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Die Gartenlaube (1862)/Heft 20

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[305]

No. 20.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Zweimal gelebt.

Einer wahren Begebenheit nacherzählt
von Günther von Freiberg.
(Fortsetzung.)



Plötzlich schien eine gewaltige Erregung die junge Dame der Apathie zu entreißen; hastig ergriff sie eine spanische Mandoline, und ihre schmalen Finger irrten auf den Saiten des Instrumentes umher, als suchten sie nach einer Melodie, ohne sie finden zu können. Bald verklärten sich die Augen der Musicirenden zu einer wunderbaren, ekstatischen Begeisterung, bald zogen sich ihre Augenbrauen krampfhaft zusammen, der Ausdruck tiefsten Seelenleidens malte sich wieder auf ihrem Gesicht. Die Accorde, die sie der Laute entlockte, rannen in eine Disharmonie zusammen. Weinend vor Ungeduld schleuderte sie die Mandoline von sich, – der Papagei flog kreischend in die Höhe, setzte sich auf einen Ahorn und schaukelte sich in den grünen Ringen des Riesenepheus, der den Baum umklammert hielt.

„Ich kann die Weise nicht wiederfinden,“ sprach das schöne Weib unter hervorquellenden Thränen vor sich hin, „nie und nimmermehr - - und fänd’ ich sie, so wär’ ich gerettet!“ –

Zusammenbrechend sank sie auf das Lager, unter Palmenschatten und Blätterrauschen den Schmerz auszuweinen.

„Herrin,“ sprach eine Stimme dicht hinter ihr, und gleich darauf schob ein glänzend schwarzer, voller Arm die Vorhänge der Balconthür auseinander und diesem Arm folgte bald das dunkle Gesicht der Negerin Messaouda, die sich mit gekreuzten Armen vor der Gebieterin neigte.

Die Angeredete schrak zusammen, fuhr schnell mit einem Taschentuch über die Augen und versuchte eiligst die Spur ihrer Thränen zu verwischen. „Kommt er, Messaouda?“ fragte sie auf Französisch die Dienerin, sich in den Kissen aufrichtend.

„Nein, Herrin, noch nicht,“ entgegnete die Schwarze in derselben Sprache mit sehr fremdem Accent, „aber statt Deines Herrn,“ setzte sie geheimnißvoll lächelnd hinzu, „statt seiner – –“

„Was giebt es?“ fragte die Dame theilnahmlos.

„Prachtvolle neue Kleider sind angekommen,“ jubelte die Negerin, „buntgestreifte, silberdurchwirkte aus Maskara und Smyrna, und luftige indische Stoffe! Da ist ein Gewand, so spinnwebzart, als hätten es Geister am Kaschmirsee nächtlich gewoben! Du wirst darin strahlen, o Herrin, wie die Lilie des weisen Salomo!“

Die Herrin seufzte, ohne zu antworten, und zupfte gedankenlos Blätter und Blüthen aus den Vasen.

„Willst Du die Kleider betrachten? Im Spiegelgemach hab’ ich sie ausgebreitet.“

Die Gebieterin schüttelte den Kopf. Die Zofe zuckte die Achsel und schwieg einige Augenblicke. Bald jedoch fuhr sie gewichtig fort: „Allah Kerim! was vergaß ich? Ein Kästchen ist dabei, eine Perlenschnur enthaltend: fünf Reihen Perlen aus Persiens Meerfluth gefischt! Kostbarer besaß die Königin Zenobia kein Halsgeschmeide; – darf ich es holen?“

„Später,“ antwortete die Schöne nachlässig, und flocht mechanisch die Blumen und Blätter zu einem Kranz.

„O Herrin, binde die Perlen um zur Zier Deines Halses! Ihm zu Liebe, Deinem Gebieter zu Ehren, der Dich verschwenderisch mit Kostbarkeiten überhäuft.“

Ein leichtes Roth belebte die blassen Wangen der Angeredeten; sie ließ das Kranzgewinde zu Boden gleiten und lächelte wehmüthig. „Ja, Messaouda, Du hast Recht, – ich bin eine Undankbare! Geh, hole mir das Geschmeide, ich werde ihm damit geschmückt entgegen gehen. O käme er nur!“

Und wieder zitterten Thränen an ihren Wimpern.

„Beste Herrin, weinend?“ Die gutherzige Negerin knieete neben dem Divan nieder.

„Ist es ein Wunder,“ rief die Aufgeregte, „daß ich in dieser tödtenden Einsamkeit seine Nähe ersehne?“

„Es ist wahr, schöne Herrin. Er hält Dich in strenger Haft, der Gebieter,“ sagte die Dienerin einschmeichelnd. „Er, ein Abendländer, ist mißtrauischer als ein Moslem! Versagt er Dir doch sogar den Umgang mit anderen Frauen und gestattet weder, daß Du die Bäder in der Stadt besuchst, noch die Magazine der Kaufhallen. Von einer Reise über Land ist nun vollends nicht die Rede.“

„Und eben diese grausame Eintönigkeit reibt mein Leben auf. – Ach, Messaouda, wohl wäre ich eher zu beneiden, als zu beklagen; – ich habe ja seine Liebe! Aber sobald er mich allein läßt, fassen mich seltsame Gedanken. Die Welt, die Ferne da draußen, sie lockt, sie reißt mich an sich, als lebte dort eine Seele, die etwas von mir zu fordern hat, – die eine Gewalt über mich besitzt, die mich zu sich zwingt! – Doch, nein, nein! – – es ist nicht so – – kindisches Geschwätz – – ich weiß nicht, was ich rede! Vergiß, was ich sagte, hörst Du?“

Und zusammenschauernd blickte die Phantasirende scheu umher.

„War denn Dein früheres Leben nicht anders?“ forschte die Schwarze neugierig, „bevor Du hierher kamst und ich in Deine Dienste trat. Sprich, o Herrin?“

„Mein früheres Leben?“ so rang es sich mühsam von den Lippen des schönen Weibes los, indem sie wie geistesabwesend in die Weite starrte, „ja siehst Du, das ist es eben! O, wenn Du wüßtest, was es heißt, ohne Vergangenheit leben zu müssen, [306] wie ich! – Nach einer langen, fürchterlichen Krankheit konnte ich mich auf nichts mehr besinnen! Mit Mühe mußte mein Gatte mich auf alle vorgefallenen Begebenheiten nach und nach aufmerksam machen - - ich vergaß, wie lange wir verheirathet sind, wo wir früher waren! – Meiner gereizten Nerven wegen verordnete er mir die tiefste Zurückgezogenheit. … Ich bin es zufrieden, – ich liebe ihn, ... und doch sehne ich mich fort von hier; – – die Sonne dieses Landes versengt mir das Herz!“

„Und Deine Kindheit?“

„Meine Kindheit?!“ wiederholte die Traurige mit verwirrtem Lächeln und wiegte das Haupt – – da plötzlich flog ein Strauß aus Rosen, Myrthen und Epheu den beiden Frauen vor die Füße, wie von kecker Hand aus dem Garten auf die Terrasse geschleudert.

Ein leichter Schrei entfuhr Messaouda’s Lippen. Betroffen blickte die Herrin erst auf die Blumen und auf die Negerin, dann über das Geländer hinab; doch sie vermochte Niemand unter den Bäumen zu entdecken; nur meinte sie, die Magnolienzweige über einer fliehenden Gestalt zusammenschlagen zu sehen.

„Schon wieder, – gerade wie gestern um dieselbe Zeit!“ flüsterte Messaouda mit sichtbarer Bewegung und hob den Strauß vom Teppich auf. „Ein Selam – wie sinnreich gebunden! Ei, Herrin, Dich verfolgt ein verliebter Djinn. Wer weiß – – aber was ist Dir? Du bist wie gelähmt vor Schreck!“

„Um Gottes willen, daß er keine Sylbe von dieser räthselhaften Rosenspende erfährt,“ bat die Herrin mit fliegender Blässe. „Verbirg die Blumen, Messaouda!“ – Laß uns hinein gehen; zeig mir meine Perlen und Kleider – komm!“

Die Sclavin folgte ihrer Dame, nicht ohne einen verschmitzten Blick über die Gefilde der Guta zurückgeworfen zu haben, und leise vor sich hin summend: „So kehren uns täglich Asad’s Blumen zurück! – Dem muß das Blut verbrennen, der in die weiße Herrin verliebt ist!“

Während dieser Scene lauerte Asad, der Spion, auf einem Pomeranzenbaum, den er erklettert hatte, und von wo aus er ungesehen die Landstraße, den Park und die Front der viereckigen, maurischen Villa überblicken konnte. Er sah die beiden Frauen auf der Terrasse mit einander sprechen, ohne ihre Stimmen vernehmen zu können, denn dazu war die Entfernung zu groß; auch vermochte er ihre Gesichter nicht zu unterscheiden, nur die weiße und die dunkle Gestalt hoben sich deutlich gegen das grüne Palmenbosket der Terrasse ab.

So hatte er eine geraume Zeit verschanzt gesessen, als er die Straße entlang, zwischen hohen Maulbeer- und Wallnußbäumen, einen einsamen Spaziergänger einher ziehen sah. Asad strengte seine ganze Sehkraft an, den Kommenden zu erkennen. Aber der Unbekannte kehrte um und verschwand wieder. Asad hatte genug gesehen – er hatte den schwarzen, weißgefütterten Burnus des „fremden Sidi“ erkannt und wußte genug. Ruhig blieb er im Pomeranzenbaum sitzen und wartete. Durch die grünen Blätterwände der Bäume und Schlingpflanzen tauchte ab und zu die verhüllte Gestalt des Europäers auf; dieser schien die Runde um die Villa zu machen; er bewegte sich zögernd, vorsichtig, wie ein Dieb, unter den Maisstauden und überhangenden Zweigen hin und her.

Jetzt mußte er hart an dem lauschenden Knaben vorüber; Asad hielt den Athem an; der Fremde, die Kapuze über das Gesicht gezogen, stand im nächsten Augenblick unter dem Pomeranzenbaum; denn von dort aus überschaute er die ganze Terrasse, auf welcher die Negerin ihre schweigsame Herrin zum Plaudern bewegen wollte.

Ein elektrischer Schlag durchbebte den Abendländer, so wie er der Frauen ansichtig ward. Er blieb wie eingewurzelt stehen – seine Brust hob sich heftig – er schob die Kapuze aus den Augen, schirmte die Stirn mit der rechten Hand, und seine Blicke bohrten sich in der Richtung nach der Terrasse fest. Doch vermochte er nicht deutlich genug zu unterscheiden, was er zu schauen begehrte. Bald stampfte er mit dem Fuß auf, blickte wieder in die Höhe, seufzte tief und ballte die Hand krampfhaft vor der Brust.

So stand er, bis ein Entschluß in ihm zur Reife gekommen schien. Auf den Zehen schlich er dicht an einer Cactuswand entlang, bis er ein Magnolienbosket gegenüber der Terrasse erreicht hatte. Noch einmal ängstlich um sich blickend, schlüpfte er unter die großblätterigen Aeste .... Weiter vermochte Asad nichts mehr wahrzunehmen; doch gleich darauf sauste etwas durch die Luft; es war der Strauß, den der Gärtnerknabe vor einigen Stunden zu Markte getragen hatte; – der Wurf gelang – Messaouda hob die Rosen auf – beide Frauen verschwanden – die Terrasse war leer.

Behend glitt Asad vom Baum auf den Rasen hinab, raffte seinen Spaten auf und lief ein paar Schritte bis an die Landstraße. Mit der harmlosesten Miene fing er an, das Erdreich aufzulockern, hin und wieder verstohlen seitwärts durch die Wimpern blickend.

Aber er hatte gut graben, Niemand kam an ihm vorüber; tief einsam war es jeden Abend in der Guta, kaum daß hin und wieder ein Landmann mit seinem Lastthier vorbei zog.

Asad wartete über eine halbe Stunde; aber er war zu zäh, um nach einer halben schon ungeduldig zu werden. Endlich schimmerte der weiße, fliegende Burnus; der Abyssinier grub emsiger; jetzt stieß er den Spaten in den Boden, stützte sich auf den hölzernen Schaft und warf den Lockenkopf in den Nacken. Soeben kam der Fremde des Weges entlang.

„Gott erfreue Dein Herz, habibi sidi!“ rief der Knabe freundlich dem träumerisch Dahinwandelnden zu.

Der Fremde stutzte beim Klang der hellen Stimme und wandte Asad das Gesicht zu, ein interessantes Gesicht von zarter Jugend und zarter Blässe. Ein freudiger Aufschrei antwortete Asad’s Gruße; der junge Reisende öffnete die Lippen zu einer Frage – doch er besann sich, holte tief Athem und dann erst, nach einer Pause, sprach er: „Kleiner, ist die Guta Deine Heimath?“

„Ja, Sidi; mein Vater ist der Gärtner jener Villa.“

„Wem gehört diese Villa?“

Asad schmunzelte geheimnißvoll. Der Fremde war so gespannt, daß er vergaß, die Hand nach der Tasche zu führen und mit dem Gelde zu klimpern. Asad, um ihn immermehr zu reizen, legte vorsichtig den Zeigefinger an die Lippen.

„Darfst Du nicht reden? Wer verbot es Dir?“

Asad biß sich auf die Lippen und blickte so andächtig zum Himmel empor, daß während einer Secunde nur das Weiße seines Auges zu sehen war.

Der Fremde riß nunmehr eine volle Börse aus der Brusttasche und drückte dem stummen Knaben ein Goldstück in die Hand.

„Herr, die Sünde ist schwer,“ begann Asad endlich nach langem Kopsfchütteln. „Mein Leben setze ich auf’s Spiel, indem ich rede.“

Der weiße, junge Mann hing an den Lippen des Gärtnerburschen.

„Den Namen meines Brodherrn weiß ich nicht; von wannen er kommt, ahne ich nicht; die Sprache, die er spricht, versteh’ ich nicht.“

Der Unbekannte gab seine Ungeduld durch eine verzweifelte Gebehrde zu erkennen.

„Jedoch, Sidi, so viel ist gewiß, mein Herr lebt erst seit zwei Jahren im Lande der Sonne; das Abendland ist seine Heimath; der Prophet mag wissen, warum er es verließ! Vielleicht war es ihm unter den Ungläubigen zu geräuschvoll, denn kein Marabout lebt einsamer als er. – Ich will Dir sagen, schöner Sidi, er ist ein weiser Mann, der mit dem Schatz seiner Wissenschaft hieher in die Guta floh; denn er macht jeden Kranken gesund, wie dereinst der wunderthätige Paulus, der Apostel Sidna Aissa’s (Christus).“

„So ist er ein Arzt?“

„Nicht anders. Die Landleute befreit er vom Fieber, ohne dafür eine Kupfermünze anzunehmen. Geheimnißvolle Kräfte weiß er aus den Pflanzen, aus den Wurzeln, aus dem Erdreich zu ziehen, und er braut Zaubertränke, die dem Sterbenden neues Leben einflößen.“

„So steht dem Hilfsbedürftigen sein Haus offen?“

„Wo denkst Du hin, Kühner? Seine Thür ist Jedem verschlossen. Er zieht selbst zu Roß im Lande umher und heilt und lindert, zu ihm aber kommt Niemand.“

„Seltsam!“

„Es ist so todtenstill in der Villa, daß man oft meint, keine Seele wohne darin; denn das Weib seines Herzens lacht niemals ....“

„Er ist vermählt?“

„Nach Eurer Sitte nur mit einer Sclavin; sie ist lieblich wie eine Hyacinthe im Thal, aber“ – der Knabe deutete mit der [307] Hand auf die Stirn – „ich glaube, sie ist krank und seine Kunst scheitert an ihrer Herstellung. Die bösen Zungen erzählen viel Wunderbares – –“

„Und was? Rede.“

„Der Gebieter, so hörte ich, soll im Stande sein, das zarte Wesen in einen Zauberschlaf zu versenken, während dessen sie prophetische Worte spricht und in die Zukunft und in den geheimsten Winkel des Herzens späht. Damit tödtet er sie – kurz, er steht mit dem Satan im Bunde. Viele nennen ihn einen Vampyr, der alle drei Jahr ein Opfer auserkürt, das er so lange liebt, bis er ihm das Blut ausgesogen.“

Der Fremde lächelte über die erhitzte Einbildungskraft des Knaben; er wußte hinlänglich, daß die Europäer nicht sehr günstig im Orient beurtheilt werden und viel von der Intoleranz eines fanatischen Volkes zu leiden hatten. Scheinbar ging er jedoch auf Asad’s fabelhafte Aussagen ein.

„Deine Erzählung nimmt mich Wunder, brauner Knabe! Mich reizt es, das Opfer des räthselhaften Mannes, jene verschmachtende Hyacinthe, ein einzig Mal in der Nähe zu sehen!

Lausch’ auf, der Edelstein an meiner Hand ist Dein, verhilfst Du mir dazu!“

Asad heftete den glühenden Blick des Raubthiers auf die ihm versprochene Beute.

„Denke nach, und heut Abend, bevor der Sonne Feuer jenseit des Libanon verglommen, ist der Juwel in Deinem Besitz.“

Der Schweiß perlte Asad von den Haarwurzeln über die Stirn. „Unmöglich, Sidi; Du verlangst Unmögliches.“

Der Fremde barg seine Hand unter den Burnus und ging von dem Knaben fort, ohne weiter ein Wort zu verlieren.

Asad flog ihm nach, hielt ihn am Zipfel des Burnus fest und sprach mit leiser, nervös zitternder Stimme, wie Jemand, der sich zu einem Mord versteht: „In einer Stunde lustwandelt meines Herrn Weib im Garten; ihr Lieblingsplatz ist im Kiosk hart an dem Pfade, der zum Wiesenlande führt. Diesen Pfad ziehe zu Fuß oder zu Roß, wie Du willst – Dein Burnus verhülle Dich, aus daß man Dich für einen Mullah halte, der über Land zieht. – Jâ Allah! Dort wirbelt Staub auf! – Es ist mein Herr! Eile fort – nach links, daß Du ihm nicht begegnest, sonst schöpft er Verdacht, und dann wehe Dir und mir!“

Der Fremde sprang in das Blätterdickicht und irrte, ohne sich umzusehen, tief in die reizende Wildniß hinein. Zuletzt sank er erschöpft zu Boden, wie unter einer Centnerlast, umfaßte mit beiden Händen den duftigen Stamm einer Ceder und brach in heiße, heftige Thränen aus.

Traumhaft klang das Lied des Bettlers durch seine Seele:

„Schönes Damaskus! wie ein Smaragd aus der Einfassung gelber Topase hebst du dich aus dem goldnen Sand der syrischen Ebene empor!“



3.

Asad war unterdessen einem Reiter entgegengeeilt, der, im weißwollenen Gewande des Beduinen, auf einer schlanken Khelistute saß und sein Thier anhielt, als er den Knaben erblickte, dessen ehrerbietigen Gruß er durch ein stummes Kopfnicken erwiderte.

Asad wartete, bis sein Gebieter abgestiegen war, und führte alsdann das wiehernde Thier in den Stall.

Der hohe, stattliche Mann, den der Sclave soeben verrathen hatte, ging durch die Gartenanlagen gerade auf die Villa zu. Messaouda öffnete ihm.

„Wo ist sie?“ fragte der Herr des Hauses gebieterisch.

Die Negerin schlug eine Portiere zurück; vor einem Spiegel erblickte der Eintretende sein schönes Weib, welches, mit Perlen und reichen Schleiern geschmückt, im eignen Anschauen versunken stand.

Eine Verklärung kam über den Spender dieser Kostbarkeiten; seinem Munde entwich ein freudiger Ruf – er breitete die Arme aus, und die Glanzgeschmückte sank an seine Brust. –

Obgleich durch einen Bart und die Kleidung verändert, erkennen wir doch auf den ersten Blick Oliver, den berühmten englischen Arzt, in ihm wieder. Unter dem Namen Mac Johnson war er mit der Geliebten nach Damaskus entflohen; in ein Landhaus der Umgegend hatte er die lebende Verstorbene, die er Dolorida nannte, entführt und anfangs in jenem lieblichen Versteck die seligsten Stunden genossen.

Wie einem gestrandeten Ulyß, den die schönste der Nymphen bei sich aufgenommen hat, verflossen ihm die Tage. Um jeden Ueberdruß zu vermeiden, wendete er sich auch seiner früheren schriftstellerischen Thätigkeit wieder zu, doch auf dem Rande der ernsten, medicinischen Manuscripte fanden nicht selten Sonette und Dithyramben an Dolorida Raum. Diese lebte neben ihm wie eine Gefangene; er ließ sie nicht über die Grenzen seines Gartens hinaus.

Aber Gewissensqualen und Sorgen um die Zukunft, die natürlichen Folgen unerlaubter Verhältnisse, blieben auch für Oliver nicht aus. Oft schreckte ihn des Nachts ein wüster Traum; er sah sich entlarvt, gebrandmarkt, auf den Galeeren, wo ein scharfer Wind ihm den Angstschweiß auf der Stirn in Eis verwandelte; – oft hatte er am hellen, lichten Tage Visionen, in denen er glaubte, die Stimmen von Dolorida’s Angehörigen zu vernehmen, die sie ihm entreißen wollten; oder er wähnte sich von Phantomen umringt, die, ihre Leichentücher nachschleppend, ihn verfolgten und ihm entgegenheulten: „Leichenräuber! Leichenräuber! Du hast sie ausgescharrt. Uns war sie verfallen! Gieb sie uns wieder!“

Furchtbar war seine Angst, sich in solchen Phantasieen selbst verrathen zu haben. Mißtrauisch geworden gegen seine Diener, unnatürlich und fremd gegen die Geliebte, verursachte er sich und seiner Umgebung die größte Qual. Durch die täglichen Seelenkämpfe nahm sein Wesen schließlich etwas Schroffes an, dessen er mit aller Gewalt der Liebe nicht Herr zu werden vermochte.

Um sich zu versichern, daß er ohne jeglichen Verdacht lebe, trieb es ihn rastlos, unaufhaltsam durch die Umgegend dahin; in dem unbefangenen Wort. in dem unschuldigen Lächeln eines Bauernkindes, in der gleichgültigen Miene eines vorüberstreifenden Reisenden witterte er eine Anklage. Von den Furien seines Schuldbewußtseins verfolgt, fand er kaum noch in Dolorida’s Besitz Ruhe und Genuß. – – –

Oliver war mit Dolorida in den Garten hinabgestiegen.

„Du hast geweint?“ fragte er sie mit zärtlichem Vorwurf, ihr Kinn in seiner Hand sanft emporhebend.

„Nicht doch, Lieber,“ erwiderte sie mit erzwungener Unbefangenheit.

Oliver wandte das Gesicht von ihr ab. „Wie kann ich auch verlangen,“ murmelte er, „daß so viel Schönheit und Jugend sich mit einer lästigen Liebe begnüge! Heimweh nach der Welt verzehrt sie. – Ach, was bin ich doch elend!“

Und laut fügte er hinzu: „Was sucht Dein Auge auf der Wiese?“

„Ich verfolge die verwegenen Sprünge jenes Apfelschimmels, der jenseits derselben hin und her jagt.“

„Mehr bewundere ich den Reiter, der sein Thier zu einer so rasenden Gangart treibt! – Es ist irgend ein Damascener, der sein Pferd zu einer bevorstehenden Fantasia zureitet. Doch überlassen wir ihn seinem Schicksal; komm.“

„Nie sah ich Jemand mit so großer Gesckicklichkeit ein Pferd zügeln. Schau hin – es bäumt sich hoch empor! Doch glücklich bringt es den Reiter an den Dattelpalmen vorüber. – Jetzt sehe ich nichts mehr – die Bäume verdecken die Aussicht.“

Dolorida und Oliver gingen zusammen weiter. Sie stiegen einige Stufen zu einem weinumrankten Kiosk empor. Hier ließ sich Oliver’s Geliebte auf einen Divan nieder; er setzte sich ihr zu Füßen und blickte trunkenen Auges auf die bleiche, rührend schöne Frau, die auf seinen Wunsch die blendende Tracht der Orientalinnen angenommen hatte, wie eine Christensclavin, die an das Serail eines Padischah verhandelt worden.

„Könnte sie mir jemals entrissen werden?“ Dieser Gedanke zuckte durch sein Herz, während sie mit ihrem geheimnißvollen Lächeln auf ihn niederschaute.

Da! Horch! welch ein wahnsinniger Schrei des Entsetzens durchschneidet plötzlich die Luft?

Beide springen wie elektrisirt empor und sehen dicht unter sich auf dem Wiesenpfad den Reiter, dessen Roß wild in die Höhe bäumt und sich endlich mit ihm überschlägt.

Weit in die Wiese hinein geschleudert lag regungslos der Verunglückte, als hätte ein tödtliches Geschoß seine Brust getroffen. Dolorida, vor Schreck einer Ohnmacht nahe, verbarg ihr Gesicht an Oliver’s Schulter.

„Wahrlich, die Tollkühnheit ist dem Reiter schlecht bekommen,“ rief Oliver bestürzt, während der kühne Renner im Sturmgalopp mit flatterndem Schweife von dannen sauste.

[308] „Wir müssen ihm helfen,“ rief Dolorida, zu sich kommend.

„Sicher sind Leute in der Nähe!“

„Dort auf der Wiese? Kein Mensch!“

„Mir werden Andere zuvorkommen.“

„Um so besser. Zögere nicht, sei barmherzig, wie Du es immer bist ich bitte Dich! Vielleicht ist er todt! – Ich rufe Elias, daß er Dich begleite.“

Sicher würde Oliver sich nicht haben nöthigen lassen, aber er mußte vorsichtig sein. Durfte er auch ohne Gefahr in der Gegend umherziehen und den Kranken Hülfe bringen, so war es doch etwas ganz Anderes, einen Patienten in sein Haus nehmen. Allein was halfen diese Betrachtungen jetzt! Er konnte Dolorida’s Augen nicht widerstehen.

Auf ihren Ruf war Elias, ein kurdischer Diener, herbeigeeilt.

„Darf ich nicht mit Euch gehen?“ fragte Dolorida schüchtern.

„O nicht doch,“ sagte Oliver bestimmt, – „er könnte arg verletzt, ja verstümmelt sein, Deine Nerven sind zu zart für solchen Anblick. Geh auf Dein Zimmer, die Sonne ist unter, der Thau fällt naß. Ueberlaß mir jede weitere Sorge.“

Dolorida senkte schweigend den Kopf und kehrte traurig durch den Garten in die Villa zurück. Sie hatte nie gewagt, Oliver’s Befehlen auch nur den leisesten Widerspruch entgegen zu setzen. Die Negerin aber war entschlossener als ihre Herrin und neugieriger. Als nach zehn Minuten Stimmen und Schritte im Garten hörbar wurden, flog Messaouda hinab, um, wie sie sagte, ihrer Dame Bericht zu erstatten.

Oliver und Elias trugen einen ohnmächtigen jungen Mann an ihr vorüber; kaum ward Oliver der Dienerin ansichtig, als er ihr mit bedeutendem Blick zuflüsterte: „Messaouda, bereite diesem Fremden, der den Arm gebrochen hat, im Erkerzimmer ein Lager.

Hafte mir mit Deiner Seele dafür, daß Deine Gebieterin ihn nicht sieht; sein Anblick würde ihr schaden. Du weißt, wie bedenklich ihr Zustand ist; – bewache sie sorgfältig.“

Die Schwarze küßte Oliver´s Mantelsaum mit Unterwürfigkeit und folgte auf den Zehen beiden Männern, die den Bewußtlosen in das Haus, die gewundenen Stiegen hinan trugen. Seltsame Gedanken gingen ihr wie ein Fieberstrom durch den Kopf.

Oliver befand sich in einer kritischen Lage; ein Fremder plötzlich unter seinem Dache; – wie sollte er Dolorida’s Fragen nach dem Kranken ausweichen? Ihr Wunsch, ihn zu sehen und zu pflegen, konnte nicht ausbleiben. Eifersucht, Furcht und Ungewißheit trieben ihn wie mit Geißelhieben vom Bette des Patienten, bei welchem er die Nacht durchwachte. Den Kranken schon am andern Morgen wieder fortzuschaffen, wäre zwar möglich, aber grausam und auffallend gewesen und hätte der Geliebten Abscheu, wohl gar Haß gegen Oliver eingeflößt. Er schauderte aber selber um so mehr vor einem solchen Schritt zurück, da tausend Stimmen in seiner Brust für den blassen jungen Mann sprachen. Vom ersten Augenblick an, wo er den Verunglückten auf der Wiese gefunden, und Jener, noch bei Besinnung, ihm dankbar lächelnd die Hand gedrückt hatte, fühlte der Arzt sich wunderbar ergriffen, ja hingerissen. Er bequemte sich daher, seine Rolle geduldig bis zu Ende zu führen.

Wohl erkannte er in dem Patienten einen Europäer, doch diese Entdeckung erhöhte seine Sympathie und besiegte endlich das Widerstreben, mit welchem er den Fremden in seine unzugängliche Häuslichkeit aufgenommen hatte.

Nach mehreren Stunden – um Mitternacht – kam der junge Mann zu sich, richtete sich in den Kissen auf und zeigte eine klare Besinnung, obgleich eine sichtliche Erregung ihm das Blut in die Wangen trieb und sein Athem sehr kurz ging. Er dankte seinem Pfleger in sehr gutem Französisch mit der rührendsten Erkenntlichkeit; Oliver, der seinen Arm untersucht hatte, gab ihm die Versicherung, der Bruch sei ungefährlich und empfahl ihm die größte Ruhe.

Der Kranke, voller Geduld und Hingebung, bat Oliver, sich schlafen zu legen, denn er wollte selbst noch einige Stunden vor Sonnenaufgang der Ruhe genießen.

Oliver ging in ein Nebengemach und warf sich angekleidet auf das Bett. Nach kurzer Zeit aber vernahm er in dem Krankenzimmer ein heftiges Stöhnen, ein tiefes, schmerzliches Seufzen; es klang, als beschwöre eine verzweifelnde Seele im Todeskampf eine andere ewig Verlorne, unversöhnliche Seele.

Olivern ging es durch Mark und Bein; er sprang auf und eilte zu seinem Gast. Er fand ihn anscheinend ruhig schlummernd; nur seine Hände lagen convulsivisch geballt auf seiner Brust.

Kopfschüttelnd stand Oliver neben ihm.

„Ihn quälen nicht physische Schmerzen,“ sagte er beim Anblick des Schlafenden; „ein böser Traum scheint ihn zu ängstigen. Ich kenne solche Leiden!“ setzte er leise hinzu. „Doch werden sie den meinigen nicht gleich kommen. Aber eine so reine, faltenlose Stirn verbirgt keine lichtscheuen Gedanken; – sein Kummer ist milderer Art, vielleicht „sanft wie Erinnerung an begrabne Liebe“?“

Und mit Rührung im Auge blickte Oliver in das Antlitz des jungen Mannes, der wie schlaftrunken vor ihm lag.

„Wie schön er ist! – Nie darf Dolorida ihn erblicken, niemals!“ so flammte die Leidenschaft tödtlicher Eifersucht in ihm auf.

Wie aber ward ihm am nächsten Morgen, als sein Patient, der sich der schmerzlichen Einrenkung des Arms, ohne nur eine Miene zu verziehen, unterworfen hatte, ihn plötzlich im reinsten Englisch anredete, mit dem Bemerken, Oliver sei ihm in Damaskus als der weise, englische Arzt Mac Johnson bezeichnet worden. Glücklicherweise verlor Oliver nicht seine Geistesgegenwart; außerdem legte sich sein Mißtrauen nach den ersten Gesprächen mit Lord Douglas, der zwar seiner Aussage nach in London geboren war, seit seinem sechsten Jahre jedoch in Ceylon gelebt hatte. Ohnehin gewann Oliver aus dem liebreichen Wesen des Lord die feste Ueberzeugung, dieser könne sein böser Engel nicht sein und ihn niemals verrathen.


(Schluß folgt.)



Ein Bildermann der Kinderwelt.

Der Maler Hubert Salentin in Düsseldorf ist einer von den lieben Bildermännern, die das Spielleben der Kleinen darstellen zur innigen Herzensfreude aller Großen. Betrachten wir den beistehenden Holzschnitt. Wie wirklich stolz steigt der kleine Bräutigam mit dem Strauß im Knopfloch der Jacke daher neben dem größeren Mädchen, zu dem er lächelnd emporschaut! Das Mädchen aber gar ist ein Muster von Schalkhaftigkeit. Wie sie das Köpfchen so steif hält, damit der Brautkranz nicht herabfällt, und wie sie die Augen niederschlägt, ganz so, wie sie’s bei allen Bräuten gesehen! Wie hält sie das Schürzchen fein mit angeborener weiblicher Grazie! Und nun gar die übrige Gesellschaft, der kleine Hemdläuter mit seiner Trichtertrompete, der andächtig singende Stürzenschläger, der fröhliche Geiger mit dem urthümlichen Instrument, das tanzlustige Pärchen etc. Würdig eröffnen ein Paar vor dem Brautpaar daherfliehende Hennen den Festzug, auf den die junge Magd von der Thür herschaut. Wir Alle aber setzen uns im Geiste zu dem Großmütterchen, das mit dem milden Lächeln, wie es nur von einer schönen Erinnerung hervorgerufen wird, einen Blick, wie ihn der Künstler nicht feiner ablauschen, nicht schöner als einen in stiller Freude segnenden darstellen konnte, aus der kindlichen Braut ruhen läßt.

Der Maler Hubert Salentin wurde geboren am 16. Jan. 1822 zu Zülpich in der preußischen Rheinprovinz. Die Spuren seines Talents zeigten sich außerordentlich früh und wurden von der sinnigen Mutter ebenso bald erkannt uns freudig gepflegt. Als aber Hubert in seinem achten Lebensjahre den Vater verloren hatte, machten die Vormünder den Lieblingswunsch der Mutter und des Kindes mit dem Einwürfe zunichte, daß ja in der ganzen Gegend Niemand etwas malen lasse und man davon also nicht leben könne. Da entschloß Hubert sich, das Schmiedehandwerk, und zwar in Köln, zu erlernen, und schon im Frühjahr 1836 zog er wohlgemut in Begleitung seiner Mutter dorthin, die Kleider in einem Bettkissenüberzuge, und dabei ein großes Weißbrod, welches die Mutter selbst gebacken, als Willkomm für den Meister.[1]

Was Hubert hauptsächlich bewog, seine Lehrjahre in Köln zu bestehen, war die Hoffnung, in der großen Stadt schöne Bilder zu sehen und die Freistunden zur Malerei zu benutzen. Allein in seinen ganzen drei harten Lehrjahren war an keine Zeit für die Malerei zu denken. Um so größer war die Freude, als endlich

[309]

Kinderbrautzug.      Xylogr. Anstalt von Brend’amour.
Originalzeichnung von Hubert Salentin.

[310] die Lehrzeit um war. Gleich den ersten Gesellenlohn verwendete er zum Ankauf eines Aquarellkastens sammt Tusche und Pinseln und fing nun an, des Sonntags zu zeichnen und zu malen. Er copirte Alles, was er bekommen konnte, und freute sich von einem Sonntag zum andern auf seine Lieblingsbeschäftigung.

Ein Uebelstand, der ihm viel Kummer machte, war der, daß seine Mitgesellen seine Arbeiten zwar bewunderten, aber durch das fortwährende Angreifen mit den niemals reinen Fingern sehr beschmutzten. Es mußte also auf ein Material gedacht werden, welches sich waschen ließ. Ein neben ihm wohnender Anstreicher besorgte ihm nun Oelfarben, und das erste Bild, welches Hubert malte, stellte den Räuberhauptmann Rinaldo vor, schrecklich blutdürstig anzusehen. Da er aber zu viel Oel in die, Farben genommen, so waren dem Räuber, als er kaum eine Stunde an der Wand gehangen, die Augen bis auf die Schuhe herunter gelaufen. Allmählich ging es jedoch besser, und Hubert fing schon an, den Meister und die Gesellen zu portraitiren, und es gab immer ein fürchterlich Halloh, wenn das Bildniß ähnlich befunden wurde. So waren ihm sieben Jahre glücklich verflossen, als im Jahre 1846 in seiner Vaterstadt ein Schmiedemeister starb; die Mutter kaufte dessen hinterlassenes Werkzeug, und nun ward Hubert Salentin wohlbestallter Meister des Handwerks in Zülpich.

Das heitere Temperament des jungen Schmiedemeisters verschaffte ihm überall viele Freunde, und das Geschäft blühte bald ganz erfreulich. Salentin konnte jetzt mehr über seine Zeit verfügen und benutzte die freien Stunden ausschließlich zur Malerei.

Ein glücklicher Zufall wollte, daß einmal ein Düsseldorfer Maler E. Stammel, nach Zülpich kam. Salentin erfuhr dies, machte sich sogleich, nicht ohne Herzklopfen, an ihn und lud ihn ein, seine Arbeiten zu sehen. Allerdings kamen sie diesem höchst curios vor, aber er lobte sie dennoch sehr und schrieb zugleich dem Hubert die richtigen Malerfarben und Pinsel auf. Nun fing eine neue Aera für unsern Künstler an. Das war ein ganz anderes Material, damit ließ sich etwas machen! – Unterdessen waren seine Kunstleistungen in der ganzen Umgegend bekannt geworden, die Bauern bestellten bei ihm nun Kirchenfahnen und dergleichen, und er malte das Alles, wie er selbst sagt, schauderhaft schön. Niemand freute sich darüber mehr, als die Mutter. Nicht wenig hob und förderte ihn auch der Umgang mit dem jetzigen Sanitätsrath und königl. Brunnenarzte L. Alfter, der ihm bildende Bücher und besonders anatomische Werke mittheilte, und mit der liebenswürdigen Familie desselben.

Was war aber natürlicher, als daß nun doch einmal die ganze Schmiederei dem Salentin zuwider werden mußte? So geschah es auch, und so entschloß er sich endlich, sie aufzugeben und sich ganz auf das Portraitmalen zu legen. Eines frühen Morgens wurde der Ranzen gepackt, und Salentin zog zum zweiten Male gen Köln.

Salentin schlug sein Atelier in einem sehr bescheidenen Wirthshause auf. Trotz aller Anstrengung wollte sich jedoch anfangs Niemand finden, der sich malen ließ. Endlich machte er den Anfang mit seinem Wirth, der einen Buckel hatte und den er ohne Buckel dennoch ganz ähnlich darstellte. Dieses ermunternde Beispiel zog an, es kamen nun Soldaten an die Reihe, namentlich Hautboisten, dann stellten sich auch Bürgersleute und dergleichen ein, bis sich zuletzt Salentin’s Bekanntschaft so weit ausdehnte, daß er vollauf zu thun hatte und reichlich Geld verdiente. Niemand war nun glücklicher als er, und zugleich benutzte er die damals in Köln unter Ramboux’s Leitung bestehende Kunstschule, in welcher nach der Natur und der Antike gezeichnet wurde. Es kam auch die alljährliche Ausstellung, und auf dieser sah Salentin zum ersten Male die neuen Schöpfungen großer deutscher Meister. Da war’s mit seiner bisherigen Zufriedenheit vorbei. Nichts konnte ihn abhalten, sofort nach Düsseldorf zu gehen. Hier reichte er seine Zeichnungen bei der Akademie ein und wurde in den Antikensaal aufgenommen. So bezog Hubert im Herbste 1850, 28 Jahre alt, die Akademie. Unter Leitung Sohn’s und später Tidemann’s gingen die Studien rasch und mit Erfolg von statten, er kam sehr bald in die Malclasse und machte schon im nächsten Herbste eine Studienreise in den Schwarzwald, von wo er so schöne Studien mitbrachte, daß er nun unter Dir. Schadow’s Leitung ein eigenes Atelier bekam.

Sein erstes Bild, „der Freier“, wurde mit großem Beifalle aufgenommen; ebenso sein „Feuer-Ausbruch während des Gottesdienstes“, ein sehr lebendiges und figurenreiches Bild, sowie auch die anmuthige Darstellung des „Findelkinds“. Nicht weniger Freunde fanden „die Mutter mit dem blinden Knaben“, „die Rettung eines Kindes aus dem Brunnen“, „die Predigt des Eremiten“, „die Rückkehr von der Taufe“ und viele andere kleinere Arbeiten. Seine „Katechisation“ und unser „Kinderbrautzug“ gehörten zu den besten Genrebildern der zweiten deutschen Ausstellung in Köln. – Sein letztes größeres Bild, „die Dorfkirche“, wurde für die städtische Gallerie in Düsseldorf angekauft; es ist ein Bild voll Naturwahrheit und feiner Charakteristik, und ausgezeichnet durch all die Vorzüge der Arbeiten Salentin’s, die namentlich in der tiefen Empfindung, feinen Zeichnung und edlen Färbung demselben bestehen. Wenn wir auf Hubert Salentin’s Lebensgang zurückblicken, so wird Jedermann beistimmen, daß man mit Wahrheit von ihm sagen kann: „Er war seines Glückes Schmied!“




Ein Kämpfer für das Kaiserhaus.

Schluß

Zu Innsbruck angelangt, wollte sich Lefèbvre nach seiner schmählichen Flucht Ruhe verschaffen. Da kam es am 13. Aug. zu der Schlacht am Berg Isel. Während sich Speckbacher auf dem rechten Flügel unvergängliche Lorbeeren pflückte, führte Haspinger auf dem linken, der sich auf die Höhen ober der Gallwiese stützte, den Befehl. Es ward mit wechselndem Glücke gerungen, als eine frische Colonne Baiern heranzog, um den waldigen Abhang zu stürmen. Haspinger ließ den Fußsteig an geeigneter Stelle mit den über einander geworfenen Leichen der Gefallenen verbarricadiren und legte rechts und links die besten Schützen in den Hinterhalt. Im rechten Augenblicke gab er das Zeichen, die Tyroler erhoben sich vom Boden und warfen den Feind unter großen Verlust in die Tiefe hinab. Wir lesen in Haspinger’s Tagebuch: „Nun trat auf diesem Punkt einige Ruhe ein, welche die Schützen nach dieser grausamen Arbeitsstunde dahin benutzten, ihre durch Hitze und Pulverdampf erstarrten Zungen wieder etwas mit Wein oder Wasser zu laben, den ihnen patriotische Weiber bis auf ihre äußersten Vorwachen zutrugen.“ Auch der Feind rastete, von der Sonnengluth und der Anstrengung des Tages erschöpft. Gegen Abend führte Lefèbvre selbst ein Bataillon des Regiments Habermann zum Sturm, kehrte jedoch, als neben ihm zwei Officiere getroffen vom Pferd sanken, hastig wieder um. Sehr charakteristisch ist eine Episode dieses Kampfes. Der Kapuziner trug einen weißen Stecken, auf dessen Spitze das Bild des Ordensheiligen Antonius geschnitzt war. Er zeigte ihn den Tyrolern mit dem Ausrufe: „Der wird uns führen, der ist unser Commandant!“ Da schlug eine Kugel das geweihte Bild herab, schon stutzten die Schützen und wollten, diesen Zufall als böses Zeichen deutend, davonlaufen. Haspinger erkannte aber sogleich die üblen Folgen, besann sich nicht lange, sprang über einen Zaun, riß ein schweres Feldkreuz aus dem Boden und hielt es den Schützen vor mit den Worten: „Seht, nun ist der Größere unser Commandant! Mir nach, wer’s christlich meint.“ Unter schallendem Jubel drangen die Schützen vor und rollten die Baiern in wilder Flucht über den Berg hinab. Das einbrechende Dunkel der Nacht endete den Kampf, Lefèbvre entschloß sich knirschend zum Rückzug – vor der Canaille, welche er mit seinem Marschallsstab blutig zu züchtigen prahlte.

Die Tyroler verfolgten den Feind an den Flanken des Gebirges, auch hier würde diesem die Besetzung der Defiléen von Schwatz und Bomp mit ausreichender Mannschaft eine Katastrophe bereitet haben, aber auch hier fehlte es an Uebersicht und raschem Entschlusse. Ein großer Theil der Compagnien verlief in die Heimath, am schlechtesten hielten sich die Vinschgauer, welche bei jedem ernsten Gefecht, nach Hofer’s eigenem Zeugniß, durchbrannten; die Oberinnthaler, oder besser gesagt, eine kleine Zahl derselben, beschäftigten sich nicht ungern mit Raub und Plünderung, wobei besonders die Juden zu Innsbruck übel wegkamen. In dem Hause eines solchen hob ein Bauer, als es nichts mehr zu rauben gab, die schwere eiserne Thüre aus und trug sie viele Stunden weit als Beute auf dem Rücken über die Berge. Dort [311] machte ihm jedoch der Ortspfarrer über sein Beginnen so eindringliche Vorwürfe, daß er umkehrte und die Thüre dem Juden wieder an Ort und Stelle brachte. Solchem Unfug trat Haspinger überall streng entgegen. Als ein Schwarm Oberländer die Salzcasse zu Hall erbrechen wollte, lief er mit einigen Passeirern herbei; einer der Räuber schlug das Gewehr auf ihn an, welches sich in dem Augenblicke entlud, als er den Lauf bei Seite drückte. Die Passeirer faßten den Frevler und erschossen ihn vor der Thüre, die andern wurden mit Schub nach Hause geliefert. Bei Brixlegg entspann sich noch ein Gefecht mit der Nachhut des Feindes, welches diesen veranlaßte, das Land so schnell als möglich ganz zu räumen.

Hatte die Noth die Tyroler stark gemacht, so schwächte sie nach dem ruhmvollen Siege Zwietracht und Mangel an verständiger Leitung. Viele Compagnien verliefen, indem sie es den von den Franzosen schrecklich mißhandelten Unterinnthalern überließen, sich selbst zu vertheidigen; was noch von Schützen beisammen blieb, hatte kein Geld, kein Pulver und Blei. Da übernahm Speckbacher das Commando der Vorhut, während Haspinger nach Innsbruck eilte, um dem Obercommandanten die Noth zu klagen. Es ist folgendes ergötzliche Gespräch aufgezeichnet. Hofer antwortete, anstatt zu helfen, auf die Beschwerden des Mönchs: „Gott wird’s bald anders machen!“ Dieser erwiderte darüber aufgebracht: „Du mußt den Leuten nicht immer sagen: Gott wird schon schaffen, Gott wird schon helfen! Du bist Commandant und mußt Mittel schaffen.“ Nun trug Haspinger sein Anliegen vor, Hofer entgegnete: „Ich habe jetzt allzu viele Staatsgeschäfte und kann unmöglich für Alles sorgen.“ Diesen Bescheid wies der Kapuziner zurück: „Bruder, laß die Staatsumwälzungen bei Seit, laß Alles bei der alten vorigen Verfassung und folge mir! Zuerst müssen wir den Feind von unsern Grenzen entfernen, dann unserem in die äußerste Bedrängniß versetzten Monarchen zu Hülfe eilen.“ Der verwegene Mönch hatte nämlich nichts Anderes im Sinn, als schließlich gegen Napoleon selbst zu marschiren. Hofer sah die Gerechtigkeit seiner Vorwürfe ein und beorderte, um ihn zufrieden zu stellen, einige Compagnien in das Unterinnthal. Sie wurden auf Flößen zu Hall eingeschifft und fuhren den ganzen Tag stromabwärts bis Wörgl, wo die Vortruppen Speckbacher’s standen. Es war dunkle Nacht; wie staunte Haspinger, als er nirgends Posten ausgestellt fand, kein Wachtfeuer sah und endlich in den Häusern einige Schützen traf, welche gemüthlich schnarchten, als gälte es ein Scheibenschießen und nicht den Krieg. Das war Speckbacher’s Verwegenheit, die gestraft werden sollte. Der Mönch steckte Schützen in die Montur bairischer Soldaten, ließ sie in das Zimmer schleichen, wo Speckbacher schlief, und seinen Stutzen verstecken. Dann wurde vor dem Hause Alarm getrommelt. Speckbacher fuhr auf, sah betroffen die bairischen Soldaten, schielte in die Ecke, wo sein Stutzen lehnen sollte, und blieb, als er ihn nicht mehr dort erblickte, ruhig liegen, indem er murmelte: „Wie Gott will!“ Nun trat Haspinger ein und las ihm für diese Nachlässigkeit gehörig den Text.

Im September rückte der Mönch, verstärkt durch den Landsturm der Salzburger, in das Pinzgau und erstürmte, trotz der tapfersten Vertheidigung der Baiern, den Paß Lueg am 25. Der Sieg wäre noch vollständiger gewesen, wenn ein Schwarm Schützen, die er zur Umgehung der feindlichen Truppen unter Metz ausgesendet, rechtzeitig eingegriffen hätte. Haspinger war über diese Verzögerung so empört, daß er Metz, als er endlich ankam, vom Pferde riß und mit den Worten in eine Pfütze warf: „Das ist Dein verdienter Platz!“ Am 29. September erreichte er Hallein und damit den Wendepunkt seines Glückes. Während er nach Schladming eilte, um von dort aus Kärnthen und Steiermark aufzubieten, während er schon davon träumte, den Sieger von Wagram selbst gefangen zu nehmen, ließ Lefèbvre am 3. October Hallein überfallen und warf die Schützen mit namhaften Verluste in den Paß Lueg zurück. Dort suchte man sich zu vertheidigen, da jedoch Speckbacher am 17. October bei Loser überrascht und geschlagen wurde, blieb nichts Anderes mehr übrig, als der Rückzug. Haspinger eilte in einem Wagen nach Tyrol zurück und traf am 27. October zu Steinach ein. Unterdeß war General Drouet wieder bis an den Berg Isel vorgedrungen, wo Tyrol seine herrlichsten Siege erfochten; wohl standen noch die alten Felsen, aber in den Tyrolern war der Muth gelähmt, mit dem sie bisher geschlagen. Allmählich hatten sie sich überzeugt, daß für sie, nachdem Oesterreich Frieden geschlossen, keine Aussicht auf den Sieg mehr vorhanden sei; freilich konnten Viele noch immer nicht glauben, man habe sie so schmählich preisgegeben. Daher fochten sie nur mit halbem Herzen, und die dritte Schlacht auf dem Berg Isel endete am 1. November mit rascher Flucht. Droben im Mittelgebirge bei Hötting steht eine Capelle mit dem hölzernen Bild unseres Herrn auf dem Oelberg. Hier fielen die letzten Schüsse. Die Führer der Tyroler beriethen sich trübselig und niedergeschlagen zu Steinach, denn es waren fast unwiderlegbare Berichte über den Abschluß des Friedens eingetroffen. Am 29. October überreichte der Baron Lichtenthurn Andreas Hofer einen Brief des Erzherzogs Johann, welcher den Tyrolern bisher auch gar viele schöne Worte gegeben, denen die That nicht entsprach. Der Prinz bestätigte den Abschluß des Friedens mit dem kühlen Beisatze, der Wunsch des Kaisers gehe dahin, daß die Tyroler sich ruhig verhalten und nicht zwecklos aufopfern möchten. Lichtenthurn war von Jugend auf mit der Fallsucht behaftet; als er seine Trauerpost mittheilen wollte, stürzte er zu Boden und erlag einem sehr heftigen Paroxysmus. Haspinger, dessen religiöse Begeisterung unter dem einbrechenden Unglück in wilden Fanatismus umgeschlagen war, erkannte darin die Strafe Gottes, welche, wie einst den Ananias, so jetzt den Baron als Ueberbringer einer lügenhaften Botschaft treffe. Wüthend zerriß er die baierischen Friedensproclamationen und hetzte die Leute zum Widerstande. Hofer wollte auf Zureden Roschmann’s mit den Pferden, die er einem feindlichen Oberst abgenommen, nach Innsbruck fahren, um sich Drouet zu stellen. Da stürzte der Mönch in das Zimmer, überschüttete die Anwesenden mit Schimpf und Drohungen, indem er alle Nachrichten für Prellerei erklärte und für diese Behauptung mit seiner priesterlichen Ehre einstand. Hofer stets gewohnt, die Geistlichen als Wesen höherer Art zu betrachten, war ganz verblüfft und gehorchte, trotz aller Gegenvorstellungen von Seiten der Anwesenden, dem Kapuziner, der allsogleich den Wagen umwenden und nach Matrei fahren ließ. Das war der Knotenpunkt im Trauerspiel von Tyrol, hier trat das Volk und einige seiner Helden in die Schuld ein. Dies ist der schwarze Fleck in Haspinger’s Leben, an dem jedoch jene, welche das Vertrauen eines schlichten Volkes für ihre Zwecke ausbeuteten, weit mehr Schuld haben, als er, der ihnen blindlings vertraute.

Lichtenthurn’s Nachricht sollte nicht vereinzelt bleiben. Zwei Bauernburschen fingen einen französischen Courier ab, seine Depeschen verkündeten den Frieden. Das war doch zu bedenklich, auf diese Entdeckung hin trat man in Steinach, wie wir oben angedeutet, zur Berathung zusammen. Als man von Unterwerfung sprach, versuchte Haspinger einige Gegenbemerkungen, wurde aber bald zum Schweigen gebracht. Hofer verhielt sich leidend, er hatte nur den Wunsch, man möge die neue Regierung bitten, den alten Glauben und die Bettelmönche zu schonen, desgleichen auf Erleichterung der Steuern und Abgaben antragen. Schließlich unterfertigte er der Erste das Schreiben an den Vicekönig von Italien mit den Worten: „Nu, in Gott’s Namen, ’s wird unser lieber Herr Gott wohl Alles recht machen!“ Nur Haspinger unterzeichnete nicht. Wäre es bei diesem friedlichen Abkommen geblieben! So ließ sich Hofer noch einmal in den Kampf hinreißen, schwankend und unsicher, wem er glauben solle; auch Haspinger, der auf seiner Flucht in die Schweiz aufgehalten worden war, trat leider noch einmal an seine Seite und nahm an den hoffnungslosen Angriffen theil. Wir wissen, wie die Tragödie endigte – auf den Wällen Mantua’s, wo Hofer’s Leiche ohne Ehren eingescharrt wurde und – soweit es den Kaiser Franz, für den er sein Blut vergossen, betrifft – auch ohne Ehre eingescharrt geblieben wäre, wenn nicht später einige Officiere aus Tyrol auf eigene Verantwortung die Gebeine des Märtyrers ausgegraben und in die Heimath zurückgetragen hätten.

Kehren wir zu Haspinger zurück. Er flüchtete zuerst in die Schweiz, wo er zwar Aufnahme in einem Kloster fand, ihm jedoch bedeutet wurde, er sei hier in großer Gefahr, von den Franzosen aufgehoben zu werden. Wo sich hinwenden? Der kühnste Entschluß ist in solchen Fällen auch der beste. Er erinnerte sich an Schloß Tschengls im Vinschgau, wo er auf einer Wallfahrt den Verwalter kennen gelernt hatte. An diesen wandte er sich hülfeflehend, er möge ihm Unterkunft irgendwo im weitläufigen Gebäude gewähren. Obwohl Leib- und Lebensstrafe darauf gesetzt war, wenn Jemand den Mönch herbergte, ohne ihn auszuliefern, so erbarmte sich doch der wackere Perlinger und sein braves Weib des [312] Unglücklichen und öffneten ihm eine Kammer, wo er nenn Monate elendiglich zubrachte. Endlich wurde auch dieser Aufenthalt verrathen; noch rechtzeitig gewarnt, entfloh Haspinger um Mitternacht am 24. August 1810 über das Gebirg in die Schweiz. Zu St. Maria gewährte ihm der reformirte Pfarrer Püsch acht Tage sichere Unterkunft, dann ging er nach Chur und arbeitete dort als Tapezirer auf dem Schlosse der Gräfin Fuchs. Er hatte sich nämlich zu Innsbruck die Kenntniß dieses Handwerkes, da er bei einem Tapezirer wohnte, einigermaßen angeeignet. Bald darauf schlich er unter tausend Gefahren durch Italien nach Kärnthen. Auf der letzten Station vor der österreichischen Grenze übernachtend, traf er beim Abendessen mit einem französischen Officier zusammen; das Gespräch lenkte sich auf die Kriegsereignisse in Tyrol, und auch vom Mönche ward erzählt. Nachdem Haspinger Tags darauf die österreichische Grenze überschritten, gab er dem Unterofficier, welcher dort die Wache versah, einen Zettel mit seinem Namen darauf, daß er ihn seinem Tischgenossen vom vorigen Abend überreiche. Der Franzose war sehr erstaunt über den gefährlichen Gast, machte jedoch nach einigen Tagen einen kleinen Ausflug in das österreichische Gebiet, um sich mit ihm frei und rückhaltlos zu besprechen. Sie schieden als die besten Freunde.

Zu Wien wurde er in den ersten Tagen des November dem Kaiser Franz vorgestellt. Der Mönch war von Schmerz und Rührung so erschüttert, daß ihm die Thränen aus den Augen stürzten und die Stimme versagte. Nach einigen Tagen wurde er wieder bestellt, er erzählte vom Kriege und bat vor Allem den Kaiser um Hülfe für jene Tyroler, welche in Folge der Zeitereignisse Weib, Kind und Habe zurücklassend hatten flüchten müssen. Die meisten von ihnen erhielten kleine Pensionen; schwerlich aber belief sich die Gesammtsumme dieser „Gnadengaben“ so hoch, als die Pension von zwei Generalen, welche durch ihre Dummheit dem Kaiser Schlachten verloren und über das Reich tausendfaches Unheil gebracht hatten. Haspinger blieb vorläufig im Kapuzinerkloster zu Wien, wurde jedoch bald daraus durch den Erzbischof von Wien aus dem Ordensverbande entlassen und mit einer Pfarrstelle in Niederösterreich betraut. Dort versah er die Seelsorge, stets seiner gefallenen Waffenbrüder im Gebete eingedenk. Nach und nach beschlich ihn jedoch das Alter, und er wurde als dienstunfähig pensionirt. Gern erzählte der Greis von seinen Thaten, dabei ein Glas Wein schlürfend und im Eifer nicht selten vergessend, daß er in seinen alten Tagen weniger vertrage, als einst in der Jugend, wo er in der Stube beim Sandwirth Etschlands Rebenmost trank. Wie funkelte da sein Auge, wie richtete sich seine ganze Gestalt empor! Krampfhaft ballte sich die Faust und die Rede floß mit einem Feuer, daß man sich fast in die unmittelbare Gegenwart jener längst entschwundenen Ereignisse zurück versetzt fühlte. Ein junger Herr, der einmal bei einem solchen Anlasse zuhörte, rief staunend aus: „Nicht möglich, nicht möglich!“ Haspinger erhob sich, ihn mißverstehend, grimmig und gab ihm eine fürchterliche Ohrfeige mit der weisen Lehre: „Jetzt merk Dir’s, Bue, daß es möglich ist.“ In späteren Jahren verwirrte sich das Gedächtniß Haspinger’s, stets erzählte er zwar die nämlichen Abenteuer, verwechselte jedoch Nebenumstände, Zeit und Ort und vergrößerte die Zahlen. Daher mußte man in der Annahme von Thatsachen, welche aus seinen mündlichen Angaben beruhen, äußerst vorsichtig sein; nicht daß er lügen wollte, er war durchaus eine ehrliche Seele, ein kindliches Gemüth, allein er zollte der Schwäche des Alters seinen Tribut. Dies benutzte mancher Strolch, um nachträglich ein günstiges Zeugniß zu erschleichen; Haspinger bestätigte ihm alle erdenklichen Heldenthaten, wenn er nur keck vortrat und ihm in’s Gesicht behauptete: „Du wirst Dich wohl noch erinnern, daß ich damals bei Dir war und dieses gethan habe.“ Der gute Mann, obwohl hundert Mal betrogen, konnte nicht glauben, daß Jemand so schlecht sei, geradenwegs zu lügen.

So erfreute er sich, trotz seiner Schwächen hochverehrt, eines ruhigen Alters. Da brach 1848 der italienische Krieg los, und die Welschen bedrohten die Südgrenze Tyrols. Allsogleich versammelten sich die zu Wien anwesenden Tyroler und bildeten unter Hauptmann Adolph Pichler eine Compagnie, um zum Schutze des bedrängten Vaterlandes unter schwarz-roth-goldener Fahne an die Grenze zu marschiren.

Da trat plötzlich Haspinger in ihren Kreis und rief mit funkelndem Blick: „Ich will auch nochmals ausziehen, besser ist’s, mich trifft eine Kugel, als daß ich so verkomme.“ Er wurde von den Jünglingen mit Enthusiasmus begrüßt und sein Anerbieten, als Feldpater mitzuziehen, freudig angenommen, obwohl eigentlich nicht abzusehen war, was er noch leisten sollte. Auch die Regierung sah es gern, daß der alte Held nach Tyrol ging, sie hoffte, er werde die Bevölkerung zum Kampf gegen die Welschen begeistern. Der Erfolg entsprach freilich dieser Voraussetzung wenig, der alte Geist von 1809 war erloschen, und daran hatte die österreichische Regierung selbst die größte Schuld. Nicht ohne Mühe gelang es, die Schützencompagnien aufzubieten, Begeisterung war wenig zu bemerken. Als Haspinger in das Pusterthal, seine Heimath, gelangte und die Leute hörten, er sei da, kamen sie wohl in das Wirthshaus, wo er übernachtete, um den „alten Rebeller von Anno Neun“ anzuschauen, wenn er aber von diesem Jahr 1809 redete und man solle wie dort in Masse aufstehen, schüttelten die Männer bedenklich den Kopf, und Einer sagte geradezu: „Wofür?“ Die Angabe von Schönhals, Haspinger sei ausgezogen mit flatterndem Bart, ist ganz unrichtig; als Weltgeistlicher hatte er längst Bart und Kutte beseitigt, sein Kinn war völlig glatt, und er trug einen einfachen braunen Rock. Als man dem Feinde näher kam, schnallte er einen alten Degen um und steckte eine Pistole in den Gürtel. Am glänzendsten wurde er zu Klagenfurt empfangen; man führte ihn auf einem mit Laubgewinden verzierten Wagen in den öffentlichen Garten, wo die Studenten von den Bürgern bewirthet wurden. Er weinte helle Freudenthränen. Mehrere Damen baten ihn, er möge ihnen zum Andenken seinen Namen aufschreiben; er kritzelte mit Bleistift: „Joachim Haspinger und der Herzog von Danzing“. Endlich wurde es ihm zu viel, und er rief, als ihm ein Blatt nach dem andern gereicht wurde: „Na na, glaubt ’s denn, ich sei ein Schreiber?“

Am 4. Mai gelangte der Zug nach Roveredo, wo bereits Gerüchte von einem bevorstehenden Angriff verlautbarten. Nach einem altehrwürdigen Tyrolerbrauche berief Haspinger die Compagnie in die Kapuzinerkirche, um ihr die Generalabsolution zu ertheilen. Er hielt dort eine feurige Rede, die ahnen ließ, was der Mann einst in seiner Jugend gewesen sein mußte.

Die schlichten Worte brachten einen so tiefen Eindruck hervor, daß beim Aufbruche die lustigen Gesellen ernst und entschlossen ausrückten. Am 12. Mai traf die Compagnie zum ersten Male auf den Feind, es entspann sich ein kurzes, aber heftiges Gefecht, bei dem der Schütz Friese gerade an der Grenze zwischen Deutschland und Italien von einer Kugel fiel. Er hatte sich beim Plänkeln hinter den Grenzstein gestellt und ward an diesem Platze getroffen. Man trug ihn zurück. Es war ein erhebender Anblick, als der Heldengreis von 1809 den ersten Schützen, der in diesem Kriege getödtet wurde, mit dem schwarzen Priesterornat zum Grabe begleitete und ihm den Segen ertheilte. Die schwarz-roth-goldene Fahne flatterte im Morgenwinde, – das war eine schöne herrliche Zeit voll großer Hoffnungen, sie sind dort in das Grab gesunken, wie das Opfer des Krieges, welches die Schaar der Jünglinge der Erde übergab. Die Angabe, daß Haspinger an diesem oder einem andern Gefechte theilgenommen, ist völlig unwahr; Alter und Gebrechlichkeit machten es unmöglich. Nach der Beerdigung Friese’s veranlaßte der Hauptmann Pichler Haspinger, sich einige Stunden rückwärts zu den Reserven zu begeben, indem er erwog, daß es nicht gerathen sei, den Greis, welcher raschen Bewegungen nicht mehr folgen konnte, den Wechselfällen des kleinen Krieges auszusetzen. Haspinger willigte, von der Triftigkeit dieser Gründe überzeugt, ein. Nachdem die Dienstzeit der Compagnie abgelaufen war, kehrte der würdige Greis nach Wien zurück, verließ jedoch bald die Hauptstadt, um zu Salzburg einen dauernden Aufenthalt zu wählen. Hier feierte er am 9. September 1855 unter ungeheurem Zulaufe des Volkes in der festlich geschmückten Collegienkirche sein fünfzigjähriges Priesterjubiläum.

Noch waren ihm einige Jahre behaglicher Ruhe vergönnt, endlich unterlag auch er am 28. Jan. 1858 dem Tode, welchem er so viele Opfer vorausgesendet. Ruhig erlosch sein Dasein, wie Hofer treu und fromm verschied er in festem Gottvertrauen. Als der letzte Vertreter einer großen Zeit stieg er in das Grab, die Erzählungen seines beredten Mundes verklangen dem jüngeren Geschlechte, dem die Empfindungen von 1809 fremd geworden, wie Märchen der Vorwelt. In der Hofkirche zu Innsbruck steht das Denkmal des Sandwirthes. Aufmerksamer als Kaiser Franz ordnete Kaiser Franz Joseph an, daß zu seinen Seiten die Gebeine seiner bewährtesten Waffenbrüder ruhen [313] sollten. Man übertrug daher die Leiche Speckbacher’s von Hall, die des Kapuziners von Salzburg nach Innsbruck. Aber auch bei diesem schönen Feste der Erinnerung mußte die österreichische Polizei beweisen, daß sie trotz alledem und alledem auch noch vorhanden sei: Haspinger’s Leiche durfte, um Aufsehen zu vermeiden, erst in dunkler Nacht in die Stadt übertragen werden, und auch hier suchte man den Zutritt möglichst zu hemmen. Ein Veteran, der gekommen war, ihm die letzte Ehre zu erweisen, ging unwillig von dannen, kopfschüttelnd und brummend: „Ja, ja, sie sind halt noch die Alten!“

Ja, es sind noch die Alten, und wenn einst die wahre Geschichte des Jahres 1809 geschrieben werden darf, wird es sich herausstellen, daß die Tyroler stets die Betrogenen waren. Hierbei wäre vor Allem der Schriftwechsel des Erzherzogs Johann mit den Häuptern des Aufstandes von Belang. Im Hause Hofer’s wurden viele dahin bezügliche Actenstücke aufbewahrt, als jedoch die Wittwe des Helden starb, wußte sich der Prinz diese Schriften durch die Hand eines ergebenen Beamten zu verschaffen, und sie liegen nun im Archive zu Brandhof, wo die Einsicht in dieselben schwerlich Jedermann gestattet ist. Der gefeierte Reichsverweser dürfte dann in etwas anderer Gestalt erscheinen, als er sich selbst gern zeigte und als man ihn lange genug der Welt vorgemalt hat.





Silhouetten vom preußischen Landtage.

Nr. 3. Das Herrenhaus.

In der Absicht des Federzeichners lag es, den Silhouetten der nun glücklich von Amtswegen gebrandmarkten und doch wieder gewählten Fortschrittsmänner im preußischen Abgeordnetenhause als Pendant die der hervorragendsten Grabowianer, der Schaukelpolitiker, der stolzen Thatenscheuen, folgen zu lassen. Es gefiel dem Himmel, durch Auflösung des schönsten aller preußischen Abgeordnetenhäuser ihm durch diese Rechnung einen Strich zu machen. Versuchen wir unseren Pinsel also lieber in würdiger Weise an dem preußischen Herrenhause, diesem Musterinstitut des modernen Scheinconstitutionalismus. Es lebt ewig; man löst es nicht auf, wie den Ausdruck des Volks – man vertagt es inzwischen nur. Thut es sich also wieder auf, so ist es noch genau so, wie es gewesen war; höchstens, daß sich ein Paar aus dieser erlauchten Gesellschaft inzwischen als Minister amüsirt haben. Das soll uns jedoch nicht stören, sie nach wie vor als zum Herrenhaus gehörig zu portraitiren, insoweit es sich überhaupt der Mühe lohnt.

Als die Hohenzollern die Mark durch Pfandbesitz oder von Gottes Gnaden erworben hatten, begannen sie sofort einen Kampf gegen den eingesessenen Adel, um ihre Macht allein auszuüben, die übrigen Ritter niederzuducken. Alle preußischen Könige handelten desgleichen, denn die Beispiele der Geschichte lehrten, daß ein mächtiger Adel das Königthum als seinen Rivalen befehdet, wenn er es nicht beherrschen kann. Die preußischen Könige erzogen sich, in ganz richtiger Erkenntniß der Bedingungen ihrer Macht, eine Bourgeoisie, ein den Staat tragendes Bürgerthum, und sie hatten es nicht zu bereuen, denn Preußen wurde dadurch groß. Die Stein-Hardenberg’sche Gesetzgebung baute auf diesem Grunde das neue Preußen, denn der Staat beruhte auf der wachsenden Bedeutung des Bürgerthums. Auch die Krone erkannte diese Bedeutung an, freiwillig, und nach dem Heldendienst des Bürgerthums von 1813 bis 1815, der die Krone gerettet und verschönt hatte, versprach sie demselben als Belohnung eine rechtschaffene Mitbetheiligung an der Gesetzgebung des Landes. Der Lohn war wohlverdient, aber man erhielt ihn nicht. Erst 1848 verlangte man, nach öfteren Mahnungen, die Auszahlung desselben, theils als unbestreitbares Recht, theils weil Staat und Krone dadurch die Bedingungen neuen, zukunftsreichen Lebens erhielten. In letzter Zeit hatte überdies der Adel an der Befestigung seiner Macht wieder mit Erfolg gearbeitet, ohne daß es das Königthum – wie doch sonst – gehindert. Schon aus diesem Grunde mußte das Bürgerthum die Inbesitznahme des ihm zugesicherten Platzes im Staate beanspruchen, denn es bildete das innerste, intensivste, das wahre Leben Preußens, dessen Macht auch die seines Königs ist.

Aus dem unglücklichen Kampfe, der sich nun entspann, ging das Herrenhaus als Triumph des Adels hervor. Er hatte die Krone glauben gemacht, das Volk wolle all ihre Rechte usurpiren, herrschen, anstatt nur mitzuregieren; er bot seine Hülfe heuchlerisch dem irritirten Königthum an gegen das Volk, und so wurde dasselbe wirklich wie ein Feind zu Boden geschlagen. Der Adel aber profitirte allein von diesem unrühmlichen Siege: er schuf sich im Herrenhaus ein neues Bollwerk der Zukunft sowohl gegen das mächtig andrängende Bürgerthum, als auch gegen die Krone, wenn diese wieder erkennen würde, in welcher Täuschung sie befangen war. Und in diesem Herrenhause setzte sich der alte feudale Geist fest, den Preußens Könige immer bekämpft und welcher dem Bürgerthum keine Ebenbürtigkeit zugesteht. Er war damit wieder sanctionirt und saß dem Staate nun wie ein Pfahl im Fleische.

Im Herrenhause sitzt nicht der besonnene, leidenschaftslose Geist, welcher vor Ueberstürzungen in der Gesetzgebung bewahren und im Namen der Krone unliebsame Forderungen abweisen soll, um vor einer Aeußerung des allen Kämpfen fernstehenden Fürsten das Mißfällige solcher Zurückweisung auf sich zu nehmen – nein, im Herrenhause sitzt ein engherziger Parteigeist, welcher den Staat des großen Kurfürsten und Friedrichs, den Staat der Hoffnung Deutschlands, auf die Pfeiler des Mittelalters zurückschrauben will und, da er dies nicht kann, so jedes Fortschreiten doch zu verhindern sucht. Zu allen Sachen, die den Staat des freien Bürgerthums weiter entwickeln könnten, sagt dieser Herrenhausgeist höhnisch Nein, und das Land muß diesen Terrorismus einer Partei ertragen.

Das Herrenhaus in der Leipzigerstraße No. 3, neben dem Kriegsministerium, erfreut sich trotz der „angenehmen Temperatur“, die Herr von Roon dort fand – nebenbei gesagt, der einzige parlamentarische Witz der letzten Sechs-Wochen-Session – so selten des Besuchs gewöhnlicher Menschen, daß seine innere Einrichtung ziemlich unbekannt ist. Zwar kann selbst ein schlichter Verstand voraussetzen, daß es bei den Pairs anders aussehe, als bei den Abgeordneten des Volks; aber das geschieht nur aus Instinct. Ein Blick in den viereckigen, hohen, würdig und elegant decorirten Saal genügt, den Unterschied zwischen der Einrichtung hier und der im Abgeordnetenhause bemerkbar zu machen. Nicht allein, daß bei den „Herren“ Alles reicher, gediegener und von prächtigerer Ausstattung ist, daß anstatt des rothen, halbverschossenen Baumwollstoffs um die Tribünen hier schwerer, mit Gold bordirter und belasteter Sammet an eleganten Logen niederhängt – auch die parlamentarische Schlachtordnung der Bänke ist hier eine wesentlich andere. Rechte, Linke und Centrum sind hier äußerlich nicht markirt; sämmtliche Bänke sind wie in einer Schulstube postirt, mit der Front nach dem Katheder. Die Minister sitzen hier auch nicht dem Präsidenten, der hinter Barren wie in einer Zelle abgeschlossen thront, gegenüber, sondern ihm zur linken Seite an einer sichelförmigen Tafel.

Während der Sechswochen-Session war, trotz der dringenden Aufforderung der „Kreuzzeitung“, immer nur der kleinere Theil dieser Plätze besetzt. Wenn, wie es hieß (ohne daß man es glaubte), die nun auf ihren Lorbeeren ruhende Regierung der neuen Aera nur deshalb einen neuen Pairsschub unterließ, weil keine Plätze mehr im Saale angebracht werden konnten, so ist diese Erwägung eine sehr scrupulöse gewesen. Wie die Banken sich für gut fundirt halten, wenn sie nur den dritten Theil des Werthes ihrer Noten in Barem besitzen, so könnte man ganz gut riskiren, oder hätte es vielmehr riskiren können, die Anzahl der Pairs noch um die Hälfte zu erhöhen. Die Menge der Abwesenden würde den Anwesenden genügenden Platz gelassen und der trostlosen Leere eines „vollen Hauses“ wohlthuenderen Inhalt gegeben haben.

Auffallend bei einem Blick von oben sind die kahlen Schädel, die Masse grauer Köpfe zwischen den Bänken. Den volleren, kräftigeren Haarwuchs, den man im Abgeordnetenhause erblickt, vermißt man hier, und dies deutet an, daß größere Weisheit hier vorhanden ist. Auch ein halb Dutzend Generalsuniformen geben dieser Versammlung eine gegen die am Dönhofsplatz wesentlich abweichende Illustration, und manche andere Eigenthümlichkeiten lassen annehmen, daß in Bezug auf Disciplin ein guter militairischer Charakter hier eingeführt ist.

Auch präsidirte zuletzt ein General, der Prinz von Hohenlohe-Ingelfingen, [314] Nachkomme des Helden der Jenaer Schlacht und der Capitulation von Prenzlau. Der Prinz ist jetzt wegen seiner Verdienste der Chef des neuen preußischen Cabinets der Namenlosen geworden, und nach der Führung des Präsidiums im Herrenhause zu schließen, dürfte er die Staatspolitik mit der geistigen Nüchternheit und geschäftlichen Routine eines Generalstabsvorsitzenden dirigiren. Er gehörte übrigens nicht zu den Schlimmsten im Hause, insofern als er zu der Partei der milderen Rechten gezählt wurde. Seine Erscheinung hat nichts besonders Interessantes: eine große, wohlgenährte Figur, außer der Uniform ohne eigentlich militairischen Typus.

Fast gegensätzlich ist der Eindruck seines Verwandten, des Prinzen Hohenlohe-Oehringen, bei Gelegenheit der Krönung zum Herzog von Ujest erhoben, ohne daß jedoch, in weiteren Kreisen die Verdienste des Prinzen um den Staat gekannt sind. Auch als Mitglied des Herrenhauses hat man seither noch nichts von ihm vernommen; gleichwohl interessirt er den Zuschauer einer Sitzung dieser edlen Versammlung mit am meisten. Denn man sieht diesen hübschen, noch jungen Mann in der Generalsuniform und mit zierlich geglättetem, langem, schwarzem Haar, wie eine echte Salonofficiergestalt, bald zu diesem, bald zu jenem kleinen Herrn herantreten, ungenirt lebhaft mit ihm plaudern – ich denke über allerhand unparlamentarische Dinge. Der Herzog fühlt sich hier wie in einer Gesellschaft bei Hofe, wo er sicherlich zu den beliebtesten und einnehmendsten Cavalieren gerechnet wird.

Jetzt eben, während der Präsident zwanzig Urlaubsgesuche hinter einander ohne Theilnahme der Versammlung mittheilt, ist er im Gespräch mit dem Grafen von Arnim-Boytzenburg, jener dürren, langen Gestalt mit dem echten Aristokratenkopf. Jeder Zoll an diesem Mann ist aristokratisch, nur die Beine scheinen dünn zu sein. In der That ist Graf Arnim-Boytzenburg der erste Grand der Uckermark, der Typus eines preußischen Hochtory. Er ist einer der reichsten Aristokraten des Landes, dessen Einnahmen über 100,000 Thaler jährlich betragen und in dem der alte Geist des stolzen Vasallenthums am reinsten und lebhaftesten weiterlebt. Aber trotzdem sein Name heut nur mit Begriffen von Reaction in Verbindung gebracht wird, ist der Graf doch keinesweges vom rohen Schlage der Kreuzritter. Nicht allein tiefe und weite Bildung hat seinem streng-aristokratischen, mild versöhnlichen Conservatismus ein staatsmännisches Gepräge gegeben; seine Thätigkeit als Oberpräsident von Posen (1840), als Minister des Innern (1842–1845) und als Führer der Herrencurie im Vereinigten Landtag setzten ihn sogar, trotz einiger Aristokratenwillkürlichkeiten, bei Hofe in das Licht eines Liberalen. Ja, dieser wahrhaft aristokratische Mann ist der Vater der preußischen Constitution, für deren spätere Verkrüppelung ihn gar keine Verantwortlichkeit trifft. Denn Graf Arnim-Boytzenburg war es, welcher Präsident jenes 1848er Märzministeriums war, dem auch Graf Schwerin angehörte und welches die schönsten constitutionellen Verheißungen in den bekannten Proclamationen gegenzeichnete. Der allgemeine Undank gegen diesen Mann ist also eigentlich nicht recht zu begreifen; denn nichts spricht dafür, daß der Graf, welcher das preußische Volk in die ersten Windeln der Verfassung gewickelt, seinem Kinde so feind sei, um es in der Weise seiner späteren Pflegeväter zu maltraitiren. Doch die Leute glauben nun einmal, er würde es ganz umbringen oder doch mindestens in ein mittelalterliches Burgverließ werfen.

Der Herr dort, welcher eben im Geschwindschritt den Saal betritt und auf seinen Platz eilt, ist jedenfalls viel schlimmer noch, als der Graf Arnim. Es ist Herr von Kleist-Netzow, der jetzige Hauptheld des Herrenhauses und Erbe der Stahl’schen Herrschaft daselbst. Als Chef der Ultrafeudalen setzte ihn die Reaction im Anfang der 1850er Jahre als Oberpräsident über die Rheinprovinz, und der Mann hat dafür gesorgt, daß er im Gedächtniß der Rheinländer noch lange weiter leben wird. Durch Präsentation der Familie von Kleist kam er 1858 unter die gesinnungsähnlicheren Pairs, während er bis dahin stets im Abgeordnetenhause gesessen hatte. Dieser Mann nun ist der ideale Vertreter des Kreuzritterthums und unstreitig einer der gescheitesten Köpfe desselben, jetzt wohl auch der beste Redner des Herrenhauses. Er hat eine natürliche Beredsamkeit, und was er spricht, ist weniger geistvoll, als klar, bestimmt, hastig polemischer Natur. Dazu besitzt er eines der angenehmsten, klangvollsten und kräftigsten Organe. Sein Naturell muß sehr lebhaft sein. Auf der Straße sieht man ihn mit der Mappe unterm Arm wie einen Schulknaben in’s Herrenhaus traben; auf der Rednerbühne äußert sich diese Lebhaftigkeit in dem Kataraktartigen der Sprache. Der kleine Mann hat etwas Raubvogelartiges in seiner Erscheinung; mit dem schneeweißen, dickbuschigen Haar und dem schwarzen Schnurrbart unter der gebogenen Nase sieht er aus wie ein bös gewordener Kakadu.

Hinten auf den Bänken sieht man einen langen Herrn mit malitiös-junkerlichem Gesicht sich recken, bis zur Tribüne hört man seine heisere, hohle Stimme, denn er spricht zu Jemandem drei Bänke vor sich. Es ist Herr von Waldaw-Steinhövel, ein Gutsbesitzer der Mark und wegen seines Kreuzzeitungs-Zuschauer-Naturalismus von der Partei hoch gehalten, man sagt sogar theuer erhalten. Dies enfant terrible hat einen trockenen, boshaften Humor, mit dem er namentlich den jetzt abgetretenen Ministern unerhörte Grobheiten zu sagen wußte. In ihm ist so recht der alte märkische Adel repräsentirt, der trotzig dem Königthum gegenüber steht. Es charakterisirt den Vollblut-Junker hinlänglich der einmal von ihm ausgesprochene Satz: der Adel des Herrenhauses habe eher in Brandenburg regiert, als der Burggraf von Nürnberg.

Eben kommt Herr von Brüggemann von der Tribüne, von wo er mit spöttischem Pathos und ganz ungerechtfertigter Begeisterung über einen winzigen Gegenstand gesprochen. Er ist unter den Pairs, was Reichensperger unter den Abgeordneten ist – ein Katholik, der das Centrum mit seiner Fraction einnimmt, um abzulauern, ob er nach rechts oder links satteln soll. Deshalb nennt man ihn schon freisinnig. Dem Aeußeren nach könnte man ihn für einen feisten Prior halten, der die Kutte abgelegt; nach dem sonderbaren Schlitz der Augen zu schließen, scheint sein Geschlecht sich chinesischer Abstammung zu erfreuen.

Wer ihm auf der Tribüne nachfolgt: dieser große, starke Mann von einiger amtmännischer Tournüre, dessen weißes Haar und weißer Kranzbart um das volle Gesicht zu der Frische der ganzen Erscheinung gar nicht passen – es ist Graf Itzenplitz, altmärkischer Adel, dessen Name mit den Köckeritzen, Putlitzen uns anderen Itzen in alten, ihnen wenig schmeichelhaften Liedern genannt wird. Dieser Graf Itzenplitz ist übrigens persönlich einer der leutseligsten und liebenswürdigsten Männer; als Mitglied des Herrenhauses wurde er zuletzt, als zu liberal, förmlich in Bann gethan – warum? weil er in der vorigen Session aus Gefälligkeit für die Grundsteuer gestimmt. Da der Graf seit Jahren eine Fraction führt, entschied seine Stimme die Annahme jenes allen kleinen Herren verhaßten Gesetzes. Heut ist bekanntlich Graf Itzenplitz Minister der Landwirthschaft in dem ein-Heydtlichen Ministerium.

Schauen Sie sich diesen Herrn dort an, der eben Platz auf einem der Stühle unter der Ministerbank, neben dem Tisch mit der Wasserkaraffe nimmt, jedenfalls um den Redner genau zu verstehen. Es ist Graf Hoverden aus Schlesien, eine der originellsten Erscheinungen und im Herrenhause Partei für sich allein, bald mit den Liberalsten, bald wieder mit den Reactionären stimmend. Wenn er spricht, mahnt er durch die Launigkeit, den körnigen Humor und die derbe Ungenirtheit an Abraham a Santa Clara, und die gurgelnde, mit dem Asthma ringende Sprache erhöht die Originalität. Schönheit gehört nicht zu des Majoratsherrn Eigenschaften, aber desto mehr Leutseligkeit, Vorurtheilslosigkeit des Standes und gesellige Liebenswürdigkeit. Die Männerwelt namentlich versteht er durch prächtig erzählte Anekdoten und Schnurren zu entzücken; die Salons freilich geriethen darüber in Aufruhr. Ist Landtag, so findet man den alten rüstigen Herrn Nachmittags gewöhnlich in einer Conditorei unter den Linden, wo er seinen Kaffee trinkt und seinen jungen wie alten Verehrern ein paar amüsante Abendstunden verschafft.

An ihm vorüber geht eben die feine, geschmeidige Gestalt des Grafen Rittberg, Appellationsgerichts-Präsidenten in Glogau und einst Präsident dieses Hauses, als es noch nicht allen höheren politischen Charakter eingebüßt hatte. Im Gegensatz zu der vielfach kleinlichen und namentlich geistlosen Präsidialführung unter dem verstorbenen Fürsten von Pleß und dem Prinzen Hohenlohe wird das Präsidium Rittberg’s stets in dankbarer Erinnerung bleiben. Es war ein geistiges Armuthszeugnis; für das Herrenhaus, daß dieser Mann nicht einmal mehr zur Ehre eines Vicepräsidenten gelangte, weil er als zu liberal galt. Gleichwohl ist Graf Rittberg gar nicht liberal, er ist ein Aristokrat und als solcher zugleich ein Typus des aufgeklärten Beamtenthums.

[315] Dr. von Daniels ist ein parlamentarischer Philosoph langweiligster Art; er spricht, als hätte er Bonbons im Munde. Sehen Sie ihn, diesen kleinen, kugelrunden Mann mit dem Bonbongesicht? Er will eben die Tribüne besteigen … Gehen wir! Denn hören wir den Herrn lange an, so ist zu fürchten, daß uns übel und schlimm vor lauter genossener Süßigkeit wird.

S.-W.





Ein westphälischer Dichter.

Fünf Stunden von der alten ehrwürdigen Bischofsstadt Münster, eine Stunde von dem freundlichen Warendorf, liegt das weitausgestreute Dorf Sassenberg. Die einzelnen Gehöfte strecken sich behaglich nebeneinander; die alten und doch solid erbauten Häuser, umgeben von reinlichen Höfen und kunstlosen Gärten, zeugen von dem Grundzug des nordwestphälischen Charakters, der zäh und mit Liebe am Alten hängt, kräftig und fest sich in allen Aeußerungen giebt. Weite Haiden, und sandige Steppen dehnen sich ringsum aus; hier und da steht einsam ein Baum. Gelb säumt der Ginsterstrauch die braune Scholle; fernab zieht sich die bewaldete Hügelkette, in dunkle Bläue getaucht. Alle Natur mahnt an düstre Elegie; die schwere Ruhe der Landschaft drängt alle Gefühle des Menschen in sein Innerstes zurück, erfüllt das Herz mit stillem Weh und sanfter Lust.

Hier, inmitten des westphälischen Haidelandes, etwas abseits von den Gehöften des Dorfes, liegt das kleine Schlößchen Sassenberg. Die grüne Parkoase, in die es gebettet ist, stimmt wunderbar in ihrer elegischen Färbung mit der ganzen Umgebung. Man merkt, Park und Schloß sind aus diesem heimischen Boden emporgewachsen, nicht durch Laune darauf geklebt. Die Goldgluth der weit hinten am Horizont untersinkenden Sonne wirft eine rothe Feuerpracht auf die Scheiben, durchbrochen vom Schatten alter, hoher Platanen, die den großen stillen Hof dunkeln. Ueber ein Jahrhundert alt muß Bau und Anlage sein – ein Herrenhaus von Vater auf Sohn vererbt. Die Steine sprechen auch. Die Simse, die geschwungenen Linien an der Front des Hauses im Rococostyl, die hohen Essen, welche über das große Dach emporragen: das ist ein Bau aus alter guter Zeit. Und überall ist dieser Charakter wiederzufinden; nirgends hat moderne, leichte Zierlichkeit den gediegenen Grundzug der Anlage störend überwuchert. Der weite Garten um das Schloß zeigt noch die Blumenparterres auf, welche im vorigen Jahrhundert angelegt wurden; alter, kräftiger Buchsbaum umzäunt die regelrechten Beete; hier stehen alte Sandsteinfiguren, dort sind Sonnenuhren als Schmuck; hinter dem Garten dehnt sich ein duftiger Wald in die Haide hinein.

Und im Innern des Hauses stimmt das Meiste der Einrichtung damit zusammen. Da sind breite, luftige Stiegen, große Thüren, weite Zimmer mit Gesims und schwerem Fries. Ueberall noch die Kamine der alten Zeit; an den Wänden große, gedunkelte Fürstenbilder, Bischöfe von Münster, Familienportraits. So ist es noch immer ein Haus der Patrizierzeit des geistlichen Fürstenthums Münster, welches durch die Napoleonischen Stürme zerstückt und in einzelnen abgerissenen Theilen anderen Staaten einverleibt wurde. Hier hat sonst eines der ersten Geschlechter des Landes residirt, und das jetzt kleine, zerzauste Gut war groß und reich, eine stattliche Herrschaft. Es waren die Schücking’s, deren Vorfahren als Schucking, Scukking und Scukke bis in’s 10. Jahrhundert ragen, ein ritterbürtiges Geschlecht, welches in einer Linie von Kaiser Franz I. 1757 auch in den Reichsadelstand erhoben wurde und viele als Geistliche, Diplomaten und Gelehrte im Münsterschen Lande hervorragende Männer geliefert hat.

Jetzt wohnt auf Sassenberg der Nachkomme dieses Geschlechts, Christoph Bernhard Levin Anton Matthias Schücking, weitbekannt als einer der sinnigsten deutschen Dichter, als einer der liebenswürdigsten Erzähler. In dieser einsamen Stille inmitten westphälischer Landschaftselegie spinnt eine zartbesaitete Natur rastlos kunstvolle Gewebe aus den Stoffen der heimischen Geschichte, der Gegenwart, der versunkenen Zeiten. Die Liebe zum Heimathsland der „rothen Erde“ nährt die Seele des Dichters; ein echtes, lauteres, positives Nationalgefühl, ein Patriotismus urwüchsiger Volkskraft, das Erfassen großer socialer und geschichtlicher Begebenheiten in ihrem eigentlichen Wesen giebt all den Erzählungen Levin Schücking’s, wiewohl sie durchaus nur Dinge der Wirklichkeit behandeln, eine höhere Bedeutung, eine weitere sittliche Wirkung. Es soll das hohe Ziel eines Romandichters bilden, in erzählender, anmuthiger Form ein Lehrer des Volks zu sein; Schücking ist einer der Wenigen, welche es erreicht haben. Und gerade seine echt westphälische Natur kommt ihm hierbei zu Gute. Er hat die Liebe zum Gegenwärtigen aus der Anhänglichkeit für das Alte gesogen; er hat die stille, behagliche Poesie, die Leidenschaftslosigkeit, die sittliche Strenge, die Schlichtheit und Einfachheit seines Stammes und doch auch jene tiefe Innerlichkeit, welche die Herzen erwärmt, und jenen echten Humor, welcher mehr als alle Dialektik den Verstand gewinnt und die Ueberzeugung der Wahrheit aufruft. Westphalen mit seinen Haidesteppen und dem schweren Geblüt seiner Kinder ist sonst keine Wiege für Dichter und Künstler, welche in sonniger Heiterkeit so üppig gedeihen. Aus dem kleinen Lippeschen Ländchen sind zwar zwei echte Dichternaturen, Freiligrath und Grabbe, hervorgegangen; im Uebrigen aber ist der Name Levin Schücking’s der einzige, den Westphalen der modernen Literatur zugeführt hat, neben dem der stolz-einsamen, träumerischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.

Levin Schücking wurde am 6. September 1814 im nördlichsten Westphalen, zu Clemenswerth, geboren. Clemenswerth, bei Meppen, ist ein Lust-und Jagdschloß der ehemaligen Fürstbischöfe des Landes, auf dem der Vater als herzogl. Arembergischer Amtmann die Residenz seines Jurisdictionsbezirks aufgeschlagen hatte. Sein Alter beschloß der Vater in Bremen, wo er still, wie so viele der Schücking’s, den Wissenschaften lebte und auch manche historische wie theologische Schriften, meist Pseudonym, erscheinen ließ. Die Mutter Levin’s starb früh, schon 1831. Sie war zu ihrer Zeit eine viel gefeierte sinnige Dichterin, deren Jugenderinnerungen in die Zeiten des berühmten Ministers Fürstenberg fielen und die als Mädchen in den geistig angeregten Kreisen verkehrte, welche der Einfluß der Fürstin Gallitzin, Hamann’s, Stollberg’s und seiner Genossenschaft – Jacobi, Claudius, Perthes etc. – belebte und welche Münster in jener Zeit zu einer norddeutschen Republik der Geister machten, ähnlich, wie kurz zuvor Weimar und Jena, dann Berlin es waren. Der Einfluß dieser Mutter mußte natürlich früh Levin’s Geistesanlagen und den künstlerischen Schaffenstrieb wecken, um so mehr, als nach dem Tode derselben eine Natur, wie die Annette’s von Droste, eine Freundin der Schücking’schen Familie, sich des Jünglings mütterlich annahm.

Im Jahre 1830 – 16 Jahr alt – kam Levin auf das Gymnasium zu Münster und lernte zuerst Annette von Droste-Hülshoff kennen. In seiner trefflichen, vor Kurzem (bei Rümpler) erschienenen Charakteristik dieser eigenthümlichen Dichterin erzählt er die näheren Umstände dieser ersten Begegnung. Die Droste, eine zarte, elfenartige Gestalt mit breiter, hoher Stirn, blauen Augen, blonden Haaren, wohnte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester auf ihrem Edelsitz Ruschhaus, welcher ganz den bäuerlichen Typus besaß, den sich die westphälischen Herrenschlösser meist alle erhalten haben. Hier hauste die Annette, erzählte den Bauern Geschichten, suchte Steine und Pflanzen, dichtete; hier verlebte später Levin mit ihr lange Stunden im Disput, im Austausch der Gedanken, in Dichterharmonie.

Nach dem weiteren Besuch des Gymnasiums zu Osnabrück bezog Schücking 1833 die Hochschule zu München, um die Rechte zu studiren und beendete seine akademische Laufbahn in Heidelberg und Göttingen. Im Jahre 1837 kam er nach Münster zurück – ein fertiger Jurist, dem nur noch die Amtscarriere fehlte. Aber allerlei Umstände traten jetzt hinzu, um den aufgestellten Lebensplan zu durchkreuzen. Dank den deutschen Zuständen, hatte Levin mehrere Vaterländer, ohne ein einziges richtiges zu haben. Der Münsterländer war preußisch geworden, aber die preußische Regierung wollte ihn als „Ausländer“ nicht in den Tempel der Themis aufnehmen. Für Hannover mochte sich der junge Jurist angesichts des Göttinger Professorenexils auch nicht entscheiden – so quittirte er denn die Juristerei gänzlich, um so lieber, als sein Bündniß mit ihr „nie über die Grenzen einer gewissen kühlen Hochachtung hinausgegangen war, wie bei jungen Leuten, die man zu früh miteinander verlobt hat.“ (Annette von Droste. Ein Lebensbild von L. Schücking. S. 105.)

Seine mütterliche Freundin von Droste billigte zwar nicht [316] dieses Aufgeben der juristischen Carrière und die Verzettelung des kostbar angesammelten Schatzes von Pandektenstellen in literarische Erstlingsarbeiten; aber sie nahm gleichwohl selber ernsten Antheil an diesen Versuchen. Schücking ward auch sogleich von der Literaturbewegung erfaßt. Die Elemente des jungen Deutschlands wirkten mächtig auf ihn; Gutzkow gewann ihn zum fleißigen Mitarbeiter an seinem Journal „der Telegraph“; eine erste Berührung mit seinem Landsmann Freiligrath entzündete noch mehr den jugendlichen Drang nach literarischem Schaffen. Damals entstand nun das Buch Schücking’s: „Das malerische und romantische Westphalen“, welches der Liebe zur engeren Heimath, sowie dem eingesogenen romantischen Geist der Zeit ein erstes Denkmal setzte. Eine Broschüre folgte darauf: „Der Dom zu Köln und seine Vollendung“, zu welcher die Droste auch eine Ballade: „Meister Gerhard“ beisteuerte. Das hübsche Gedicht Schücking’s: „Der Bettler am Rhein“, in dem er für den Kölner Dombau Tribut verlangte, verdankt seine Entstehung derselben Anregung.

Im Herbst 1841 verließ der junge Schriftsteller Münster, um in Folge einer Vermittelung der Droste die Bibliothek ihres Schwagers, des Freiherrn von Laßberg, auf der Meersburg am Bodensee zu ordnen. Annette selbst wohnte den Winter über auf dieser alten, noch aus den Merovingischen Zeiten stammenden Burg. Hier soll König Dagobert den Thurm erbaut, Carl Martell gehaust haben. Hier thronten die Bischöfe von Constanz, dann die Hohenstaufen, bis Conradin, den Letzten des Heldengeschlechts. Die mächtige Ruine kaufte später der als Gelehrter, gastfreier Mäcen der Schwabendichter und Sonderling bekannte Freiherr v. Laßberg, um hier seine kostbare Bibliothek und seine Sammlung von deutschen Handschriften aufzustapeln. Der Reiz der Umgebung, die romantischen Traditionen der Burg begeisterten Schücking zu dem Gedicht „die Meersburg“. Der Freiherr von Laßberg selbst war damals schon ein alter Herr, eine ritterliche, sich strack aufrecht haltende Gestalt mit langem, weißem Bart, dessen Haupt weder die Jahre, noch die stupende Gelehrsamkeit niederdrückten. Seine kostbare Bibliothek war ein Wallfahrtsort für die Gelehrten und Dichter Süddeutschlands geworden. Was die großen Sammlungen nicht zur Ausbeute gaben, das fanden die Suchenden in dem reichen Wissen des Burgherrn selbst, der, wie Schücking erzählt, in der vaterländischen Vergangenheit in einer an’s Mirakelhafte streifenden Weise bewandert war.

Das äußere Leben Schücking’s wurde von jetzt an etwas wechselvoller. Im April 1842 begab er sich nach Ellingen in Franken, der Residenz des Fürsten Wrede, der ihm die Erziehung seiner Söhne anvertraut hatte; dann mit dem Fürsten selbst auf dessen Schlösser in Oberösterreich, im romantischen Salzkammergut, von wo aus Abstecher nach Wien und anderen Theilen Oesterreichs gemacht wurden. Während des Aufenthaltes im herrlich gelegenen Mondsee, der fürstlichen Sommerresidenz, entstand sein erster Roman: „Ein Schloß am Meere“. Auch zwei Verbindungen knüpften sich hier an, welche in Schücking’s Lebensgang eingreifende Veränderungen hervorbringen sollten. Er lernte Louise Freiin von Gall kennen, eine feine poetische Natur, welche die deutsche Literatur mit mehreren künstlerisch vollendeten Novellen und hoch empfundenen Dichtungen bereichert hat. Bereits im October 1843 vermählte er sich mit ihr und fand durch sie ein sehr glückliches, die Wirklichkeit verschönerndes Familienleben, bis vor einigen Jahren (1855) der Tod die Gattin abberief. Schücking setzte ihr 1856 ein würdiges Denkmal durch die Herausgabe des Buches: „Frauenleben. Von Louise von Gall“.

Die andere Verbindung, welche sich damals einleitete, war die mit der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“, die ihn zur Theilnahme an der Redaction einlud. Schücking übersiedelte in Folge dessen mit seiner Gemahlin nach Augsburg und blieb dort anderthalb Jahr. Außer seiner Thätigkeit an der Allgemeinen Zeitung schrieb er hier den in vieler Hinsicht trefflichen Roman „Die Ritterbürtigen“, in dem die romantischen Einflüsse bereits der realistischen Auffassung gewichen sind. Schücking war durch diesen Roman vollends in die Republik der Schriftsteller getreten, und sein Name klang bereits weit über die Kreise hinaus, in denen die erste literarische Thätigkeit ihre Anerkennung gefunden. Eine Badereise nach Ostende im Sommer 1845, worauf ein Aufenthalt am Rhein folgte, gab die Gelegenheit zu einer Verbindung mit der „Kölnischen Zeitung“, deren Redaction damals neu organisirt wurde. Schücking übernahm die Leitung des Feuilleton und verlegte deshalb seinen Wohnsitz nach Köln.

Etwa um dieselbe Zeit – 1846 – erschienen die Gedichte von Levin Schücking (bei Cotta). Sie sind als die Aeußerungen einer durchaus poetischen Natur zu bezeichnen, welche einen liebevollen Scheideblick auf ihre von allerhand Einflüssen bewegte Jugend wirft und den Blick frei und fest bereits auf ein nach langen Umwegen gefundenes Ziel richtet. Hier schlägt die romantische Cither ihre Liebesklagen; die Träume, die Phantasieen der Jugend umgaukeln noch einmal den Dichtersinn; aber dazwischen klingen schon die sonoren Töne, abgelockt dem gediegenen Metall des Realen. Zeitbilder, wie „O’Connell“, werfen ihr prächtiges Colorit durch den feinen Schleier der romantischen Poesie; echt komische Gedichte, wie die allerliebsten „Landsknechts-Lieder“, mischen sich mit den Gesängen, in denen ein volles Herz seine lyrischen Empfindungen austönt.

Dieses Gewinnen eines festen Zieles, eines eigenen Bodens, den sich der ringende Schaffenstrieb mühsam nach vielem Irren erobert, kennzeichnet sich von nun an in den Romanen Schücking’s, die eine Specialität unter denen der deutschen Literatur bilden. Ein Uebergang zu dieser bestimmten poetischen Aeußerung, zu dieser mit dem ganzen Wesen der inneren Anlagen und Neigungen harmonirenden Thätigkeit wird durch einige Schriften gebildet, welche vornehmlich dem Wirklichen das Ideelle abzulocken suchen, aber es in der Form noch nicht zu einer Bestimmtheit und richtigen Klärung zu bringen wissen. Dahin sind die kleinen 1846 erschienenen Novellen zu rechnen, das anziehende Werk „Die Römerfahrt“ (1849), sowie auch die durch die Zeitereignisse entstandene treffliche Charakteristik Heinrich’s von Gagern (1849); ferner gehören dazu die dramatischen Arbeiten Schücking’s: der durch sprachliche Schönheit sich auszeichnende „Redekampf zu Florenz“ (1854), das Lustspiel „Maria Theresia“, die gut angelegten, oft aufgeführten „Prätorianer“ und das erst kürzlich mit vielem Glück dargestellte Lustspiel „Die Novizen“, nach einer Novelle des Dichters dramatisirt. Fügen wir hier noch der Abrundung wegen die geistvollen „geneanomischen Briefe“ Schücking’s bei, welche durch Humboldt’s Vermittlung auch Friedrich Wilhelm IV. sehr interessirt haben, so mag man daraus die Vielseitigkeit der Thätigkeit dieses Schriftstellers erkennen, der in ernsten, wissenschaftlichen Arbeiten seine Erholung sucht.

Aber die eigentliche Blüthe dieser Thätigkeit besteht doch in den Romanen, welche im letzten Jahrzehnt die Muse Schücking’s geschaffen. Bis zum Jahre 1852, unterbrochen nur durch eine größere Reise nach Italien, lebte Schücking in Köln; die Stellung an der „Kölnischen Zeitung“ rief eine immer wachsende Unruhe des Lebens hervor, welche einer so stillumfriedeten Natur zuletzt lästig werden mußte. So gab Schücking denn diese Stellung auf und floh, durch den Wirbel des Lebens von dem Werth des eigenen Selbst überzeugt, mit der Ursprünglichkeit seines Wesens vertraut geworden, in die stille Einsamkeit des Sassenberger Hofes, inmitten der nordwestphälischen Landschaftselegie. Hier war sein so unendlich geliebtes Heimathland, die Erde, die sein eigen war, das Haus, der Garten, der Wald, in dem seine Vorfahren gewaltet; hier blühte durch ein theures Weib, durch geliebte Kinder ein stilles Glück, welches das Herz dieser Dichternatur am entsprechendsten ausfüllte. Und hier endlich war es, wo er für seine dichterische Thätigkeit aus der Berührung mit dem mütterlichen Boden der Heimatherde wie Antäus neue Kräfte schöpfte.

Die Schücking’schen Romane sind durchgehends cultur- und sittengeschichtliche, die in der anmuthigen Form der Erzählung über vieles Thatsächliche, dem Leben, speciell auch dem Westphalenlande Entnommene belehren und zwischendurch kunstvoll die eigentliche Fabel, das Dichterische, enthalten. Fabel und positive Wirklichkeit sind wie Kunst und Natur in Harmonie gebracht worden, und darin liegt die Größe des Talents und die hohe Bedeutung echter Volksromane. Schon in den Romanen „der Bauernfürst“ und „die Königin der Nacht“ ist diese Aufgabe auf’s Glücklichste gelöst worden; aber noch präciser in der Reihe der folgenden Werke, von denen nur die bedeutendsten angeführt sein mögen. Der Roman „ein Staatsgeheimniß“ (1854) dreht sich um die Schicksale des bekannten Uhrmachers Naundorff, der als Sohn Ludwig’s XVI. auftrat. Wiewohl der Dichter auf sein Recht nicht verzichtete, bringt er doch in dem Werke eine Reihe von Actenstücken, welche fast jeden Zweifel beheben, als sei Naundorff ein falscher Dauphin

[317]

Levin Schücking.

gewesen. In den Besitz derselben war er durch einen alten französischen Grafen Gruau de la Barre gekommen, der sein ganzes Leben an die Vertheidigung der Rechte Naundorff’s als Ludwig’s XVII. gesetzt, sein treuer Begleiter gewesen war und später den Kindern des Prätendenten ein redlicher Freund blieb. Der Roman ist also in dieser Beziehung als eine historische Quelle zu betrachten. – In „Paul Bronckhorst oder die neuen Herren“ (1858) hat sich das Talent Schücking’s unstreitig am höchsten erhoben. Mehr noch als im „Staatsgeheimniß“ durchgeistigen Dichtung und Realität sich hier gegenseitig. Die Erzählung behandelt die Zerstückelung des Münster’schen Fürstenthums in Folge des Reichsdeputationsbeschlusses und die vorübergehende Herrschaft der Familie Auglure über einen Theil desselben. Die Zeichnung der herzoglichen Familie, welche aus den Niederlanden durch die Franzosen vertrieben war und nun im armen Deutschland mit einer kleinen Souverainetät entschädigt wurde, ist ein Cabinetsstück. Die Gegensätze dieser französisch angestrichenen Herrschaft zu dem derben, zähen, westphälischen Charakter sind von dem Dichter sichtlich mit außerordentlicher Vorliebe aufgestellt worden und geben zu den interessantesten Schilderungen und Conflicten Anlaß. – „Die Marketenderin von Köln“ (1861) ist ein komischer Sittenroman, der auf dem bunten Grunde des Kölner Lebens zu Ende des vorigen Jahrhunderts spielt. Im Rahmen der Neuzeit gespannt sind „die Geschwornen und ihr Richter“ (1861), zugleich mit einer trefflichen Schilderung der deutschen Gerichtszustände und speciell der Moral in dem Wesen der Schwurgerichte.

Leider müssen wir uns wegen räumlicher Rücksichten auf diese Andeutungen über den Charakter der Schücking’schen Romane beschränken. Sie bieten in volksthümlichen Sittenschilderungen, welche selbst mit Hülfe archivalischer Details gegeben werden, das Beste, was wir in dieser Art besitzen. Die ruhige Behaglichkeit der Erzählung, welche an Walter Scott mahnt, die Natürlichkeit der Conflicte und ihrer Auflösungen, die vielfach locale Färbung des Dialogs, der anmuthige Herzenshumor, der oft aus dem Dichter spricht – alle diese Eigenschaften erhöhen in den Romanen Levin Schücking’s die harmonische Grundstimmung. Die Phrase, die Raffinerie der Erfindungen, die künstliche Mache der Mode ist in ihnen nicht vertreten, wohl aber die feine Sinnigkeit, das frische Talent, deutscher Geist und deutsche Herzlichkeit, welche aus der Geschichte des echten, charaktervollen Volkslebens unseres Vaterlandes kostbare Gemälde zu schaffen wissen.
S.-W.

[318]

Im Grindelwald-Gletscher.

Von A. Diezmann.
(Schluß.)

„In solch schmerzlich unruhig bewegter Stimmung traf sie eines Tages der Sohn ihres Herrn, dessen Eigenthum die schmucken Kühe waren, deren Pflege man ihr anvertraut auf der Alp. Er kam, um nach dem Vieh zu sehen, sagte er, aber ihn reizte das liebliche Mädchen, die einsam in dieser Höhe wohnte. Schon mehrmals hatte er sich ihr anders genähert, als es ihr, der Magd, nach ihrer Meinung zukam. Er hatte selbst von Liebe zu ihr gesprochen, sie ihn aber stets, wenn auch mit sanft bescheidenen Worten, zurückgewiesen, denn ihr mißfiel der begehrlich lüsterne Blick seiner Augen, und sie wußte gar wohl, daß der stolze Sohn des reichen Bauers die arme Magd nicht als Hausfrau in seinen Hof einführe. Als er auch diesmal von dem Mädchen, und zwar spröder und ernster als sonst, abgewiesen wurde, sagte er endlich mit höhnendem Spotte:

„Du hast wohl gar Einen der Schräteli, der grauen Bergmännchen, zum Schatz, die überall um die Sennerinnen herumschleichen, ihnen bei der Arbeit helfen und sie zuletzt verführen?“

„Gott verzeih’ Dir Deine sündhaften Reden!“ entgegnete Bäteli, indem sie sich bekreuzigte.

„Nun, Jemand muß Dir helfen, denn immer, wenn ich komme, ist alle Arbeit gethan. Das geht nicht mit rechten Dingen zu, wenn Du auch fleißig bist, wie ich weiß. Und daß Du Keinen liebtest, wie Du sagst, glaube ich Dir nicht.“

Bäteli erröthete, schlug die Augen nieder und antwortete nicht.

„Sieh Dich vor, daß es Dir nicht ergeht, wie dem Adler-Fritz unten,“ fuhr der Bursche fort.

„Dem Adler-Fritz?“ fragte das Mädchen verwundert und erschreckt, und sie blickte rasch auf, so daß der junge Bauer wohl hätte errathen können, wem ihr Herz zugewandt, aber er schrieb ihre hastige Frage einer gewöhnlichen Neugierde zu.

„Er soll der Geliebte der schrecklichen Eisjungfrau sein,“ erzählte er ihr, als sie ihn in banger Angst fragend ansah. „Gewiß ist, daß er fast jede Nacht auf den Gletscher geht, zu ihr in das Eisschloß hinein, wie es heißt, und kaum erkennt man ihn wieder, so schwach und matt ist er geworden. Sie saugt ihm das Leben aus, sagen die Leute, und er muß bald sterben.“

Bäteli faltete die Hände und betete laut und inbrünstig, indem sie die sanften Augen zum Himmel aufschlug: „Gott sei ihm gnädig!“

Ihr Herz empfand jetzt nicht die mindeste Eifersucht, nur das innigste Mitleiden mit dem Unglücklichen, der sein junges Leben in solcher Weise verlieren sollte und seine unsterbliche Seele in Gefahr gebracht, denn sie glaubte so fest, wie an ihren Gott, daß der Mensch nimmer selig werden könne, der schon hier mit Geistern, mit bösen Geistern, verkehre.

„Bäteli,“ fuhr der junge Bauer fort, „ich fürchte mich auch immer vor den Bergmädchen, die zwar gar verlockend aussehen, aber Geisfüßchen haben, und nur um vor ihnen sicher zu sein, bitte ich Dich heute, wie schon oftmals, um einen Kuß von Dir. Ein solcher ist ja das beste Schutzmittel gegen alle solche verführerischen Geister, wie der Spruch sagt, den Du gewiß kennst:

Wen einer Jungfrau reiner Kuß geweiht,
Der ist vor aller Geister Macht gefeit.“

Dabei versuchte er den Arm um den schlanken Leib des Mädchens zu legen und sie zu küssen, aber mit unerwarteter Kraft machte sie sich von ihm los und stieß ihn von sich.

„Nicht einmal Dich küssen lassen willst Du?“ sagte er im beleidigten Herrenstolze. „So gehe hinunter und rette durch Deinen „reinen“ Kuß den Adler-Fritz, der Dir vielleicht besser gefällt, weil er nichts hat, wie Du,“ setzte er in bitterem Hohne hinzu.

Darauf ging er mit großen Schritten hinweg, ohne dem umher weidenden Viehe nur einen Blick zuzuwenden und ohne zu ahnen, in welcher Seelenpein er das Mädchen zurückließ. Ihr war, als müsse ihr das Herz stillstehen in der Brust, oder als läge eine Last auf ihr, die ihr den Athem benehme. Sie wollte fort, aber die Glieder waren ihr wie erstarrt, so daß sie dieselben kaum zu regen vermochte. Im Kopfe war es ihr so wirr, daß sie keinen Gedanken festhalten konnte, wie viele und wie verschiedene sich auch darin drängten. Sie setzte sich auf einen Stein, und erst als die gewaltige Spannung in ihr sich durch Thränen in etwas gelöset hatte, fühlte sie sich ein wenig erleichtert. Nicht daß der Adler-Fritz nun für sie verloren war, denn sie hatte ja nur eine leise Hoffnung gehegt, daß sie ihn vielleicht einmal den Ihrigen nennen dürfe – sondern daß sein Seelenheil verloren sein müßte, bekümmerte sie so sehr. Dann fragte sie sich, ob auch Alles, was sie vernommen, wahr sei. Das zu ermitteln, galt ihr als nächste Aufgabe, wie als die höchste, ihn zu retten. Darum nahm sie sich fest vor, nach Grindelwald hinunter zu gehen, sobald es ihr gelungen, eine Bekannte zu vermögen, einen Tag lang ihre Arbeit oben auf der Alp zu übernehmen. Viel aber machte ihrem Mädchenherzen auch der Spruch zu schaffen, welchen ihr junger Herr erwähnt hatte und nach dem der Kuß einer Jungfrau den Zauber der bösen Geister brechen sollte. Sie war allerdings abergläubig genug, eine solche Kraft des Kusses für möglich zu halten, gern aber hätte sie die Hälfte ihres Sennerlohnes darum gegeben, wenn ihr Jemand dafür gebürgt, daß ein Kuß, und zwar gerade in dem vorliegenden Falle, in der That die bezeichnete Wirkung habe und daß man Beispiele kenne, in denen dieses Mittel Schutz und Hülfe gewährt. Aber wenn dies auch der Fall war, durfte und konnte sie, eine züchtige Jungfrau[WS 1], einem Manne mit einem Kusse entgegen kommen?

Lange kämpfte in ihr die jungfräuliche Scham und der jungfräuliche Stolz mit der Menschen- und Christenpflicht, denn für eine solche hielt sie es, zu der Rettung eines Unglücklichen aus der Macht eines bösen Feindes nach Kräften beizutragen, also auch, in solch äußerstem Nothfalle, einem jungen Manne freiwillig einen Kuß entgegen zu bringen. Endlich wurde sie aber doch mit sich einig, dies Rettungsmittel an dem Adler-Fritz zu versuchen, wenn erfahrene Leute in Grindelwald die sichere Wirksamkeit desselben ihr bestätigt haben würden.

Indeß setzte der, um dessen willen sie alles dies litt, seine Besuche in dem Eispalaste immer freudiger fort, denn seine Kräfte nahmen nicht mehr in dem Verhältnisse ab, wie im Anfange, weil nicht mehr so eisige Kälte von der geheimnißvollen Braut in ihn überging, im Gegentheil ihr Athem ihn bereits lau anwehte, in ihren Gliedern Wärme sich zu entwickeln und selbst ihr sonst so starrer Busen sich leicht zu heben und zu senken begann. Je ähnlicher sie einem sterblichen Mädchen wurde, um so leidenschaftlicher zeigte er sich in seinen Liebkosungen, die sie nicht nur entzückt hinnahm, sondern auch nicht minder stürmisch erwiderte. Wenn er sich sonst bald erkältet gefühlt und sich von ihr hinweggesehnt hatte, wäre er jetzt gern immer bei ihr geblieben, so daß nun sie ihn drängen mußte, sie zu verlassen, wenn der Morgen nicht mehr fern war.

Außer dem Liebesglücke, das sie in reichem Maße genossen, beschäftigte sie vorzugsweise die Zukunft, von der sie sich noch weit mehr versprachen und welche die Jungfrau in reizenden Farben schilderte.

„Gewiß hast Du darauf geachtet,“ sagte sie, „daß in dem Maße, wie ich selbst wärmer werde, auf den Bergen, deren Herrin und Vertreterin ich bin, das Eis und der Schnee schmelzen und das Land mit neuem Grün sich zu bekleiden beginnt. Nur eine kurze Zeit noch, und das Ziel ist erreicht, mein sehnlichster Wunsch erfüllt. Dann werden alle Schneefelder und Gletscher für immerdar verschwinden, die starren kahlen Höhen einsinken, die tiefen Abgründe ausfüllen und sich mit fruchtbarer Erde bedecken. Grüne Matten, saftige Wiesen und schattige Wälder werden sich erstrecken weit und breit, fleißige Menschen sich ansiedeln und den jungfräulichen Boden bebauen, neue Dörfer, umgeben von einem Kranz von Gärten, entstehen und Kinder da spielen, wo jetzt nur scheue Gemsen weiden. Statt des Lawinendonners wird Glockenklang von neuen Kirchen ertönen und unter zufriedenen glücklichen Bewohnern werden wir, denen man alles das verdankt, die glücklichsten sein. Zwar werde ich dann sterblich werden, wie Du, aber ich werde es mit Freuden, denn nur die Sterblichen kennen das „Glück“, weil sie dem Wechsel unterworfen sind und statt des Wissens ihnen die Hoffnung gegeben ist. Was in ewiger Gleichmäßigkeit währt, kann kein Glück genannt werden. Und“ – dabei [319] sah sie den Geliebten mit den zärtlichsten Blicken an – „bin ich erst Dein Weib, Dein sterbliches Weib, dann werde ich auch Mutter werden und in Kindern und Kindeskindern fortleben. Solches Glück wiegt tausendfach alle Macht auf, die ich dafür hingebe, und Dir werde ich es zu danken haben, wenn Du treu noch ausharrst bis an’s Ende.“

Für den nächsten Tag hatte endlich Bäteli sich frei zu machen gewußt von ihren Pflichten, und sie erschien in Grindelwald, um auszuführen, was sie sich vorgenommen hatte. Von Allen, die sie befragte, selbst von dem alten Vetter, erhielt sie die Bestätigung, daß der Adler-Fritz wirklich Verkehr mit der Eisjungfrau in dem Gletscher habe, und je tiefern Schmerz ihr dies bereitete, um so fester wurde ihr Entschluß, Alles aufzubieten, um ihn, wenn es noch möglich sei, aus solcher verderblicher Zaubergewalt zu retten. Manche alte Frau und manchen alten Mann fragte sie im Vertrauen – ohne zu verrathen, warum sie es zu wissen wünsche – ob sie jemals gehört hätten, daß der freiwillig gegebene Kuß einer Jungfrau einen Mann vor der Macht und dem Treiben der bösen Geister schütze, die ihn in Versuchung führten, oder ob sie gar wüßten, daß dieses Mittel einmal sich in der That wirksam erwiesen hätte. Einige wußten gar nichts von der Sache, Andere hatten wohl gelegentlich einmal einen darauf bezüglichen Spruch gehört, konnten aber sonst keine Auskunft geben. Nur eine sehr alte Frau betheuerte, die Sache sei richtig, denn als sie noch jung und – wie sie wohlbedächtig hinzusetzte – hübsch gewesen, habe ein junger Bursch, dem die schlimmen Bergmädchen auf allen Wegen und Stegen verführerisch nachgestellt, sie selbst um einen Kuß gebeten, um endlich vor solchen Versuchungen gesichert zu sein. Sie habe ihm nach langem Sträuben endlich den Kuß auch gegeben und der Bursch ihr später oft gesagt, daß ihm seitdem nie wieder ein gespenstisches Bergmädchen erschienen sei.

So konnte denn Bäteli nicht mehr zweifeln und sie bereitete sich vor, ihrer Christenpflicht gegen Adler-Fritz nachzukommen.

Bevor sie jedoch diesen entscheidenden Schritt that, begab sie sich in die Kirche, trug ihr Vorhaben dem Geistlichen vor, fragte ihn, ob sie wohl und recht daran thue, und erbat sich seinen Segen. Der alte fromme Priester rieth ihr nicht davon ab. Er war klug und kannte die Menschen, namentlich die Jugend. Vielleicht, mochte er denken, erweckt dieser Schritt des schönen Mädchens in dem Herzen des Jägers eine Neigung zu ihr, und diese lenkt ihn dann von anderen, von sündigen Gedanken ab, was allerdings die beste und sicherste Heilung sein mußte.

Der Geistliche unternahm angeblich nur einen Spaziergang, aber er richtete seine Schritte nach dem Häuschen des Jägers hin. Dieser saß, da die Sonne sich bereits anschickte, zu Rüste zu gehen, auf der Bank vor der Thür, in der Hoffnung, daß die Alpen auch heute glühen und ihn so zu der Geliebten bescheiden würden.

Der alte Mann, den der Gang in der That ermüdet hatte, bat, ihn auf der Bank eine kurze Zeit ausruhen zu lassen, und begann ein gleichgültiges Gespräch mit dem Jäger, dem der Besuch sichtlich lästig und sehr ungelegen war. Bald indeß kam er auf das Gerücht, daß der Adler-Fritz sündhafter Zwecke wegen häufig, und zwar in der Nacht, den Gletscher oben besuche. Er wolle, sagte er, nicht glauben, was man erzähle, aber leider habe er ihn allerdings ungebührlich lange nicht in dem Beichtstuhle gesehen.

Der Adler-Fritz schwieg trotzig still, der Geistliche aber fuhr fort, wenn seine väterlichen Ermahnungen auf Widerspenstigkeit träfen, werde er sich genöthigt sehen, der Pflicht, die ihm die Kirche als ihrem Diener auferlegt, nachzukommen, und ihn mit schwerer Strafe belegen müssen. Die heilige Kirche sei eine nachsichtige und langmüthige Mutter, die lange zögere, ehe sie zu strengen Mitteln greife, verstockte Sünder aber wisse sie gar empfindlich zu züchtigen, ihnen selbst zum Heil und Andern zu warnendem Beispiel.

Adler-Fritz stand auf, unbewegt durch die Ermahnung, ungeschreckt durch die Drohungen. Er schaute erwartungsvoll nach dem Gipfel des Wetterhorns hinauf, ob sich ein Anfang des Glühens zeige, denn die Sonne war untergegangen. Als sich in der That ein leichter goldiger Schein zu zeigen begann, der stärker und stärker wurde, wuchs in gleicher Weise in seiner Seele die Zuversicht, und er antwortete:

„Ich werde mir die Braut vom Gletscher holen, und kein Priester soll mich daran hindern.“

„Bei dem Gekreuzigten,“ entgegnete der Priester, indem er das kleine Crucifix an seinem Rosenkranze gegen den Jäger erhob, „beschwöre ich Dich, gedenke Deines Heils und fürchte den Zorn der Kirche, der das Schrecklichste auf Erden ist und fortwirkt durch alle Ewigkeit!“

„Mich schützt die Herrin der Berge, und zu ihr reicht selbst der Zorn und der Fluch der Kirche nicht,“ sagte Adler-Fritz im festen Vertrauen auf die Liebe derjenigen, welche er seine Braut nannte. Er stieß die Hand des alten Geistlichen barsch zurück, die ihn fassen und zurückhalten wollte, und ging mit schnellen Schritten dem nahen Eismeere zu.

Er hatte soeben den Fuß auf den Gletscher selbst gesetzt, als Bäteli fast athemlos ihm nachstürzte und ihm zurief: „Adler-Fritz, Gott sei Dir gnädig! So hast Du mir geheißen für Dich zu beten, und so that ich seitdem jeden Abend und jeden Morgen. Gott wird Dir gnädig sein, wenn Du nicht mehr sündigst.“

Der Jäger blieb stehen, ungewiß, was er thun sollte, denn das Erscheinen und die Worte des Mädchens ergriffen ihn mächtig.

„Ich weiß, daß Du zu der Eisjungfrau gehst,“ fuhr Bäteli fort, „ich weiß, daß Du sie liebst und von ihr geliebt zu werden glaubst. Aber sie ist ein böser Geist, und nie kann sie Dein Weib werden. Sie lockt Dich jetzt durch Lügen, und wenn sie ihren Zweck erreicht hat, bist Du Dein Leben lang elend und in aller Ewigkeit verdammt. Der Priester sagt es, und alle Leute sagen es. Liebtest Du ein anderes Mädchen, ich wollte mich Deines Glückes freuen, bräche mir auch das eigene Herz dabei. Es ist schwer, von seiner Liebe zu lassen, ach, sehr schwer, aber, Adler-Fritz, geh nicht mehr zu der Eisjungfrau!“ bat sie mit emporgehobenen gefalteten Händen, indem sie sich abwehrend dicht vor ihn stellte.

Der Jäger zögerte, obgleich die Gipfel der Berge im feurigsten Glanze glühten. Endlich sagte er entschuldigend: „ich muß, Bäteli,“ und er wollte weiter, an ihr vorüber, gehen.

„So muß auch ich!“ rief das Mädchen. „Gott verzeihe mir, wenn es eine Sünde ist!“

Während sie in eiliger Hast so sprach, schlang sie kräftig die Arme um den Bestürzten und drückte ihm die Lippen auf den Mund.

Adler-Fritz wußte nicht, wie ihm geschah, und er ließ sich halten, ohne sich zu sträuben.

„Den Kuß gebe ich Dir nur, weil ich weiß, daß er Dich schützt vor dem bösen Zauber, der Dich erfaßt hat,“ setzte das Mädchen hinzu und ließ verschämt die Arme sinken.

„Bäteli,“ begann Adler-Fritz, „Bäteli, liebst Du mich? Wenn Du mich liebtest …“

Er konnte nicht weiter sprechen, denn mit betäubendem Krachen riß ein weitklaffender Spalt durch das Eis des Gletschers, gerade da, wo sie standen, und Beide sanken in die schauerliche kalte Tiefe hinab. Von allen Seiten fielen dumpfdröhnend Lawinen nieder. Das ganze „Eismeer“ kam in Bewegung. Die sonst ebene Fläche hob sich und senkte sich wie in Wellen, und mit schauerlichem Knirschen und Donnern schob sich einer der neu sich bildenden Eisberge über den anderen näher und näher der Stelle, an welcher die Matte begann, auf der das Häuschen des Adler-Fritz nebst einigen wenigen andern stand. Langsam zwar, aber mit unwiderstehlicher Gewalt, eine furchtbare Eislava, bewegte sich die Masse vor- und abwärts und drohte die Matte sammt den Häusern zu begraben. Die Bewohner gewahrten mit Grausen das Entsetzliche und flohen, um nur das nackte Leben zu retten, denn immer näher, immer schneller, immer gewaltiger, je mehr der Boden sich senkte, wälzte sich der Gletscher hernieder. Bald waren die Häuser zerdrückt unter seiner Wucht und begraben unter thurmhohem Eise, das erst still zu stehen begann, als es die Thalsohle erreicht hatte.

Der alte Priester und die Fliehenden erreichten zitternd das Dorf, von Bäteli aber und vom Adler-Fritz sah man nie wieder eine Spur, und der Gletscher liegt heute noch dort, wo sonst die Matte grünte.

Die Eisjungfrau hat seitdem Niemand wieder in der Nähe gesehen, aber stets, wenn Zwei einander küssen in ihrem Bereiche, gedenkt sie des Adler-Fritz, der ihr durch den Kuß einer Jungfrau entrissen wurde, ihr Zorn erwacht dann von Neuem, und er trifft die Küssenden unfehlbar, wie er den Jäger und die fromme Bäteli getroffen hat.“



 

[320]
Blätter und Blüthen.

Amerikanische Zwangsmaßregel. Help yourselves ist der Wahlspruch der Amerikaner, und wo „Richter Lynch“ im Großen arbeitet, da tritt die Selbsthülfe auch im gewöhnlichen Verkehr oft ein, sobald die Gesetze für die Erlangung eines einfachen Rechtes nicht genügen. Zu den großen Unannehmlichkeiten in einzelnen Staaten gehört unter Anderm die mangelhafte Gesetzgebung über das Verhältniß zwischen Hauswirth und Miether. Während in New York und andern östlichen Städten der einfachste kürzeste Proceßgang darin besteht, ist in vielen der westlichen Staaten ein „smarter“ Miether im Stande, fast noch ein Jahr nach geschehener Aufkündigung ein Haus zu bewohnen, ohne nur einen Pfennig Miethe zu zahlen. Das gewöhnlichste Zwangsmittel der Hauswirthe, einen hartnäckigen, nicht zahlenden Miether zum Weichen zu bringen, ist, diesem Thüren und Fenster ausnehmen zu lassen; zur Anwendung eines noch sonderbareren aber, des sogenannten „Crowding out“, ward einer unserer dortigen Freunde verführt, und wir geben die Schilderung der Maßregel nach seiner eigenen brieflichen Mittheilung.

Ich hatte, sagt er, ein Logis als zum Vermiethen angezeigt bemerkt, dessen Lage wunderbar gut für meine geschäftlichen Zwecke paßte; bei einer Nachfrage fand ich den Preis billig, und der Besitzer des Hauses zeigte mir die von ihm selbst bewohnten Zimmer, welche genau denen des fraglichen Quartiers gleich sein sollten – das einzige Hinderniß meines sofortigen Bezugs war, daß der jetzige Bewohner schon drei Monate nach geschehener Kündigung ohne Miethzahlung in den Räumen festsaß und nicht zum Weichen zu bringen war. Mit der Praxis des Fensterausnehmens wollte der Wirth nicht sein eigenes Haus schänden.

Mit mir war ein Bekannter, ein junger, geriebener Advocat; dieser ließ sich das Nähere der Verhältnisse nachweisen und wandte sich dann mit einem: „Schließ nur ab, der Vogel soll schon von selbst gehen!“ nach mir, und ich schloß ab, irgend einer mir noch unbekannten Rechtskraft vertrauend. „Und was soll geschehen?“ frug ich beim Weitergehen. – „Wir „crowden“ ihn aus!“ war die ruhige Antwort. Frei übersetzt hieß dies: durch eine Menge herausdrängen; indessen fehlte mir jeder Begriff über ein solches Rechtsmittel, und ich mußte mich mit dem „laß mich nur machen!“ meines Begleiters begnügen.

Der nächste Abend war für die Ausführung des Unternehmens bestimmt. Von zehn meiner jüngern Bekannten hatte ich im Laufe des Tages die Meldung erhalten, daß sie mit mir im neuen Quartier das Abendbrod nehmen würden und ich für einen tüchtigen Imbiß sorgen möge; mein Rechtsfreund hatte mir zugleich schriftlich aufgegeben, ein Fäßchen Bier und die sämmtlichen Matratzen meines Hausstandes in Bereitschaft zu halten; meine Frau schüttelte den Kopf, und mir selbst war in meiner Unwissenheit über das Bevorstehende nicht ganz behaglich zu Muthe, besonders da zwei Tage später meine eigene Miethzeit auslief und bequeme Quartiere selten wie Gold waren.

Der Abend kam, die Vorbereitungen waren wie verordnet getroffen, und mein Rechtsbeistand schritt unter einem stillen Lächeln mit mir nach der neuen Wohnung. In der schon ziemlich dunkeln Hausflur gesellte sich der Wirth zu uns, und der Advocat, vorausschreitend, zog an der Eingangsthür meines Quartiers die Klingel.

„Wer ist da?“ erklang es nach einer Weile von innen. – „Advocat S., der mit Mr. N. einige Worte zu sprechen hat!“ war die Erwiderung. Er hatte einen falschen Namen genannt, und ich bereute schon jetzt, mich in ein mir unbekanntes Unternehmen eingelassen zu haben.

Die Thür öffnete sich vorsichtig, aber der Wirth, mich mit sich ziehend, drückte sie kräftig zu voller Weite auf, und neben ihm stand ich plötzlich einem Manne gegenüber, der mit zornigem, überraschtem Auge uns ansah. „Was soll das, was wollen Sie?“ fragte er, sein Blick aber wurde durch eine andere Erscheinung von uns abgezogen, denn hinter uns marschirten unter Anführung des Advocaten meine zehn Freunde herein, und der Wirth rief, sich an mich wendend: „Mr. K., ich übergebe Ihnen hiermit das gemiethete Logis und erkläre Sie vor diesen Zeugen für den rechtmäßigen Besitzer desselben.“ Damit entfernte er sich; der Advocat aber hatte sich des Schlüssels zu der Eingangsthür bemächtigt und schritt, meinen Arm unter den seinen nehmend, ohne den wortlos dastehenden Mann mit einem Blicke zu beachten, in die offene Wohnstube. „Jetzt nicht gewichen und keine Art von Unterhandlungen!“ raunte er mir energisch zu; „für die Folgen stehe ich!“ – und damit war ich mitten in der Situation, über die ich mir einem Manne gegenüber, der dem einfachsten Rechte nicht hatte weichen wollen, kaum mehr einen Vorwurf machen mochte. Meine Freunde aber hatten sich, wie einem besprochenen Plane folgend, in den drei nächsten Piecen, wozu zwei Schlafstuben gehörten, vertheilt und im gleichen Augenblicke flackerte auch in den beiden unerleuchteten Räumen helles Licht auf.

Vor mir in dem durch eine Lampe erhellten Vorderzimmer sah ich eine ältliche Frau und zwei junge Mädchen am Tische sitzen; die Stimme des eintretenden Mannes aber, der sich erst jetzt von der raschen Ueberrumpelung erholt zu haben schien, ließ mir keine Zeit zu weitern Beobachtungen.

„Ich frage noch einmal, Gentlemen, was dieser gewaltsame Ueberfall zu bedeuten hat?“ begann er.

„Ich glaube nicht, Sir, daß irgend etwas Gewaltsames stattgefunden,“ erwiderte der Advocat, sich mit einem Streichhölzchen ruhig eine Cigarre anzündend; „wir haben nur gesetzlich den Besitz unserer Wohnung erlangt und werden diese behaupten. Wollen Sie nicht gehen, so können wir Sie vor der Hand nicht zwingen, wir denken aber von allen den Rechten, die uns zustehen, Gebrauch zu machen!“

„Ich sehe, wie es steht,“ erwiderte der Mann mit verbissenem Grimm, „Sie werden mir aber, wenn Sie Gentleman sein wollen, die nöthige Zeit zum Auszuge lassen.“

„Ich glaube, Sie haben seit drei Monaten Zeit gehabt,“ war die Antwort, „und es würde sehr unklug von uns sein, unser Quartier auch nur mit einem Schritt wieder zu verlassen.“

„Nun, Sie werden sich doch nicht die Nacht hier breit machen wollen, wo Ladies sind?“ fuhr die Frau mit scharfem Tone von ihrem Stuhle auf, „das könnte doch von Gott und der Welt nicht gelitten werden!“

„Nicht breiter, als wir das Recht haben, Ma’am,“ wandte sich der Advocat mit höflichem Tone nach ihr, „wir sind zwölf Mann, werden hier essen, rauchen, trinken, dann unser Nachtlager, so weit es uns gefällt, aufschlagen und morgen, da es Sonntag ist, noch einige Gesellschaft zu besserer Unterhaltung bei uns sehen.“

„Halt, ich glaube, wir haben es hier gar nicht mit dem eigentlichen Miether zu thun, der jedenfalls nicht verlangen wird, daß wir in der Nacht auf die Straße wandern sollen!“ begann jetzt der Mann wieder, wie sich an einen letzten Strohhalm klammernd, nach mir gewendet.

„Sie haben ein recht gutes Hotel in der Nähe, in das ich morgen gezwungen sein würde, mit meiner Familie zu gehen,“ erwiderte ich ihm, „und ich sehe keinen Grund ein, zum Besten Anderer Kosten zu haben.“

„So gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß ich morgen das Quartier räume!“ rief er, ich aber wies ihn an den Advocaten, dem ich bis zum ungestörten Besitz die Angelegenheit übergeben.

„Laß sie doch, Mann, sie haben es einmal darauf angelegt,“ rief die Frau bissig, „ich aber werde doch sehen, wie weit die Rechte der Ladies mit Füßen getreten werden sollen!“

In diesem Augenblick tönte die Klingel; ruhig öffnete der Advocat die Vorderthür, und herein schoben sich die vier Doppelmatratzen aus meinem Hause, ein großer Waschkorb mit Tellern und Lebensmitteln folgte, und das bereits angezapfte Fäßchen Bier mit einigen Seideln machte den Beschluß.

Mit stieren Augen sah die Bewohnerschaft einen furchtbaren Ernst sich entfalten; die Freunde packten zu, und bald lagen zwei Matratzen, bequeme Sitze bietend, im Wohnzimmer, während die übrigen nach den Schlafzimmern wandern sollten; aber die Frau warf sich ihnen wie eine Furie entgegen. „Hier ist das Schlafzimmer meiner Töchter,“ schrie sie, „und ich möchte sehen, wer es zu dem seinigen machen will!“

„Hier ist gar kein Zimmer mehr das Ihrige!“ erwiderte der Advocat kalt, „und Sie ersparen sich ohne einen nutzlosen Widerstand viele Inconvenienzen.“ Ein scharfer Zug von kräftigen Händen an der Matratze drängte die Frau willenlos zurück, und mit einem: „O, das soll Euch ein theuerer Einzug werden!“ ergab sie sich in ihr Schicksal.

„Aber was soll aus den Frauen während der Nacht werden?“ flüsterte ich dem Advocaten zu.

„Der Parlor ist freigelassen, dort mögen sie campiren wie wir selbst!“

Bald klapperten rings die Teller, schäumten die Gläser und dampften die Cigarren; ich aber vermochte den Kampf und die stille Verzweiflung in den Mienen des Mannes, wie die entsetzten Gesichter der beiden Mädchen, welche sich nach einer der entferntesten Ecken zurückgezogen hatten, nicht mehr mit anzusehen.

„Der Parlor soll Ihnen für diese Nacht überlassen bleiben, aber merken Sie wohl, nur für diese Nacht!“, trat ich an den Mann heran; „ziehen Sie sich dorthin mit Ihrer Familie zurück und räumen Sie morgen früh!“

Ein Zug von Erleichterung ging über sein Gesicht; bald waren die Frauen von ihm benachrichtigt, und das Ausräumen der Betten begann. Nach Kurzem saßen wir beim Scheine unserer eigenen Lichter allein, und auf den Matratzen arrangirten sich Whist- und Solopartien.

Ein regelmäßiger Wachtdienst mit Ablösungen, um allen Eventualitäten zu begegnen, ward für die Nacht hergerichtet; am andern Morgen aber, als ein ganzer Kessel voll Kaffee für uns anlangte, entfernte sich der Mann und gegen Mittag kehrte er mit zwei Möbelwagen zum Abholen seines Eigenthums und seiner Familie zurück.

Das war „ausgecrowdet“; nicht Jeder aber mag wie mein Advocat die Befähigung dazu in sich haben.


Bei Ernst Keil in Leipzig erschien:
[Verlagsanzeige, hier nicht transkribiert]

Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipsig.

  1. Salentin hat diesen Eintritt in die Lehre in dem schönen Bilde „der neue Schmiedelehrling“ wiedergegeben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jnngfrau