung des Stück Landes einen Vertrag in guter Form und für alle Zeiten gültig ausfertigen zu lassen.“

(Schluß folgt.)


Die neueste Luftfahrt in Deutschland.
Dargestellt von Dr. W. Pitschner.
(Schluß.)

Noch einige Augenblicke verfolgen wir den Ballon bei seiner Abfahrt. In einem eigenthümlichen Gefühl von Sinnesberauschung durchschnitten wir, nach NNO. hinaussegelnd, während eines Zeitraumes von kaum zwei Minuten die Wolken der untern Luftströmung und tauchten alsdann bei einer Höhe von 1600 Fuß in die zweite zunächstliegende Luftschicht auf, welche dem Ballon die Richtung nach NW. anwies. Auch in diesen Wellen war die Steigkraft eine sehr bedeutende, denn das Aneroidbarometer sank mit sichtbarer Schnelligkeit während der ersten fünf Minuten nach dem Moment der Abfahrt auf 24,8 Par. Linien und verkündigte dadurch, daß wir bereits, im Niveau des Brocken-Gipfels schwebend, eine Höhe von beinahe vierthalbtausend Fuß erreicht hatten.

Welch belebender und überraschender Contrast in den Dimensionsverhältnissen des Horizontes! Auf dem Schauplatze der Abfahrt war uns ein Ueberblick über kaum 1/8 Quadratmeile möglich, und hier in den Wogen des Luftmeeres lag nach so wenigen Minuten ein Rundgemälde von mehr denn 800 Quadratmeilen vor uns. Sechszehn Meilen weit nach Nord, Süd, Ost und West schweifte der Blick umher, wo sich ihm nicht trübe Wolken hindernd entgegenstellten.

Gern verweilte ich länger bei diesem in jeder Secunde anwachsenden Riesentableau mit seinen vom mildern Abendlicht der Sonne übergossenen Städten und Dörfern, Wäldern und Feldern, Flüssen und Seen; die eigenthümliche panoramische Wirkung desselben soll ihre Schilderung später finden, wenn wir auf dem mehr als 7000 Fuß höher liegenden Gipfelpunkte der ganzen Fahrt angelangt sind. Wir segelten weiter, in NW.-Richtung beharrend. Das Stillschweigen, welches die Schönheit des Schauspiels in den ersten Minuten hervorgerufen hatte, hörte auf. Laute Empfindungen brachen in kurzen Worten des Staunens und der Bewunderung aus unsrer freudig überraschten Seele hervor – und diese Empfindungen begleiteten uns, kettenartig und in gesteigertem Grade sich aneinander reihend, bis zu den Schreckensminuten der Niederfahrt. Mit den Gefühlen einer märchenhaften Wirklichkeit, welche uns während der ganzen Reise umfangen hielt, verband sich schon nach Ablauf der ersten Viertelstunde eine auffallende Sinnestäuschung rücksichtlich der Fortbewegung unseres Fahrzeuges, sowohl der wagerechten als auch der senkrechten.

Du wähnst, frei im Raume schwebend, festgebannt zu sein. Unter Deinen Füßen scheinen im tiefen Abgrunde die Erdlandschaften kreisbildartig abgerollt und beweglich Dir dargestellt zu werden. Eine überraschende Wirkung des Ballon-Panoramas! Auge und Ohr vernehmen nichts von der reißenden Bewegung, mit der Du in Windes-, ja in Sturmeseile dahinziehst, denn Du schwimmst in gleicher Geschwindigkeit mit den unsichtbar atomistischen Lufttheilchen. Bei dieser scheinbaren Unbeweglichkeit der Luft ist die directe Bewegung des Ballons nur dann wahrnehmbar, wenn das Auge im größern Umkreise oder in senkrechter Richtung nach unten einen festen Gegenstand fixirt und einige Minuten lang betrachtet. Die Geschwindigkeit des Windes, die Bewegung seiner unsichtbaren Lufttheilchen erhält demnach in den Luftschiffen einen sichern Maßstab zu ihrer Beurtheilung. Der Luftballon wird zum Anemometer (Windmesser).

Was nunmehr die mittlere Geschwindigkeit der Luftströmungen anbetrifft, in denen wir fuhren, so ergiebt sich dieselbe, nach Abzug der zurückgelegten Krümmungen beim Steigen und Fallen, aus dem Verhältniß des geraden Weges zu der darauf verwendeten Zeit. Die Fahrt währte 80 Minuten; wir brachten 61 Minuten in den obern Luftströmungen zu. Das Steigen und Fallen dauerte 11 Minuten, während der Wind in einem Zeitraum von 50 Minuten einen geraden Weg von beinahe 5 Meilen zurücklegte, woraus sich eine Geschwindigkeit von 40 Fuß in einer Secunde ergiebt, das ist die vierfache Geschwindigkeit des gewöhnlichen Windes. Auf meiner ersten Luftreise am 13. Juli 1858 ergab sich bei fast vollkommener Windstille in der untern Luftschicht die mittlere Geschwindigkeit der obern Luftströmungen sogar fünf Mal so groß, als die des gewöhnlichen Windes, und dennoch schien auch damals der Ballon in fast vollkommener Ruhe sich zu befinden.

Aber auch die senkrechte Bewegung, wie bereits erwähnt, das Steigen und Fallen des Ballons, ist für die Augen und für das Gefühl nicht wahrnehmbar; ja, es geht in diesem Falle sogar der einzig sichere Maßstab, die Fixirung eines festen irdischen Punktes, verloren. So kann der Luftschiffer bei vortrefflicher Ausstattung seines Ballons, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, in ungewöhnliche Höhen steigen oder unvorbereitet landen. So alt die Luftfahrten sind, so lange bedienen sich ihre kühnen Jünger eines einfachen Barometers, das ihnen freilich in den meisten Fällen, ohne jegliche Höhenangabe, nur Kunde von dem Steigen oder Fallen des Ballons giebt.

Es werden zu dem Ende Papierstückchen von der Größe eines Thalers über den Rand der Gondel geworfen; wenn dieselben hinabsinken, so schließt der Luftschiffer daraus auf das Steigen des Ballons, und umgekehrt, wenn die Papierstückchen sich erheben, so erblickt er darin die Anzeige vom Fallen desselben. Während meiner beiden Luftfahrten habe ich mich aber von der Unsicherheit dieser Schlüsse vollkommen überzeugt; denn es entging mir die Beobachtung nicht, daß der Ballon bei rückwärts schreitendem Zeiger auf dem Aneroid zu sinken anfing, wiewohl die hinabfallenden Papierstückchen auf sein Steigen hindeuteten. Unter diesen Umständen [586] kann der Luftschiffer in der Beurtheilung der verticalen Bewegung des Ballons getäuscht werden – er befindet sich im Wahne, daß derselbe noch steige, während er bereits im Sinken ist, und er trifft alsdann vielleicht schon zu spät die nothwendigen Vorbereitungen zur Landung. Es ist daher geradezu als gefährlich zu bezeichnen, wenn Jemand auf einer Luftreise solchen Papierstückchen sein Leben anvertraut, und es ist allen Ernstes anzurathen, daß ein Aneroid als Rathgeber auf einer solchen Reise stets mitgenommen werde.

Die eben erwähnte Erscheinung, daß ungeachtet der herabfallenden Papierstückchen der Ballon ebenfalls zuweilen im Sinken sich befindet, mag vielleicht weniger in einer senkrechten Luftströmung begründet sein, als in der ungleichmäßigen Geschwindigkeit beider fallenden Körper. Die Wirkungen verticaler Winde habe ich während meines vorjährigen längeren Aufenthaltes auf dem Montblanc aus der Erfahrung kennen gelernt; auch gaben sich dieselben auf der ersten Luftreise des Herrn Regenti hierselbst am 11. Aug. d. J. zu erkennen, denn mit großer Deutlichkeit habe ich acht Minuten nach seiner Abfahrt eine starke Eindrückung von 30 Zoll in dem obern Theile des Ballons durch das Teleskop beobachten können, mit dem ich den Ballon verfolgte, bis er sich in den Wolken verlor. Diese Zusammendrückung von oben nach unten kann nur durch einen abwärts gehenden verticalen Luftstrom hervorgebracht worden sein.

Und weiter und immer höher allmählich ansteigend wuchs das wunderbare Riesenbild und mit ihm der feierliche Ernst und die einsame Größe und die unheimliche Todtenstille dieser unbeschreiblich großartigen Natur. Gegen das Ende der ersten halben Stunde erreichten wir, ohne bis dahin den Ballast ergreifen zu dürfen, eine Höhe von 9500 Fuß bei einer Temperatur von noch 9,5° R.

Der Abend zog gemach heran – dämmerig ward es in der Tiefe – es wehte kein Hauch von Flur und Wald. Wundervolle röthliche Farbeneffecte entwickelten am Himmel und auf Erden einen nicht vermutheten landschaftlichen Reiz. Eine furchtbare Stille herrschte im weiten Kreise, als ob man das Wehen der linden Zephyre vernehmen müßte. Da lenkte mit einem Male ein eigenthümliches Rauschen in der grausigen Tiefe unsere suchenden Blicke nach unten. Es war ein Eisenbahnzug, welcher schneckenartig dahin zu kriechen schien, als ob ein ermüdeter Fußgänger mit ihm gleichen Schritt halten könnte. Ein Zauber von Schönheit bannte momentan die Sinne, und wonnetrunken kehrte der Blick von dem sonnenmüden Bild der schrecklichen Tiefe nach unserm kleinen Nachen zurück, der noch im vollen Sonnenlicht dahinzog wie ein röthlicher Flammenkahn, rings umgeben von einem hellen Scheine. Hier fesselte meine Aufmerksamkeit nunmehr ein kleines, munteres Wesen, mein treuer Begleiter auf hoher Alp – eine erfahrene und bewährte Brieftaube.

Du hast schon einmal, dachte ich, den Weg zurückgefunden aus großer Höhe von den Gletschern und Schneefeldern des Montblanc in deine erste Heimath. Wirst du auch hier, im hohen Aether der Ebene, dich zurecht finden und instinctiv ohne Wegweiser, ohne Compaß deine zweite Heimath nicht verfehlen? Und wenn du irren solltest, dann zeige der kleine Brief an deinem Hals, woher du kommst und wo du warst! Aus ihrem Käfig alsbald befreit, gewährte sie ein interessantes Schauspiel. Ich setzte sie auf den Rand der Gondel und gab ihr völlige Freiheit; doch sie blieb bei mir. Selbst aufgescheucht wollte sie uns nicht verlassen; sie blickte vielmehr ruhig umher, als ob sie den Raum mäße, den sie zurückzulegen hätte. Endlich vertrieb ich sie vom Rande der Gondel. Vergebens versuchte sie es, den höher aufsteigenden Ballon zu erreichen und schoß alsdann mit ausgebreiteten Flügeln in großen Kreisen nach Art der Raubvogel in die Tiefe hinab, für das bloße Auge nach einer Minute nicht mehr wahrnehmbar. In südöstlicher Richtung, auf dem Wege nach ihrem Bestimmungsorte gelangte sie, wie mir zwei Tage darauf berichtet ward, ermüdet und athemlos auf dem Försterhause in der Nähe von Spandau an, wo sie, durch Futter angelockt und gefangen genommen, von der Rückkehr nach ihrem Bestimmungsorte abgehalten wurde. Durch die Freundlichkeit des Herrn Förster Nitzke gelangte ich alsdann wieder in den Besitz derselben.

Noch immer unter der lieblichen Bläue des Himmels dahineilend, schickten wir uns endlich an, die möglichst größte Höhe zu erreichen. Ein Theil des Ballastes ward allmählich über Bord geworfen. Mit erneuter wachsender Kraft erhebt sich der Ballon – zehntausend Fuß verkündigt das Aneroid – die Temperatur sinkt auf 5 ° R. herab. Neuer Ballast wird hinabgeschüttet – wir steigen höher und immer höher – zehntausend und fünfhundert Fuß schweben wir über dem Erdboden – das Thermometer zeigt 4 ° R. Ein Blick nach dem Ballast erinnert uns daran, daß die Kraft des Ballons bald erschöpft sein werde, denn der ganze Vorrath von Sand beschränkte sich hier nur noch auf ungefähr dreißig Pfund. Endlich wird noch einmal Ballast über Bord geworfen – der Rest muß für die Landung bleiben. Befreit von dieser Last erhebt sich der Ballon unter den letzten Kraftanstrengungen höher und immer höher, und erreicht endlich, 10 Minuten vor 7 Uhr, 50 Minuten nach dem Momente der Abfahrt, eine Höhe von 11,000 Fuß, die größte Höhe, zu der er nach Maßgabe der Belastung und Füllung sich überhaupt nur zu erheben vermochte. 11,000 Fuß hoch über der Ebene freischwebend hing der Ballon da in dem reinern Aether der höhern Regionen.

Leser, willst du dir eine richtige, lebendige Vorstellung von dieser Höhe verschaffen, dann suche einen Maßstab zur Beurtheilung, denn der Mensch, gewöhnt nur in horizontaler Richtung den Raum zu durchwandern, täuscht sich regelmäßig in der Schätzung der Höhen- und Tiefen-Verhältnisse. Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß die Berge in den Alpen bei weitem nicht so hoch erscheinen, als sie es wirklich sind. Versetze dich auf die Gallerie des Berliner königlichen Schlosses oder überhaupt eines Gebäudes von 100 Fuß Höhe, thürme diese Höhe zehn Mal übereinander, dann hast du erst eine verticale Höhe von 1000 Fuß. Mit diesem Maßstabe von 1000 Fuß wirst du deiner Vorstellung eine Höhe von 11,000 Fuß näher zu führen im Stande sein. Und wenn du in jener Höhe von 100 Fuß stehest, dann vergiß nicht beim Blick nach unten, daß du auf einem sichern, festen Fundamente dich befindest, während das kleine Schiffchen frei im Raume schwebt und durch den leisesten Fußtritt in eine schwankende Bewegung versetzt wird. Unbeschreiblich aber ist es, was ich in diesen schwindelnden Höhen gesehen und empfunden habe. Welch ein Anblick!

„Schaut’ ich hinab von diesem hohen Raum
In’s weite Reich, schien’s mir ein großer Traum.“

Die ganze Erde lag frei ausgebreitet da zu unsern Füßen im heimlichen Dämmerlichte als ein großes, unermeßliches Landschaftsbild – überraschende, staunenerregende, wie durch optische Kunststücke hervorgezauberte Erscheinungen und wechselnde Luftgebilde – Mauern und Pfeiler und Thore von Wolken thürmten sich auf an dem Rande dieses Rundgemäldes und verbanden den blauen, gewölbten Himmelsdom mit der kleinen Erde zu einem Tempel Gottes, wie ihn des schwachen Menschen Hand nicht aufzubauen vermag. Am Himmel flammte die letzte Gluth, das Abendroth flog über das stille Heiligthum und bemalte es in seinem Innern mit Farbentönen der allermerkwürdigsten Art. Bei einem solchen Anblick ward das Gemüth von der Größe und Herrlichkeit Gottes in schweigender Bewunderung tief bewegt.

„Herr du bist groß! – so ruf’ ich, wenn im Westen
Der Tag sein Auge sanft bewältigt schließt,
Wenn’s in den Bergen schallt, in deinen Vesten,
Wenn Licht und Leben sich auf’s All ergießt.
Wodurch, o Herr, stimmst du das Herz uns milder,
Als durch den Zauber deiner Abendbilder?“

Im Großen, Ganzen war dieses weithin ausgedehnte Rundgemälde von fast sinnverwirrender Großartigkeit; in seinen einzelnen Theilen eben so lieblich und anmuthig wie auf einigen Punkten von zauberischer, märchenhafter Pracht. Am fernsten Horizonte dieses Riesenbildes lagen der Insel Rügen im großen Bogen gegenüber die Städte Teplitz, Annaberg, Weimar und das alte Goslar; im N.-W. reichte der Horizont bis Lüneburg und Lauenburg hin. Auch die Sandsteinberge der sächsischen Schweiz, das Thüringer Waldgebirge, die uralte granitische Brockeninsel sowie der Iserkamm des Riesengebirges gehören diesem Panorama an. Im N. endlich schneidet das Himmelsgewölbe auf der ausgebreiteten Erde im fernsten Hintergrunde beinahe sieben Meilen weit in die Wogen der Ostsee ein. Und tief unter uns und um uns herum ist die große Erdscheibe besäet mit einem Meere von Städten und Dörfern, Wäldern und Feldern, Flüssen und Seen und reich gesegneten Fluren.

In diesen Grundzügen sind die Hauptmomente des großen Panoramas aufgezeichnet, wie es bei vollkommen heiterem Wetter in einer Höhe von 11,000 Fuß aus der Vogelperspektive im Luftballon sich darstellt. Die Einförmigkeit eines gleichmäßig klaren [587] Tageshimmels erhielt, aber durch ästhetisch schön geordnete Wolkenformen und Wolkengruppirungen an verschiedenen Punkten des Horizontes einerseits eine unaussprechliche Lebendigkeit, andererseits eine solche Fremdartigkeit der Erd- und Himmels-Landschaft, daß selbst in den ruhigsten Momenten keine Schilderung im Stande ist, ein völlig naturgetreues Bild von diesem Wolkenschauspiel und seiner magischen Beleuchtung zu entwerfen. Dort steht im Norden ein Wolkenthor mit doppelten Portalen; nicht fern von ihm ein Teich, ein kleiner Himmelssee – der unbefangene Sinn erblickt in jenem Streif von seltener Form ein wunderbares Thier, – es ist ein Fisch, der jenen See bewohnt. Und weiter schweift der Blick umher in diesem Wolkenhimmel. Ein dunkler Cumulus hat still sich aufgebaut – er stellt die Berge dar, die hier nicht fehlen dürfen. Nicht weit von diesem niedrigen Gebirge erhebt sich im Südwest ein mächtiges, schneebedecktes Wolkenland, während im fernen Westen mehr denn tausend Fuß unter uns ein großer Wolkenwald vom Sonnenlicht übergossen wird. Dort funkeln selbst Sterne auf Erden, es ist das Bild der Sonne, die in einem fernliegenden, rundlichen See sich spiegelt. Und hoch über uns zerstreut weiden die Schäfchen; in tiefem, reinem Blau blickt der Himmel auf vielen Stellen mit seinen Augen hindurch, die hier befreit sind von dem Dunstschleier der untern, trüben Luftschichten. O, unaussprechlich schönes Bild! Ich sog es auf in meine Seele, um es treu und lebendig wieder hervorrufen zu können; doch jetzt erst empfinde ich, daß dies so ganz unmöglich ist.

So hatten sich in diesen heiligen Höhen Himmel und Erde mit einander verbunden zu einem großen Wundertempel Gottes. Aehnliche Wolkenschauspiele waren mir aus meinem längern Aufenthalt im Hochgebirge nur zum Theil bekannt. Ihre eigenthümlich großartige Wirkung liegt einerseits in ihrer seitlichen Darstellung so wie in einer Betrachtung von oben herab, andererseits aber vorzugsweise in den reinen Farbentönen der obern Luftschichten die ihnen einen ganz besondern Reiz und eine unaussprechliche Anmuth verleihen. Aus der Vergleichung eines großen Panoramas vom Luftballon mit dem Panorama eines besonders hohen Berggipfels ergeben sich wesentlich verschiedene Charaktere. Zu den am meisten auffallenden Erscheinungen eines Luftballon-Panoramas gehört unstreitig die physiognomische Gestaltung der Erdoberfläche. Ein Blick aus der Gondel in die furchtbare Tiefe und von hier nach dem Horizonte erzeugt die Vorstellung, als ob man in einer riesenmäßigen, ausgehöhlten Schale stände, obgleich sich die Erde in Wahrheit convex erhebt. Diese optische Täuschung ist als eine natürliche Wirkung der Perspective zu betrachten; denn schon in niedrigen Höhen erhebt sich der Horizont mit dem Auge stets in gleicher Höhe; in großen Höhen wird diese mit den Augen gleichmäßig fortschreitende Erhebung so beträchtlich, daß die Erde im freien Luftraume das wunderbare Ansehen eines concaven Körpers erhalten muß.

Eine nähere Betrachtung der mittleren Theile dieses Panoramas bietet ebenfalls eine Erscheinung dar, die im Rundgemälde eines hohen Berggipfels nicht vorkommen kann. Diese Theile erscheinen in vollständig perspektivischer Wirkung sämmtlich flächenartig, im Grundriß, vollständig geebnet, und erst in weitern Kreisen sieht das Auge die körperlichen Gegenstände wirklich körperlich. Wenn ich über den höhern Naturgenuß nachdenke, den mir der Anblick dieser beiden Panoramas gewährte, so darf ich bei aller Anerkennung ihrer specifischen Schönheiten doch nicht unbemerkt lassen, daß jedes Gebirgspanorama eines hohen Gipfelpunktes in seinem lebendigen Relief namentlich des Vorder- und Mittelgrundes Momente enthält, welche ihm unzweifelhaft einen noch höhern Reiz verleihen. Was aber speciell das vielgepriesene Montblanc-Panorama anbetrifft, welches bei einem Flächenraume von beinahe 4000 Quadratmeilen alle zweiundzwanzig Cantone der Schweiz, sowie ansehnliche Theile von Frankreich, Italien und Deutschland einschließt, so folgt schon aus den größeren Höhenverhältnissen und aus der Gruppirung der herumliegenden Alpenwelt, daß damit das beschriebene Ballon-Panorama nicht in Vergleich gestellt werden kann. Dieser Umstand vermag aber den specifischen Schönheiten des Ballon-Panoramas durchaus keinen Abbruch zu thun.

Wir wenden uns nun zu denjenigen Beobachtungen, welche von allgemeinem Interesse sein dürften. Das Thermometer stand in der größten Höhe 10 Minuten vor 7 Uhr auf 4 ° R. Das Barometer zeigte 498 Millim. = 220,7 Par. Linien als den niedrigsten Standpunkt. Die Farbe des Himmels erschien tiefblau; und zwar zeigte mein Cyanometer, welches ich zur Vergleichung gebrauchte, im Zenith Nummer 18 an. (S. oben.) An Athembeschwerden hat Niemand gelitten. Das Heraustreten von Bläschen in den Mund durch die Eustachische Röhre habe ich auch dieses Mal an mir nicht wahrgenommen.

Die interessanteste physiologische Erscheinung dagegen, welche uns alle Drei fast zur selbigen Zeit schon bei einer Höhe von 10,000 Fuß in hohem Grade fesselte, war ein empfindlicher Druck in den Ohren, den das Trommelfell von innen her erfuhr, verursacht von der eingeschlossenen Luft. Ein Sausen war mit diesem Drucke nicht verbunden; es drängte aber die in der Trommelhöhle eingeschlossene Luft so stark nach außen, daß der Gehörnerv empfindlich afficirt wurde, denn wir fühlten sämmtlich einen gewissen Grad von Taubheit, der sogar noch einige Stunden nach der Landung anhielt. Diese physiologische Erscheinung habe ich an mir schon auf meiner ersten Luftreise wahrgenommen; sie trat dagegen weder bei meiner ersten Montblanc-Besteigung ein, noch bei meinem vorjährigen längeren Aufenthalte daselbst. Der Grund hiervon kann nur in einer allmählichen Ausgleichung der in der Trommelhöhle eingeschlossenen Luft gegen die äußere atmosphärische Luft liegen, welche bei der langsamen Besteigung eines hohen Berges erfolgt, während ein schnelles Hinaufziehen in die obern Regionen eine solche Ausgleichung verhindert.

Noch einer optischen Täuschung gedenke ich; sie bezieht sich auf die überraschende Deutlichkeit der Gegenstände im mittleren Theile des Panorama’s. Wer selbst nur auf der Schneekoppe oder dem Rigi das liebliche Landschaftsgemälde in seinen einzelnen Theilen, mit den verschwindend kleinen Gegenständen zu bewundern Gelegenheit gehabt hat, wird im Ballon bei doppelter Höhe durch die verhältnismäßige Größe der Gegenstände in der That so überrascht, daß er bei einem Vergleiche beider Bilder hier weniger hoch zu stehen wähnt, als auf dem niedrigem Gipfel eines Berges. Diese Täuschung rührt von einem Trugschluß her. Bei dem Panorama eines Berggipfels fallen die zunächst liegenden Dörfer und Städte am Fuße des Berges zuerst in’s Auge. Im Ballon-Panorama fesseln ebenfalls zuerst die zunächst liegenden Ortschaften; in beiden Fällen ist aber der Gesichtswinkel für diese Gegenstände ein sehr verschiedener, kleiner auf dem Berge, größer dagegen im Ballon, woraus in natürlicher Weise jene Ueberraschung und Täuschung hervorgeht. Außerdem ist für die Beurtheilung der Sichtbarkeit eines Gegenstandes in Betracht zu ziehen, daß derselbe dem unbewaffneten Auge immer noch erreichbar ist, wenn er unter dem Gesichtswinkel von einer Bogenminute erscheint, oder wenn die Entfernung des Auges von ihm etwa das 3600fache seines wahren Durchmessers beträgt. Ein Gegenstand selbst nur von 6 Fuß Größe ist demnach noch in einer Entfernung von 6 Mal 3600 Fuß = 21,600 Fuß mit bloßem Auge, freilich nur als verschwindend kleiner Punkt, wahrnehmbar.

Aus dem reinen Aether dieser höhern Regionen traten wir nun endlich unsere Rückreise zur Erde an. Wenige Secunden nur, so lange der Ballon mit der umgebenden Luft im Gleichgewicht stand, zog uns der Wind in der erreichten größten Höhe mit sich fort. Ermüdet fängt der Ballon an ganz allmählich zu sinken. Wir steigen mit größter Vorsicht hinab. Eine einzige Hand voll Sand genügt, um dem Aërostaten für einige Minuten wieder eine horizontale Bewegung zu geben. 800 Fuß unter dem erreichten Gipfel sinkt die Temperatur überraschend von 4 ° auf 3 ° R. hinab, der niedrigste Standpunkt, den das Quecksilber während der ganzen Fahrt erreicht hatte. Noch eine Hand voll Erde wird über Bord geworfen, damit die Geschwindigkeit während der Niederfahrt sich nicht zu stark vergrößere – wir schwimmen weiter in horizontaler Richtung. Der Horizont wird enger – die irdischen Gegenstände fangen an zu wachsen – bis auf 6000 Fuß hat uns die Attractionskraft der Erde bereits angezogen. Recognoscirend spähet unser erfahrner Führer umher – in seiner Hand den einzigen Regulator, den unschätzbaren Sand, der ihm gleichzeitig als Ruder, Steuer und Segel dient. „Dort,“ ruft er, „jenseits jenes Städtchens wollen wir landen, auf jener großen Ebene, die weithin sich auszubreiten scheint.“ Er wirft die leichte Last hinaus, und noch zwei Hände voll – der ermüdete und willige Ballon erhebt sich noch einmal und treibt uns wirklich in der Richtung nach jener Stadt weiter fort. Regenti fordert mich auf, die Instrumente in Sicherheit zu bringen.

„Meine Herren,“ fuhr er fort, „machen Sie sich bereit – [588] wir wollen jetzt hinab zur Erde. Die Strickleiter gefaßt! Jeder nehme eine der leeren Flaschen in die Hand und werfe sie auf mein Zeichen hinaus.“ In demselben Augenblick ergreift Regenti die Leine des Ventils – langsam öffnet sich die Klappe – das leichte Gas strömt aus, die schwere Luft dringt ein – in schiefer Ebene sinken wir allmählich hinab bis zu einer Höhe von gegen 2000 Fuß. Hier aber packt uns der untere Luftstrom und reißt uns, in entgegengesetzter Richtung fließend, hastig mit sich fort. Wohin? – das wußten wir noch nicht. Der letzte Ballast wird ausgeworfen – doch vergebens, mit ungewöhnlicher Schnelligkeit beharrt der Ballon im Sinken – riesengroß werden die Häuser der zunächst liegenden Ortschaft – die Erde scheint mit Sturmesgeschwindigkeit uns entgegen zu kommen, als oh sie uns verschlingen wolle. Der Anker wird schnell ausgeworfen. „Die Strickleiter ergriffen!“ ruft Regenti, „festgehalten! – wir werden geschleudert.“ Beinahe in demselben Moment stößt die Gondel krachend auf den Erdboden. „Immer festgehalten!“ ruft er noch einmal, denn er ahnte, was mit uns geschehen könnte, wenn der Anker bei dieser reißenden Geschwindigkeit entweder nicht in den Erdboden eingriff oder von dem Seil getrennt wurde.

Der Anker hatte nicht gegriffen – mit der ganzen in der untern Region wachsenden Kraft rafft sich der Ballon auf, erhebt uns nach wenigen Secunden einige Hundert Fuß und fällt zum zweiten Male hinab – jetzt schleift er die Gondel den Erdboden entlang – wie ein dämonisches Ungethüm reißt er uns abermals in die Höhe – von Neuem stürzt er nieder und jagt in dieser Weise uns mehr als eine halbe Meile weit fort, schleudernd über Wiesen und Saaten und Sträucher und Bäume. Der Gunst des Terrains verdanken wir es, daß bei diesen nicht mehr gezählten Prellstößen keine Arm- oder Beinbrüche vorgekommen sind. Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich es ausspreche, daß Keiner von uns an eine glückliche Rettung mehr dachte.

Die Gefahr wächst noch mit jedem Augenblicke – mit Schaudern denke ich an die Schreckensminuten zurück, da die Gondel in den Telegraphendrähten hängen blieb und der wüthende Ballon über unsern Köpfen nach allen Richtungen es versuchte, das Weidengesträuch unserer kleinen Gondel zu zerreißen – schon fallen einzelne Stücke von ihr herab – vielleicht ist sie bereits im nächsten Moment von den Drähten zerschnitten. Mit der Riesenkraft seiner Arme gelingt es Regenti, uns an dem nächsten Pfahle festzubinden – aber mit erschöpfter Kraft und blutendem Gesicht sinkt er zurück mit den Worten: „ich kann nicht mehr.“ Der wüthende Ballon kämpft mit den Drähten und droht die mit ihnen verbundenen Pfähle zu zerbrechen.[1] Die geschmeidigen Drähte geben nach, die Pfähle werden von ihnen noch gehalten – doch jeden Augenblick scheinen sie umzustürzen und Ballon nebst Gondel über die nahen Schienen der Eisenbahn zu schleudern. In dieser schrecklichen Lage nähert sich uns schnell dampfend ein Bahnzug. Bis auf 300 Schritt hat uns die Locomotive schon erreicht. Wir waren auf Alles gefaßt. Auf dem höchsten Gipfel der Gefahr angelangt, wird uns endlich die kaum erwartete, ersehnte Hülfe. Ein Schäfer mit seiner Frau und seinen Kindern boten uns zuerst ihre rettenden Hände – es gelang ihnen, den Anker des Ballons an einer Umzäunung zu befestigen. Der nächste Bahnwärter war ebenfalls schon herbeigeeilt, nachdem er das Zeichen zur Hemmung des Zuges gegeben hatte. Die Conducteure und Schaffner verließen ihre Wagen, stürzten herbei, und mit vereinten Kräften ward endlich der Ballon, ein dämonisches Ungethüm, gebändigt und überwältigt.

Gott sei gedankt, wir waren gerettet und kamen zum Theil mit zerrissenen Kleidern und mit mehr oder weniger starken Contusionen an Armen, Beinen und Schultern glücklich davon. Es ist jedoch zu bedauern, daß der Ballon, der bei hereingebrochener Dunkelheit auf einer Wiese des Bredower Vorwerkes, in der Nähe von Nauen, von seiner letzten Gasladung befreit wurde, durch Unvorsichtigkeit den willigen, helfenden Händen der herbeigeeilten Dorfbewohner aus dem Netz entschlüpfte. Von dieser letzten Last befreit, erhob er sich zum letzten Male noch mit fast pfeilschneller Geschwindigkeit, um nicht mehr wiederzukehren; denn zwei Tage darauf traf die Nachricht hierselbst ein, daß er in tausend Stücken zerrissen auf den Feldmarken jenseits Nauen gefunden wäre.

Ich kann diese Darstellung nicht beenden ohne eine ganz kurze allgemeine Schlußbemerkung über die zweckmäßigste Ausstattung eines Luftschiffes. Diese Ausstattung erscheint mir einerseits aus eigenen Erfahrungen während meiner beiden Luftreisen, andererseits aus einer eingehenden Bekanntschaft mit der Geschichte der Aërostatik nicht blos wünschenswerth, sondern vielmehr nothwendig zu sein.

1) Ein oder zwei Fallschirme dürfen einem Luftballon nicht fehlen.

2) Das Ventil des Ballons muß mit zwei Leinen versehen sein, denn die Geschichte der Aërostatik spricht von Unglücksfällen, die daraus entstanden sind, daß das Ventil in Folge des abgerissenen Strickes unbrauchbar wurde.

3) Ein jeder Ballon muß 4–6 Sturmleinen haben.

4) Der Anker ist an ein möglichst weiches Tau, am besten an ein Kautschuktau zu befestigen.

5) Auch ist es ernstlich anzurathen, daß der Luftschiffer als sichern Rathgeber beim Steigen und Fallen ein Aneroid jedesmal mitnehme.


Das kleinste Säugethier.
Von Dr. A. Brehm.

Das nebenstehende Bildchen ist auch eine Erläuterung des Spruches unseres Rückert:

„Wie groß Du für Dich seist, vor’m Ganzen bist Du nichtig,
Doch als des Ganzen Glied bist Du als Kleinstes wichtig!“

– es stellt dem geneigten Leser das letzte Glied einer reichhaltigen Ordnung, einen Verwandten des gewaltigen Löwen vor. Der Künstler hätte es gern größer gezeichnet, wenn dies nur angegangen wäre, ohne der Natur zu widersprechen. Die etrurische Spitzmaus ist nicht größer, als die Abbildung sie darstellt; 2½ Zoll Leibeslänge, 1 Zoll Höhe am Widerrist und 36 Gran Gewicht: das sind die Maße, welche ihr zukommen. Und dieses kleine Geschöpf, des Zwerg der ersten Classe, dieses dem Walfisch gegenüber geradezu verschwindende Säugethier ist ein Räuber, ein mindestens ebenso blutdürstiges Wesen, als der Marder, ein ebenso grausames, als der Tiger!

Kaum eine andere Ordnung des Thierreichs zeigt einen größeren Gestaltenreichthum, keine ist geeigneter, den Laien zu verwirren, als die der Raubsäugethiere. Alle nur denkbaren Umbildungen einer und derselben Grundgestalt treten in ihr vor das Auge, und dennoch wird die Grundgestalt überall festgehalten. Dem oberflächlichen Beobachter will es freilich nicht einleuchten, daß der anmuthige, einhellig gebaute Katzenleib mit dem plumpen Körper des Maulwurfs oder der schlanke Marder mit dem Igel, der Hund mit der zierlichen Spitzmaus, der Bär mit dem Wiesel Aehnlichkeit habe, und doch sind sie alle nicht blos geistig, sondern auch leiblich innig verwandt. Ihnen allen ist eine große Gleichmäßigkeit des Leibesbaues gemeinsam. „Die Gliedmaßen der Raubthiere“, sagt Giebel, „stehen in gleichem Verhältniß zu einander und in einem einhelligen zum Leibesbau, Gewandtheit und Kraft in ihren Bewegungen verrathend. Immer sind die Füße mit vier oder fünf starkbekrallten Zehen versehen, und so zeigen sie sich zum Graben, Klettern, Schwimmen und Ergreifen ebenso geeignet, als zum Gehen, ihrer eigentlichen Bestimmung. Alle Sinneswerkzeuge sind scharf und in einem gewissen Grade gleichmäßig entwickelt. Verzerrungen und Absonderlichkeiten, fratzenhafte und widerliche Gestalten fehlen gänzlich unter ihnen; die Harmonie in ihren Körpertheilen und die Entschiedenheit ihres Naturells, beide kennzeichnen sie als typisch vollendete Säugethiere.“

Ein so vollendetes Säugethier muß auch unser Zwerg genannt werden. Er gehört einer eben so bewegungsfähigen und gewandten als mordlustigen und blutgierigen Familie an. Alle Spitzmäuse sind unter den kerbthierfressenden Raubthieren dasselbe, was die Marder unter den fleischfressenden sind. Sie verstehen das Räubergewerbe in der ausgedehntesten Weise zu betreiben; sie besitzen alle [589] Fähigkeiten, welche ein echtes Räuberleben möglich machen; sie zeigen einen Muth, einen Blutdurst, eine Grausamkeit, welche mit ihrer geringen Größe gar nicht im Verhältniß stehen. Ihr Gebiß hat Karl Vogt den Lesern der Gartenlaube auf Seite 124 des vorigen Jahrgangs vortrefflich beschrieben; ihrer Lebensweise aber hat er nur so flüchtig gedacht, daß ich seiner Schilderung wohl noch Einiges hinzufügen darf.

Die Spitzmäuse sind, mit Ausnahme Australiens, über die ganze Erde verbreitet und finden sich überall, in der Ebene, wie im Gebirge, in Wäldern, wie auf Wiesen, Auen und in Gärten, in Häusern, in der Steppe, in der Wüste, auf Bäumen, wie im Wasser. Die meisten führen ein unterirdisches Leben, denn sie geben der Dunkelheit, wie alle Räuber, den Vorzug; doch kennt man auch einige, welche Angesichts der Sonne munter umherspringen. In ihren Bewegungen sind sie äußerst rasch und behend; sie huschen pfeilschnell dahin, klettern vortrefflich und stehen im Schwimmen keinem Binnensäugethiere nach. Einige springen sogar, gleich dem Känguru, auf zwei Beinen flott dahin. Der Geruch ist ihr ausgebildetster Sinn; auf ihn folgt das Gehör und dann das Gefühl; Gesicht und Geschmack sind verkümmert. Ihre geistigen Fähigkeiten erscheinen uns ziemlich gering; doch mag dies wohl in unsrer Unkenntniß seinen Grund haben.

In sämmtlichen Arten müssen wir höchst nützliche Geschöpfe erkennen, eifrige Arbeiter, welche uns durch Vertilgung schädlicher Kerfe große Dienste leisten. Die größeren Arten wagen sich auch an Wirbelthiere, so die Wasserspitzmäuse an die Fische und deren Laich; alle übrigen fressen hauptsächlich Insecten und zwar täglich mindestens so viele, daß die Nahrung ihrem eigenen Gewichte gleichkommt. Keine einzige Art kann den Hunger lange Zeit vertragen und keine hält Winterschlaf; sie sind das ganze Jahr hindurch in Bewegung und Thätigkeit.

Spitzmaus und Fangheuschrecke im Kampfe.
In natürlicher Größe.

Ein ziemlich starker Moschus- oder Zibetgeruch scheint ihre gemeinsame Schutzwaffe gegen größere Raubthiere zu sein; leider aber ist diese Waffe keine unfehlbare: sie schützt blos vor dem Gefressenwerden, nicht auch vor dem Tode. Hunde und Katzen verwechseln die Spitzmäuse mit den ihnen wenigstens in der Größe ähnlichen Mäusen und machen im Jagdfeuer ihrem Leben durch einen raschen Biß ein Ende, obgleich ihnen der kleine Leichnam, eben jenes Geruches wegen, so widerwärtig erscheint, daß sie ihn ruhig liegen lassen. Nur die Eulen, deren Geschmack und Geruch nicht die Feinheit der bezüglichen Katzensinne haben, kennen derartige Bedenken nicht, sondern fressen die von ihnen erbeutete Spitzmaus ohne Umstände auf. Glücklicher Weise gleicht die Fruchtbarkeit unsrer Thiere solche Verluste bald wieder aus. Die kleine Spitzmaus wirft zwischen vier und zehn Junge, welche schon nach Monatsfrist im Stande sind, ihr eigenes Gewerbe zu betreiben, und im nächsten Jahr bereits wieder Junge erzeugen. So kommt es, daß die schmucken Geschöpfe noch immer häufig genannt werden müssen.

In früheren Zeiten machte sich der Aberglaube viel mit ihnen zu schaffen. „Die Spitzmaus“, sagt der alte Topsel in seiner 1658 zu London erschienenen Thiergeschichte, „ist ein raubgieriges Vieh, heuchelt aber Liebenswürdigkeit und Zahmheit. Tief beißt und tödtlich vergiftet sie, sobald sie berührt wird. Grausamen Wesens sucht sie jedem Dinge zu schaden, und kein Geschöpf giebt es, welches von ihr geliebt wird, keines, welches sie lieben sollte; denn alle andern Thiere fürchten sie. Die Katzen jagen und tödten sie, fressen sie aber nicht; es würde ihnen auch schlecht bekommen, sie würden vergehen und sterben! Zum Glück müssen viele dieser bösen Thiere ihr Leben lassen; denn wenn sie in ein Fahrgleis fallen, können sie nicht wieder weggehen, sondern erschöpfen sich bald ganz, als wären sie in Banden geschlagen. Deshalb haben auch die Alten Erde aus Fahrgleisen als Gegenmittel für den Mäusebiß verschrieben. Man hat aber noch mehr Mittel bei andern Krankheiten, um die Wirkung ihres Giftes zu heilen, und diese Mittel dienen zugleich auch noch, um allerlei andere Uebel zu heben. Eine Spitzmaus, welche man verbrennt und stampft und dann mit Staub und Gänsefett vermischt, giebt eine Salbe, welche alle Entzündungen unfehlbar heilt. Eine Spitzmaus, welche getödtet und so aufgehängt worden ist, daß sie weder jetzt noch später den Grund berührt, hilft, wenn der Leib mit Geschwüren und Beulen bedeckt ist, wenn man die wunde Stelle drei Mal mit dem Leichnam des Thieres berührt. Der zu Pulver verbrannte und zu Salbe benutzte Schwanz ist ein untrügliches Mittel gegen den Biß wüthender und toller Hunde.“ In diesem Tone fährt der alte spaßhafte Naturbeschreiber fort; er kennt noch eine ganze Menge solcher homöopathischer Mittel. Gegenwärtig sind die Spitzmäuse auch vor dem Menschen ziemlich sicher; man läßt sie gehen und beachtet sie nicht weiter.

Ich weiß nicht, ob auch unsere etrurische Spitzmaus (Crocidura etrusca) in früheren Zeiten als Heilmittel benutzt wurde. Plinius, welcher die alten Geschichten aufgebracht hat, hätte sie verwenden können; denn die Spitzmaus ist nach ihrer Heimath benannt worden. Doch scheint es, als ob die Alten sie übersehen hätten. Erst im Jahre 1822 wird sie von einem Italiener beschrieben. Der große Pallas kannte sie bereits elf Jahre früher; seine Beschreibung ist aber nur sehr unvollständig. Ihr bräunlichgrauer Pelz dunkelt auf der Oberseite und geht nach unten allmählich in lichtere Farben über. Lippen und Füße sind weißlich behaart. Von den 21/2 Zoll ihrer Leibeslänge nimmt der Schwanz einen ganzen Zoll weg, sodaß für den Leib nur 11/2 Zoll übrig bleiben.

Gegenwärtig weiß man, daß das kleinste aller Säugethiere in allen Ländern rings um das mittelländische und schwarze Meer vorkommt: man hat sie in Nord-Afrika, in Frankreich, in Italien, in Dalmatien und in der Krim gefunden. Der nördlichste Punkt ihres Vorkommens scheint Triest zu sein. Sie fürchtet die Kälte und sucht sich für den Winter, auch in Süd-Europa, ganz besonders warme Aufenthaltsorte aus. In ihrer Lebensweise ähnelt sie ganz ihren Gattungsverwandten. Sie zieht Gärten oder Gebäude den Feldern und Waldgegenden vor und betreibt also in unmittelbarster Nähe des Menschen ihr Gewerbe.

Unser Maler hat sie allerliebst aufgefaßt. Eine jener in Südeuropa vorkommenden Fangheuschrecken (Mantis) ist von ihr überfallen worden. Das Kerbthier ist ebenso groß als sie und der Kampf voraussichtlich ein sehr heftiger. Doch wird sie siegen. Schon hat sie ihren Gegner an der schlimmsten Stelle gepackt: sie ist im Begriff ihm die Waffe abzubeißen. Dann wird wahrscheinlich der dünnere schwache Hals daran kommen, die übrigen Beine werden nach und nach amputirt werden, und schließlich bleibt der volle, saftige Leib als erwünschte Beute übrig. An ihm hat das Pärchen genug für – ein paar Stunden! Es wird erst schmausen, sich putzen, hierauf spielen und rasch wieder hungrig werden. Die feine Nase schnüffelt dann nach allen Seiten umher. Jede Ritze, jede Höhle, jedes Blatt wird untersucht. Wehe dem Kerbthier, welches sich blicken läßt: – es ist verloren! auch wenn [590] der Räuber nur von seiner Mordlust und nicht vom Hunger getrieben werden sollte. Und wenn ein kleines, junges, unerfahrenes Mäuschen sich zeigen würde? Dann springt ihm der Zwerg mit derselben Gier auf den Nacken, wie der Tiger der Antilope, der Löwe dem Stier. Rasch senken sich die Zahnnadeln ein paar Mal in den Hals des Schlachtopfers, und wenn dieses auch sammt dem Räuber dahinrennt: – der läßt nicht von ihm ab, bis er die Beute erlegt hat. Nun geht’s an das Zerlegen. Mit Mühe wird ein Löchlein in den Pelz gebissen, durch dieses. aber nach und nach der ganze Leib ausgefressen. Endlich bleibt nur das entleerte Fell auf der Wahlstatt, und der Räuber leckt und putzt mit den zarten Füßchen sich höchst behaglich die Nase.


Unsere Vertretung im Ausland.
Ein offener Brief an alle deutschen Regierungen und besonders an das deutsche Volk.
Von Friedrich Gerstäcker.

Mein unruhiges Leben hat mich in den verschiedensten Ländern der Erde mit unseren deutschen Landsleuten im Auslande zusammengeführt und mir erlaubt, einen Blick über alle die Verhältnisse zu werfen, in denen sie, zerstreut in der Welt, leben. Besonders kenne ich auf dem großen amerikanischen Continent, nördlich und südlich von der Linie, die meisten Staaten und Reiche, und habe dort, aber auch in anderen Erdtheilen gesehen, wie unsere Landsleute im Auslande vertreten sind – oder besser gesagt, wie sie eigentlich nicht vertreten sind.

In ganz Deutschland giebt sich jetzt, Gott sei Dank, ein reges Streben nach Einigung kund, ein Streben, unser großes deutsches Vaterland zu der Stellung emporzuheben, die es verdient, und Deutschland in Wahrheit so stark und groß zu machen, wie es jetzt, leider Gottes, schwach und klein dasteht. – Das muß anders werden, wenn wir nicht darüber zu Grunde gehen wollen – und das wollen wir nicht.

Die deutschen Regierungen behaupten allerdings, daß sie im Auslande vertreten wären, und berufen sich auf ihre Consuln in fremden Ländern. Machen wir uns vor allen Dingen erst einmal klar, welche Bedeutung ein Consul im überseeischen Lande nicht hat, denn die Bedeutung, die er wirklich hat, ist außerordentlich gering. – Ein Consul dort hat nie die geringste diplomatische Gewalt; er vertritt nie sein ganzes Land, sondern nur die Privatrechte einzelner Individuen untereinander, und er hat nicht die geringste Macht oder Autorität, wenn diese von der betreffenden fremden Regierung trotzdem nicht anerkannt werden sollten, seinem Wort oder Ausspruch dennoch Geltung zu verschaffen. – Ein Consul ist im Auslande nur da nützlich, wo es sich um Ansprüche, Klagen und Streitigkeiten zwischen Deutschen selber handelt (soweit diese nicht das Land angehende Verbrechen betreffen), also ganz speciell Privatconflicte, in deren Ausgleichung und Bestrafung ihn dann die dortigen Regierungen mit Vergnügen unterstützen – z. B. Streitigkeiten zwischen Passagieren oder Seeleuten deutscher Schiffe. Wo auch immer der Consul dem Staat selber entgegentreten soll, um die mißachteten Rechte eines Deutschen anerkannt oder geachtet zu sehen, ist er vollkommen machtlos und kann auf der Gottes Welt nichts weiter thun, als einfach protestiren.

Ich rede hier nicht von der Levante und den Reichen im Südosten, an welche Oesterreich mit seinem tüchtigen Heere und seiner weit festeren und entschlosseneren Politik stößt; erstlich kenne ich jene Länder zu wenig, und dann zweifle ich auch keinen Augenblick, daß sich gerade Oesterreich seine Rechte dort zu wahren weiß. Ich rede hier von den überseeischen Ländern, besonders aber von Süd-Amerika, wo die ewigen und ununterbrochenen Revolutionen die schutzlosen Deutschen ganz besonders gefährden.

Fast alle jene Consuln sind Kaufleute, die bei Annahme einer Consularwürde natürlich eigene Interessen haben müssen, denn die Würde selber bringt nichts ein und macht ihnen eine Menge Schererei. Viele thun es aus Ehrgeiz, um den Titel eines Consuls und die große bunte Flagge auf dem Hause, wie das hübsch gemalte Schild über der Thür zu haben. In solchen Staaten aber, wo die politischen Verhältnisse sehr unsicher sind, hoffen die Meisten auch – und sie haben sich darüber vielfach gegen mich ausgesprochen – von der aufgezogenen Flagge bei einer Revolution Schutz für ihr Privateigenthum, da die fremden Flaggen überhaupt von jenen Völkern respectirt werden. – Damit sprechen sie aber schon ganz deutlich selber aus, daß sie als Consuln das andere deutsche Eigenthum, was nicht unmittelbar von der Flagge geschützt ist, auch nicht vertreten oder im Fall der Noth Ersatz dafür verlangen können.

Noch mehr – alle diese Consuln sind, wie gesagt, Kaufleute, besitzen dort eigene Geschäfte und haben eine oder die andere Lieferung für den Staat, oder hoffen sie zu bekommen. Treten sie selber aber für irgend einen unterdrückten Landsmann zu schroff in die Schranken und gegen die Regierung auf, so machen sie sich dadurch persönlich Feinde, und ihr eigenes Geschäft muß darunter leiden. Wo es also nur möglicher Weise angeht, mischen sie sich in gar nichts, was sie mit der Regierung in unangenehme Berührung bringen könnte – und kein Mensch in der Welt kann ihnen das unter den obwaltenden Umständen verdenken.

Glaube auch um Gotteswillen Niemand, daß ich damit einen Tadel gegen jene Consuln aussprechen wollte, unter denen ich in allen Ländern die geachtetsten und bravsten Männer gefunden habe. Sie können gar nicht anders handeln, denn nur die deutschen Regierungen haben ihnen eine so verkehrte Stellung angewiesen, daß sie scheinbar als ihre Vertreter zu betrachten sind und in Wirklichkeit nicht mehr Macht haben, als jeder Auswanderer selber. Fremden Regierungen gegenüber können sie nur bitten, nicht fordern, sie würden sich sonst blamiren, und dazu sind sie zu vernünftig, und nur deshalb müssen sie bitten, weil unser armes Vaterland eine ganze Musterkarte von Wappenschildern als seine Vertreter hinübergesendet hat, unter denen jeder Consul die entsprechende Landesecke nicht etwa vertritt, sondern befürwortet.

Was sich diese fremden Völker mit ihren sehr verworrenen geographischen Kenntnissen für einen Begriff von Deutschland machen, wenn sie die Anzahl bunter, von dort herkommender Wappenschilder und Flaggen sehen, ist schwer zu sagen. Es ist ihnen dabei vollständig unmöglich gemacht, mit Deutschland selber in eine directe Handelsverbindung zu treten, d. h. bindende Verträge mit dem ganzen Reich abzuschließen, was jetzt allein mit einzelnen Theilen möglich ist. Um das aber möglich zu machen, wäre vor allen Dingen die deutsche Flagge auf allen deutschen Schiffen nöthig, und dagegen sträubt sich Schwarzweiß, Blauweiß, Grünweiß, und wie die Mischungen alle heißen mögen, aus Leibeskräften. Wie aber können wir von einem fremden Lande verlangen, daß es uns als Nation betrachten soll, wenn wir es selber nicht thun? Die Consuln der verschiedenen Staaten werden deshalb auch von jenen Regierungen keineswegs als politisch zu berücksichtigende Vertreter irgend einer Nation, sondern nur allein als Privatpersonen angesehen, die, als irgend eine ehrenvolle Auszeichnung, die Flagge ihres Heimathlandes auf dem Hause wehen haben, und deshalb aus Rücksicht für dieses befreundete Ländchen persönlich geschützt werden müssen. Ich rufe die Consuln aller jener Länder zu Zeugen auf, ob das nicht der Fall. ist. – Wagte z. B. in Peru ein Einziger von Allen mich persönlich bei dem Präsidenten Castilla einzuführen, der als ein etwas derber und rücksichtsloser alter Herr bekannt war? Nein. Sie wußten, daß ich von der Leber weg mit dem Präsidenten reden und ihm die Mißbräuche seiner Beamten im Einwandererwesen aufdecken wollte, und fürchteten für sich die Consequenzen.

Hätte ich, wenn ich ein Engländer oder Franzose gewesen wäre, wohl fast vierzehn Tage zu diesem Zweck in der Stadt herumlaufen und es endlich doch noch allein und persönlich durchsetzen müssen? Wahrhaftig nicht – aber so war ich natürlich nur ein Deutscher.

Die Ursache, weshalb dem so ist, liegt aber nicht allein in unseren unglücklichen zerrissenen Verhältnissen, obgleich diese selbstverständlich die größte Schuld tragen, sondern auch noch in der kleinlichen Politik, welche die meisten Regierungen treiben, indem sie die Auswanderung selber als eine Art indirecter Beleidigung [591] als eine gewisse Grobheit des Auswanderers ansehen, der ihnen dadurch sagt: es gefällt mir nicht mehr bei Euch, ich gehe in ein anderes Land. Sie vergessen dabei ganz, oder wissen es vielleicht nicht einmal, daß eine Masse wackerer Deutsche in fremden Welttheilen leben, die sich als nichts weniger als Auswanderer betrachten, sondern die weite Reise nur unternommen haben, um deutschen Handel da draußen zu fördern und später daheim im Vaterland die Früchte ihrer Arbeit zu verzehren.

Und was hat England denn so groß gemacht und ihm die prachtvollen Colonien gegeben? Was anders als seine Auswanderung und seine große Politik, jeden im Auslande lebenden Engländer noch als heimathsgehörig zu betrachten und zu schützen und nicht, wie unsere Regierungen, sich augenblicklich und ängstlich von ihm loszusagen und ihn der Willkür anderer Staaten zu überlassen.[2]

Das Alles zeigt deutlich, daß derartige von den heimischen Staaten selber unbesoldete und deshalb auf ihren eigenen Verdienst angewiesene Consuln die Rechte unserer Landsleute nie vertreten können und werden, sondern daß wirkliche Gesandte oder für die kleineren Staaten wenigstens Legationssecretaire, die eine vollkommen unabhängige Stellung einnehmen, dazu verwandt werden müssen – wenn das Ganze nicht eine bloße Farce bleiben soll.

Etwas Derartiges ist aber durch alle unsere einzelnen kleinen Staaten nicht denkbar, denn wirklich angenommen, daß wir das Geld für solche enorme Ausgaben hätten – was wir aber nicht haben – könnten wir uns nicht so bloßstellen, einige dreißig Gesandte für Deutschland nach einem fremden Staat zu schicken, während Frankreich und England nur einen einzigen haben.

Gesandte dürfen deshalb nur von dem ganzen deutschen Land und also – wenn es denn einmal nicht anders sein kann – vom deutschen Bund geschickt werden, und Deutschland muß dann auch entschlossen sein, irgend eine seinen Landeskindern angethane Unbill aufzunehmen und zu strafen. – Wenn das der deutsche Bund aber nicht kann, wenn er die Vertretung der Deutschen jedem einzelnen kleinen Staate überlassen muß, dann frage ich, im Namen jedes gesunden Menschenverstandes: wozu ist er dann überhaupt da? – und das haben noch viele Andere gefragt.

Es muß einmal ein Ende nehmen, daß jeder kleine deutsche Binnenstaat sich als Großmacht gerirt, und dabei nicht sieht oder nicht sehen will, daß darüber nicht einmal das ganze Deutschland eine Großmacht werden kann – wenn man dem Kind auch dann und wann den Namen giebt.

Für deutsche Schiffe deshalb die deutsche Flagge (in der sich, oben in der Ecke am Flaggenstock, jeder verschiedene Staat sein eigen Wappen oder seine Farben wahren kann) für deutsche Interessen aber eine einige Vertretung Deutschlands. Beides ist eine Nothwendigkeit, und gebe Gott, daß deutsche Regierungen sie endlich einsehen und danach handeln wollen.


Blätter und Blüthen.

Bunte Plaudereien aus London, Paris und vom Meeresstrande. Nr. 1. Weil uns auf dem Festlande ein Vergleichsmaß fehlt, wird jede Schilderung der Wunderwelt Londons ungenügend und dürftig ausfallen. Von dem Gewirre der zahllosen Wagen jeder Gattung, der Tausende von Fußgängern, die hier die unabsehbaren Wege hin- und wieder eilen, können sich nur Augenzeugen einen Begriff machen. Dies Wogen wird in dem Augenblick noch vermehrt durch die Hunderttausende von Fremden, welche die Ausstellung nach der Weltstadt zieht. Die erste auffallende, wohlthuende Erscheinung sind die Mitglieder des prachtvollen Institutes der Policemänner. In ihrer netten, kleidsamen Uniform streifen diese Hüter der öffentlichen Ordnung rastlos auf und nieder, gefällig und dienstfertig gegen Jedermann. Bald sieht man Einen einer alten Dame beim Aussteigen auf gefährdeten Wegen dienstfertig aus dem Wagen helfen, bald mit dem Anstande eines Gentleman höflich Auskunft ertheilen, stets artig, bescheiden und uneigennützig, denn ein etwa angebotenes Trinkgeld für kleine Dienste wird stets artig, aber entschieden abgelehnt. Statt des nutzlosen Säbels unserer Polizeihelden trägt er, nebst der starken Waffe des Gesetzes, einen aufgerollten Wachstuchmantel gegen Wind und Wetter, eine feste Blendlaterne, die ihm dient beim Aufsuchen gefährlicher und verdächtiger Schlupfwinkel, und ein paar starke Schnüre, um Widerspenstige, die gegen die bestehende Ordnung verstoßen, mit starkem Arm unschädlich zu machen. Eine durchdringende schrille Pfeife gilt als Noth- und Hülfssignal, und vervollständigt die praktische Ausstattung des Dieners der Gesetze. Nie wird sich ein Policemann unnütz machen oder sich in Dinge mischen, die ihn nichts angehen, und trotz ihrer energischen Strenge gegen alle Ungehörigkeit erfreuen sich die Mitglieder dieses segensreichen Institutes doch der größten Beliebtheit beim Publicum.

Sehr komisch ist die Art und Weise, auf welche die öffentliche Mildthätigkeit auf den Straßen Londons in Anspruch genommen wird, und in wie verschiedener Weise die Bettler dort ihr Brod verdienen. Eine Anzahl Jungen mit geschwärzten oder roth und grün bemalten Gesichtern, Händen und Füßen, in den abenteuerlichsten Lumpen herausgeputzt, laufen neben den Wagen einher, indem sie die Aufmerksamkeit der Fahrenden durch Radschlagen und andere, mitunter sehr possirliche und halsbrecherische Jongleurkunststückchen auf sich zu ziehen und ihrem Publicum einen Penny aus der Tasche zu locken suchen. Das viel bewunderte Geschlecht der englischen Clowns in den Kunstreiterbuden tritt hier im Embryo auf. Mit Stentorstimme brüllt ein ganz anständig gekleideter Mann ein französisches Lied oder eine italienische Arie herab, geduldig abwartend, ob ihm seine zweifelhafte Kunstfertigkeit aus der Hand eines mitleidigen Enthusiasten einige Groschen zuwirft. Dort, wo an der Straßenecke etwas mehr Raum zur Entwicklung ihres Repertoirs sich findet, hat sich eine Gesellschaft sogenannter Negersänger mit geschwärzten Gesichtern etablirt, ihre grellen Schwänke auf offener Straße zu produciren. Soldaten benutzen spazieren wandelnd die Zeit ihrer Muße, dürfen jedoch außer ihrer Dienstzeit nie Waffen tragen, so wie der Officier nichts Eiligeres zu thun hat, als nach Erfüllung seiner dienstlichen Pflichten sich sofort in die bequemen Civilkleider zu werfen.

Eine Menge Leute durchstreifen mit riesengroßen Theaterzetteln und andern Affichen behangen die Straßen, da Theaterannoncen größtentheils nur auf diese Weise verbreitet werden, während nicht wie bei uns die Zeitungen und Straßenecken das Publicum von den zu erwartenden Kunstgenüssen in Kenntniß setzen. Nachts tragen diese Burschen großen Theils ihre Ankündigungen in Cylinderform und Transparent-Beleuchtung auf dem Kopfe, was sehr possirlich aussieht. Ein neues Stück im Prinzeßtheater und die am Strande ausgestellte einbalsamirte Leiche der Pastrana, die Teufelskünste des Seiltänzers Blondin im Krystallpallaste und die Predigt eines beliebten Seelsorgers in einer Modekirche werden in gleicher Weise angekündigt.

Abends setzen die Theater in strahlendem Gaslicht durch riesengroße flammende Lettern das Publicum in Kenntniß, wie viel Hundert Aufführungen eine der beliebten Vorstellungen bereits erlebt habe. Nach wenig Stunden bringt Jedermann eine Masse Verkaufsankündigungen und fromme Tractätchen heim, die ihm in die Hände gedrückt worden. Mahnungen zur Gottesfurcht und Frömmigkeit und Einladungen zum Besuche sehr zweideutiger lebender Bilder erhält er auf demselben Wege nur wenig Schritte auseinander. Ein frommer Begeisterter predigt auf offener Straße und donnert gegen die Sündenlust der Welt, während an der nächsten Ecke von Haymarket in der wirklich frommen Hauptstadt von Old-England ein weiblicher Sclavenmarkt geduldet wird, wie ihn die schmutzige Phantasie eines ausschweifenden französischen Romanschriftstellers nicht widerlicher ersinnen könnte.

Es fällt Dir ein, daß Du etwas zu Hause vergessen hast; wenige Schritte lang, und eine der zahllosen Telegraphenstationen bringt die gewünschte Nachricht um einige Pfennige zu Dir in die weitentfernte Wohnung. Fast sinnverwirrend wirkt das wilde bunte Treiben auf uns ein, wir flüchten uns in eine Restauration, wo sich wieder des Ungewohnten viel findet. Der Engländer ist in Bezug auf seine Tafelfreuden und die Anforderungen an selbe überaus mäßig. Sich hermetisch von seinem Nachbar abschließend und durch Seitenwände von ihm getrennt, wie bei uns im Theater durch Logen, genügt ihm eine dünne, ungesalzene Suppe, ein Stück Fleisch, welches der schneeweiß gekleidete Koch auf einem Rädertischchen zu ihm hinrollt, und von einem mächtigen Rückenstück oder einer Keule absäbelt, so viel der Gast wünscht, und das er mit riesengroßen, in Wasser gekochten Erbsen genießt, so wie Käse und Butter, ersterer ebenfalls in großen Blöcken vorgesetzt und mit Senf genossen, vollständig zu einem ausreichenden Mittagsbrod. Als Getränk zieht der Londoner sein gutes Bier dem Weine vor, der meist nur stark mit Wasser gemischt getrunken wird. Der billige Seefisch, der Hummer, oder als Dessert die große westindische Ananas, welche das Stück mit fünf Silbergroschen bezahlt wird, gehören schon zu den lucullischen Ausschreitungen des englischen Feinschmeckers.

Nach kurzer Rast setzen wir unseren Spaziergang fort, oder wir besuchen einen der in massenhafter Zahl etablirten Vergnügungsorte für die Menge. Nicht die prachtvolle Alhambra oder Cremongarden, gegen welche [592] das Kroll’sche Etablissement in Berlin oder das Victoriatheater mit seinen prächtigen Räumen winzig erscheint, wo zahllose Flammen ein Meer von Licht verbreiten und Gaukler aller Nationen die Menge amüsiren, ja selbst ganz erträgliche Balletvorstellungen das Publicum locken, nicht London-Pavillon, wo Chinesen mit unbegreiflicher Gewandtheit sich mit spitzen Messern werfen und diese einen engen Kreis um das menschliche Ziel bilden, nicht Music-Hall, wo Leotard seine wilden Sprünge macht, alle diese großen, wunderbar reich ausgestatteten Locale ziehen uns weniger an, als ein kleines Theater am Strand, wo komische Gerichtsscenen aufgeführt werden, in welchen die Ereignisse des Tages, die Schwächen und Thorheiten hervorragender Persönlichkeiten mit schlagfertigem, aber beißendem Witz gegeißelt werden. Der Proceß der „Emailleuse“, Mad. Rachel aus Paris gab das Thema her, und der viel besprochene, Aufsehen erregende Proceß derselben gegen eine hochgestellte Modedame wurde in parodirender Form unter dem jubelnden Gelächter der Zuschauer dargestellt. Die „Emailleuse“ besitzt das Talent, Gesicht, Hals, Arme, Haare, Augenbrauen etc. etc. ihrer Kunden in der Weise zu retouchiren, daß die von ihr Behandelte nicht nur um viele Jahre jünger aussieht, als Mutter Natur es für geeignet hält, sondern die Farbe widersteht mehrere Tage lang allen Einflüssen der Luft und der Witterung, ist mit einem Wort täuschender und dauerhafter aufgetragen, als dies manche Schöne in verschwiegener Kammer zu thun im Stande ist, wenn sie, der Natur grollend, derselben nachzuhelfen versucht.

Lange Zeit war die reiche Lady L. eine treue Kunde der verschwiegenen „Emailleuse“, ohne nach dem Preise zu fragen, und ließ sich von der französischen Künstlerin verjüngen und verschönen, als letztere mit einer Rechnung über die bescheidene Summe von 5000 Pfund an’s Licht rückte. Vergebens suchte die erschrockene Dame ihre Verschönerin zu einer milderen Forderung zu bewegen, ebenso vergebens bot sie ihr, da sie ohne Einwilligung ihres nicht in das Geheimniß gezogenen Gemahls über eine solche Summe nicht verfügen konnte, sogar einen Theil ihrer Diamanten an. Wohl oder übel mußte sie ihren Gatten von der sonderbarsten aller je contrahirten Schulden in Kenntniß setzen, der denn auch die Bezahlung auf das Entschiedenste verweigerte. Mad. Rachel wurde klagbar, und die Persönlichkeit der Verklagten, die Originalität des Processes und die Details, die über die Art und Weise der Kunstleistungen der Künstlerin an Lady L. in den Gerichtsverhandlungen zur Sprache kamen, verfehlten nicht in allen Kreisen das größte und für die Betreffenden sehr unliebsame Aufsehen zu machen. Der Proceß gab „für das Geschäft der Madame Rachel eine Reclame vom reinsten Wasser“, der Gerichtshof indeß, wenn er auch anerkennen mußte, daß die Leistungen der Mad. Rachel vollständig tadellos gewesen und Lady L. früher viel jünger ausgesehen habe, als jetzt – man war so ungalant von zwanzig Jahren zu sprechen – ermäßigte doch die Forderung von 5000 auf 1000 Pfund Sterling, welche das Gericht der Emailleuse zuerkannte.

Die stolze Künstlerin aber, die sich in ihrem Recht verletzt glaubte, strich die ganze Forderung und nahm nichts, weil sie nicht Alles bekommen konnte.

Wenn auch nicht zu bezweifeln steht, daß die Geheimnisse der Mad. Rachel in Zukunft noch oft von den Löwinnen der Hauptstadt in Anspruch genommen werden dürften, so zweifle ich doch, daß dies ohne vorherigen Accord über den Preis geschehen wird.

Franz Wallner.





Die Entstehung der Ouvertüre zu Don Juan. Der bekannte Schauspieler und Sänger Ed. Genast, dessen persönliche künstlerische Verdienste Niemand in Abrede stellen wird, läßt in seinen Theatermemoiren seinen Vater über die Entstehung der Don-Juan-Ouvertüre erzählen: „Von Don Juan war bereits eine Theaterprobe gewesen, aber noch war keine Ouvertüre fertig, auch bei der Vorprobe fehlte sie noch, und Guardasoni machte dem Componisten ernstliche Vorwürfe, daß wahrscheinlich nun die Oper ohne Ouvertüre gegeben werden müsse. Mozart aber, ganz unbekümmert darüber, nahm noch am Tage vor der Hauptprobe ein Souper bei einem geistlichen Herrn ein, zu welchem auch Bassi Guardasoni, Wahr und ich geladen waren. Die Gesellschaft war sehr vergnügt; der geistliche Herr, ein Lebemann, regalirte uns mit trefflichen Speisen und mit noch trefflicheren ungarischen Weinen, denen Mozart tüchtig zusprach. Die immer lebhaftere Unterhaltung ging theils in italienischer Sprache vor sich. Bis auf den geistlichen Herrn waren uns Allen die Zungen etwas schwer geworden, und erst nach 1 Uhr trennte sich die Gesellschaft. Director Wahr und ich übernahmen es, Mozart nach Hause zu bringen; auf dem Wege dahin sang er immerfort Phrasen aus Don Juan, kam aber beständig wieder aus das Champagnerlied (?) zurück. Die scharfe Octoberluft und das Singen hatten ihn, als wir in seiner Wohnung ankamen, völlig seiner Sinne beraubt. Im vollen Anzuge warf er sich auf’s Bett und schlief sofort ein. Da uns die Beine auch schwer geworden waren, und wir den weiten Weg nach Hause scheuten, setzten wir uns auf ein altes Federsopha, und Morpheus nahm uns ebenfalls in seine Arme. Aus unserem süßen Schlummer wurden wir plötzlich durch kräftige Töne geweckt, und sahen bei unserem Erwachen voll Erstaunen Mozart bei einer düstern Lampe an seinem Pulte sitzen und arbeiten. Keiner von uns wagte ein Wort zu sagen, und mit wahrer Verehrung hörten wir die unsterblichen Gedanken sich entwickeln. Ohne ferner ein Auge zu schließen, hörten wir zu und verhielten uns ganz still. Nach 9 Uhr sprang er mit den Worten aus: „Na, da steht es ja.“ Ein Gleiches thaten wir, und mit Erstaunen rief er: „Ja, was Teuxel! wie kommt denn Ihr daher?“ Mit Begeisterung küßten wir ihm seine schönen weißen Hände. Er trennte die Partitur und bat uns, sie sofort den vier Copisten im Büreau zu übergeben. „Nun woll'n wir a Bissel schlafen,“ sagte er. Abends lagen, theilweise noch naß, die ausgeschriebenen Stimmen auf den Pulten.“ – So weit Genast!

Und nun fragen wir: „Sonst Nichts?“ Mozart kommt in der Nacht um 1 Uhr so todtmüde und angetrunken nach Hause, daß er vollständig angekleidet auf's Bett und in einen tiefen Schlummer fällt. Eine Stunde später sitzt er schon wieder an seinem Pulte und componirt die Don-Juan-Ouvertüre; um 9 Uhr wurde die Partitur bereits in vier Theile getheilt, vier verschiedenen Copisten zum Aufschreiben gebracht, woraus natürlich folgt, daß jedes Orchestermitglied seine Ouvertüre auf vier verschiedenen Blättern bekam; sie wurden noch naß auf die Pulte gelegt und Abends ohne Probe heruntergespielt.

So unkünstlerisch, unverantwortlich leichtsinnig soll Mozart mit der Ouvertüre zum Don Juan, seiner von ihm selbst am höchsten geschätzten Oper, und bei der ersten Ausführung vor dem Publicum, das er als das kunstsinnigste anerkannte, auf dessen Urtheil er den meisten Werth legte, zu Werke gegangen sein? Mozart, das Ideal eines Künstlers, dessen sämmtliche Partituren, ganz abgesehen von den geistigen Schätzen, die sie enthalten, eine Sorgfalt der Ausarbeitung an den Tag legen, wie sie noch nie bei einem Künstler gefunden wurde? – Ganz abgesehen davon, daß, wenn Mozart (was wir voraussetzen) die ganze Composition und Instrumentirung der Ouvertüre fertig im Kopfe mit sich herumtrug, es rein unmöglich ist, daß er dieselbe von zwei Uhr Nachts bis neun Uhr Morgens hätte zu Papier bringen können, weil in der Don-Juan-Ouvertüre bekanntlich jede Note eigens niedergeschrieben werden muß, und sich nichts darin, nach Art moderner italienischer Compositionen, durch „come sopra“; (wie oben oder wie die schon früher vorhandene gleiche Stelle) oder „col flauto“, „con violino“ etc. etc. abkürzen läßt.

Leider und unbegreiflicher Weise erzählt der sonst so glaubwürdige und bis in die aschgraue Möglichkeit ausführliche und gewissenhafte Jahn von der Entstehung der Don-Juan-Ouvertüre Aehnliches, im 4. Theile, Seite 300 seines meisterhaften Werkes über Mozart. So unwahrscheinlich – ja unmöglich auch dieser Bericht klingt, so begnügt er sich doch mit einer einfachen Erzählung der alten Fabel ohne Genast’s drastische Einzelnheiten. Jahu sagt:

„So nahte der Tag der Aufführung, der 29. October 1787, heran, und die Ouvertüre wurde nicht geschrieben, war am Abend vor der Ausführung noch nicht fertig, zur großen Beunruhigung der versammelten Freunde, worüber Mozart sich sehr zu belustigen schien. Es ist bereits früher erzählt, wie er sich spät von der lustigen Gesellschaft trennte und dann bei einem Glase Punsch, während seine Frau ihm Geschichten erzählte, sich an’s Niederschreiben machte; wie ihn die Müdigkeit so überwältigte, daß er einige Stunden schlafen mußte, ehe er wieder an die Arbeit gehen konnte. Allein um sieben Uhr war der Copist bestellt, und zur bestimmten Zeit wurde ihm die Ouvertüre übergeben. Es war die letzte Frist, wenn die Stimmen noch bis zum Anfang der Oper (!!) ausgeschrieben werden sollten, der sich aus diesem Grunde um etwas verzögerte (!). Vom Blatt spielte nun das wohlgeschulte und begeisterte Orchester die Ouvertüre so gut, daß Mozart während der Introduction zu den ihm zunächst stehenden Instrumentalisten sagen konnte: Es sind zwar viele Noten unter die Pulte gefallen, aber die Ouvertüre ist doch recht gut von Statten gegangen.“ (sic).

Wir wollen zugeben, diese Scene habe bei der Hauptprobe stattgehabt – bei der Aufführung nun und nimmermehr! Mozart konnte, durfte und wollte sicher nicht das Risico einer so riesenhaften Blamage übernehmen, wenn z. B. durch das Fehlen einiger Takte in Violin- oder Baßstimmen (was bei der Eile, mit der die ganze Copiatur von Statten gegangen sein soll, sehr wohl der Fall sein konnte) die ganze Ouvertüre sich in ein Chaos verwandelt hätte und umgeschmissen worden wäre.

Als Confect mag aber noch der Passus in Genast’s Erzählung angeführt werden, wo es buchstäblich heißt:

„Aus unserem süßen Schlummer wurden wir plötzlich durch kräftige Töne geweckt, und sahen bei unserem Erwachen Mozart bei einer düsteren Lampe (nicht also am Clavier und spielend, sondern –) an seinem Pulte sitzen und arbeiten. Keiner von uns wagte ein Wort zu sagen, und mit wahrer Berührung hörten wir die unsterblichen Gedanken sich entwickeln.“

Diese Herren wurden durch Clavierspielen aufgeweckt, der Spieler sitzt aber an seinem Schreibpult und schreibt, und so hören sie mit wahrer Verehrung die unsterblichen Gedanken sich entwickeln!!! Es ist, wie gesagt, eigentlich gar nicht der Mühe werth, daß man sich über dieses harmlose Märchen so ereifert; weder ein Componist noch ein bloßer Copist wird je daran geglaubt, und das Ganze als ein Andenken an den unsterblichen und für ewige Zeiten unvergeßlichen Mann mit in den Kauf genommen haben. Wenn aber jetzt, nach mehr als 70 Jahren Jemand auftritt, der die Welt allen Ernstes glauben machen will, dieses Märchen sei wahr, und der dabei sogar seinen Vater als Augen- und Ohrenzeugen anführt, aus dessen eigenem Munde er diese Wunder bestätigen gehört, wenn ferner und schließlich ein solches Märchen durch viele Blätter geht und wie eine neu ausgegebene Antiquität angestaunt wird: dann mag es, zumal für solche, die blödere Sinne haben als wir, nicht überflüssig sein, ihre unnötigerweise erhitzte Phantasie etwas abzukühlen und ihnen zuzurufen: „Seid ruhig, die Don-Juan-Ouvertüre ist ebenso wenig in einer Nacht geschrieben, als Rom in einem Tage erbaut worden.“

R. in D.



Bei Ernst Keil in Leipzig ist so eben erschienen:

Berthold Auerbach’s Volkskalender für 1863.
Mit Bildern nach Originalzeichnungen.
von W. v. Kaulbach und Paul Thumann.
Preis 121/2 Ngr.

  1. Die bildliche Darstellung dieser Scene, von Herrn Burger in Berlin gezeichnet, erscheint in nächster Nummer.
    D. Redaction.
  2. Es giebt allerdings ein Mittel für deutsche zeitweilige Auswanderer, sich ihre Rechte als deutsche Unterthanen zu wahren, Wenn sie sich nämlich ihren Paß stets von daheim Verlängern lassen. Hier nur ein solches Beispiel, wie unbequem und lächerlich zugleich das ist: Ein deutscher Gastwirth in Valparaiso, ein preußischer Unterthan, hatte aus irgend einem Grunde das Verlangen, anerkannter preußischer Unterthan zu bleiben. Sein Paß war abgelaufen, und er schickt ihn zur Verlängerung nach Deutschland zurück. Dort wird ein solcher Paß nur auf zwei Jahre ausgestellt, auf dem Amt geht es aber auch nicht so rasch, die Reise ist ebenfalls lang, und als der auf zwei Jahre verlängerte Paß endlich wieder nach Chili zurückkommt, war er in wenigen Wochen zum zweiten Mal abgelaufen. Der arme Teufel von Wirth läuft jetzt zum preußischen Gesandten und bittet den, ihm zu helfen, denn er könne doch den Paß nicht umgebend zurückschicken, der auf diese Art ja nur immer unterwegs bliebe. Der preußische Gesandte zuckt aber die Achseln, und der Wirth mußte richtig wieder seinen aufs Neue abgelaufenen Paß an die heimische Behörde zurückgehen lassen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Irrtümlich ist der Vertrieb des Leipziger Pelzhandels insgesamt angegeben, nicht aber der des Lomer’schen Etablissements allein, vergl. Berichtigung.
  2. Irrtümlich ist der Vertrieb des Leipziger Pelzhandels insgesamt angegeben, nicht aber der des Lomer’schen Etablissements allein, vergl. Berichtigung.