Die Gartenlaube (1862)/Heft 33
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No. 33. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Zwei Welten.
Marie’s Hand war längst von Meßner’s Arme geglitten; ihr
Gesicht war bleich geworden, aber in der Haltung des langsam aufgerichteten
Kopfes wie in den großen dunkeln Augen stand ein
lebendiger Entschluß. „Es gab eine Zeit, wo das Wort Vertrauen
zwischen uns fiel!“ wiederholte sie langsam, den festen, leuchtenden
Blick in seinem finstern Auge haltend. „Damals sah ich einen
Mann an meiner Seite, der als Lehrer und Führer mit mir den
Hain der deutschen Literatur durchwanderte, mich in die Tempel
seiner Ideale leitete und mir den Blick für Dunkeles und Verborgenes
öffnete, in dessen Seele ich nichts las, als die Begeisterung
für Hohes und Großes, der mich in seinen Anschauungen mit sich
fortriß, daß ich mich klein neben ihm fühlte, daß ich es als ein
Glück betrachtete, ihn als vertrauenden Freund, der seine äußeren
Kümmernisse in meine Seele niederlegte, zu besitzen. – Dann aber
sah ich denselben Mann sich plötzlich verwandeln, seine eigenen
Ideale verleugnen, sein eigenes Licht verbergen und mit falscher
Demuth den Fußstapfen Anderer folgen, auf Kosten seiner besseren
Gefühle sich den Schwächen Derer anschließen, die einen Einfluß
auf sein äußeres Geschick ausüben konnten, sah den Mann der
kräftigen Ueberzeugung sich zum süßen Schönredner erniedrigen, sah
meine ihm offen gezeigte Freundschaft und Hochachtung zum vollen
Selbsthohn für mich werden, daß ich endlich gezwungen war zu
hassen, – um des Betrugs an meinen besten Empfindungen willen
zu hassen- wo ich früher oft geglaubt hatte, bewundern zu müssen.
Da haben Sie das Leid, das Sie mir angethan, die Thatsache,
welche mir ein Recht zu meinem Verfahren gegeben, Und nun darf
ich wohl auch nicht erst aussprechen, wessen Schuld alle Bedingungen
für das frühere Vertrauen zerstört. Sie haben mich gefragt,
und so habe ich geantwortet; nun thun Sie, was Sie glauben ferner
verantworten zu können!“
Sie wollte sich abwenden, aber er faßte todtenbleich und mit zitterndem Auge ihr Handgelenk. „Halt, Marie,“ sagte er, „so dürfen wir nicht enden, denn wie weit Sie auch glauben mögen, Recht zu haben, so haben Sie mir doch schwereres Unrecht gethan, als Sie in Ihrem Gesichtskreise im Stande sind zu erkennen. Vermögen Sie den Seelenzustand eines Menschen zu würdigen, der alle Bedingungen in sich fühlt, unter den Ersten seinen Platz einzunehmen, der aber mit seinen Kenntnissen und Anlagen, mit allen Hoffnungen, welche ihm der Fleiß und die Erfolge seiner Jugend gegeben, in eine niedere Stellung, die ihm nirgends Raum für seine geistige Kraft gewährt, gebannt ist, nur weil ihm Eins, die nöthige Fürsprache zum Vorwärtskommen, fehlt? der sich von Menschen überholt sieht, die er um ihrer Ignoranz willen verachten muß und in schlaflosen Nächten vergebens nach einem Wege, sich selbst geltend zu machen, den Kopf zermartert? Und nun denken Sie sich diesen Mann durch ein einziges glückliches Ungefähr in einen gesellschaftlichen Kreis gebracht, der ihm die Aussicht in die Regionen seiner Träume eröffnet, der ihn aber zu gleicher Zeit aufklärt, daß hier, wo die allmächtigen Hebel für sein Glück ruhen, Kenntnisse und innerer Werth das Wenigste, Beliebtheit und äußeres Gefallen aber Alles sind; denken Sie sich, daß ein liebenswürdiges Mädchen an seine Seite tritt, deren Lehrer und Freund er wird, in der er seine eigene Ergänzung findet und die er wohl erringen könnte, wenn ihn nicht sein Schicksal so tief unter ihr festhielte. Und dann denken Sie sich, wenn Nachts die versuchenden Gedanken an ihn herantreten: Du kannst erreichen, was du willst, du hast die Gaben, um jetzt, wo dir die erste Pforte offen steht, dir deinen weitern Weg zu bahnen, du darfst nur sein, wie die Menschen es verlangen! Und ist es Sünde, sein eigenes Wesen dem Anderer unterzuordnen, seine eigene Ueberlegenheit zu verbergen, wenn dies das einzige Mittel ist, um freien Raum für die Verwerthung seiner geistigen Kraft zu erlangen, wenn jede andere Straße zur Erkämpfung seines innern wie äußern Glücks verlegt ist? Es mag Mancher in der Verfolgung seiner Carriere, wie nun einmal unser Staatswesen beschaffen ist, zum Heuchler geworden sein – aber wo bin ich das je gewesen? - Ich habe mich im Gesellschaftskreise in die Launen der Menschen gefügt, ich habe ihnen Artigkeiten gesagt, ich habe geschwiegen, wo mein Urtheil hätte verletzen und doch nichts nützen können, ich habe mich oft selbst verleugnet, aber wo bin ich jemals meiner Ueberzeugung tatsächlich untreu geworden? Ich habe mich an die alten Damen, die treuesten Beschützerinnen, gehalten, da es doch in der ganzen Mädchenwelt nur einen Lichtpunkt für mich gab und auch dieser sich bald zu einem Stachel und Peiniger für mich umwandelte, der alle die Empfindungen, die mich früher beglückt, in Bitterkeit untergehen ließ, der mich auch gleichgültig gegen das Mißverständniß machte, daß meine Besuche in Ihrem Hause Ihrer Schwester Helene gälten. Wenn ich einmal ohne besondere Neigung eine Verbindung eingehen sollte, so mußte mir die mit einem Mitgliede Ihrer Familie, zu welcher mich meine ganze Dankbarkeit hinzog, noch die liebste sein. Und nun darf ich Ihnen noch sagen, daß ich der Zukunft, welche ich mir mit Selbstverleugnung errungen, nicht unwürdig bin, daß ich bald frei werde den Kopf heben können und daß Sie mich dann achten sollen. Ihrer Schwester aber mögen Sie die Beruhigung geben, daß ich nicht die Ursache ihres Unglückes sein werde!“
[514] In dem Gesichte des Mädchens war während seiner Rede die Farbe gekommen und gegangen, auf ihrer Stirne und zwischen den stolzen, dunkeln Brauen hatte der Ausdruck der verschiedensten Empfindungen gewechselt; zuletzt aber trat es wie ein aufdämmerndes stilles Glück in ihre Züge.
„Und Hugo?“ fragte sie, während es noch einmal wie ein dunkler Zweifel in ihren Augen aufstieg, „sind Sie auch nicht sein Feind aus irgend einer mir unklaren Berechnung geworden? haben Sie nicht des Vaters Unwillen gegen ihn durch ein eifriges Zustimmen seiner Ansichten erst zu seiner jetzigen Schärfe gebracht?“
Er blickte rasch auf, als fehle ihm das Verständniß ihrer Worte; dann aber ging ein tiefer Schatten über sein Gesicht. „Bis zu dieser Beurtheilung also ist es gekommen!“ sagte er gedrückt. „Ihr Herr Vater, Fräulein Marie, ist wohl nicht der Mann, erst durch die Ansichten eines Schützlings, wie ich es war, die seinen bestimmen zu lassen; Ihren Bruder habe ich vor seinem letzten Erscheinen hier nicht einmal gekannt; wenn ich mir aber ein nachteiliges Bild von ihm geschaffen hatte, so ist dies erst durch die Klagen Ihres Vaters geschehen, denen ich allerdings mein Beileid nicht versagen konnte. Ich verachte selbst nichts mehr, als die Moderichtung unserer jungen Welt, die an die Stelle alles Erhabenen die rohe Materie setzen und den Genuß zum Zwecke ihres Daseins machen möchte, und meiner Ueberzeugung durfte ich wohl Worte leihen!“
In diesem Augenblicke wurden die festen Schritte des Geheimrathes im Corridor hörbar, und Marie streckte dem Schuldirector mit einem aufleuchtenden Blicke rasch die Hand entgegen. „Wir sprechen weiter mit einander!“ sagte sie hastig und wandte sich nach dem Arbeitstische der Großmutter. Meßner hatte einen halbscheuen Druck ihrer Finger gefühlt und stand einen Moment ihr starr, wie von einem plötzlichen Gedanken getroffen, nachblickend, aber das Oeffnen der Thür ließ ihn schnell sich dieser zukehren.
„Ah, vortrefflich, lieber Freund!“ sagte der eintretende Geheimrath, durch den Anblick des Gastes sichtlich angenehm berührt; „ich dachte soeben an Sie!“ Er nahm nach einem raschen Blicke durch das Zimmer auf dem Sopha Platz, während Meßner sich auf seinem früheren Sitze niederließ. „Die Mama ist noch nicht hier, aber sie kann nicht lange ausbleiben; Helene ist etwas unwohl, und nach dieser wird sie sehen!“ fuhr er fort. „Sie haben etwas über unsere gemeinschafltiche Anlage in den amerikanischen Papieren gehört?“
„Ich habe bereits Alles in Ordnung gebracht und kam eigentlich nur, um Ihnen die nöthige Meldung zu machen!“ erwiderte Meßner. „Es ist nur eine kleine Anzahl der Obligationen hier im Markte, und ich war glücklich, Andern voraus abschließen zu können. Sie haben zwei Monate Zeit, um die Baardeckuug zu arrangiren, Ihre Unterschrift genügt bis dahin, und deshalb hielt ich es für das Beste, sofort Alles nach Ihrer Bequemlichkeit vorbereiten zu lassen. Ich habe die Abschlußformulare zur Vollziehung bei mir, und so würden Sie schon morgen früh im Besitze der betreffenden Papiere sein können.“
Zedwitz sah den Sprechenden einige Secunden lang, wie einen Gedanken verfolgend, an. „Sie sind prompt, lieber Freund, und Sie werden mich nicht lässiger finden!“ sagte er dann. „Diese Capital-Anlage hängt, wie Sie wissen, mit Ihrem Eintritt in unsere Familie zusammen; Beides nun hat die Mißbilligung eines und desselben Gegners gefunden, den sogar unsere Mama zu begünstigen scheint. – Ohne Sorge!“ fuhr er auf einen fragenden Blick des Schuldirectors fort, „ich bin noch immer dem gefolgt, was mir mein Verstand als das Richtige bezeichnete, und so mögen Sie auch meine Unterschrift, welche das Geldgeschäft ordnet, als das Document zu unsern anderweitigen nähern Beziehungen ansehen. – Habe ich Sie in irgend einer Verhandlung mit unserer Marie unterbrochen, so lassen Sie sich nicht stören,“ setzte er, sich erhebend, hinzu, „ich erwarte Sie nachher in meinem Cabinet!“ Mit einem Kopfnicken gegen die beiden jungen Leute verließ er das Zimmer.
„Sie hatten mir noch etwas zu sagen?“ wandte sich Meßner wie in halbem Zagen nach dem zurückstehenden Mädchen.
„Gut, Herr Director,“ erwiderte die Angeredete rasch, einen Schritt auf ihn zutretend, „ich möchte wissen, ob Sie den Muth haben, dem Vater jetzt gleich offen zu sagen, daß Sie die Werbung um meine Schwester aufgeben und sie ihrer eigenen Neigung überlassen. Worte habe ich von Ihnen vernommen, ich möchte aber jetzt auch gern eine That sehen!“
„Und dann, Marie?“
„Dann?“ wiederholte sie, mir einen Moment ihren Blick senkend. „Warten wir erst ab, was sich daraus entwickeln wird – möglicherweise kommen Sie nicht einmal zu einem „dann“. Der Vater führt gern durch, was er begonnen, und noch sind Sie nicht Regierungsrath, Herr Meßner!“
„Marie, noch immer dieser Ton?“
„Der Vater wartet auf Sie – gute Nacht, Herr Director!“ sie neigte sich leicht und verschwand in der Nebenthür. Meßner aber drückte einen Augenblick die Hand gegen die Augen und folgte dann langsam dem Geheimrathe.
Drei Wochen waren seit dem letzten Gespräche zwischen Hugo und dem alten Henderson verstrichen; nach dem kurzen Herbste hatte der Winter bereits seine Vorboten gesandt – aber noch hatte der junge Mann seine Stellung nicht verlassen. Wenn er genau hätte sagen sollen, was ihn trotz seiner unveränderten Ansicht der ihn umgebenden Dinge bis jetzt gehalten, so wäre es ihm kaum möglich geworden. Kleine Umstände und Einflüsse hatten sich wie zu einer Kette geformt, um ihm fortlaufend den ersten entscheidenden Schritt zu seinem Austritte zu versperren; die Nothwendigkeit desselben war nicht einen Augenblick aus seiner Seele gewichen, war selbst durch spätere Verhältnisse noch bestimmter vor ihn getreten, und dennoch waren die drei Wochen vorübergegangen, er wußte selbst kaum wie, ohne daß er zu einer Ausführung gelangt war.
Als er damals nach einer halbdurchwachten Nacht, in welcher er sich sein ganzes Abschiedsverfahren gegen Winter vorgezeichnet und dann eine Antwort an Jessy, eine Aussprache seines ganzen Fühlens und Denkens entworfen, in der Office auf das Erscheinen des Principals geharrt, war dieser eilig und sichtlich zerstreut eingetreten. „Es ist möglich, Mr. Zedwitz, daß wir uns einige Tage nur flüchtig oder gar nicht zu sehen bekommen,“ hatte er geäußert, „die Vormittage mögen Sie mit Henderson arbeiten, und Sie werden durch ihn bald einen Blick in unsern Speditions- und Commissionshandel erlangen; die Nachmittage aber, falls das Wetter Sie an einem Ausfluge nach der Farm verhindern sollte, machen Sie sich mit dem Buchhalter bekannt, damit Sie sich Kenntniß von den Eigenthümlichkeiten der amerikanischen Buchführung verschaffen. Ich möchte, daß Sie bald so weit kämen, um mich hier vorkommenden Falles repräsentiren zu können – darüber indessen ein anderes Mal, ich bin heute sehr gedrängt!“ Und ehe Hugo nur daran hatte denken können, die nöthigen Einleitungsworte für das, was ihm auf dem Herzen lag, aus seinem Gedächtnisse hervorzusuchen, war Winter bereits mit einem leichten Gruße aus der Office verschwunden gewesen. Mit einer ganz eigenthümlichen Herzlichkeit aber hatte ihn dann Henderson in Beschlag genommen, hatte begonnen, ihm das Wesen des amerikanischen Commissions- und Consignations-Geschäftes zu erklären, die betreffenden Bücher vor ihm aufgeschlagen und, wie eine besondere Absicht verfolgend, einzelne größere Fälle genau mit ihm durchgenommen.
„Ich denke, an den Geschäften wird nichts Unehrliches sein, wenn auch nicht jeder die Schlauheit hat, um sich einen Gewinn herauszuschlagen, wie Mr. Winter,“ hatte er dann mit einem halben Augenaufschlag gesagt, „und bei der Art Geschäft werden wir nach dem Donnerwetter, wie es jetzt bald genug kommen wird, auch stehen bleiben – nur jetzt ruhig abwarten, Sir!“
Und abwarten mußte Hugo allerdings, denn es vergingen acht Tage, in welchen er den Principal kaum hier und da auf einen Blick und stets so mit sich selbst beschäftigt gesehen, daß es des drängendsten Entschlusses bedurft hätte, ihm in den Geschäften, welche ihn zu treiben schienen, entgegenzutreten. Und Hugo hielt eine ruhige Viertelstunde, um seinen Schritt genügend rechtfertigen zu können, für durchaus nothwendig. Henderson schien übrigens so wenig an eine noch mögliche Entfernung des jungen Mannes zu denken, unterzog sich mit so vollem Eifer der praktischen Unterweisung desselben, machte den Mittelsmann zwischen ihm und dem Buchhalter, wenn die Taubheit des Letzteren das Verständniß erschwerte, und hing sich mit einer so launigen, wohlthuenden Vertraulichkeit an seinen Schützling, als welchen er Hugo offenbar betrachtete, daß dieser nicht ohne Unruhe an den Augenblick dachte, [515] in welchem der Alte seinen noch immer feststehenden Entschluß erfahren würde. Was ihn aber neuerdings noch mehr zur Ausführung desselben drängen wollte, war ein eigenthümliches Verhältniß, das sich zwischen ihm und Carry herauszubilden begann. Der tägliche Ritt nach der Farm war eine von ihm übernommene Verpflichtung, und er hatte ihn deshalb nur unterlassen, wenn der Spätherbst zu arg wetterte. Von dem Tage an, der seine Begegnung mit Jessy herbeigeführt, hatte indessen Carry’s Wesen eine eigenthümliche Aenderung erlitten. Ihr Muthwille und ihr sicheres Auftreten waren meist einer Art Zurückhaltung gewichen, bisweilen sogar einer seltsamen Weiche; ihre ganze Art sich zu geben hatte etwas mädchenhaft Schüchternes, durch welches doch zuweilen der alte kecke Geist sich Bahn brach, dann aber stets sein Opfer in einem lebendigen Erröthen bringen mußte, angenommen, so daß Hugo zuerst mit einer leisen Ueberraschung diese Wandelung wahrgenommen, dann aber selbst nicht mehr den bei seinen frühern Besuchen angeschlagenen leichten Ton hatte aufrecht erhalten können. Sein Unterricht mit dem Knaben war völlig ausgefallen, da der Arzt jede geistige Anstrengung desselben untersagt, und so war der Deutsche immer stundenlang mit dem Mädchen allein gewesen, das zwar seine Unterweisung im Pianospiel ruhig hingenommen, diese aber doch sichtlich nur als Nebensache betrachtet und oft mitten in der Ausführung eines Stücks abgebrochen hatte, um ihn mit einer plötzlichen Frage über Einzelnheiten des deutschen Lebens oder einer Gegend, welche Winter mit seiner älteren Tochter bereist, zum Sprechen zu bringen. Dann hatte sie sich zurücklehnen und ihn bewegungslos anblicken können, als beobachte sie mehr die Aenderung im Ausdrucke seines Gesichts, als sie seine Worte vernehme. Und wenn dann Hugo vor dem stillen Anschauen dieses prächtigen Auges, das sich wie unbewußt in das seine versenken zu wollen schien, einer leichten Befangenheit sich nicht hatte entschlagen können und er abbrechend sie gefragt, was ihr an allen solchen Mittheilungen gelegen sein könne, da war sie wohl hocherröthend, wie aus einem halben Traume, aufgefahren und hatte in einer Verlegenheit, die ihr nicht erlaubte, ihre Worte abzuwägen, gesagt: „O, ich höre Ihr Reden doch so viel lieber, als mein dummes Spiel!“ – Schnell genug hatte zwar Hugo bei solchen und ähnlichen Gelegenheiten die rechte gegenseitige Haltung wieder herbeizuführen gewußt; aber auf dem Heimwege hatte er sich mehr als einmal gefragt, ob er sich selbst über den Herzenszustand des liebenswürdigen Mädchens, das nur auf ihn nicht ihre volle Anziehungskraft auszuüben vermöge, täuschen dürfe, und wohin für sie eine Fortdauer dieser Zusammenkünfte führen solle. Stoff zu noch weiterem Denken aber hatte er gefunden, als er, nachdem er zwei Tage seine Besuche ausgesetzt, bei seiner Ankunft auf der Farm den Principal, eben fertig zum Abfahren, getroffen, der ihm mit seinem eigenthümlichen Lächeln gesagt: „Carry ist ganz unglücklich über Ihr Außenbleiben, Sir! Sie arbeiten sich tüchtig im Geschäfte ein, wie ich höre; indessen dürfen Sie sich nicht geniren, sich hier gleichfalls zu Hause zu machen; es ist nicht unmöglich, daß ich Sie einmal werde bitten müssen, mich eine Zeit lang in meiner Häuslichkeit eben so zu vertreten, wie ich dies von Ihnen im Geschäft hoffe!“ Und mit einem launigen Kopfnicken, als glaube er völlig genug gesagt zu haben, war er davongefahren. Hugo hatte sich fast gefürchtet, sich die Worte zu deuten; wenn er sich aber dachte, daß der Mann, dem er durch seine Abenteuer mit Jessy schon vor seiner Ankunft kein Unbekannter gewesen war, den Plan gefaßt haben könne, sich in ihm ein dankbares, verschwiegenes Werkzeug für seine Geschäfte zu erziehen und ihn endlich ganz an sich zu fesseln, wie es bereits so manche seiner bisherigen Aeußerungen hatten ahnen lassen – so erfaßte es ihn bei der Vorstellung des möglichen Sinnes von Winter’s Worten fast wie Angst, und er nahm sich von Neuem vor, diesen Verhältnissen ein rasches Ende zu machen, selbst auf die Gefahr hin, es ohne jede Rechtfertigung thun zu müssen.
In der zweiten Woche aber war die gegen die Finanzbehörden der Stadt in Anregung gebrachte Untersuchung allgemeines Gespräch geworden; in allen Trinklocalen und Privatgesellschaften, in ausgeschriebenen Bürgerversammlungen und wo Drei zusammen, auf der Straße standen, hatte es keinen andern Unterhaltungsstoff als die nirgends mehr geheim gehaltenen Beschuldigungen gegeben; hitzige Debatten für und wider fanden überall statt, die Zeitungen begannen die Angelegenheit je nach ihrer Parteifarbe aufzunehmen, und eine Spannung über den endlichen Ausgang der Bewegung, an der Hugo wider Willen einen regen Antheil zu nehmen begann, bemächtigte sich des Deutschen, daß es kaum Henderson’s heimlich ausgedrückter Genugthuung und seines: „Nur abwarten, es kommt Alles, wie es soll!“ und Winter’s jetzt deutlich hervortretender Unruhe bedurft hätte, um ihn für den Augenblick auf seinem Platze festzuhalten. Bald schien Graham’s Name der Hauptpunkt zu werden, um welchen sich die öffentlichen Verhandlungen drehten; jemehr aber der Comptroller auf der einen Seite verurtheilt wurde, je kräftiger nahm sich eine andere Partei seiner an, und Winter schien ebenfalls sich wieder dicht an die Seite des Schwiegersohns zu stellen – Hugo traf den Letzteren sogar einmal mit Jenem zusammen auf dessen Farm, so daß sich an einem neuen völligen Einverständniß Beider nicht mehr zweifeln ließ. Henderson aber zog bei den Zeichen der erneuten gegenseitigen Vertraulichkeit die Augenbrauen dicht aneinander und brummte: „Das ist die Folge! Er schöbe ihn gern so weit von sich, als er könnte, und wäre ein ehrlicher Mann, aber er fürchtet ihn und muß schlau sein – nun, je härter es jetzt drückt, desto eindringlicher die Lehre; dem Comptroller aber helfen doch alle seine Kumpane nicht mehr!“ Und Hugo hatte mehr als je an Jessy, an die Stimmung, in welcher sie sich während dieser Krisis befinden mußte, sowie an die Lage, in welche sie gerathen werde, wenn Graham wirklich des Betruges überführt würde, denken müssen. Es war ihm, als dürfe er schon ihrethalber vor einer bestimmten Entscheidung nicht gehen.
So waren drei Wochen vergangen. Von dem Tischler hatte Hugo während der ganzen Zeit kein Wort vernommen, und er war böse auf ihn. Früher, wo Mangold seiner bedurft, meinte er, habe dieser nichts ohne seinen Rath thun können; jetzt habe er sich schon am ersten Tage den Feinden des Mannes angeschlossen, bei welchem er den Freund im Geschäft wußte, ohne diesem nur einmal Nachricht von sich zu geben, und so wenig sich auch Hugo dieses Verfahren des Schulcameraden mit dessen früherer Anhänglichkeit zusammenreimen konnte, so hatte er sich doch vorgenommen, den undankbaren Menschen bei einem möglichen Begegnen so kalt zu behandeln, als er es verdiene.
Es war an einem kalten, aber klaren Decembertage, als Hugo nach eingenommenem Mittagsessen wieder nach dem Geschäftslocale zurückschritt. Es war unter den Tischgästen die Sage verbreitet gewesen, daß dem Staatsanwalt von einem Ausschusse der Bürgerschaft eine mit einer Menge von Beweisen versehene Anklage auf Schwindel, Betrug und Unterschlagung öffentlicher Gelder gegen die Häupter der Stadt übergeben worden sei, daß die Sache gar nicht ohne vorläufige Verhaftung der Beschuldigten abgehen könne, daß aber Graham zu dem gethanen Schritte lache, ihn für eine wahnsinnige Maßregel seiner politischen Gegenpartei erkläre, die noch mit ihrem Geschrei den Stadtcredit völlig ruinieren werde, und für den morgenden Abend Einladungen zu einer großen Fete in seinem Hause erlassen habe. Von andern Seiten aber war hinzugesetzt worden, daß jedenfalls die Stadtpapiere eine bedeutende Entwerthung erleiden würden, da die Untersuchungspartei darauf dringe, keinen Cent Zinsen zu zahlen, so lange nicht der Betrag der unrechtmäßig ausgegebenen Obligationen ermittelt worden; daß indessen die große Geschäftswelt noch sehr mit sich im Zweifel sei, ob sie nicht durch ihr gesammtes Gewicht der vorauszusehenden Calamität sich entgegenstellen werde.
Den Kopf noch voll des Gehörten war es dem Deutschen völlig entgangen, daß sich zwei Häuser von dem Geschäftslocale der Tischler aufgestellt halte und sich ihm vergebens bemerkbar zu machen suchte, und erst als Jener mit einem: „Willst Du mich nicht sehen, Hugo?“ seinen Arm faßte, fuhr er aus seinen Gedanken auf.
„Wenn es so wäre, hättest Du wohl kaum etwas Anderes verdient!“ erwiderte der Angeredete langsam, aber Mangold sah ihn plötzlich mit einem so erschrockenem Gesichte an, daß er für den Moment seinen Unwillen schwinden fühlte. „Es sind drei Wochen, Heinrich, seit wir hier ankamen und ich nichts von Dir gesehen habe, trotzdem ich nach Dir gegangen war.“
„Herrgott, was hätt’ ich denn thun sollen?“ fuhr der Tischler auf. „Fünf Mal habe ich mich Abends hier herumgetrieben in der Hoffnung, Dich zu treffen, bis ich endlich daran verzweifelte. Ich hatte Dir so Vielerlei zu erzählen und ich konnte ja doch am Tage nicht von der Arbeit weg – heute aber mußte’s sein und hätt’ ich mich selber in den Fuchsbau, in dem Du steckst, hinein wagen sollen! – ’s ist ein feiner Kerl, der Mr. Winter,“ lachte [516] er plötzlich auf, „und selbst Marquart sagt, sie werden nichts auf ihn bringen können, wenn sich nicht noch ganz besondere Zeugnisse gegen ihn finden; es ist doch am Ende gut, daß Du ruhig in seinem Geschäft geblieben bist, wenn Du auch mit Deinen andern Hoffnungen – na, ich schweige schon, ich wollte aber nur sagen, daß ich ganz genau weiß, wie die Sachen stehen!“
„Und was ist es heute so Besonderes, das Dich am Tage herbringt?“ fragte Hugo, als habe er die letzten Worte überhört.
„Richtig, beinahe die Hauptsache vergessen! Ich habe einen Brief von meinem Alten, Hugo, der mir von New-York nachgeschickt worden ist, Dich aber eigentlich mehr angeht, als mich selber!
Können wir nicht irgendwo eintreten, um die Sache ungestört in Augenschein zu nehmen?“
Hugo hatte rasch den Kopf gehoben. „Der mich angeht?“ fragte er. „Wir gehen nach meinem Zimmer, dort sind wir völlig allein!“ setzte er eifrig hinzu und faßte in sichtlicher Spannung des Andern Arm, ihn in der angedeuteten Richtung fortführend.
Auf der Treppe in dem Geschäftshause kam ihnen Henderson entgegen, blieb indessen beim Erblicken der Aufsteigenden stehen und hob mit einem muthwilligen Blicke gegen Mangold die Faust; dieser aber zog eine wunderliche Grimasse, welche dem Alten als genügende Antwort zu gelten schien, denn mit einem launig drohenden Gesichtsausdrucke schritt er an dem Tischler vorüber.
„Kennst Du den Mann?“ fragte Hugo, von dem unerwarteten Intermezzo überrascht.
„Natürlich! es ist der prächtigste alte Kerl von der Welt,“ lachte der Befragte, „und das einzig Uebele zwischen uns ist, daß er kein Deutsch kennt und ich kein Englisch verstehe; so müssen wir uns also helfen, so gut es gehen will!“
„Aber wo seid ihr zu dieser genauen Bekanntschaft gekommen?“ examinirte der Erstere, sein Zimmer öffnend.
„Wo? nun bei Graham’s; Du weißt ja doch – nein, bei Gott, Du weißt ja noch nichts!“ unterbrach sich der Sprechende, „und das war’s ja zum großen Theil, weshalb ich Dich so gern einmal getroffen hätte. Hast oft Recht gehabt, Hugo, ich bin ein Esel! Indessen ist die Hauptsache jetzt geschwind genug gesagt. Kannst Du Dich noch auf das Thüringer Mädchen besinnen, das wir am ersten Abende in dem amerikanischen Hotel trafen? Gut! acht Tage darauf kam sie als Köchin zu Graham’s, und ich – nun, es mag sich freilich nicht schön ausgenommen haben, daß ein Mitglied der Untersuchungspartei heimlich in das Haus des Comptrollers schleicht; aber was thut die Liebe nicht! Nun, dort war es also, wo ich meist den alten Henderson traf, der mit dem braunen Kammermädchen so vertraut that, daß ich bisweilen dachte, der alte Bursche habe auch noch Heirathsgedanken. Uebrigens waren es sonderbare Dinge, die ich dort erfuhr –“
„Laß uns den Brief nicht vergessen!“ unterbrach ihn Hugo, der seinen Hut abgelegt und nur zerstreut auf die letzten Worte gehört hatte, „nimm Platz und brenne Dir eine Cigarre an!“
„Richtig, den Brief; erinnere mich aber dann noch einmal an das, was ich sagen wollte; es betrifft Deine Prinzessin.“
„Mrs. Graham?“
„Genau so – aber lies zuerst!“
Hugo entfaltete das ihm übergebene Papier, während der Tischler nach den bereit liegenden Cigarren griff und sich mit einem bewundernden Blicke durch das Zimmer in das Polster des Sophas sinken ließ. Das Schreiben lautete:
Wenn Du gesund bist und es Dir wohl geht in dem neuen Lande, so soll es mir lieb sein; Du hast Deinen freien Willen, also will ich über Dein Fortgehen nur sagen, daß ich mich über Deinen Brief gefreut habe, der mir wenigstens zeigt, daß Du noch an Deinen alten Vater denkst. Ich hätte Dir nun wohl nicht viel mitzutheilen und deshalb auch nicht sogleich geschrieben, wenn der Herr Geheimerath nicht wünschte, daß Du Dich für ihn über eine Sache erkundigen möchtest, an der ihm viel liegt. Es sind nämlich seit einiger Zeit amerikanische Geldpapiere hierher gekommen, die sehr gut sein sollen – ich selber verstehe nichts davon – und der Herr Geheimerath hat für mehrere tausend Thaler davon gekauft. Nun sollst Du zu einem rechtschaffenen Advocaten dort gehen und Dich erkundigen, ob sich bei solchen Papieren auf pünktliche Zinsenzahlung rechnen ließe, oder was man am kürzesten thue, wenn diese einmal ausbleiben sollte. Auf dem beiliegenden Zettel hat der Herr Geheimerath selbst eine genaue Beschreibung der Papiere gemacht.
Nun wirst Du nicht übel nehmen, lieber Heinrich, wenn ich meine, es könnte noch bessere Personen für einen solchen Auftrag geben, als Du bist; ich denke dabei an den Herrn Referendar, von dem aber hier im Hause durchaus nicht gesprochen werden darf; und ich halte es für das Beste, Du übergiebst ihm die ganze Sache. Ich weiß ja doch, daß es die größte Sünde wäre, an seiner Liebe für den alten Herrn zu zweifeln. Was er dann über die Papiere sagt, das schreibst Du mir.“
Hugo las nicht weiter und zog mit einer plötzlichen Ahnung das eingelegte Blatt hervor. Die Schriftzüge seines Vaters blickten ihm entgegen, und die ganze schmerzliche Liebe zu dem starren Manne sammt der Bitterkeit, mit welcher er das Elternhaus verlassen, wurden einen Augenblick wieder in ihm lebendig; in den nächsten Secunden indessen hatte er schon den Inhalt durchflogen und sah mit einer an Schrecken grenzenden Empfindung seine halbe Vermuthung bestätigt – es waren die von Winter in den Handel gebrachten und jedenfalls während seiner europäischen Reise verkauften Stadt-Obligationen, in welchen der Geheimerath sein Geld angelegt. Starren Auges durchblickte der junge Mann das Verzeichnis der Nummern, welches der alte Beamte in seiner gewöhnlichen Genauigkeit hinzugefügt – und die Beweise für die Art, in welcher die Stadt von ihren Finanzbeamten betrogen worden, für dieselbe Art, welche Marquart, der deutsche Wirth, bezeichnet hatte, lagen vor ihm. Er sah einzelne Nummern, von denen er genau wußte, daß er sie selbst erst vor drei Wochen in das Copirbuch eingetragen, während er die damit bezeichneten Obligationen nach Europa expedirt hatte; bei andern war er nicht so völlig sicher; aber schon ein einziger Fall hätte ja zu seiner Ueberzeugung ausgereicht. Sein erster Gedanke war die Gefahr, in welche sein Vater bei der nothwendigen Entwerthung der Papiere durch die jetzige Untersuchung gerathen mußte. Sein zweiter sagte ihm, daß es nach dieser Entdeckung nur der einfachen Feststellung bedürfe, wie weit Winter bei dem Verkauf der früheren Papiere betheiligt gewesen, um diesen mit Graham an ein und denselben Strick zu liefern. Sein dritter rief ihm die Nothwendigkeit in’s Bewußtsein, die Sachlage gegen Winter zu benutzen, um diesen zu zwingen, seinen Vater vor dem drohenden Verluste zu schützen; damit aber mußte auch selbstverständlich sein nächster Schritt in die Office sein letzter auf diesem Boden sein, wenn er sich nicht zu Winter’s wissentlichem Mitschuldigen machen wollte. Er hätte, streng genommen, dem Untersuchungs-Committee seine jetzige Erfahrung mittheilen sollen; aber Angeber mochte er nicht werden und der Angeber von Jessy’s Vater am wenigsten.
Unwillkürlich hatte er, während der Tischler ihn still beobachtete, einen raschen Gang durch die Stube begonnen. Heute Nachmittag wäre es vergebliche Mühe gewesen, Winter aufzusuchen, und so mußte das Nöthige bis morgen früh, bis zu des Principals erstem Besuche in der Office, aufgeschoben bleiben – dann aber konnte es weder ein Hinderniß noch eine fernere Zögerung für Hugo’s Handeln geben, er wußte jetzt ein Wort, das den Mann zum ruhigen Standhalten bringen würde. Den Nachmittag wollte er benutzen, um Carry ein freundliches Abschiedswort zu sagen – erfuhr Winter dadurch vorzeitig seinen Entschluß, so bedurfte es morgen keiner großen Einleitung. Mitten in diese Vorstellungen aber trat der Gedanke an Jessy, und er konnte einem bittern Schmerze, der ihn bei dem Gedanken an sein Scheiden auf Nimmerwiedersehen, an das kalte Ende seiner unglücklichen Leidenschaft überkam, nicht wehren. Fast war es ihm wie ein Trost, daß er, nur auf seine Kraft gestützt und ohne von ihren „Freundschafts“- Anerbietungen Gebrauch zu machen, die Stadt verlassen würde, wenn er auch noch nicht einmal wußte, nach welcher Himmelsgegend er sich wenden sollte.
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Künstliche Fischzucht.
Von der Menge der Touristen, welche alljährlich Basel besuchen, wissen wohl die wenigsten, daß ganz in der Nähe dieser Stadt, in dem elsässischen Dorfe Hüningen, sich ein Etablissement befindet, in welchem ein ebenso eigenthümlicher, wie in commercieller Beziehung wichtiger Industriezweig gepflegt wird – künstliche Fischzucht. Die Anstalt ist in hohem Grade sehenswerth, obgleich sie in keinem der populären Reisehandbücher genannt ist, welche sich in der Regel mehr mit der Beschreibung der Naturschönheiten und Aufzählung der architektonischen Merkwürdigkeiten, als mit dem industriellen Charakter der Stadt und Gegend beschäftigen.
Die künstliche Fischzucht, welche jetzt über einen großen Theil des Continents verbreitet ist, ging ursprünglich von dem französischen Dorfe La Bresse und zwar von einem einfachen Fischer Namens Joseph Remy aus, welcher, durch die alljährlich bemerkliche Abnahme von Flußfischen aufmerksam gemacht, der Ursache dieser Erscheinung nachzugehen beschloß. Durch unermüdliche, jahrelange Beobachtungen gelang es ihm, festzustellen, daß die auffallende Verminderung der Fische ihren nächsten Grund in der massenhaften Vernichtung fand, der die Fischeier sowohl durch ihre schutzlose Lage im offenen Strome, wie durch ihre natürlichen Feinde, die Raubfische, ausgesetzt waren.
Remy’s erster Gedanke war, den Laich zu sammeln und ihn in Kästen, welche im Flusse aufgestellt werden sollten, gegen diese Zerstörung zu schützen, und diese Idee, welche der jetzt in Frankreich im großartigsten Maßstabe betriebenen Fischzucht zur Grundlage dient, wurde schnell vervollkommnet und verbessert, als Erfahrung, Wissenschaft und bedeutende Geldmittel dem armen Fischer zu Hülfe kamen.
Die Idee, Fische auf künstliche Weise zu züchten, ist übrigens durchaus keine neue. In China sammelt man schon lange den Fischlaich, bringt ihn in Brutkästen zur Entwickelung und transportirt ihn weite Strecken von einem Teiche und Flusse zum andern – und die alten Römer, welche in Künsten, die die Genüsse der Tafel erhöhen konnten, eine unbestrittene Meisterschaft erreicht hatten, waren auch die geschicktesten und raffinirtesten Fischzüchter. Es gelang ihnen, wie uns berichtet wird, einige Süßwasserfische in Seewasser zu übersiedeln, und umgekehrt Seefische in Flüssen und Teichen zu züchten; einige Arten gewöhnten sie sogar daran, in Wein zu leben, eine Grausamkeit, die auf das Wachsthum und den Geschmack der Thiere von großem Einfluß gewesen sein soll.
Auch in Deutschland wurde die künstliche Fischzucht bereits vor länger als einem Jahrhundert mit Erfolg versucht. Ein gewisser Jacobi publizirte damals über diesen Gegenstand in deutscher Sprache eine Schrift, die in’s Lateinische übersetzt und von Duhamel du Monecau in einer Abhandlung über Fische im Allgemeinen aufgenommen wurde. Wenn Frankreich also die Ehre der Erfindung für sich in Anspruch nimmt, so ist das falsch. Auch in Schottland wurden früher als in Frankreich bereits Beobachtungen über die Entwickelung und die Lebensbedingungen der Fische angestellt. Mr. Shaw machte schon im Jahre 1833 Versuche mit Lachseiern und veröffentlichte im Jahre 1840 die Resultate seiner fünfjährigen Beobachtungen. Joseph Remy trat erst im Jahre 1842 mit seiner Entdeckung hervor, und so wenig wir dem armen Fischer die Früchte seiner schlaflosen Nächte streitig machen möchten, so können wir den Franzosen nur das allerdings große Verdienst zugestehen, die künstliche Fischzucht praktisch und im weitesten Umfange nutzbar gemacht zu haben. Der Preis der ersten wissenschaftlichen Untersuchungen gehört unstreitig den hartköpfigen Söhnen Alt-Schottlands.
Vor der Einführung der künstlichen Fischzucht war die Flußfischerei in Frankreich vollständig ruinirt. Der Ertrag derselben war nach officiellen Berichten in jener Periode „nicht größer, als der des Lachsfanges in einem schottischen Flusse.“ Der Fisch ist für ein römisch-katholisches Land von großer Wichtigkeit; man stellt ihm dort mehr nach, als irgend wo anders, und dieser Umstand in Verbindung mit den unglaublichen Verlusten an Eiern und jungen Fischen verursachte in Frankreich nur um so schnellere Entvölkerung der Flüsse.
Der Fischer von La Bresse hatte den Hauptgrund des Uebels entdeckt. Sein Gewerbe ging zu Grunde, wenn es nicht gelang, dem Verkommen des Laichs und der jungen Fischbrut Einhalt zu thun. Damit war indessen nur der erste Schritt geschehen. Das Einsammeln des Rogens erwies sich als ungemein mühselig - war es nicht besser, die Fische in der Laichzeit einzufangen und die Eier dann in sicherem Schutze zu behalten, bis die junge Brut groß und stark genug war, sich selbst zu nähren und zu erhalten? Unterstützt durch den Coadjutor Gehin brachte Remy diesen Plan im Kleinen zur Ausführung, und der Gewinn an Fischen, welchen man erzielte, übertraf alle Erwartungen.
Dabei hatte die Sache indessen nicht ihr Bewenden. Man begriff in Frankreich, daß man eine so werthvolle Entdeckung nicht fallen lassen durfte. Das Gouvernement nahm die Sache in die Hand, gründete zu Versailles und Malmaison Brütanstalten und beauftragte Gehin und Remy mit der praktischen Leitung derselben. Ein Strom, ein Fluß nach dem andern wurde systematisch mit Millionen von jungen Fischen bevölkert. Um diese Unternehmungen, die sich nach und nach über alle Theile des Landes verbreiteten, zu erleichtern, gründete man zu Hüningen eine Central-Brütanstalt im großartigsten Maßstabe, und von hier aus werden jetzt Millionen von Fischeiern jeder bekannten Art nicht nur nach allen französischen Gewässern, sondern auch nach Deutschland und England verschickt. In Hüningen selbst werden nur wenige Eier bis zur vollständigen Reife ausgebrütet. Man versendet sie meist kurz vor der Zeit des Auskriechens. In hölzernen Büchsen, zwischen feuchtem Moos verpackt, kann man sie weithin ohne Schaden verschicken. Selbst Eier, welche auf diese Weise zwölf Tagereisen zurücklegten, kamen glücklich an Ort und Stelle an.
Die Anstalt zu Hüningen bezieht übrigens, obgleich stets einige Tausend Fische in den Reservoirs gehalten werden, dennoch den größten Theil ihres Bedarfs an Eiern von außen. Man bezahlt Leute, welche den Laich in den Gewässern der Schweiz sammeln, und auch der Rhein und die Donau werden in Contribution gesetzt. Dieser Handel beschäftigt eine Menge Menschen, denen die Anstalt zwei Francs für das Taufend Eier bezahlt. Leider sind die Eier vieler Süßwasserfische zu klein, um Gegenstand der Pflege in einer Brütanstalt werden zu können, und man muß sie ihrem Schicksale überlassen; dahingegen eignen sich die Eier von Hechten, Karpfen, Schleien etc., welche in der Freiheit ebenfalls zu Millionen zu Grunde gehen, ganz vorzüglich zur Zucht, und der dadurch erzielte Nutzen ist nicht hoch genug anzuschlagen.
Außer dem industriellen Interesse aber, welches das Central-Depot zu Hüningen bietet, gewährt es dem Naturfreund und Gelehrten die seltene Gelegenheit, die Entwicklung der Fischeier bis zum Grade der Reife in den überdachten Brutkästen zu beobachten. Man vermag hier das tägliche, fast unmerkliche Fortschreiten der Brut in allen Stadien genau zu verfolgen. Freilich gehört dazu eine unendliche Geduld. Die Form des Embryo läßt sich z. B. erst am zehnten Tage unterscheiden, und die Circulation des Blutes wird kaum vor dem dreißigsten Tage bemerklich. Unter günstigen Umständen verläßt der junge Fisch das ihn umhüllende Ei am sechzigsten Tage. Die kürzere oder längere Brütezeit hängt indessen, wie überhaupt das Leben des Fisches, hauptsächlich von der Temperatur des Wassers ab. Die Lachseier in der Brütanstalt zu Stormontfield brauchen volle hundert Tage, ja zuweilen vier Monate zu ihrer Entwickelung, doch sind hier die Bassins der freien Luft ausgesetzt; in einer wärmeren Atmosphäre würden sie ungleich weniger Zeit bedürfen. Versuchsweise hat man schon Eier in fünfzig Tagen ausgebrütet, doch gingen die jungen Fische sämmtlich zu Grunde.
In Deutschland hat man bis jetzt die umfänglichsten Versuche mit dem Donaulachse angestellt, einem Fische, der nicht selten in zweihundertpfündigen Exemplaren angetroffen wird. Professor Wimmer, unter dessen Leitung man die verschiedensten Experimente vornahm, erklärt gerade diesen Fisch für den zur künstlichen Zucht geeignetsten. Der Rogen eines achtzehnpfündigen Donaulachses enthält nicht weniger als 40.000 Stück Eier. Das Ausbrüten derselben geschah in einem Zeitraume von 65 Tagen, und die jungen Fische hatten schon nach Verlauf eines Jahres das Gewicht von einem Pfunde erreicht. Das französische Central-Depot zu Hüningen hat sich nach diesen Resultaten beeilt, dem Donaulachse eine besondere Beachtung zu schenken. In München hat man vielfach junge Lachse aus Eiern gezogen, die man aus Hüningen hatte kommen lassen.
[518] Zu den merkwürdigsten Unternehmungen im Bereiche der Fischzucht gehören die neu angelegten Austernbänke an der französischen Seeküste und die Aalzüchtereien in den Lagunen von Comacchio. Die Lagunen von Comacchio liegen an der Küste des adriatischen Meeres, unterhalb der Mündung des Po, in der Provinz Ravenna, und bilden einen ungeheuern Sumpf, welcher durch einen kleinen Streifen Land vom Meere getrennt wird. Zwei Flüsse, der Reno und der Volano, geben dem Sumpflande die Form eines Delta, ähnlich dem der Camargue. Die Aalzucht in den Lagunen ist auf eine sorgfältige Beobachtung der Lebensweise und der Gewohnheiten des Fisches gegründet, welcher zur Laichzeit hinaus in’s Meer zu ziehen pflegt, während die junge Brut im Februar und März die Lagunen-Canäle und Flüsse aufsucht, um hier in der Stille zu wachsen, und sich zu mästen. In Comacchio erleichtert und regelt man dies Gehen und Kommen durch die kunstvolle Anlage einer Reihe von Canälen, Teichen und verschließbaren Schleußen, während man zugleich das Fettwerden der Fische durch reiche und passende Nahrung unterstützt.
Als hauptsächliches Nahrungsmittel dient für die enorme Menge von Aalen, welche in den Lagunen gemästet werden, ein kleiner Fisch, den man Aguadelle nennt. In welchen Massen derselbe verschlungen wird, geht aus der Thatsache hervor, daß auf ein Pfund der jungen Aalbrut beim Eintritt in die Lagunen 1800–2000 Stück gehen, und daß diese Zahl Fische nach Verlauf von einem Jahre gegen vier Tonnen wiegt und einen Werth von 250 bis 300 Thaler repräsentirt.
Auch die Seebarbe wird in Comacchio sorgfältig cultivirt und wächst mit einer Schnelligkeit, von welcher der Leser sich einen Begriff machen kann, wenn er hört, daß von diesem Fische im Stadium der Kindheit 6000 Stück auf das Pfund gehen, während nach Verlauf eines Jahres jeder Fisch bereits 1/4 Pfund wiegt. Nach dem Einzuge der Fische werden die Zugänge zu den Schleußen geschlossen.
Die bei der Fischerei in Comacchio beschäftigten Leute sind nach einer Art militärischer Disciplin organisirt. Sie erhalten, obgleich die Aalzucht der päpstlichen Regierung jährlich enorme Summen einbringt, nur kärglichen Lohn und leben meist von Fischen, die ihnen in gewisser Menge zugetheilt werden. Gelegentlich wird das einförmige Leben dieser in ihren Ansprüchen sehr bescheidnen Menschen durch eine Festlichkeit unterbrochen. Gelingt es z. B. in einer Nacht eine gewisse Menge Fische zu erbeuten, so wird ein Kanonenschuß abgefeuert, welcher das glückliche Ereigniß allen Betheiligten anzeigt, und der nächste Tag wird dann als Festtag gefeiert, bei welchem ein splendides Diner die Hauptrolle spielt. – Auch der Einzug der jungen Fischbrut in die Lagunen wird mit Feierlichkeiten begangen, die sich im Laufe der Saison mehrfach wiederholen, die aber mehr ernster und religiöser Art sind.
Eine ganz eigenthümliche Physiognomie erhält die Scene in den Lagunen von Comacchio aber durch den Umstand, daß der größte Theil der gefangenen Fische fertig zubereitet an Ort und Stelle verkauft wird. Diese Zubereitung geschieht in einer ungeheuern Küche, wo eine ganze Brigade weiblicher Köche die größern Fische und namentlich die Aale am Spieße, die kleinern in der Pfanne bratet. Die Ausdehnung dieses Geschäftes läßt sich aus dem Umstände ermessen, daß die Anlegung eines Canals nöthig war, um das Fett abzuleiten, welches beim Rösten der Aale heruntertropft. Die größern Aale sind, wenn sie in die Küche gebracht werden, soweit zubereitet, daß sie in passenden Stücken an den Spieß gesteckt werden können. Kopf und Schwanz werden für die Armen zurückgelegt. Die kleinern Fische werden gleich in der Küche oberflächlich gereinigt, dann lebendig am Spieße befestigt und gebraten. Die Plattfische röstet man in ungeheuern Pfannen und zwar im Fette der Aale. Ein Theil der in den Lagunen gefangenen Fische wird in gesalznem Zustande durch ganz Italien verschickt. Die Quantität der alljährlich in den Sümpfen von Comacchio gefangenen Fische beträgt nach Abzug der enormen Massen, welche von den dabei beschäftigten Beamten und Arbeitern verzehrt werden, ein bis zwei Millionen Pfund.
Zu den interessantesten Versuchen, die man mit der künstlichen Fischzucht gemacht hat, gehört unstreitig die schon erwähnte Anlage neuer Austernbetten an den französischen Küsten, sowie die neue Besämung alter, gänzlich erschöpfter Bänke. Das ganze System beruht, wie die Züchterei der Süßwasserfische, auf den Beobachtungen Remy’s. Außer in dem schonungslosen Betriebe der Küstenfischerei lag der Grund zu der schnellen Verminderung der Austern hauptsächlich in der Zerstörung vieler Millionen Eier, die wegen Mangel an geschützten Laichstellen ihren Untergang fanden. Es kam demnach vor Allem darauf an, die nöthigen, sichern Brutplätze zu schaffen, und dies geschah auf die einfachste Weise. Man senkte große Massen von alten Ziegeln, zerbrochnen thönernen Gefäßen und dergleichen an geeigneten Stellen in’s Meer, umgab diese Grundlage mit einer Reihe starker Pfähle, durchflocht und füllte diese mit Zweigen, Aesten und Reisigbündeln, zwischen denen Austern und Laich eine geschützte Lage finden konnten, und besämte dann diese neu angelegten Bänke mit einigen Tausenden von Thieren, welche ihre völlige Reife bereits erreicht hatten.
Schon jetzt, nach Verlauf von vier Jahren, liefern die neuen Austernbänke zu Auray im Departement Morbihan (Bretagne) den Beweis für die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens. Man fischte dort während der letzten Saison in einer Stunde 350.000 Austern, und am Abende war die Stadt zur Feier des Ereignisses, dessen Wichtigkeit die meist aus Fischern und Fischhändlern bestehende Bevölkerung vollständig begriff, glänzend erleuchtet.
Das gigantische Aquarium, welches sich im Garten für Acclimatisation im Bois de Boulogne zu Paris befindet, enthält das Modell eines solchen künstlichen Austernbettes.
Die nächste und wichtigste Frage wäre nun, ob die künstliche Fischzucht sich zu einem wirklich einträglichen Unternehmen gestaltet. Die Frage läßt sich ohne Weiteres bejahen. In Stormontfield z. B. stellen sich die täglichen Kosten der sehr umfänglichen Lachszüchterei, nachdem die erste Anlage bestritten ist, sehr gering. Sie beschränken sich fast ausschließlich auf den Gehalt des Mannes, welcher die jungen Fische füttert und pflegt, und das zum Bau der Reservoirs und Canäle verwendete Capital verzinst sich zu zehn Procent. Noch günstiger gestaltet sich die Rentabilität der Austernbänke, deren Kosten sehr gering sind. Als Beispiel nennen wir die Bänke zu St. Brieux in der Bretagne. Nach officiellen Berichten enthielt jedes Reisigbündel, das man kürzlich von einer im Jahre 1850 angelegten Austernbank versuchsweise heraufholte, gegen 20.000 Austern. Wenn jede der damals versenkten 300 Faschinen dieselbe Zahl lieferte, so würde dies 6,000,000 Austern geben, welche, das Tausend nur zu 20 Fr. berechnet, enorme Revenüen gewähren müssen. Die Anlage des Bettes kostete nicht mehr als 250 Fr. Als schlagendsten Beweis für die Zweckmäßigkeit der künstlichen Zucht des Süßwasserfisches, welche die französische Regierung in liberalster und großartigster Weise zur Ausführung bringen läßt, mag die Thatsache gelten, daß gegenwärtig die in den schiffbaren Flüssen, Teichen und Canälen des Kaiserreichs gefangenen Fische einen Werth von über vier Millionen Thaler repräsentiren, während noch vor zwanzig Jahren die ganze Süßwasserfisches nicht mehr eintrug, als der Lachsfang in einem einzigen schottischen Flusse.
Jungmann und der Sieg in Eckernförde.
Im weiteren Verlaufe des Gefechts gerieth zunächst die Fregatte „Gefion“ in eine sehr ungünstige Lage. In Folge der starken Beschädigung, die sie erlitten, hatte ihre Manövrirfähigkeit bedeutend abgenommen, und als sie nun durch den heftigen Wind so gedreht wurde, daß sie nur eine ihrer Breitseiten gebrauchen konnte, vermochte sie sich allein nicht wieder zu helfen. Sie signalisirte daher, um sich in eine bessere Lage bringen zu lassen, einen der Dampfer heran. Von diesen war aber nur „Geyser“ noch
[519] dienstfähig, denn der „Hella“ war gleich zu Anfang des Gefechts
durch einen glücklichen Schuß seines Steuers beraubt worden, so
daß er nicht weiter am Kampfe Theil nehmen konnte. Beiläufig
mag hier gleich eingeschaltet werden, daß auch die Corvette „Galathea“,
nachdem sie zu Anfang einige Schüsse mit der Nordbatterie
gewechselt, den Kampfplatz geräumt hatte, – aus welchem Grunde,
ist nicht recht klar.
„Geyser“ nun dampfte, dem ihm gegebenen Befehle folgend, heran und zog natürlich sofort ein heftiges Feuer vom Strande auf sich. Nichts destoweniger war es schon gelungen, das Bugsirtau an der Fregatte zu befestigen, da unterstützte wiederum ein äußerst glücklicher Zufall die Bemühungen der Schleswig-Holsteiner – eine Kugel zerriß das Tau! Zwar wurde es noch einmal befestigt, aber nun erhielt „Geyser“ selbst so gefährliche Schüsse in seinen Maschinenraum, daß er eiligst das Weite suchen mußte, wollte er nicht selbst vernichtet werden. Nach diesem gescheiterten Versuche, das Kampfverhältniß womöglich wieder zu ihren Gunsten zu gestalten, begannen die beiden Befehlshaber, die Nothwendigkeit des Rückzuges einzusehen. Nicht mehr Sieg über den Gegner, sondern Rettung ihrer eigenen Fahrzeuge war jetzt das Ziel ihrer Thätigkeit geworden.
Da beide Dampfer unfähig waren, Bugsirdienste zu leisten, so ward zunächst mit dem Linienschiff der Versuch gemacht, es durch Warpen dem Ausgange des Hafens zuzubewegen, eine höchst mühselige, nur langsam fördernde Arbeit, die bei dem heftigen Gegenwinde und unter dem feindlichen Geschützfeuer bald als eine vergebliche erkannt und aufgegeben werden mußte. Während dieser Anstrengung hatten übrigens beide Schiffe ihr Feuer aus allen ihnen noch zu Gebote stehenden Kräften fortgesetzt; es war ihnen schon anzumerken, daß es die Wuth der Verzweiflung war, mit der sie kämpften. Und auch das war vergeblich. Es dauerte nicht lange, so erklärte Capitän Mayer, der Befehlshaber der „Gefion“, seinem Vorgesetzten, dem Chef des Linienschiffs, daß es ihm wegen der in seinem Segel- und Tauwerk angerichteten Verwüstungen und wegen der zahlreichen Todten und Verwundeten an seinem Bord unmöglich sei, sowohl unter Segel zu gehen, als auch den Kampf fortzusetzen.
Da stieg auf beiden Schiffen die weiße Waffenstillstandsflagge in die Höhe; der Kampf, der nun volle sieben Stunden getost hatte – es war bereits 1 Uhr geworden – schwieg, und Unterhandlungen begannen. Ein Boot brachte einen Parlamentair an’s Land, der folgenden an die „Militär- und Civilbehörden der Stadt Eckernförde“ gerichteten Brief zu übergeben hatte:
„Der Unterzeichnete schlägt eine Einstellung der Feindseligkeiten unter der Bedingung vor, daß die Schiffe frei auspassiren, ohne daß von den Batterien auf sie geschossen wird. Wird dieser Vorschlag nicht angenommen, so wird Eckernförde in Brand geschossen, und die Folgen werden Sie zu verantworten haben.
Welche Antwort militärischer Seits auf diese Mittheilung erfolgen mußte, war nicht zweifelhaft; führte doch Jungmann in dem Kriegsrathe, der darüber zu beschließen hatte, die entscheidende Stimme. Er aber war, koste es, was es wolle, für Fortsetzung des Kampfes bis zur Vernichtung der feindlichen Schiffe, deren bedenkliche Lage übrigens aus dem Waffenstillstandsgesuche ihres Befehlshabers deutlich genug hervorging. Die übrigen Militärs stimmten Jungmann bei. Aber der feindlichen Drohung nach stand das Schicksal einer unbewehrten, von friedlichen Bürgern bewohnten Stadt auf dem Spiele, zu deren Vernichtung der Feind noch Mittel genug besaß, und daß er in seiner Verzweiflung und Erbitterung sie anwenden würde, daran konnte kein Zweifel sein. So hing denn die Sache von der Entscheidung der Bürgerschaft von Eckernförde ab. Sie aber bewies sich des großen Augenblicks, in dessen Mitte plötzlich das Schicksal sie gestellt hatte, vollkommen würdig. Hoher Ruhm blüht den braven deutschen Männern, die, wo des Vaterlandes Heil und Ehre mahnten, den Gedanken an ihre sonst theuersten Güter, an Weib und Kind, an Habe und Haus, in den Hintergrund treten ließen. Einstimmig sprachen sie sich dafür aus, daß der Kampf ohne Rücksicht auf das Schicksal der Stadt fortgesetzt werden möge. So erging denn an den feindlichen Befehlshaber die nachstehende Antwort:
„Wir sehen uns nicht veranlaßt, Ihre Schiffe zu schonen. Sollten Sie Ihre Drohung, eine offene Stadt zu beschießen, verwirklichen, so würde ein solcher Vandalismus der Fluch Dänemarks werden, dessen Repräsentant Sie hier sind.
Noch einmal versuchte Paludan den Weg der Unterhandlungen. Er sandte einen zweiten Parlamentär ab, aber diesem ward vom Volke das Betreten des Landes verwehrt und er gezwungen, unverrichteter Sache wieder zurückzukehren. Bald darauf sandte Jungmann ein zweites von ihm und dem Hauptmann Irminger, dem Chef des 3. Reserve-Bataillons, unterzeichnetes Schreiben an Bord des Linienschiffs. Es lautete kurz und bündig:
„Da eine längere Verzögerung des Wiederbeginns der Feindseligkeiten nicht in unserem Interesse liegt, so werden sie von unserer Seite nach zehn Minuten wieder beginnen.
Die durch die Unterhandlungen veranlaßte Waffenruhe hatte etwa drei Stunden gedauert. Von beiden Seiten war diese Zeit bestens benutzt worden. In den Batterien hatte man die zerschossenen Brustwehren leidlich wieder hergestellt und die demontirten Geschütze wieder brauchbar zu machen gesucht. Aber dies war nur mit der Hälfte der ursprünglichen Anzahl zu erreichen gewesen; zwei von ihnen wirkten in der Nordbatterie, drei in der andern Schanze. Da Capitän Paludan inzwischen zu der Ueberzeugung gekommen war, daß die „Gefion“ nicht mehr zu retten sei, beschloß er, mit ihrer Zurücklassung, den Versuch zu machen, ob es seinem Schiffe allein gelingen möchte, aus dem Hafen hinauszulaviren.
„Christian VIII.“ entfaltete denn alle ihm noch gebliebenen Segel, und langsam setzte sich unter ihrem Drucke der gewaltige Bau in Bewegung. Da aber waren die bewilligten letzten zehn Minuten der Waffenruhe zu Ende, und die Nordbatterie eröffnete von Neuem ihr Feuer, das die Südbatterie gleich darauf mit dem ihrigen unterstützte. Jetzt kamen auch die inzwischen zur Seite der Südbatterie aufgefahrenen übrigen sechs Geschütze der Nassauer zur vollsten, herrlichsten Wirksamkeit. Sie feuerten mit Granaten in die Takelage „Christian’s VIII.“ und zerfetzten sie dergestalt, daß bald kein Segel, ja fast kein Tau mehr unverletzt war. Zwar eröffnete das Schiff nunmehr mit seinen Spiegelkanonen das angedrohte Bombardement der Stadt, während es seine Breitseiten gegen Norder- und Süderschanze richtete, aber seine Furchtbarkeit war nur noch von kurzer Dauer.
Von den Fetzen seiner Segel konnte es nicht mehr vorwärts bewegt werden; völlig hülflos trieb daher der riesige Bau vor dem starken Ostwinde den Kanonen der Südbatterie näher und näher, bis er plötzlich in nur halber Schußweite von ihr auf den Grund gerieth. Nieder auf das Verdeck des Schiffes hagelten jetzt die Kartätschen der Strandbatterie, die Granaten der Nassauer, jeden Versuch der Mannschaft, das Schiff wieder flott zu machen, vereitelnd. Es war rettungslos verloren. Wenn „Christian VIII.“ auch jetzt noch fortfuhr, seine Geschütze gegen die Stadt spielen zu lassen, so glich das nur den letzten Zuckungen der Wuth und Rachsucht eines verendenden Ungeheuers. Uebrigens begleitete derselbe Mißerfolg, der alle Anstrengungen der Dänen an diesem Tage vereitelt hatte, auch diese Beschießung. Das Bombardement tödtete nur zwei Einwohner von Eckernförde und richtete auch an Dächern und Mauerwerk nur geringen Schaden an.
Verlassen wir mit unsern Blicken einen Augenblick das feindliche Linienschiff, dessen Schicksal so gut wie entschieden ist, und wenden wir sie zur „Gefion“. Dieses Schiff hatte nach Ablauf der Waffenruhe das Feuer nur mit geringer Energie wieder eröffnen können; allmählich wurde es schwächer und schwächer und verstummte endlich ganz. Und siehe da! Um halb sechs Uhr Abends senkte sich von der Spitze der Gaffel, an der er bis dahin stolz und herausfordernd geflattert hatte, der Danebrog herab, erst langsam, wie unwillig in die Demüthigung niedersteigend, dann pfeilschnell. Das Schiff hatte die Flagge gestrichen; Dänemarks schöne „Gefion“ war besiegt und hatte jetzt einen andern Herrn! Eine halbe Stunde später, nachdem ein von Capitän Paludan abgehaltener Kriegsrath einstimmig die Rettung des Schiffes für unmöglich, die weitere Fortsetzung des Kampfes für nutzlos erklärt hatte, folgte das Linienschiff dem Beispiel der Fregatte, – auch seine Flagge senkte sich herab.
[520] Was war nun aus der drohenden, noch am Morgen dieses Tages so stolzen und siegesgewissen Flottille des Feindes geworden? Drei von ihren fünf Fahrzeugen waren mit leichter Mühe in die Flucht geschlagen worden, und die beiden größten, bisher der Stolz und der Schmuck der ganzen dänischen Marine, lagen, fast bis zur Vernichtung zerschossen, als die Siegesbeute eines tiefverhaßten Feindes da! Ein Jubelruf, wie er wohl noch nie an diesen Ufern erschollen war, hallte entlang des Strandes, sich immer erneuernd, um das ungeahnte glorreiche Ergebniß des Kampfes zu begrüßen. Besonders stürmisch war natürlich der Jubel in den Batterien, die einen solchen Sieg erkämpft hatten, wo Untergebene und Vorgesetzte durch das Band einer gemeinsam vollbrachten Waffenthat von großer, unvergeßlicher Bedeutung einander genähert, ja verbrüdert waren. Leider sollte das Entzücken über den Sieg, die Siegestrunkenheit, noch einem der tapfern Befehlshaber, lange nachdem der Kampf beendet war, den Untergang bringen!
Es galt, sich der Gefangenen an Bord beider Schiffe zu versichern, den Verwundeten Hülfe zu leisten, die Schiffe selbst förmlich in Besitz zu nehmen. Zu diesem Behufe begab sich der Befehlshaber der Südschanze, Unterofficier Preußer, obwohl dies seines Amtes durchaus nicht war, selbst an Bord des Linienschiffs.
Man meint, er habe noch immer an die Möglichkeit des Entrinnens der feindlichen Fahrzeuge geglaubt und daher die Ausschiffung der Officiere und Mannschaften durch seine persönliche Leitung, so viel irgend möglich, beschleunigen wollen. Er zwang also Paludan und die übrigen Officiere, trotz ihrer Vorstellung, daß das Schiff brenne und daß es ihre Pflicht sei, die Löschung des Brandes zu leiten, an’s Land zu gehen, während er selbst es übernahm, die nöthigen Anordnungen zu geben. Die Beförderung der Besatzung an’s Ufer war keine geringe Arbeit, denn noch befanden sich über 600 Personen an Bord des Schiffes; Stunden waren schon verstrichen, da – es war gegen halb neun Uhr des Abends – ergriff das im Innern „Christian’s VIII.“ wüthende Element die Pulverkammer, und mit einem Krachen, vor dem Land und Meer weithin erbebten, flog in einer himmelhohen Feuergarbe das ganze Innere des riesigen Baues in die Luft. Hierbei fand mit den letzten der gefangenen Dänen, die noch nicht hatten geborgen werden können, der brave Preußer seinen Tod.
Das furchtbar-prächtige Schauspiel hatte das Wogen und Treiben der Menschenmassen am Strande auf einen Augenblick unterbrochen, aber, von Neuem begonnen, dauerte es noch stundenlang fort. Wie geräuschvoll es aber auch sein mochte, es erschien nach dem letzten entsetzlichen Gekrach, das die Ohren erfüllt hatte, doch wie Stille. Endlich trat die Nacht in ihr volles Recht ein, und Sieger und Besiegte fanden unter ihrem Schleier Erquickung und Vergessen, die Einen ihres Ruhms, die Andern ihrer Schmach.
Die Sonne des folgenden Tages, des Charfreitags, ging über eine Scene auf, wie sie anziehender und grausiger zugleich nicht wohl sein kann. Noch lagerte auf den Feldern rund um die Stadt der Pulverdampf in dichten, schweren Wolken; die Felder in der Nähe der Schanzen sahen wie frischgepflügt aus, so dicht an einander hatten die Kugeln ihre langen Furchen über sie hingezogen; zahllose angebrannte Holzstücke, zum Theil noch glimmend, ja selbst ganz unversehrte Gegenstände waren durch die Explosion weit umher gesät; vollends am Strande lag ein wahres Chaos der verschiedenartigsten Gegenstände, das die heranrauschenden Wellen noch stets durch neue Trümmer vermehrten, in deren Mitte, schaurig genug, geschwärzte, zerrissene Leichen in nicht geringer Zahl zum Vorschein kamen.
Auf dem Grunde des Meeres aber, kaum einige hundert Schritte von der Südbatterie entfernt, lag, bei der Klarheit und geringen Tiefe des Wassers bis in’s Kleinste deutlich zu sehen, der Rumpf „Christian’s VIII.“, vielfach durch die Gewalt des Pulvers zerrissen und auseinander gesprengt. Gänzlich unversehrt jedoch, in seiner noch frischen Vergoldung, leuchtete durch die Fluth herauf das riesige Brustbild des Königs, dessen Namen das Schiff geführt, und das an seinem Bug geprangt hatte. Eigenthümliche Gedanken mußten Einem bei seinem Anblicke kommen. War es doch König Christian VIII. gewesen, der durch seinen berüchtigten „offenen Brief“ den in seinen Landen still glimmenden Zwist zwischen Deutschthum und Dänenthum zur hellen Flamme angefacht hatte, die bald den dreijährigen blutigen Krieg entzündete, der bei seiner Resultatlosigkeit doch nur als ein Vorspiel späterer Kämpfe angesehen werden kann! Das Meer mußte das Bild wieder herausgeben, und es bildet jetzt neben der versenkt gewesenen und wieder an’s Land gespülten Flagge des untergegangenen Schiffes, den Säbeln der kriegsgefangenen Officiere und andern dänischen Waffen eine Trophäe auf der Veste Coburg.
Die werthvollste Beute aber, die deutschen Händen verblieb, war „Gesion“, die am Morgen jenes Charfreitags, mit der deutschen Tricolore geschmückt, hart am Bollwerke des Eckernförder Hafens lag, ein Gegenstand der Freude und der Bewunderung für die Tausende, die von nah und fern auf die Kunde von dem großen Ereignisse herbeigeeilt waren. Zwar war das Schiff von unzähligen Kugeln durchlöchert, aber es konnte doch zu vollster Seetüchtigkeit wieder hergestellt werden. Bekanntlich kam es bei der traurigen Auflösung der deutschen Reichsflotte, der es, als in einem Reichskriege erobert, zunächst einverleibt worden war, durch Kauf an Preußen, und ist noch jetzt das größte Segelschiff der preußischen Marine.
Der glänzende Sieg der deutschen Waffen war mit einem verhältnißmäßig ungemein geringen Verlust an Mannschaft errungen worden. Von den sämmtlichen im Feuer gewesenen Truppen hatten die Artillerie der beiden Schanzen, das dritte schleswig-holsteinische Reserve-Bataillon und das Bataillon Reuß zusammen nur 4 Todte und 14 Verwundete; bei der nassauischen Artillerie war nicht ein Einziger verletzt, nur 2 Pferde waren erschossen. Beträchtlich war dagegen der Verlust an Menschenleben, den die dänische Flottille zu beklagen hatte. „Christian VIII.“ hatte 90 Todte, darunter 6 Officiere, „Gesion“ 40 Todte und „Geyser“ einen, die drei Schiffe zusammen also 131 Todte. An Bord der drei Schiffe zusammen gab es ferner 80 Verwundete, von denen ein nicht geringer Theil bald nachher im Lazareth verstarb. Unverwundet gefangen genommen wurden 943 Mann, darunter 39 Officiere. Der Gesammtverlust der Dänen in dem Kampfe vor Eckernförde an Todten, Verwundeten und Gefangenen erreichte also die Höhe von 1154 Mann.
Die Statthalterschaft der Herzogthümer machte am 6. April das große Ereigniß des vorigen Tages dem Lande durch eine Proklamation, General Bonin dem Heere durch einen Armeebefehl bekannt; in den folgenden Tagen wurden die militärischen Belohnungen für die Hervorragendsten unter den vielen Tapfern verkündigt. Hauptmann Jungmann ward „für sein ausgezeichnetes Benehmen in dem ruhmwürdigen Gefechte“ zum Major befördert, Feldwebel Clairmond, der den Lieutenantsrang bescheiden abgelehnt hatte, ward Oberfeuerwerker, mehrere Bombardiere avancirten zu Unterofficieren und Kanoniere zu Bombardieren. Um das Andenken des gebliebenen Unteroffiziers Preußer zu erhalten und zu feiern, ward verfügt, daß er in den Officier-Ranglisten der Artillerie-Brigade als Lieutenant verzeichnet und auf ewige Zeiten fortgeführt werde. Auf ewige Zeiten? Ja, wenn Preußen und Oesterreich nicht mit rücksichtsloser Hand das schöne Werk, die schleswig-holsteinische Armee zerbröckelt und zerstreut hätten!
An eine andere Belohnung, wie sie dem Helden des Tages, Jungmann, wohl gebührt hätte, an eine Art Nationaldank, dachte man damals nicht, oder man hielt sie für unnöthig, da ja dem Eroberer zweier großer werthvoller Schiffe ein reicher Ertrag an den üblichen Prisengeldern zu Theil werden mußte. Getäuschte Erwartung! Das deutsche Reich von damals und diejenigen, die später seine Erbschaft antraten, sind diese Schuld bis auf den heutigen Tag den Siegern von Eckernförde und ihren Wittwen und Waisen schuldig geblieben.
Die Kunde von dem Siege am ersten April erregte von einem Ende Deutschlands zum andern Freude und Zuversicht. Blieb doch diese Siegesbotschaft nicht die einzige, die im April, dem wahren Wonnemond der schleswig-holsteinischen Sache, aus den deutschen Nordmarken einlief! Am 13. folgte die Erstürmung der Düppler Schanzen, am 23. der Sieg Bonin’s bei Kolding. Nie hat der Stern Schleswig-Holsteins Heller gestrahlt, als in jener Zeit. Und doch mußte ihn so tiefe Wolkennacht bedecken! Will sie denn noch immer nicht weichen? Können wir denn noch immer nichts Andres thun, als einem entschlafenen Helden jener Zeit ein Denkmal errichten und es mit den Blumen der Erinnerung bekränzen? Von Frühling zu Frühling harren wir – wann endlich kommt der, der uns wieder an die Feuerröhre Jungmann’s stellt und uns die Bajonnete von Kolding in die Hand drückt?
[521]
Das erste deutsche Bundesschießen in Frankfurt a. M.
Das erste Banket - Der Herzog – Der Tyroler und sein Himmel – Die politische Bedeutung des Festes – Die Thätigkeit in der Schießhütte -
Schon während des Verlaufs des anderthalbwöchigen Festes,
dessen Dimensionen sich von Tag zu Tag vergrößerten, sind wir
von der ursprünglichen Absicht, jeden einzelnen Festtag für sich zu
beschreiben, zurückgekommen, indem wir bald einsahen, daß eine
solche Festbeschreibung die uns gesteckten Grenzen überschreiten
würde. Wir haben daher absichtlich das ganze Fest bis zu seinem
letzten officiellen Act, dem Schluß der Festhalle und der Übertragung
der Fahnen in den „Kaisersaal“, an uns vorüber gehen
lassen, um die vielen einzelnen Bilder, die während der letztvergangenen
Woche unser Auge entzückt, unser Herz und unseren
Kopf fast ausschließlich beschäftigt haben, wieder in ein gemeinsames
Gemälde zusammenzudrängen und für dieses Bild einen
passenden Rahmen zu finden. Denn so verführerisch es ist, so
recht „mitten aus der Stimmung heraus“ Festberichte zu schreiben,
so bedenklich ist dies in dem Falle, wo wir voraus wissen, daß sie
nicht an demselben Tage gedruckt und gelesen werden. Dann thun
wir besser daran, wir lassen die hochgehende Fluth der Feststimmung,
die uns umbrauste und den festen Halt unmöglich zu machen
drohte, verlaufen und warten die Ebbe der Entnüchterung ab. Wir
sind dann objectiver und zuverlässiger geworden, und durch die Meinung
Anderer, die unterdeß laut geworden ist, hat sich das eigene
Urtheil geklärt. So gern wir nun in dem Folgenden den Geist, dem
das Fest seinen Körper verdankte, möglichst getreu wiedergeben möchten,
so gerne verzichten wir auf eine diplomatisch genaue Darstellung
aller Einzelnheiten und können dies mit um so ruhigerem
Gewissen, als angenommen werden darf, daß den meisten Lesern
der Gartenlaube die hierher gehörigen Thatsachen schon bekannt
sind. Wir geben daher den äußeren Verlauf des Festes mehr in
allgemeinen Zügen und verweilen nur bei den Momenten und
Stellen, welche charakteristisch für das Ganze oder als vereinzelte
Episoden weniger bekannt sind.
Als ein solcher Lichtpunkt des Ganzen ist gewiß der erste Sonntag nach dem Empfangstag zu betrachten, als ein Lichtpunkt in mehr denn einer Beziehung. An ihm heiterte sich der bisher trübe Himmel auf, an ihm gingen auch die Herzen so recht auf, an ihm entfaltete sich der größte äußere Glanz des ganzen Festes. Noch in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag strömte eine gewaltige Regenfluth vom Himmel nieder. Es sah merkwürdig unfestlich in der Stadt aus, die eher einem Feldlager als einem Festlager glich. Um zwei Uhr in der Nacht trafen noch die letzten versprengten Ankömmlinge, Schützengäste und Fremde, ein. Wer nicht ein ganz sicheres Quartier hatte – und leider hatten nicht alle Schützen durch rechtzeitige Anmeldungen dafür gesorgt – der fiel lieber, ehe er in Wind und Wetter von Thür zu Thür anklopfen ging, in das erste beste noch offene Wirthslocal ein und wenn er einen Stuhl oder eine Sophaecke erobert hatte, so sank er bald darnach auch dem Schlummergott in die Arme, der ihn mit den übrigen todtmüden Reisenden, die das Gleiche thaten, bis zum anbrechenden Morgen an seiner Scholle gefesselt hielt. Des andern Morgens sollen denn da allerlei komische Scenen vorgefallen sein, als die Schlaftrunkenen sich die Augen rieben, nach ihren Kopfkissen suchten und statt dessen Reisesäcke oder fremde Köpfe fanden und ihrer ganzen eigenthümlichen Situation gewahr wurden. Da waren die noch glücklich zu preisen, die ein improvisirtes Strohlager in irgend einem Gewölbe gefunden hatten. Am folgenden Tage glich sich das Alles aus. Es waren Wohnungen genug da, ja durch den Gemeinsinn der Frankfurter Bürgerschaft deren über Bedarf zur Verfügung gestellt worden. Außerdem waren ja auch große Locale, öffentliche Säle, Schulen und dergleichen zur Massenaufnahme von Schützen hergerichtet worden, so z. B. die Lederhalle, in der allein 350 Schweizer untergebracht waren. So unbehaglich eine solche Art der Einquartierung auf den ersten Augenblick erscheint, so erträglich, ja gemüthlich war sie durch den praktischen und vorsorglichen Sinn, welcher das ganze Fest geleitet hatte, gemacht worden. Werfen wir einmal einen flüchtigen Blick in einen solchen Schützenfest-Schlafsaal. – Die Lederhalle ist ein großer, sehr hoher Raum mit breiten Gallerien an den Seiten und queer durch die Mitte. Rings an den Wänden herum und oben auf den Gallerien standen in einiger Entfernung von einander die Betten, ohne Sprungfedermatratzen zwar, sehr einfach, aber Alles ganz neu und noch nicht vorher gebraucht, Bettstellen wie Bettzeug. Jede Schlafstelle hatte ihre Nummer, welcher eine zweite an einem langen Tisch, ferner an einem Stuhl und ebenso an einer an der Wand hinlaufenden Kleiderhänge entsprach. Aus dem Tische fand der Träger der betreffenden Nummer die zur Waschtoilette gehörigen Gegenstände, wieder Alles ganz neu und frisch, auf der Kleiderhänge einen Doppelhaken für seine Kleider. Der ganze innere Raum war neu angestrichen und mit den Fahnen und Wappen der Schweizercantone ausgeschmückt worden, wie auch die Halle von außen bekränzt, fahnengeschmückt und mit Bildern (u. A. ein großer Carton „Tell’s Apfelschuß“) geziert, so daß das Ganze einen recht freundlichen Eindruck machte. Außerdem waren in den Seitenflügeln Conversations-, Lese- und Schreibzimmer, sowie Krankenzimmer eingerichtet, ein Arzt kam jeden Tag und erkundigte sich nach dem Wohlergehen der Schweizergäste, jeden Morgen um fünf Uhr rückten 25 Mann Soldaten zum Kleiderreinigen und später ein entsprechendes Contingent Mägde zum Bettmachen und Reinigen ein, es waren Tag-, Nacht- und Gaswächter, Hausmeister etc. angestellt – kurz Alles auf’s Beste versehen und eingerichtet, daß die Schweizer, denen dabei ihr eigener, von zu Hause mitgebrachter Organisationssinn zu Statten kam, sich in ihrer idealisirten Caserne äußerst heimisch fühlten und sie aus Dankbarkeit beim Abschied den „Schweizerhof“ tauften, welchen Namen sie behalten hat.
In ähnlicher Weise waren andere Massenlocale eingerichtet, selbst in den benachbarten Ortschaften. Die Werthheimer Schützen hatten es am Praktischsten eingerichtet. Sie hatten nämlich ein Schiff gemiethet, in dem sie nach Frankfurt fuhren und auf dem sie zugleich während des Festes die Nacht verbrachten und des Morgens gemeinschaftlich frühstückten.
Hatte man am Samstag Abend wenig Hoffnung auf das Gelingen des Zuges, so veränderte der Sonntag Morgen die ganze Sachlage. Der Regen hatte aufgehört, und hie und da stahl sich ein Sonnenblick durch die Wolken und gab den Fahnen und Kränzen erst das rechte Relief. Schon früh Morgens füllten sich die Straßen mit einer hin und her wogenden Menge, welche der Dinge, die da kommen sollten, geduldig harrte. Zu allen Thoren strömte die Masse des Landvolks schaarenweise herein, jeder Eisenbahnzug brachte Tausende von Fremden aus Nah und Fern. Allein auf der Offenbacher Bahn wurden an diesem Tage 17,000 Fahrkarten ausgegeben. Mit Mühe drängten sich die Schützen durch den Menschenknäuel nach ihrem Aufstellungsplatz, wo sie theilweise Gegenstand der eingehendsten Neugierde wurden, so besonders die hier zu Lande ganz neuen Erscheinungen der uniformirten norddeutschen Schützengilden, deren gravitätische Abgesandten reich gestickte und mit Fangschnüren, silbernen Epauletten und dergleichen versehene Uniformen, schwere, aus einzelnen Schildchen bestehende Ehrenketten, Generalshüte mit wallenden Federbüschen, gewaltige Schlagsäbel etc. trugen. Diese Gestalten, sowie nicht minder die Tyroler in ihren verschiedenen pittoresken Nationaltrachten, dazwischen durch einzelne costümirte Abtheilungen des Zuges, Musikcorps, Turner, Fahnenträger, Festordner zu Fuß und zu Pferde, dazu die eigenthümliche Physiognomie der Häuser, die aus Fahnen, Blumen und daraus hervorlugenden Köpfen aufgebaut schienen, – das Alles machte das ganze Treiben zu einem so bunten, farbenreichen, ganz von dem gewöhnlichen Lauf der Dinge abweichenden, daß auch die kühlste Phantasie angeregt werden mußte.
Der Festzug, der im Ganzen, wie in allen seinen Einzelheiten, von Herrn Maler Ernst Schalk (dem Zeichner unseres heutigen Bildes) arrangirt und geleitet war, setzte sich um 11 Uhr in Bewegung. Ein Bild der Herrlichkeit, das sich während seines beinahe fünfstündigen Ganges
[522] durch die Straßen der Stadt nach dem Festplatz entfaltete, läßt sich kaum mit Worten malen. Wahrlich war es nicht nur die glänzende Außenseite, das Imposante und Massenhafte desselben, was einen gewaltigen Eindruck auf die hingerissenen Zuschauer machte, sondern vor Allem der in jedem Einzelnen zu vollem Leben erwachte Gedanke, daß hier eine große und zu großen Zwecken berufene Nation unter einem weithin leuchtenden Banner in Einigkeit und Liebe zu gemeinsamem Thun und endlich vergessend des kleinlichen Haders, der die Zusammengehörigen so lange getrennt, sich zusammengeschaart habe, um den heiligen Schwur der Treue an das gemeinsame Vaterland abzulegen. Diesem Gedanken galt der unendliche Jubel, der von den Straßen und aus den Häusern dem Zuge entgegenbrauste, dieser Gedanke hatte die sonst sehr zurückhaltende und nach Ständen gegliederte Frankfurter Bevölkerung in eine enthusiasmirte, jauchzende Gemeinschaft umgewandelt. Jeder fühlte, daß es sich hier nicht um einen gewöhnlichen festlichen Aufzug, sondern um einen Triumphzug deutschen Geistes, deutscher Kraft und deutscher Würde handle.
Diesem Gedanken entsprach auch die äußere Form des Zuges. Sie war würdig, sinnig und – dem deutschen Wesen entsprechend – die strenge Wirklichkeit mit der Kunst und der heitern Poesie verwebend, das Reelle mit dem Ideellen versöhnend.
Es lag seinem decorativen Theil die Idee zu Grunde, in ganz allgemeinen Zügen eine Entwicklungsgeschichte der Waffen zu geben. Demgemäß kamen nach seiner Eröffnung durch elegante Frackreiter Turner von allen Altersstufen, berittene Musiker in Schützentracht, fünf Gruppen der verschiedenen Bewaffnungsarten von den alten Germanen mit Bärenfell und Lanze bis zu den modernen Turnerschützen, dazwischen Bogenschützen aus dem 11. Jahrhundert in blauweißen Wämmsern, bauschigen kurzen Hosen und enganliegenden Strümpfen, dann in Grau und Roth gekleidete Armbrustschützen aus dem 13. Jahrhundert, ferner Luntenschützen aus dem 15. Jahrhundert in braun und grünen Röcken und gelben glänzenden Pickelhauben, mit unendlich langen und schweren Feuerrohren, und darauf die Feuerschloßschützen aus dem dreißigjährigen Krieg, eine stattliche Truppe in gelben Röcken mit schwarzen Aufschlägen, in großen Hüten mit wallenden Federbüschen, zuletzt die leichtbewegliche und rüstige Schaar der Turnerschützen. Nachdem verschiedene Zwischengruppen von Reitern mit dem Stadt- und Reichsbanner, Turnern und Sängern vorübergezogen waren, fielen uns zunächst die Sachsenhäuser Jäger auf mit ihrer Fahne, auf der ein ausgestopfter Adler thront, und die ganz in Roth gekleideten Zeiger, welche die zerschossenen Scheiben der aus dem 14. Jahrhundert stammenden Frankfurter Urschützengesellschaft, die sich selbst im Zuge befand, trugen, und dann die ehrwürdigen Gestalten der Freiwilligen aus dem Jahr 1813. Der Darstellung des Kampfes folgte die Symbolisirung des schönen Lohnes durch ein mit Ehrengaben tragenden Jungfrauen umgebenes Riesenbouquet. Diese Gruppe war die verkörperte Poesie: ein riesenhaftes, von frischem Laub durchwobenes Bouquet, aus dem nach allen Seiten himmelblaue Seidenschleifen niederfielen, deren Enden von kleinen lieblichen Mädchen getragen wurden, das Ganze umgeben von rosigen Jungfrauen, welche bekränzte silberne Ehrenpokale, und von Knaben in blauen Blousen, welche Preisstutzen trugen.
Dem zweiten Theil des Zuges schritten die sämmtlichen Vereinsfahnen voraus, an ihrer Spitze das Banner des deutschen Schützenbundes; so war ein schönes Symbol für den stets betonten Gedanken der Einheit gefunden und eine imposante, Herz und Augen erfreuende Gruppe im Zug geschaffen. Ungefähr 150 Fahnen in allen Größen, Formen und Farben hatten sich zu einem blendenden Ganzen vereinigt, das besonders von der Höhe aus gesehen einen imposanten Eindruck machte.
Dem Fahnenbouquet folgte die militärisch organisirte, über 1000 Mann starke Heerschaar der Schweizer, jeder die Alpenrose und das Schweizerkreuz auf dem Hute und den Ordonnanzstutzen im Arm. Ihnen voraus schritt die jugendliche Trommler- und Pfeifermannschaft des Baseler Cadettencorps im schwarzen Kittel und Käppi, das Ränzlein auf dem Rücken und die große Trommel an der Seite. Ihr Tambourmajor zog durch die Gewandtheit, mit der er seinen Stock haushoch in die Lüfte schleuderte, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die Schweizer führten ihren Schützenkönig und als Fahnenträger drei Hünengestalten mit riesigen Bärten im Costüm der drei Männer vorn Rütli mit sich.
Den Stammverwandten aus der Schweiz schloß sich das Volksheer der deutschen Schützen an in einer Stärke von 6000 – 7000 Mann. Mittel- und Süddeutschland waren bei Weitem stärker vertreten als Norddeutschland. Viele der norddeutschen Schützen waren, wie oben bemerkt, in ihren altertümlichen Gildentrachten erschienen, Viele jedoch auch in der modernen Schützenjoppe oder in anderen praktischen Trachten, wie z. B. die Bremenser in dunkelgrünen, bis oben zugeknöpften Blousenröcken.
Eine äußerst belebte, bunte und interessante Gruppe war die der Tyroler, die Wipper- und Pusterthaler voran, dann die Passeyrer, Ober- und Unterinnthaler, Oetzthaler, Vintschgauer, Botzener, Meraner etc., in der besonderen Tracht jedes der einzelnen Thäler, unter ihnen viele alte verwitterte Gestalten neben schmucken, jugendfrischen Burschen, meist mit schwerfälligen Waffen, die sie auf der Achsel trugen, die Mündung nach vorn, den ausgeschweiften Kolben nach hinten, auf dem Schützenhut eine grün und weiße Schützenkokarde, darauf einen kleinen rothen Schild mit dem goldenen Tyroler Adler, Alpenrosen, Edelweiß, Spielhahnfedern und sonstigen Schützenschmuck. In ihrer Mitte entfalteten sich drei Fahnen, die alte, von Kugeln ganz zerfetzte, mit Feldehrenzeichen geschmückte Fahne der Landesvertheidiger, die seit 1796 in allen Kämpfen der Tyroler geweht, links eine Fahne in den österreichischen Farben mit dem Doppelaar in der Mitte und rechts die Tyroler Schützenfahne, grün und weiß, mit dem rothen einköpfigen Adler darin. Unmittelbar darauf folgten Trommler, Querpfeifer, das Musikchor der Münchner Schützengesellschaft und Sänger, welche in den Pausen des Zuges heimathliche Lieder vortrugen, während die Schützen jodelten und sprangen.
Als um 12 Uhr die Spitze des Zuges in den völlig vom Publicum geräumten und abgesperrten Roßmarkt einbog, wo die Uebergabe der Bundesfahne stattfand, die bisher noch nicht im Zuge mitgegangen war, da zertheilte sich das bis dahin drohende Gewölk und warf seinen goldenen Schein auf das herrliche Schauspiel, das sich jetzt hier entfaltete. In schönster Ordnung gruppirte sich der kolossale über 10,000 Theilnehmer zählende Zug in dreifachen Reihen um den Roßmarkt, in dessen Mitte eine Tribüne für den Vorstand des deutschen Schützenbundes errichtet war. Gegenüber auf dem Balcon des englischen Hofes befand sich der Herzog von Coburg, von den vorbeiziehenden Gruppen jubelnd begrüßt. Nachdem die Aufstellung erfolgt war, ergriff Herr Dr. Sigmund Müller, der Vorsitzende des Gesammt-Festausschusses, im Namen der Stadt Frankfurt das Wort und hieß alle zur Verherrlichung des ersten deutschen Nationalfestes herbeigekommenen Gäste auf’s Herzlichste willkommen. Er schloß mit einem Hoch auf „unser ganzes, großes, hohes, einiges Deutschland“. In brausendem, vieltausendstimmigen, begeisterten Wiederhall pflanzte sich dieses Hoch durch die dichtgeschaarten Reihen von Glied zu Glied fort bis zu den entferntesten Punkten und hinein in alle Seitenstraßen und hinauf bis zu den höchsten Giebeln der von tiefbewegten Männern und freudestrahlenden Frauen dichtbesetzten Häuser. Nachdem es in der Ferne wie ein dumpf grollendes Echo verrauscht war, trat der Herzog im Geleit der imposanten, von drei kräftigen Männern getragenen Bundesfahne auf die Tribüne zu. Als sich sämmtliche Vereinsfahnen im Halbkreis um die Bundesfahne geschaart hatten, sprach er mit fester, klarer, weithin tönender Stimme die Worte, welche wir bereits in Nr. 31 mitgetheilt haben.
Der Enthusiasmus, der darauf in edlem Wetteifer zwischen den Zugtheilnehmern und den in den Häusern, auf den Dächern, auf Gerüsten, Laternenpfählen und allen möglichen erhöhten Standpunkten postirten, aus Nah und Fern in unzähliger Menge herbeigeeilten Menschen in brausenden Tonwellen hinauf und herunter, herüber und hinüber wogte, entzieht sich aller Beschreibung. So etwas muß man erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Der Herzog trat jetzt in den Zug ein, welcher nun unter den stets sich steigernden Zeichen der hingebendsten Begeisterung von Seiten der ihn umdrängenden Menschenmassen seinen Gang durch die Stadt fortsetzte. Wahrhaft enthusiastisch wurde der Herzog und die dicht hinter ihm befindliche Bundesfahne begrüßt. Von den einzelnen Volksstämmen schienen besonders die Schweizer, die Kurhessen, die Schleswig-Holsteiner, welche hinter ihrer umflorten Landesflagge einherschritten, vor Allem aber auch die Tyroler unter den Berufenen die Auserwählten zu sein. Sie wurden mit einem Regen von Blumen und Kränzen überschüttet, unzählige Male angehalten und mit Erfrischungen aller Art bewirthet, und dankten dafür durch unablässiges Hochrufen und Schwenken der [523] Hüte. Sollen wir noch hinzufügen, daß der Eindruck dieses Festzuges, in dem jeder einzelne Gau des großen deutschen Vaterlandes in seinen Vertretern verkörpert war, ein überwältigender, daß das Gemeingefühl der Zusammengehörigkeit aller deutschen Stämme, wie es sich in seiner Aufnahme aussprach, etwas unendlich Ergreifendes und Erhabenes hatte?
Auf dem Festplatze selbst fand noch eine Feier am Gabentempel statt, bei welcher Herr Dr. Passavant in kurzer Rede den Festgenossen den Platz mit allen seinen Gebäulichkeiten zur Verfügung stellte. Wieder erschallten dem „einigen, freien, deutschen Vaterland“ tausendstimmige Hochs, und ein Chor, wie er vollzähliger wohl noch nie gewesen, sang die deutsche Nationalhymne. Diese Feier erhielt dadurch einen besonderen Reiz, daß ihr die Festjungfrauen, welche auf den Stufen des Gabentempels Platz genommen hatten, gleichsam präsidirten und von jedem der vorüberpassirenden Schützen- und Sängerzüge mit feurigen Hochs und kurzen Ständchen gefeiert wurden. Vor der Pforte des Gabentempels war inmitten der um sie geschaarten Vereinsfahnen die kolossale Bundesfahne aufgestellt, die wir bereits in vorletzter Nummer beschrieben haben.
Die Fahnen wurden nun in die Festhalle getragen und dort zwischen den Bannern der deutschen Bundesstaaten und den schwarzrothgoldnen Flaggen aufgesteckt. Welch ein zauberisches Bild entfaltete sich da vor den Augen der entzückten Festgenossen, als die weite Halle, reich und geschmackvoll geziert mit Grün und Blumen, beschattet von dem wehenden Fahnenwalde, von der Abendsonne, welche durch die gemalten Papierfenster einfiel, mit magischem Lichte übergossen ward! Das erste Banket, welchem der Herzog beiwohnte, begann. Es ging nicht mit der Ruhe und Ordnung von Statten, wie die späteren. Glücklich Der, welcher zu seiner Banketkarte auch einen Platz erobert hatte, denn bald drängte von außen ein gewaltiger Menschenstrom herein und versperrte die Gänge. Alles wollte den Herzog, welcher an der Tafel des Centralcomités unter der Rednerbühne Platz genommen hatte, sehen und die Reden hören. Das Letztere ward nur äußerst Wenigen zu Theil, denn das Wogen und Summen der zwischen den Tischen auf und ab wandelnden Menschenmenge, das Plätschern der Springbrunnen, das Knallen der Büchsen draußen an den Schießständen, der Lärm, der vom Festplatze her eindrang, das Alles vereinigte sich zu einem betäubenden Getöse und rief in Dem, der sich mitten darin befand, ein Gefühl hervor, ähnlich dem, das man empfindet, wenn man sich dicht unter den Rheinfall bei Schaffhausen stellt. Die Töne des starken Orchesters, das auf der Musikgallerie spielte, waren kaum über den Mittelpunkt der Halle hinaus zu vernehmen. Trotzdem wurden Reden gehalten und auch stenographirt, und Letzteres war gut, denn so konnte man doch wenigstens des andern Tags nachlesen, was zu hören unmöglich gewesen war. Die beiden officiellen Toaste wurde von Dr. S. Müller auf das Vaterland und von Dr. Reinganum auf das Volk und seine Bestrebungen ausgebracht. Die schweizerischen Cadettenknaben brachten indessen mitten in diesem unbeschreiblichen Tumult den mitspeisenden Ehrenjungfrauen ein Hoch mit Trommelwirbeln. Später wurde eine reiche Anzahl von allerwärts her eingelaufenen Telegrammen theils verlesen, theils angekündigt. Während es draußen in der Schießhütte schon lange lustig knatterte, denn die eifrigen Schützen schossen sich schon am Sonntag ein, sprach man drinnen in der Festhalle noch fleißig dem trefflichen und feurigen Schützenwein zu, auf dessen Etikette die Firma P. A. Mumm, welche eine Lieferung von nicht weniger als 60,000 Flaschen übernommen hatte, die hübsche Devise angebracht hatte: „Deutsche Frau’n und deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang – sollen in der Welt behalten ihren allerschönsten Klang.“ Mitten in dem allgemeinen Treiben aber bildeten sich wieder einzelne Gruppen in buntem Durcheinander aus Tyrolern, Schweizern, Bremensern, Schwaben und allen möglichen Stämmen zusammengesetzt, machten sich mit einander bekannt und tranken zusammen Brüderschaft. Dazwischen durch tönten die schrillen „Juch-Schroa“ der Tyroler, die sich vor Vergnügen kaum zu fassen wußten. Einer in Kurzhosen und Ledergurt um den Leib, ein prächtiger schlanker Bursche, war von dem Empfang und der Aufnahme in Frankfurt so außer sich, daß er überselig ausrief: „Wönn nit glabet, daß i erst in Himmel kimm, nacher hätt i gmoant, es war dös der Himmel gwös’n.“ Die Tyroler wurden aber auch nicht wenig gefeiert, von allen Tischen reichte man ihnen die Wein- und Champagnergläser entgegen. Sie redeten Jedermann mit ihrem gemüthlichen Du an, und wenn sie im Vorbeigehen an irgend einem Tische zum Verweilen eingeladen wurden, so hieß es vor Allem: „Wanns D’ nit Du sagst, nacher trink i nit mit Dir!“
So schloß unter allen Zeichen der herzlichsten Verbrüderung aller Stämme schon der erste Festabend. Man erzählt sich eine Masse kleiner Züge, welche an demselben in der Festhalle und auf dem Festplatz vorgefallen sein sollen. Wenn sie auch nicht alle wirklich und getreu so geschehen sind, wie man sie erzählt, so galten sie doch unter den Festgenossen allgemein für glaubwürdig, und das beweist schon, daß Keiner sie unter die Unmöglichkeiten rechnete, wie z. B. die folgende Episode überall Gläubige fand. Auf dem Festplatz fällt ein Schütze einem anderen, der ihm grade in den Weg kommt, um den Hals und ruft voller Freude aus: „Das freut mich, Bruder, daß Du auch da bist!“ Der Umarmte tritt einen Schritt zurück und bemerkt, daß er im Augenblick sich nicht erinnere, wen er vor sich habe. Der Andere aber umhalst ihn auf’s Neue und sagt: „Was thut das, ich kenne Dich ja auch nicht.“ Jetzt kannten sich die Beiden und schlenderten Arm in Arm weiter.
Wir haben den ersten Tag ausführlicher behandelt, weil er für den ganzen Geist und Verlauf des Festes entscheidend war, weil wir durch ihn in die Stimmung der nun folgenden Festwoche eingeführt werden. Diese Stimmung, sie war eine in jeder Beziehung vortreffliche, echt patriotisch gehobene und für die Zukunft unseres Vaterlandes gewiß bedeutungsvolle. Es war ohne Zweifel ein politisches Fest, was wir gefeiert haben. Laßt nur erst das Bewußtsein der engen Zusammengehörigkeit aller Theile des deutschen Volkes recht lebendig werden in Tausenden und Abertausenden, und es wird auch seine praktischen Früchte tragen. Hat es nicht schon Früchte getragen? Hat es nicht die Lauen und Zagenden aufgerüttelt und sie zur Theilnahme an der großen nationalen Frage herangezogen? Hat sich nicht im Volke der Drang nach freiheitlicher Einigung des Vaterlandes energischer ausgesprochen denn je? Und wird man diesem Drange, wenn er immer und immer wieder als ausgesprochner Gesammtwille des Volkes auftritt, der seine Rechte verlangt, auf die Dauer widerstreben können? Sind wir nur erst einmal darüber einig, daß wir einig sein wollen, so wird auch die Frage über das Wie? – allerdings die bei Weitem schwierigere – ihrer Lösung näher rücken.
Das Fest hat nach allen Seiten hin gute Lehren gegeben, zunächst dem Volke selbst, es hat ihm gezeigt, welche reiche, der Entwickelung fähige Kraft, welche Wehrkraft es besitzt. Es hat aber auch den Regierungen gezeigt, wie ungefährlich die Bewegungen im Volke sind, denen man nicht voreilig einen Hemmschuh anzulegen sucht. Es ist mit der größten Freisinnigkeit, ja von Einzelnen ganz radical, gesprochen worden, und doch bewahrte das Publicum im Ganzen die größte Mäßigung. Das Schützenfest hat weder zu einem staatsgefährlichen Congreß, noch zu einem Putsch Veranlassung gegeben. Es ging Alles in der schönsten Ruhe und Ordnung ab, und dazu trug nicht wenig der Umstand bei, daß man das Volk seiner eigenen Oberaufsicht überließ, die es mit größerem Geschick auszuüben weiß, als man in den höheren Regionen zu ahnen scheint. Die Achtung vor dem Rechte und vor dem Gesetze ist auch dem deutschen Volk tief eingepflanzt. Eine Handvoll Turner genügten, Hunderttausende von Menschen in aufgeregter Stimmung in bester Ordnung zu halten!
Aber noch etwas weit Bedeutenderes müssen wir als eine positive Errungenschaft des Festes bezeichnen, wir meinen die Achtung, die es mit Ausnahme einzelner gehässiger Stimmen, die auch im Inland nicht fehlen, dem Auslande abgenöthigt hat, und die innige Stammesverbrüderung, die wir wieder mit den Schweizern angeknüpft haben. Mit welcher herzlichen Aufrichtigkeit haben sie dem sich offenbarenden deutschen Volksgeiste ihre ganze Hochachtung gezollt, wie schienen mit einem Male die Vorurtheile gewichen, welche diese beiden Völker bisher stets in einiger Entfernung von einander gehalten hatten! Mußte ihnen nicht schon die festliche Aufnahme, die sie bei der Reise nach Frankfurt allüberall in Deutschland fanden, Kunde davon geben, daß wir sie für unsere natürlichsten und ersehnenswerthesten Bundesgenossen halten? Und wie haben ihre Redner, ein Kurz aus Bern, ein Brönner aus Basel, ein Curti aus St. Gallen, uns in’s Herz geredet, wie haben sie uns ermuthigt, unsere „Völkerpracht“ und unsere „Völkerherrlichkeit“ zu pflegen und einheitlich zusammenzufassen, mit Hinweisung auf das Beispiel ihres kleinen, aber geeinigten Landes!
So haben wir also allerdings thatsächliche Errungenschaften
[524][525] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [526] vom Feste zu berichten, von einem Feste, auf dem alle Seiten des deutschen Volkscharakters wieder so recht hervorgetreten sind, seine großen Eigenschaften sowohl, seine Liebe zum Vaterland, seine Herzlichkeit und Gemüthlichkeit, wie seine Schwächen, seine Ueberschwänglichkeit, sein „Idealismus“, seine Neigung, das Erstrebte mit dem Erreichten zu verwechseln oder vielmehr in der Kraft der Begeisterung es mit vorahnendem Auge als erreicht zu schauen.
Von ganz unberechenbarem Einfluß müssen solche Feste auch auf die heranwachsende Jugend sein. Sie gewöhnt sich daran das als selbstverständlich zu betrachten, was uns so unendlich viel Mühe und Kampf gekostet hat.
Und damit wir bei unserem Rückblicke auf die verschiedenen Eindrücke, welche das Fest hinterlassen hat, nicht eines ganz wesentlichen Momentes vergessen, so sei hier schließlich noch seiner Verherrlichung durch die Anwesenheit des Herzogs Ernst gedacht. Ein Fürst, der sich mitten im Volke als ein Theil des Volkes bewegt, der seine Zeit und ihre Forderungen so vollkommen begriffen hat, ja ihr so vorausgeeilt ist, der so selbstthätig fördernd in die große nationale Bewegung eingreift, das ist eine Erscheinung, wie wir sie in Deutschland nicht alle Tage vor Augen haben.
Dem Leben während des weiteren Verlaufs des Festes können wir nun nicht mehr in seinen einzelnen Aeußerungen folgen. Es concentrirte sich auf die Schießhütte, die Festhalle und den Festplatz.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die in der Schießhütte entwickelte Thätigkeit. Hier wurde an 100 Scheiben (70 auf eine Entfernung von 175 Meter, 30 auf eine Entfernung von 300 Meter) von Morgens früh 6 Uhr bis Abends 8 Uhr, mit einer Unterbrechung von 11/2 Stunde während des Mittagsessens, ununterbrochen geschossen. Auf jede Stunde kamen 6000–7000 Schüsse. Nur auf 10 Scheiben wurde aufgelegt geschossen. Für die Festscheiben waren 7 Stände eingerichtet.
Auf die Festscheiben bis 175 Meter Entfernung (Standfestscheibe) hatte jeder Schütze nur je einen Schuß, auf diejenigen von 300 Meter Entfernung (Feldfestscheibe) je zwei Schüsse. Bei den ersten war die Entfernung vom Mittelpunkt des 30 Centimeter haltenden schwarzen Kreises auf weißer Fläche oder des weißen Kreises auf schwarzer Fläche maßgebend, die Manns- oder Feldscheibe dagegen bildete ein Nummerfeld von 20 Punkten. Die geschossenen Punkte wurden zusammengezählt. Auf den übrigen 78 Ständen durfte Jeder so viel Schüsse (der Schuß zu 10 Kreuzer) thun, als er wollte, d. H. so oft er an den Schuß kam, worüber im Anfang manchmal eine halbe Stunde verging. 58 dieser sogenannten Kehrscheiben waren Standkehrscheiben (deren 8 zum Auflegen) auf 175 Meter Entfernung, 20 Feldkehrscheiben auf 300 Meter. Für die Feldkehrscheiben war das Schwarz, welches Kopf, Hals und Rumpf repräsentirt, in zwei Felder getheilt, sodaß Kopf und Hals und die deren Breite entsprechende, durch senkrechte Linien bezeichnete Fläche des Rumpfes zwei Punkte, das übrige Schwarz einen Punkt zählte. Bei den Standkehrscheiben hielt das Trefferfeld für Freihandschießen 15 Centimeter, für Aufgelegtschießen 71/2 Centimeter im Durchmesser.
Auf den Kehrscheiben sollten gar keine Geldpreise gegeben werden. Wer einen Treffer oder einen Punkt geschossen hatte, erhielt dafür einen Vorweis, den er gegen eine Karte einzutauschen hatte. Für sechs Treffer (beim Auflegen für zehn) und für zwanzig Punkte war ein Festthaler ausgesetzt, für die zweiten sechs, resp. zwanzig ein zweiter Festthaler, für die weiteren 12, resp. vierzig abermals ein Festthaler, für noch weitere 12, resp. 40 ein Becher. Von einem Gewinn konnte auf diesen Scheiben somit keine Rede sein. Um einen Thaler (1 fl. 45 kr.) zu gewinnen, mußte wenigstens ein Gulden, resp. 1 fl. 40 kr. verschossen werden. Trefferkarten und Festthaler zu gewinnen, war deshalb nur als Ehrensache zu betrachten. Auf die Festscheiben „Deutschland“ und „Heimath“ durften nur Mitglieder des deutschen Schützenbundes schießen.
Die Schießhütte war ein 1150 Fuß langes, 50 Fuß breites loses und luftiges Viereck. Jeder Schießstand war 10 Fuß breit, die Ladebänke standen quer durch die ganze Hütte. Vor dem Stand lief, durch die ganze Hütte eine lange Tafel zum Auflegen der Büchsen. Im hinteren Raum der Schießhütte befanden sich auf Estraden die Tische der Secretäre. Auf den Feldscheiben war der Andrang der Schützen viel größer als auf die Standscheiben. Dort lagen anfänglich überall 25-30 Büchsen auf, so daß im glücklichsten Fall in der Stunde nur etwa 4–6 Schüsse möglich waren. In den letzten Tagen des Festes hatte der Zudrang sehr nachgelassen, und man konnte schießen, soviel man wollte. Theils waren viele Schützen schon abgereist, theils hatte manche die Ausdauer, die anfänglich nöthig war, ganz vom Schießen entfernt. Sie fanden bessere Rechnung im Genuß der sonstigen Freuden, die das Fest reichlich bot. Von heldenmüthiger Ausdauer zeigten sich vor Allem die Schweizer Und die Tyroler, die geborenen Schützen. Sie standen vom frühen Morgen bis zum späten Abend und vergaßen darüber Banket und Alles, was um sie her Sehenswerthes und Interessantes vorging. Die Tyroler und die Schweizer leisteten natürlich auch am meisten in der Kunst des Treffens. Es waren etwa 250 der besten Schützen Tyrols, Vorarlbergs und Steiermarks unter der Oberaufsicht von vier Feldkaplänen, welche übrigens auch der edlen Schießkunst mächtig waren, zum großen Schützenfeste gezogen. Bekanntlich hatte die Regierung durch Vermittlung des Erzherzog Statthalters eine Summe von 5000 Gulden ausgesetzt, um auch den Armen die Reise nach Frankfurt am Main zu ermöglichen. Die Tyroler schienen es besonders darauf abgesehen zu haben, sich mit den Schweizern zu messen. Als nun die Schweizer die ersten Becher im Stand und im Feld gewonnen hatten, entstand zwischen ihnen und den Tyrolern, welche letztere hie und da ihrem Unmuth Lauf ließen, ein etwas gereiztes Verhältniß, welches jedoch später, als in der bekannten Schmerzenskind-Affaire Oberst Kurz aus Bern so versöhnend eintrat, eine Wendung zu bester Cameradschaft nahm.
Die Schweizer waren besonders zahlreich aus den Cantonen der östlichen und nördlichen Schweiz erschienen. Was die renommirten Schützencantone Zürich, Glarus und Appenzell, was Basel, Aargau, Luzern, Bern, St. Gallen und Thurgau an guten Schützen besitzt, war ziemlich vollständig auf dem Platz. So groß der Vorsprung jedoch auch ist, den die Schweizer selbst in Berücksichtigung der Zahlenproportion erreicht haben, so erkannten sie doch selbst an, daß die Tyroler dennoch die gefährlichsten Rivalen für sie seien. Daß sie das, was sie auf dem Schießstand geleistet haben, mit solchen, zum Theil sehr schlechten und veralteten Waffen geleistet, ist in den Augen der Kenner das glänzendste Zeugniß für sie.
Eine interessante Episode in der Schießhütte war der Zweikampf des Tyrolers Hochenegger und des Schweizers Knutti, zweier der besten Schützen ihrer Länder. Das Wettschießen hat sich zwar zu Gunsten des Schweizers entschieden, aber ganz besonders in Folge der schweizer Waffe, und Knutti selbst gestand gerne zu, daß sein Rivale um kein Haar schlechter geschossen, als er selbst. Das Ende dieses Zweikampfes war ein recht gemüthlicher Act. Als Knutti am ersten Tage desselben 180, Hochenegger aber nur 106, am zweiten Knutti gar 238 und Hochenegger 191 Nummern geschossen hatte, trat dieser zu Jenem, klopfte dem Gegner auf die Schulter und sagte: „Schweizer, wir woll’n uns nit weiter plog’n; mei Waff’ hält’s nit aus. Du bist der Erst’ und i der Zweit’; aber wenn i Dein’n Stutzen g’habt hätt’, hätt’ i Dir heißer g’macht.“ Nun beschlossen sie, beiderseits aufzuhören und sich mit den errungenen Resultaten zu begnügen. Zum Vergnügen thaten sie noch ein paar Schüsse, wobei Einer dem Andern lud, dann spazierten sie Arm in Arm zum Banket. Die Schweizer, welche den Knutti begleiteten, zogen den Hut ab vor dem flotten Kaiserjäger, und die Tyroler im Gefolg ihres Schützenkönigs wiederholten: „Jo, jo, d’Schweizer sind Schützen, guote Schützen.“
Die Schießordnung – welche, beiläufig gesagt, in der Höhe die Kleinigkeit von 6 Fuß 2 Zoll und in der Breite 2 Fuß 5 Zoll mißt – wies eine Gabensumme aus von 108,390 Gulden. Durch die in Verlauf des Festes noch eingelaufenen Gaben stellte sich diese Summe auf annähernd 150,000 Gulden. Die Hälfte der Einlagen auf den Festscheiben (sie betrug 3 Thaler im Stand für 1 Schuß und ebenso viel im Feld für zwei Schüsse) ward zu Prämien verwandt.
Verlassen wir nun die Stätte der ernsten Thätigkeit, der das Fest seine Entstehung verdankt, und treten im Geiste eine Wanderung über den Festplatz an, über den Platz, der eine Reihe von Tagen der Sammelpunkt der Söhne des Landes war, dessen Sinnbild in seiner Mitte hoch oben auf dem Gabentempel thronte, und über den in Kurzem wieder die Pflugschar gehen wird. Der Festplatz bot ein gar reizendes, buntgestaltetes, nach den verschiedenen Tageszeiten verschiedenes Bild. Ein großes unregelmäßiges Viereck, auf dem sich bequem 20 – 25,000 Menschen bewegen konnten, war er rings von Bretern eingefaßt, von [527] denen viele Hunderte von schwarz-roth-goldenen Fähnlein herunter grüßten. Springbrunnen und Bosquets verliehen ihm ein heiteres Ansehen. An seiner einen Seite erhob sich die stattliche Festhalle, imposant und zierlich zugleich mit dem Bilde der Germania. An einer andern Seite wieder liefen die Schießstände hin und ihnen gegenüber eine lange Reihe von Läden und Büreaux. Da hatten die einzelnen Comites ihre Sitze aufgeschlagen, da gab es Post- und Telegraphenbüreaux, dazwischen aber auch Cabinets zum Rasiren und Frisiren, Niederlagen aller möglichen kleinen Gegenstände für den täglichen Bedarf, bei denen allen auf irgend eine Weise die Festhalle, der Gabentempel etc. im Bilde angebracht war. Sogar eine Presse befand sich auf dem Festplatz, durch welche die beim Banket gehaltenen Reden nach den Aufzeichnungen der Stenographen gedruckt wurden und so wenige Stunden nachher in Aller Händen waren. Dieselben werden jetzt in Frankfurt von Redacteur J. A. Hammeran in einem Hefte herausgegeben. Da wogte es nun vom frühen Morgen bis zum späten Abend von Tausenden von fröhlichen und begeisterten Menschen. Da war kein Unterschied des Standes und Ranges mehr, und alle einzelne Sorge wurde über der großen und allgemeinen Freude vergessen.
„Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!“
das war die Devise, welche uns aus all den tausend freudestrahlenden Gesichtern entgegenleuchtete. Und nun erst am Abend, wenn es anfing, in der Stadt allmählich auszusterben, wenn Jeder und Jeder, der nicht durch Krankheit oder Alter abgehalten war, beflügelten Schrittes hinauseilte auf die heilig-frohe Stätte, wo ein ganzes Volk versammelt war! War das ein Schauspiel für Götter, wenn die feurige Himmelskugel sich nur zögernd von dem Orte wandte, den sie mit ihrem reinsten Glänze übergossen hatte, wenn sie, ein glühender Ball, hinter den blauen Höhen des aus der Ferne schimmernden Taunus niedersank und die Spitzen der Thürme vergoldete, die von des alten und des neuen Reiches vergangener Herrlichkeit singen und sagen – des Domes und der Paulskirche! Allmählich verschwammen sie im Schatten der Nacht, und dann gingen die Sterne auf, die Sterne oben und unten, die Sterne am klaren Himmelszelte und die Sterne auf dem Festplatze und in dem Feenpalaste, der Halle. Da ergoß sich ein flammendes Lichtmeer über den Häuptern der Arm in Arm Dahinwallenden, die sich zum ersten Male im Leben gesehen hatten und doch alle miteinander so vertraut waren, als wären sie nur eine große Familie. Es war ein wunderbares Treiben – ein Märchen aus Tausend und Einer Nacht zu Fleisch und Blut geworden.
Während des Abends in der Halle bei dem Scheine von 5000 Gasflammen sich 10,000 und mehr Menschen an den unzähligen Tischen zusammenfanden, zusammen tranken und sangen, in den Gängen hin und her drängten und im Vereine mit der schmetternden Musik ein Riesenconcert von Tönen aufführten, ging es beim Mittagstische, mit Ausnahme des ersten Bankets, geregelter und gemäßigter zu. Um halb Zwölf wurde die Halle von den Frühstückenden geräumt – um halb Eins begann das Banket. Ohne Banket-Karte durfte Niemand mehr passiren. Der Kanonendonner, welcher den Schluß des Vormittagsschießens kündete, ertönte, und herein strömte es in die Halle. War das eine bunte Tischgesellschaft! Dort die ordonnanzmäßige Schützenjoppe und der mit einem Wall von Trefferkarten und mit Sträußen, Trophäen vom Festzuge, reichgarnirte Hut – wir behielten den Hut natürlich auf dem Kopf –, hier der Bremenser grüne Kittel, dort wieder die Tyrolerjacke in allen Farben, dazwischen der officielle Frack mit der Comiteschleife und – daß wir die schönste Würze des Bankets nicht vergessen – in duftiger Sommertoilette der Damenflor Frankfurts und die auswärtigen Schützenschwestern, Schützencousinen und Schützenfreundinnen. Blumenmädchen, Blumenknaben und Blumengreise wandelten zwischen den Reihen, und wo sie eine Schöne erblickten, da erfolgte ein Sturmangriff auf den männlichen Nachbar und Schützencavalier.
Noch ein internationaler Verkehr ganz eigener Art zwischen Deutschland und der stammverwandten Schweiz war hier in der Halle angebracht: Appenzeller in rothen Westen und blendend weißen Hemden und Appenzellerinnen waren mit der Schweizer Völkerwanderung herübergekommen und boten Alpenrosen feil, wirkliche, echte und frische Alpenrosen und keine von der Blumenmacherin künstlich verfertigte, wie sie die Schweizer Schützen selbst auf ihren Hüten trugen. Vor der Halle stand eine riesige Kiste, der sie ihren Bedarf entnahmen. Eine solche Kiste kam jeden Tag frisch gefüllt aus Appenzell an, und jeden Abend war ihr Inhalt in tausend schönen Händen. Man sieht, die Schweizer verstanden sich so gut auf die industrielle Ausbeutung des Festes, als unsere Landsleute; auch viele Büchsenmacher aus der Schweiz waren da.
Während man sich in der Halle noch rangirte, die Nummer des Tisches aufsuchte, an dem man sich mit seinen Bekannten Stelldichein gegeben hatte – denn das war der einzige Ort und die einzige Gelegenheit, wohin man sich in dem unendlichen Gewühl mit einiger Aussicht auf Erfolg verabreden konnte – während sich also die essende Welt ordnete, war die kochende, anrichtende und servirende in voller Thätigkeit. An den kolossalen Heerden, deren einer 21 große Kessel hatte, stand bereits die von ihren Chefs angeführte Legion der Spülmädchen mit ihren leeren Suppenterrinen zur Entgegennahme ihrer Portionen bereit. Sie marschirten vor den Kochfrauen auf, die mit ihren kolossalen Aufschöpfern in einem Griff eine große Suppenterrine gefüllt hatten, und trugen sie dann auf die Anrichtetische, wo sie von den Aufwärtern in Empfang genommen wurden. Diese, 135 an der Zahl und erkenntlich an den roth und weißen Kappen, die sie trugen, stellten sich jetzt an den Eingängen in Reih und Glied auf und harrten des Zeichens mit der Trompete, das sie zum Vorrücken ermächtigte.
Es ward gegeben, und nun stürmten sie zu den vier Eingängen der Küche heraus, wo vier Wachtposten aufgestellt waren, welche den ersten Angriff überwachten. Man bedenke, daß für 4000 Speisende eingerichtet war, wenn auch durchschnittlich nur 3000 jeden Tag am Banket Theil nahmen. Während die Suppe gegessen wurde, wurden in der Küche das Ochsenfleisch und die Braten in Zuber ausgezogen, die letzteren aus Bratöfen, die für 200 Pfund Fleisch berechnet und deren Pfannen sechs Fuß lang waren. Zwanzig Trancheurs standen nun an ihren Posten zum Vorschneiden bereit, die Besteckmädchen nahmen das tranchirte Fleisch weg und stellten es auf die Tische, von denen es die Kellner abzuholen hatten. Es waren zu jeder Speise ungefähr 300 Platten zu füllen. Waren die Trancheurs und die Gemüsefrauen, die unterdessen auch das Gemüse anzurichten hatten, auf die Hälfte ihrer Arbeit vorgeschritten, so rief die Trompete die Kellner wieder herein für das Auftragen von Fleisch und Kartoffeln.
So trieb das große Räderwerk in der Küche deren sämmtliches Personal (Oberkellner, Sectionschefs, Aufwärter, Küferkellner, Köche, Kochfrauen, Trancheurs, Spülmädchen u. s. w.), aus beiläufig 500 Personen bestehend, rüstig weiter, bis die ganze, aus Suppe, Rindfleisch, Gemüse, Braten und Torte bestehende Riesentafel in bester Ordnung abgewickelt war. Das ging jedoch nicht so rasch, als es bei dieser ganz auf die Massenverhältnisse berechneten Organisation auf den ersten Blick erscheinen möchte. Die Herren Guggenbühl und Hafner waren zwar immer bereit, einen Gang rasch auf den andern folgen zu lassen, nicht so der Trompeter in Schützentracht mit der hochwallenden rothen Feder, der nach jedem Gang auf die Tribüne marschirte und ein weithin schallendes Aufgepaßt! in die summende Menge hinein schmetterte.
Dann folgte ihm ein Herr in einer Lila-Schärpe auf dem Fuße (ein Mitglied des Preßcomités, unter dessen Oberaufsicht die Banket-Beredsamkeit stand) und verkündete mit lauter Stimme einen Namen. Beim letzten Banket war gar manche dieser lauten Stimmen eine heisere geworden, die den Namen des betreffenden Redners mehr krähte, als ausrief. Darauf begab sich der also Ausgerufene auf die Tribüne und sprach nun zum versammelten Volke. Sprach er laut und vernehmlich, sehr laut und sehr vernehmlich, so ließ das Tellergeklapper und Gläsergeklinge nach, und die Leute hörten dem Manne aufmerksam zu, wenigstens so lange, bis er sie langweilte; sprach er aber nicht mit voller, durchdringender Stimme, so war sein Urtheil von vornherein schon gefällt, und wenn er die schönsten Gedanken und die kühnsten Metaphern ausgesprochen hätte. Man ließ ihn reden, applaudirte auch und rief Hoch, wenn er ausgeredet hatte, im Uebrigen aber ließ man sich im Einzelgespräch und in sonstigen geräuschvollen Beschäftigungen nicht stören und tröstete sich über den Verlust einer Rede im Hinblick auf die emsig schaffenden Stenographen, welche jedes Wörtlein, das da von der dicht über ihrem Sitze angebrachten Tribüne auf ihre Häupter herabfiel, auffingen und zur Kunde der Mit- und Nachwelt brachten. Die Zahl der Redner war unabsehbar. Obgleich sich gerade in den Tischreden der eigentlich geistige Gehalt der Feier, der ernste politische Hintergrund derselben und die Tendenzen, [528] von denen das Fest getragen ward, am besten spiegeln und deshalb gerade eine Blumenlese aus den Reden hier sehr am Platze wäre, so sind wir doch in einiger Verlegenheit, wo anfangen und wo aufhören. Am meisten Aufsehen und am meisten Geschrei haben die beiden Reden von Metz und Wildauer gemacht. Der ganze Conflict hat in der Entfernung und durch das Hetzen der Zeitungen eine Bedeutung angenommen, die er wahrlich nicht verdient. Metz gedachte bekanntlich in seiner Rede der „Schmerzenskinder“ Deutschlands und führte dabei neben Kurhessen und Schleswig-Holstein auch Deutsch-Oesterreich an, aber wie? Man höre seine eignen Worte. Er sagte:
„Meine Herren! Ich komme zu den lieben Brüdern in Wien, ich komme zu den wackern Tyrolern, zu den Männern aus Steiermark, ich komme zu den Deutschen in Oesterreich. Meine Herren, sie gehören zu uns durch Bande des Bluts, durch Bande der Geschichte. Leider sucht manches anscheinend nicht, wenigstens kaum besiegbare Hinderniß uns entgegen zu treten. Man will von uns zurückhalten die lieben Brüder in Oesterreich, aber, meine Herren, ich denke, die drei Schmerzenskinder, die Kurhessen, die Schleswig-Holsteiner und auch die wackern deutschen Brüder in Oesterreich, sie können und werden uns erhalten werden (Bravo!), wenn jeder Stamm, wenn jeder Mann die letzten Tröpflein seines Herzbluts hergiebt mit unbedingter Hingebung an’s deutsche Vaterland (lebhafter Beifall), wenn jeder Mann rücksichtslos schafft für die gute Sache des Vaterlands, wenn jeder Mann nicht blos im Moment aufjubelt hoch zum Himmel, nein, wenn er bereit ist, Leid und Freud zu tragen für die Sache des Vaterlandes, wenn er bereit ist, Freud und Leid zu tragen für die gute und heilige Sache des Vaterlandes. Meine Herren, in diesem Moment beschwöre ich Sie, betrachten Sie diesen herrlichen Prachtbau, betrachten Sie ihn als deutschen Rütli. Schwören Sie treu der heiligen deutschen Sache, hinauszutragen die Idee der deutschen Freiheit, hinauszutragen die Sache der deutschen Einheit, hinauszutragen in alle Kreise. Schwören Sie – der Moment wird nicht ausbleiben, unsere Feinde bürgen uns dessen, an welchem man versuchen wird, an welchem man allen Muth zusammenraffen wird, um von Neuem die Freude des Volks, die Einigung des Volks zu hintertreiben – für diesen Moment schwören Sie gleich unsern Schweizer-Brüdern, welche dadurch frei und einig wurden, treue Hingebung für dieses Sinnbild (zeigt nach der deutschen Fahne) der deutschen Freiheit und Einheit! Schwören Sie Leib und Leben, Hab und Gut, Weib und Kind, Alles dahin zu geben für’s Höchste, was wir kennen, für’s Höchste, was uns noch fehlt, um ein großes, herrliches Volk zu sein. Schwören Sie, und drücken Sie den Schwur aus mit gefüllten Gläsern durch ein donnerndes Hoch auf Deutschland. Das freie, das einige, das baldigst freiheitlich geeinigte Deutschland, es lebe hoch!!!“
Herr Professor Wildauer von Innsbruck entgegnete darauf:
„Meine Herren! Wir haben in einem Trinkspruch auf das große deutsche Vaterland drei Schmerzenskinder der deutschen Nation nennen gehört, die Kurhessen, Schleswig-Holsteiner und die Oesterreichs. Bei der Nennung der ersten Brüder haben wir Oesterreichs so kräftig in das Hoch mit eingestimmt, wie irgend ein anderer deutscher Stamm. Als der dritte Name genannt wurde, da zeigte die lautlose Stille, die bang über der Versammlung lag, daß Oesterreich nicht mit diesem Namen zu bezeichnen sei. Wir sind keine Schmerzenskinder und sind als solche nicht hierhergekommen; in Oesterreich giebt es keinen Schmerzensschrei. Wir hängen treu an unserem Kaiser und sagen es auch unverhohlen. Wir haben ein Vaterland und haben Ursache es zu lieben, aber deßwegen geben wir keinem deutschen Stamme und Lande das Privilegium, von sich zu sagen, daß es deutscher fühlt als wir. Wir wetteifern mit jedem deutschen Lande und Stamme an redlichem Willen, treuem Sinn, möglicher Thatkraft, wo Thatkraft nothwendig ist. Wir haben einen Kaiser, der bei Villafranca es vorgezogen hat, sein Reich zu verkleinern, um keinen Fuß breit deutschen Landes am Rheine hinwegzugeben.“
Hier entstand allerdings einige Minuten lang ein kleiner Tumult. Diese gewaltsame und unwahre Zurechtlegung eines Stückes Geschichte, das wir alle miterlebt haben, wollte nicht Jedermann behagen. Als die Ruhe wieder hergestellt war, fuhr Wildauer fort:
„Wir sind hierhergekommen als voll- und ebenbürtige Kinder des großen deutschen Vaterhauses; wir grüßen Sie Alle mit brüderlicher Herzlichkeit als Angehörige einer und derselben Familie. Wir haben zu Hause Friede, bei uns ist Eintracht zwischen unserm Herrn und dem Volk. Wir sind keine Schmerzenskinder. Oesterreich hat so gut wie Andere mitgewirkt, das gefallene Recht in Kurhessen wieder aufzurichten, und seien Sie überzeugt, in Zukunft wird dasselbe Oesterreich auch mitwirken, daß das zertretene Recht wieder aufblühe, wo das Land liegt gleich einer Doppeleiche: Schleswig-Holstein. Wir sind keine Schmerzenskinder, wir stehen auf deutschem Boden. Wir sind hierhergekommen, um unser Recht zu üben, als Angehörige derselben Familie; wir sind nicht Gäste, wir gehören hierher. Wir sind auch nicht mit leeren Händen hierhergekommen; nicht daß ich damit die Besten meine, die wir mitgebracht, ich meine nicht den Fahnenschwur Tyrols, der eben so der Fahne Deutschlands als der Fahne Oesterreichs gilt, wir haben noch etwas Anderes in die Wagschale zu legen, das was wir gethan zum Schutz der deutschen Grenzen. In kurzer Frist von einigen Jahren sind wir, wie wir jetzt zum friedlichen Wettkampf nach Frankfurt gezogen, auch an die Grenzmarken Deutschlands geeilt. Auch dort haben wir Schützenfeste gefeiert, aber freilich Schützenfeste von blutigem Ernst, echte Nationalschießen, wo es dem deutschen Boden gegolten hat. Es waren keine Schmerzenskinder, die dort den frechen Angriff zurückgewiesen haben; wie es unsere Väter gehalten, so werden wir’s auch in Zukunft wieder treiben, wir werden Wache halten an den Grenzmarken deutschen Gebiets und im Süden dafür sorgen, daß der Feind kein deutsches Gebiet entreißt. Wir werden sorgen, daß er nicht einmal eine Alpenrose stiehlt, die deutschem Boden entkeimet. Nehmen Sie die volle Versicherung, wenn einst der Erbfeind deutschen Namens nach anderem Gebiete greift als nach dem, was an den Alpen liegt, an der Etsch oder dem Mincio, wenn er seine Hände nach den Rebenhügeln des Rheins ausstreckt: dann werden die Oesterreicher und Tyroler auch am Platze sein, wir werden nicht glauben damit eine Pflicht zu erfüllen, nein, wir nehmen das Recht dazu in Anspruch. Wollen wir doch den Riesenleib der erhabenen Mutter Germania nicht durch moderne Heilkunst bei lebendigem Leibe seciren, wollen wir nicht gesunde Glieder hinwegschneiden, bewahren wir den Riesenleib im Besitz all’ seiner Glieder, und weiter, lassen wir diesen Riesenleib angethan mit dem weiten reichen Mantel seiner Herrschaft in Süd, Ost und überall. Heiliger Boden ist überall, so weit die deutsche Zunge klingt, soweit die deutsche Herrschaft reicht. Auf diese große und versammelte ungeschwächte mächtige deutsche Nation ein dreifaches Hoch!“
Wir haben diese beiden Reden absichtlich genauer mitgetheilt, um die durch die Parteibeleuchtung so vielfach verschobene Affaire Metz-Wildauer wieder auf ihren ursprünglichen Standpunkt zurückzuführen, und damit sich Jeder selbst ein Urtheil bilden könne, wer hier mehr deutsch und dem Geiste des aus dem Volksthum hervorgewachsenen Festes entsprechend gedacht und gesprochen habe, und wer weniger. Ob Metz diesen häkeligen Punkt, da es doch weiter keinen Zweck hatte und er im Voraus wissen konnte, daß er hier oder dort verletzen werde, überhaupt hätte berühren sollen, wollen wir hier nicht untersuchen. Genug, der Streit wurde durch die vermittelnden Worte des Oberst Kurz aus Bern und Streit’s aus Coburg in taktvoller Weise beigelegt und hinterließ factisch keinen dauernden Mißton in der Versammlung oder außerhalb derselben. Herr Wildauer ist Ritter der eisernen Krone geworden, hat eine reiche Sammlung von Visitenkarten und Dankschreiben erworben, und damit sollte man die Sache auf sich beruhen lassen. Es wäre in der That gewiß ersprießlicher gewesen, wenn viel bedeutsamere Worte, wie die eines Schultze-Delitzsch, eines Karl Grün, eines Curti aus St. Gallen und so vieler Andern, deren Namen wir nicht einmal alle aufführen können, einen solchen Wiederhall in der Presse und im Publicum gefunden hätten.
Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:
Ein nicht unwichtiger Beitrag zu der Militärfrage, die jetzt beim ganzen deutschen Volke wieder in den Vordergrund getreten ist.