Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1861)/Heft 49

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[769]

No. 49.   1861.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Zur Beachtung!

Um den vielfach ausgesprochenen Wünschen einer großen Anzahl neuer Abonnenten wenigstens in Etwas nachzukommen, hat sich die unterzeichnete Verlagshandlung entschlossen, den Preis der

drei Jahrgänge 1857 bis 1859 der Gartenlaube zusammengenommen bis Ende dieses Jahres von 6 Thlr. auf 2 Thlr. 25 Ngr.

zu ermäßigen. Es wird indeß ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß diese Ermäßigung nur bis Ende dieses Jahres und bei Zusammenankauf der drei Jahrgänge gilt, einzelne Jahrgänge dagegen den alten Preis von 2 Thlr. behalten. Mit dem 31. December tritt unwiderruflich für die Jahrgänge 1857 bis 1859 der frühere Preis von 2 Thlr. wieder ein.

Die beiden ersten Jahrgänge, 1853 und 1854, sind vergriffen, 1855 ist nur in wenigen Exemplaren noch vorräthig. Der früher zu ermäßigtem Preis mit angezeigte Jahrgang 1856 ist vorläufig ganz vergriffen. Eine Ermäßigung für die neu zu druckenden Jahrgänge 1855 und 1856 tritt niemals ein.

Die Jahrgänge 1857 bis 1859, welche zusammen 308 Quartbogen mit den prachtvollsten Illustrationen umfassen, enthalten eine Reihe der interessantesten Original-Erzählungen von Lev. Schücking, Temme, Max Ring, v. Sternberg, Gerstäcker, E. Willkomm, Ernst Fritze, L. Mühlbach, L. Rosen, L. Storch etc., viele der besten wissenschaftlichen Beiträge von Bock, Alfred Brehm, Roßmäßler, Berth. Sigismund, Doebereiner, Hirzel etc., Reise- und Jagdbilder von Gerstäcker und Guido Hammer, Biographien und Portraits der hervorragendsten Erscheinungen der Neuzeit, beschreibende und geschichtliche Aufsätze etc. etc., mithin eine reiche Bibliothek für edle Unterhaltung und instructive Belehrung, die sich als Weihnachtsgeschenk besondern empfiehlt.

Alle Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil.


Ein Beamtenleben.

Von Dr. J. D. H. Temme.


1.

Der Kreisgerichtsdirector Heilsberg feierte seinen Geburtstag. Seine Familie war in dem Besuchzimmer des Hauses versammelt, um ihm ihre Glückwünsche darzubringen, seine Gattin und seine fünf Kinder. Der schönste Schmuck der schönsten Frau bleiben immer ihre Kinder. In einem Kranze von schönen Blumen stirbt eine manchmal früh ab; die anderen bleiben darum nicht minder schön, und wer den Kranz besitzt, liebt ihn dennoch, und mit und in ihm auch die früh dahin welkende Blume. Wie möchte er sie entfernen, fortwerfen können, sie, um die sich zu der Liebe die Sorge, die Trauer in ihm gesellt?

Die Directorin war noch eine schöne Frau, in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Man sah ihr zugleich das weiche Herz an und manche Sorge und manchen Gram, unter denen dieses Herz oft genug gebangt und geweint haben mochte. Ein stiller Kummer umflorte noch die großen, schönen, sinnenden Augen, umzog die feinen Lippen. Selbst die Feier des Tages und ihre fröhliche Umgebung hatten ihn nicht aus dem Herzen und nicht aus dem Gesichte verbannen können. Und sie war in einer so sehr fröhlichen und lieben Umgebung. Ihre fünf Kinder umstanden sie; vier davon waren Engel der Schönheit, der Freude, des Glückes.

Das älteste war ein Mädchen von sechzehn bis siebenzehn Jahren; sie stand auf der ersten Stufe in dem Leben der Jungfrau; ein eigenthümlicher Reiz, der über ihre feine Schönheit ausgebreitet war, schien zugleich ein stilles, heimliches Glück des jungen Herzens der Jungfrau zu verrathen.

Ein Knabe von vierzehn Jahren folgte ihr; man sah den Geist und den Muth in dem frischen Gesichte.

Ein Knabe von sieben Jahren kam, ein Mädchen von fünf; die liebsten und blühendsten Gesichter, die man sehen konnte; der Knabe die Bravheit, das Mädchen die Schelmerei selbst.

Wie waren sie Alle so schön, so glücklich! Wie sah man ihnen Allen die Liebe unter einander an, und die Liebe zu der Mutter. Und das Mutterherz liebte sie Alle doch noch mehr. Aber mit noch größerer, mit noch heißerer Liebe umfing dieses Mutterherz das Fünfte ihrer Kinder, und die Liebe zu diesem Kinde war zugleich eine schmerzliche, das Herz durchbohrende.

Ein Mädchen von zwölf Jahren stand in dem Kranze der schönen, so frisch und lebevoll blühenden Blumen, ohne Lebenskraft dahin welkend, schon halb verwelkt. Ein bleicher, unförmlicher Kopf hing ihr schwer auf eine Seite, große, wasserhelle Augen traten starr und todt hervor und zeigten, daß gleich dem Leben des Körpers auch das des Geistes stets unentwickelt geblieben war und, gleichfalls mit dem Körper, aus seiner unentwickelten Stufe einer baldigen ewigen Nacht entgegensiechte.

Ein Alter von vierzehn Jahren kann das arme Wesen erreichen, [770] hatten die Aerzte schon bald nach ihrer Geburt erklärt. Zwölf Jahre war sie jetzt alt. Noch anderthalb bis zwei Jahre Lebensfrist gaben ihr auch jetzt die Aerzte. Die Liebe der Eltern zu dem unglücklichen Kinde war mit jedem Jahre, das sie der Trennung von ihr näher brachte, eine schmerzlichere, eine innigere, eine heißere geworden. Auch die Geschwister hatten die Arme immer mehr lieben gelernt; wie sie an Geist und Körper ein Kind von sieben Jahren geblieben war, so hatte sie auch das gutmüthige Herz dieses Alters bewahrt.

Mutter und Kinder warteten auf den Vater. Es war in wenigen Minuten halb acht Uhr Morgens. Um halb acht kam der Vater aus seinem Arbeitszimmer herunter, um mit den Seinigen den Kaffee zu trinken. Bis dahin hatte er schon seit zwei Stunden gearbeitet. So war es täglich, und auch heute am Geburtstage wurde keine Ausnahme gemacht.

Er war ein eben so fleißiger, wie ordentlicher Mann, der Director Heilsberg. Das war auch weiter bekannt, über die Grenzen seines Gerichtsbezirks hinaus. Er war dazu ein ausgezeichneter Jurist, ein gewandter Arbeiter und vor Allem ein Mann der unerschütterlichen Gerechtigkeit und der fleckenlosen Ehre. Auch das war weiter bekannt, in der Residenz, an den höchsten Stellen, und damals wußte man an diesen höchsten Stellen noch in dem Beamten den Charakter, das unerschütterliche Festhalten an Recht und Ehre, zu schätzen und hochzuachten. Der Minister hatte den Kreisgerichtsdirector Heilsberg, obwohl er ein Bürgerlicher war, schon längst zum Präsidenten eines Obergerichts bestimmt. Die nächste Vacanz sollte ihn seiner Bestimmung entgegenführen. Der Director Heilsberg wußte es; es machte ihn glücklich. Ein Beamter, der sich seiner Rechtschaffenheit, seiner Unabhängigkeit und seiner Ehre bewußt ist, darf schon auch Ehrgeiz haben. Bei ihm kam zugleich Anderes hinzu.

Mutter und Kinder umstanden einen runden Tisch, der sich in der Mitte des Zimmers befand. Auf ihm lagen ihre Geschenke, die sie mit ihren Glückwünschen dem Erwarteten darbringen wollten. Es waren keine reichen Geschenke.

Der Director Heilsberg hatte früh als junger Assessor geheirathet. Er war arm gewesen, seine Frau ebenfalls. Sie hatten sich nur ihre an Liebe und Treue so reichen Herzen zugebracht; freilich auch den frischen Muth der Liebe, für einander zu arbeiten und, wenn es sein müsse, selbst mit einander zu entbehren. Und Beides hatten sie redlich gemußt, bei dem geringen Gehalte und bei dem Mangel an allem Vermögen. Der Assessor Heilsberg war allerdings nach einigen Jahren Rath, und der Rath war dann Director geworden. Aber er hatte sich dabei und dazu mancher Versetzung in andere Orte, selbst in entfernte Provinzen des Landes fügen müssen, und – zweimal versetzt ist einmal abgebrannt, sagt ein alles Sprüchwort in der Beamtenwelt. Dazu waren die Kinder gekommen und herangewachsen, und dem Stande angemessen leben mußte die Familie auch, wenn sie auch sparsam und einfach genug lebte und wenn auch die Directorin überall in der Hauswirthschaft fleißig mit zugriff und ihre älteste Tochter schon seit manchem Jahre ihr treulich darin zur Seite stand. So hatte sie nicht nur nichts zurücklegen, kein Vermögen sich erwerben können; es waren auch noch sogar einige ältere Schulden da, und neue Geldverlegenheiten traten dann und wann ebenfalls hervor.

Die Directorin konnte wohl auch an dem Fest- und Freudentage der Familie die sorgen- und kummervolle Miene haben. Mußte ihr Blick dabei doch auch auf das arme, an Geist und Körper so arme Kind fallen. Und vielleicht drückte noch etwas Anderes ihr das Herz zusammen.

Allein wie wenig reich die Geburtstagsgeschenke waren, die Blicke der Kinder hingen mit heller Freude daran; selbst das Auge der armen Kranken hatte einen leisen, matten Glanz. Und den Blicken der Kinder begegnete und folgte das Auge der Mutter, und es mußte unter all’ seinem Flor von Gram und Sorgen und vielleicht noch mehr doch eine stille Thräne des Glücks und des Dankes aufnehmen, des Dankes zu Gott, der ihr und den Kindern noch so viel Freude und Glück schenkte.

Die Stutzuhr in dem Zimmer schlug halb; es war halb acht Uhr. Die Kinder standen bewegungslos, stumm. Sie horchten dem Nahen des Vaters, der jetzt kommen mußte. Man hörte draußen einen Schritt.

„Der Vater!“ sagte die Mutter leise, ermahnend.

Die Kinder traten näher an den Tisch heran. Sie langten zu den Sachen, die sich auf ihm befanden. Jedes nahm das Geschenk, das es dem Vater zu überreichen hatte.

Emilie, die älteste Tochter, hatte einfach ein paar Pantoffeln gestickt; sie hatte nicht Zeit zu einer größeren Arbeit gehabt, bei der Hülfe, die sie der Mutter in der Wirthschaft leisten mußte.

Der ältere Sohn, er war Gymnasiast, hatte eine Reiseschreibmappe gekauft. Er legte ein zusammengefaltetes Papier hinzu.

„Was ist es, Oskar?“ fragte ihn die Mutter.

„Mein Schulzeugniß. Ich bin der Erste in meiner Classe geworden.“

Der Mutter fielen die hellen Freudenrhränen aus den Augen.

Der zweite Knabe, Bruno, hielt eine sammetne Morgenmütze mit großer Troddel daran für den Vater in der Hand.

Die Jüngste, Hanna, hob einen großen Papierkorb empor, den eine kunstvoll gestickte Guirlande umgab. Es war zugleich der Mutter Geschenk, von der die Stickerei herrührte.

„Aber ich habe auch daran gearbeitet,“ sagte die Kleine mit lebhafter Phantasie.

„Du hast der Mutter die Seide gehalten und die Perlen zugereicht,“ berichtigte sie der ehrliche Bruno.

„Ich habe aber auch einige Stiche gemacht.“

„Die Mutter führte Dir die Nadel.“

„Und so hast Du Deinen redlichen Theil an der hübschen Arbeit, meine gute Hanna,“ sagte die Mutter.

„Und ich darf es dreist dem Vater sagen.“

„Das sollst Du.“

Das schönste und glänzendste Geschenk für den Vater hatten sie der Kranken aufgehoben. Es war ein in glänzenden, bunten Perlen gestickter Klingelzug. Die Mutter und die älteste Schwester Emilie hatte ihn gemeinschaftlich gearbeitet, in mancher späten Abendstunde, die sie nach vollbrachter Arbeit des Tages dem Schlafe entzogen hatten. Die Kranke hielt das schöne Geschenk stolz in beiden Händen. Die augenblickliche Aufregung hatte ihre Nerven gestärkt, sie konnte auch den schweren, kranken Kopf aufrecht halten.

„Ich habe das auch gemacht, Mama,“ sagte sie, aber nicht in lebhafter Phantasie, wie die wilde Hanna; der kranke Geist gab fast mechanisch die Worte wieder, die sie aus dem Munte der jüngeren Schwester aufgefangen hatte.

„Ja, meine liebe Clementine,“ erwiderte ihr die Mutter, und keins von den Kindern hatte nur eine Sylbe oder eine Miene des Widerspruchs.

Der Vater war eingetreten. Zwar erst nur in das gewöhnliche Familienzimmer nebenan, in dem das Frühstück eingenommen wurde. Aber die Thür stand offen, und er sah in das Besuchzimmer und hier alle die Seinen in der fröhlichen und feierlichen Erwartung. Er trat zu ihnen. Sie kamen ihm entgegen.

Er war ebenfalls noch ein schöner Mann, in der ersten Hälfte der vierziger Jahre, der Director Heilsberg. Zeichneten sich aber die Gesichtszüge seiner Gattin durch Sanftmuth und Weichheit und durch jenen still getragenen Gram aus, sein Gesicht zeigte ganz den geistvollen, denkenden und charakterfesten Mann, freilich auch den ehrgeizigen, und selbst stolzen Mann, der wußte, was er galt und was noch mehr aus ihm werden müsse. Daß er aber in Nachdenken und Arbeiten, in Stolz und Ehrgeiz ein tiefes und inniges Gefühl bewahrt hatte, daß die treueste und herzlichste Liebe zu den Seinen in seinem Herzen stets frisch und stark geblieben war, das verriethen die lebhafte Freude und Rührung, die ihn bei dem Anblicke der auf ihn harrenden Gattin und Kinder ergriffen.

Die kleine Hanna mußte die Reihe der Beglückwünschungen eröffnen. Sie überreichte ihren großen Papierkorb allein. Sie konnte ihn hoch heben und dabei ihr Geburtstagsgedicht hersagen, das die Mutter sie gelehrt hatte. Die helle, klare Kindesstimme zitterte anfangs, aber wie frisch und fröhlich wurde sie dann, als sie glücklich und ohne ein einziges Mal zu stocken fertig geworden war; wie jubelnd flog sie empor, ihrem vollen Glücke sich hingebend, den Korb und Feierlichkeit und Steifheit von sich werfend, in die Arme des Vaters fliegend, ihre vollen Aermchen um seinen Hals schlingend!

Aber auch die Anderen mußten an die Reihe kommen. Der kleine Bruno durfte ihm die Morgenmütze sogleich aufsetzen; er that es sehr ehrbar. Etwas Philister war der brave Bursche schon jetzt.

Dem Gymnasiasten Oskar drückte er für das Zeugniß warm die Vaterhand.

[771] Clementine, die Kranke, küßte er mit seinem mildesten Lächeln.

Die Kräfte der Armen hatten gerade so lange ausgehalten; die Mutter mußte sie auf ein Sopha legen, das in der Nähe stand. Der Vater hatte unterdeß dankend auch die liebliche, freundliche Emilie auf die blühenden Lippen geküßt. Seine Gattin kehrte von dem Sopha zurück. Eine helle Thräne stand noch in ihrem Auge. So warf sie sich an die Brust des Gatten. Auch ihm war auf einmal das Herz zusammengepreßt. Aber er war der Stärkere.

„Zeigen wir heute den Kindern nur Glück, Mathilde,“ sagte er ihr in das Ohr, während er liebend sie mit seinen Armen umfing.

Sie zuckte zusammen. „Adalbert!“ rief sie. Sie wollte ihm mehr sagen; es war, als wenn sie es müsse. Sie konnte es nicht. Es war etwas Anderes, als das unglückliche Kind, was sie drückte. Auch dem Director fiel es auf. Er sah sie verwundert, fragend an. Aber sie hatte sich gefaßt. „Du hast Recht,“ flüsterte sie ihm zu. „Stören wir die Freude der Kinder nicht.“

„Du hattest etwas, Mathilde?“ fragte er doch.

„Nein, nein!“

Er fragte nicht weiter. Und auch die Frau wußte zu verbergen, daß sie etwas auf dem Herzen habe. Sie setzten sich an den Frühstückstisch. Die Ordnung des Hauses und ihres Lebens forderte es auch heute. Um acht Uhr mußte der Vater auf sein Gericht, der Gymnasiast in seine Schule. Sie saßen Alle glücklich beisammen. Auch die Mutter vermochte es über sich, nur Freude und Glück zu zeigen. Ihrer Aller Glück und Freude sollte erhöht werden.

Jeden Morgen vor acht holte ein Gerichtsdiener die für das Gericht und dessen Beamte bestimmten Briefe von der Post ab. Die für das Gericht bestimmten brachte er zum Gerichtslocale, die persönlich an den Director gerichteten brachte er diesem in die Wohnung. Er kam auch heute, während sie noch Alle an dem Frühstückstische saßen. Er hatte nur zwei Briefe und übergab sie dem Director und entfernte sich wieder. Er hatte vorher einen heimlichen Seitenblick auf die älteste Tochter geworfen. Nur sie hatte ihn bemerkt und war ihm darauf aus dem Zimmer gefolgt, von den Anderen unbeachtet, denn sie hatten Alle die Blicke auf den Vater gerichtet, dessen Gesicht bei dem Anblicke der Briefe hochgeröthet war. Hätten sie das schöne, freundliche Kind beachtet, sie hätten doch wohl die Blicke von dem Vater ab und nur zu ihr hingelenkt. Einen Augenblick hatte sie sich verbergen können, dann war auch ihr Gesicht von einer hellen Gluth übergossen; dann auf einmal war es schneeweiß geworden. So verließ sie das Zimmer.

Der Director hatte schnell die Aufschrift der beiden Briefe angesehen.

„Aus dem Justizministerium,“ sagte er, indem er den ersten besah. Er erbrach ihn nicht sogleich. „Von meinem Freunde – in –“ besah er erst noch den zweiten. Er nannte den Namen seines Freundes, eines Rathes an dem ihm vorgesetzten Obergericht.

Er erbrach dann den Brief aus dem Justizministerium. Er las ihn. Sie hingen Alle mit forschenden Blicken an seinen leuchtenden Augen, während er las. Es mußte etwas Besonderes in dem Briefe stehen. Sie ahnten was es war; eine große Freude für den Vater, für sie Alle. Sie warteten schweigend, bis der Vater sie ihnen verkünden werde.

„Eine Geburtstagsfreude?“ mußte die Mutter ihn doch fragen.

„Lies, Mathilde.“ Er hielt ihr bewegt den Brief hin.

„Präsident!“ rief sie.

„Ja, der Minister benachrichtigt mich von der Ernennung. Das Patent sei vom Monarchen vollzogen und werde in einigen Tagen nachfolgen.“

Er war zum Präsidenten ernannt, vom Director eines Untergerichts zum Präsidenten eines großen Obergerichts. Das Ziel seines Ehrgeizes war erreicht. Als Assessor hatte er wohl kaum gewagt, davon zu träumen. Auch als Rath noch nicht. Die Präsidenten der Obergerichte waren nächst dem Justizminister die höchsten Justizbeamten des Staats, und es waren nicht viele dieser Stellen im Lande. Die wenigen hatte bisher der Adel weggenommen, und es hatte jedesmal der Connexionen und Intriguen genug bedurft. Als seine ausgezeichneten beamtlichen Eigenschaften ihn zum Director des Kreisgerichts befördert hatten, begann der ehrgeizige Mann den Traum zum Ziele seines Ehrgeizes zu erheben. Für seine sanfte, bescheidene Gattin war es dennoch immer ein Traum geblieben. Auf einmal war jetzt das Ziel erreicht, der Traum zur Wahrheit geworden.

Der Director – noch war ihm sein neues Patent nicht ausgehändigt, und erst dann durfte er Präsident genannt werden – er wußte, eben als ehrgeiziger Mann, seine Freude zu mäßigen. Die weiche Frau war plötzlich heftig zusammengezuckt. Leichenblässe hatte ihr Gesicht überzogen. Sie zitterte.

„Was ist Dir, Mathilde?“ rief der Gatte.

„Die plötzliche Freude, Adalbert.“

Aber sie mußte einen tiefen, schweren Athemzug heraufholen, um die paar Worte zu sprechen. Es war ein schneidender Widerspruch mit diesen. Der Director hatte ihn nicht gewahrt, in seiner Freude und in seiner Liebe zu der Gattin nicht. Er schloß sie in seine Arme.

„Du hast so Vieles entbehren müssen, meine Mathilde. Dein Leben war bisher ein Leben der Sorge und der Arbeit. Ich hatte es als junger Mensch mir anders gedacht; ich hatte gehofft, Dir Tage des Glücks und des Wohlseins bieten zu können. Jetzt werden sie kommen, mein gutes, braves Weib. Jetzt sollst Du Entschädigung, Ersatz erhalten für Alles!“

Er hatte doch die Frau ansehen müssen. Auch die Blicke der Kinder hatten seine Augen auf sie hingelenkt. Sie hatten sich anfangs mit ihm gefreut. Jetzt saßen sie stumm da, fast ängstlich nach der Mutter sehend. Da sah auch er, wie blaß sie noch immer war, wie sie vergebens nach Fassung rang. Er erschrak.

„Um des Himmels willen, Malhilde, was ist Dir?“

Sie konnte ihn nur weinend mit ihren Armen umschlingen.

„Malhilde, ich beschwöre Dich.“

Sie kämpfte noch mit sich. Sie hatte ihm etwas zu sagen, wieder wie vorhin. Sie konnte sich wiederum nicht dazu entschließen.

„Es wird vorübergehen, Adalbert. Ich fühlte mich plötzlich so ergriffen. Es ist mir schon seit einiger Zeit so.“

„Auch das soll jetzt anders werden,“ sagte der Gatte. „Du wirst Dich besser pflegen.“

Er öffnete den zweiten Brief von seinem Freunde, dem Rathe an dem ihm vorgesetzten Obergerichte. Auf einmal erblaßte er. Dann war es, als wenn er seinen Augen nicht traue. Er las den Brief noch einmal; er hatte richtig gelesen. Aber etwas Seltsames, etwas Erschreckentes mußte es sein. Er faltete den Brief zusammen und stand rasch auf. Er war in großer Unruhe und wollte das Zimmer verlassen. Er hatte kein Wort mehr gesprochen. Seine Gattin hatte jede seiner Bewegungen verfolgt, trotz ihrer eigenen Unruhe und Angst. Sie wurde bleicher und mußte aufspringen.

„Adalbert, was ist es? Was hat man Dir geschrieben?“

„Nichts. Es muß ein Irrthum sein,“ sagte er beruhigend.

Aber ihre Angst wurde größer. „Theile es mir mit, ich bitte Dich,“ beschwor sie ihn jetzt.

„Es kann nur ein Mißverständniß sein. Ich versichere Dich, Malhilde.“

„Nein, nein. Du mußt es mir sagen; Du mußt mich anhören – “

Jetzt wollte sie ihm sagen, was sie vorhin nicht hatte über die Lippen bringen können. Aber er war schon fort. Er hatte ihre letzten Worte nicht mehr gehört. Sie wollte in Verzweiflung ihm nacheilen. Da kehrte ihre Tochter Emilie in das Zimmer zurück, und das Kind war geisterbleich und warf mit verstörtem Blick sich in ihre Arme, an das Mutterherz.

„Mutter, ich sterbe!“

Die Stutzuhr in dem Zimmer nebenan schlug acht Uhr. Der Director war schon auf dem Wege zu seinem Gerichte. Der Gymnasiast mußte in seine Schule. Er ging gesenkten Hauptes. In dem Zimmer nebenan rief die Kranke weinerlich herüber: „Mutter, bringe mir Kaffee!“ Sie lag noch dort auf dem Sopha. Mutter und Tochter hatten den Ruf nicht vernommen; aber die beiden kleinen Kinder hatten ihn gehört.

„Bringen wir der armen Schwester Kaffee,“ sagte leise der Knabe zu seiner jüngsten Schwester.

Er selbst schenkte dann eine Tasse Kaffee ein; die kleine Hanna fügte mit ihren zierlichen Händchen Zucker und Milch hinzu. Beide brachten die Tasse der Schwester. Sie gingen auf den Zehen, um die Mutter und die ältere Schwester nicht zu stören. Die Mutter und Emilie hielten sich noch weinend in den Armen.

[772]

2.

Der Geburtstag des Directors hatte der Familie kaum eine halbe Stunde der Freude geboten. Er war seitdem ein Tag des Schmerzes, der Sorge, der Angst geblieben. Es war in der zweiten Stunde Nachmittags. Die Directorin war mit Emilie allein im Zimmer. Die beiden kleineren Kinder befanden sich in der Kinderstube, und dort war auch die Kranke. Die kleineren Geschwister liebten sie. Sie erzählten ihr und tanzten und sprangen um sie her. Die arme Kranke war zufrieden, wenn sie nur etwas zu sehen und zu hören hatte. Der Gymnasiast Oskar hatte nach dem Mittagessen wieder zur Schule gehen müssen. Er hatte kaum seine Suppe anrühren mögen, da hatte er sich schon wieder still entfernt. Seine Mutter und Emilie hatten mit verweinten Augen, stumm da gesessen; sie hatten gar nichts anrühren können. Emilie hatte nach einigen Augenblicken aufspringen müssen; ein furchtbarer Schmerz hatte ihr einen lauten Schrei ausgepreßt. Sie war in ein Nebenzimmer gestürzt. Die Mutter war ihr nachgegangen.

„Eßt Ihr nur,“ hatte sie zu den anderen Kindern gesagt.

„Oskar, sorge für sie.“

„Was ist es denn, Mutter?“ hatte der erschrockene Gymnasiast gefragt. „Dir und Emilien?“

„Ich kann es Dir jetzt nicht sagen, Oskar. Später vielleicht.“

Sie war bei der jammernden Tochter in dem anderen Zimmer. Sie verschloß die Thür hinter sich.

Der Director war gar nicht zu Tisch erschienen. Er war seit der Morgenstunde, da er so verstört und eilig zum Gerichte ging, nicht zurückgekehrt. Gegen Mittag hatte er durch einen Gerichtsdiener sagen lassen, man solle mit dem Essen nicht auf ihn warten, er habe dringende Geschäfte, die ihn vielleicht bis zum Abend am Gerichte zurückhalten würden.

Die Directorin hatte den Diener gefragt, von welcher Art die dringenden Geschäfte seien. Der Mann hatte es nicht gewußt; er hatte nur sagen können, der Director habe den ganzen Vormittag mit einer Menge von Beamten in den Bureaux gearbeitet. Es sei geheimnißvoll dabei hergegangen, und vor einer halben Stunde sei plötzlich und ganz unerwartet der Präsident des Obergerichts angekommen und habe sich mit dem Director eingeschlossen. Seitdem steckten die Herren Beamten noch geheimnisvoller und leiser die Köpfe zusammen.

Die Directorin war von neuem in große Unruhe gerathen. Sie hatte den Gerichtsdiener warten lassen; sie wollte ihm ein Billetchen an ihren Mann mitgeben. Sie hatte sich an den Schreibtisch gesetzt, schreiben wollen; die Feder war ihr in der bebenden Hand auf und nieder geflogen. Sie konnte keinen Buchstaben auf das Papier bringen. Sie hatte Miene gemacht, den Diener zum Gerichte begleiten zu wollen. Sie hatte ihr bleiches Gesicht, ihre verweinten Augen, ihre zusammengesunkene Gestalt im Spiegel gesehen. Wie konnte sie so sich vor den Leuten sehen lassen? Der Gerichtsdiener war zurückgekehrt. Seitdem hatte sie von ihrem Manne und vom Gerichte nichts wieder gehört.

Mutter und Tochter waren wieder allein. Sie hatten fast den ganzen Morgen zusammengesessen. Die Tochter hatte der Mutter erzählen müssen. Die so oft und so viel geprüfte Frau konnte allein fragen, was sie drückte. Den Schmerz des Kindes mußte sie wissen und theilen, und das Kind mußte sich so das Herz erleichtern.

Was Emilie der Mutter erzählt hatte? Es war eine von jenen einfachen, alltäglichen Geschichten, die jungen, unerfahrenen Mädchen das Herz zu brechen pflegen.

Der Director Heilsberg war als der tüchtigste Gerichtsdirigent in dem ganzen Departement des Obergerichts bekannt. Die jungen Referendarien, die sich zu ihrer künftigen richterlichen Carrière eine Zeitlang bei einem Untergerichte ausbilden mußten, sahen es daher als eine besondere Begünstigung an, wenn sie zu diesem Zwecke dem Gerichte und der Aufsicht des Director Heilsberg überwiesen wurden. Auch der Präsident des Obergerichts hatte ihm seinen Sohn anvertraut, und der junge Mann hatte ein ganzes Jahr unter dem Director gearbeitet. Er hatte die Zeit auch noch zu etwas Anderem zu benutzen gewußt.

Der Referendarius, Freiherr Carl von Senkendorf, war in mancher Beziehung ein ausgezeichneter Mensch. Er hatte einen klaren Verstand, ein gutes, gar weiches Herz, angenehme, seine Manieren, ein sehr einnehmendes Aeußere. Er hatte einen Fehler, sein weiches Herz vergaß die leicht aufgenommenen Eindrücke eben so leicht wieder, und sein Gewissen kümmerte sich eben nicht viel darum. Er hatte als der älteste Sohn des freiherrlichen Präsidenten schon früh in der vornehmen Welt gelebt und zu leben gelernt.

In der kleinen Welt des Städtchens, in dem er unter dem Director Heilsberg arbeitete, war er unter den jüngeren Leuten die bei weitem hervorragendste Erscheinung. Er war also auch die Sehnsucht der jüngeren Damen und für diese der Mütter. Indeß er war auch der Freiherr, der, wie gesagt, schon früh in der vornehmen Welt zu leben gelernt hatte. Als er nach Jahresfrist das Städtchen wieder verließ, um in der Residenz sein großes Examen zu machen, hatte er wohl vielen jungen Damen die Cour gemacht und in manchem Mutterherzen Hoffnungen erweckt. Aber bei dem äußerlichen Courmachen war es geblieben, und seinen Scheidegrüßen folgte keine einzige Hoffnung mehr. So meinte man, so wußte man es nur. Ein einziges Herz wußte mehr.

Emilie Heilsberg war ein Kind, als der junge Baron Senkendorf kam. Er behandelte sie wie ein Kind; sie kam ihm entgegen wie ein Kind, unbefangen, ungezwungen, vertrauensvoll. Sie sahen sich häufig, später fast täglich. Und während sie sich so sahen und sich entgegenkamen und einander behandelten, war Emilie zur Jungfrau geworden. Sie war es geworden, ohne daß sie selbst es wußte. Daß sie auch ein schönes, ein bildschönes Mädchen geworden war, und daß sie das sanfteste und liebenswürdigste Herz von der Welt hatte, wußte sie wohl noch weniger. Der junge Herr von Senkendorf sah das Alles desto mehr, und wie er es sah, fühlte es auch bald sein empfängliches Herz; und das zugleich leichtsinnige Herz war nun zu schwach, manchen Gründen der Vernunft zu widerstehen, Gründen, die ihm klar genug zum Bewußtsein kamen.

Er entdeckte Emilien seine Liebe. In dem Augenblicke wußte das sanfte Kind freilich, daß sie nicht mehr Kind war. Sie fühlte es an jenem unnennbar süßen Weh, das man Liebe nennt. Sie hatte sie auch wohl schon lange im Herzen getragen, ohne daß sie es gewußt hatte. Jetzt wußte sie Alles, und das weichste und liebenswürdigste Kind war zugleich das glücklichste. Doch nein, Alles wußte sie nicht; wie hätte sie sonst so glücklich sein können? Sie kannte nicht den Leichtsinn der Männer.

„Wir müssen unsere Liebe vor Jedermann geheim halten,“ hatte er zu ihr gesagt. „Auch vor Deinen Eltern, selbst dem treuen Mutterherzen mußt Du sie verschweigen. Es ist ein Opfer, das wir nothwendig unserem Glücke bringen müssen. Mein Vater ist ein stolzer und strenger Mann und hat mit mir Pläne für seinen Stolz. Unsere Liebe würde ihnen entgegentreten, jetzt jedenfalls. Er würde mir unzweifelhaft seine Einwilligung versagen; ich solle zuerst an mein Examen denken und an ein Amt, an eine Stellung, in die ich eine Frau hineinführen könne; dann sei es Zeit, an die Frau zu denken. Ich würde ihm nichts darauf erwidern können. Seine Weigerung würde Dich und mich unglücklich machen. So schweigen wir jetzt. Nach einem halben Jahr habe ich, mein Examen gemacht; ein Vierteljahr später werde ich ein Amt haben, und zu derselben Zeit wird Dein Vater Präsident sein, in gleich hoher amtlicher Stellung stehen wie mein Vater. Dieser selbst hat es mir gesagt. Und was will er dann unserer Liebe, unserer Verbindung, unserem Glücke entgegenstellen können?“

Sie glaubte ihm. Er glaubte damals sich selbst. Niemand erfuhr von ihrer Liebe, und sie waren um so glücklicher. Er ging zur Residenz. Er machte ein glänzendes Examen und erhielt wenige Monate später eine Anstellung. Der Justizminister zog ihn als Hülfsarbeiter unmittelbar in sein Ministerium.

Der Director Heilsberg mußte nur noch Präsident werden. Er war es heute geworden. Und die arme Emilie war von dem Gipfel des Glücks in den tiefsten Abgrund des Unglücks gestürzt!

(Fortsetzung folgt.)
[773]

Ein Besuch in Pompeji.


Es war im Jahre 1748, als ein Landmann am Fuße des Vesuv beim Graben eines Brunnens auf die Ueberreste eines Hauses und, als der Schutt weggeräumt war, auf ein gemaltes Zimmer stieß und dadurch die erste Spur von Pompeji auffand. Ueber anderthalb Jahrtausende hatte die Erde geborgen gehalten, was einst dem Leben so schnell und entsetzlich geraubt worden war. Da gab sie es wieder von sich oder ließ es sich entreißen, um durch die Denkmäler des Todes und der Zerstörung der Wissenschaft und der Kunst neue Lebensfunken einzuhauchen. Schon früher hatte man bei Gelegenheit des Baues eines königlichen Palastes in Portici Herculanum entdeckt. Damals saß auf dem Throne der beiden Sicilien Carl III., der einzige der italienischen Bourbonen, den die Geschichte unter die Zahl der guten und weisen Fürsten eingeschrieben hat.


In den Straßen von Pompeji.


Er bewies für die neue Entdeckung ganz außerordentliches Interesse und befahl schleunigen Beginn der Ausgrabungen. Im Jahre 1755 war das Amphitheater bereits an’s Tageslicht gefördert, und so dauerten denn, freilich mit sehr wechselndem Geschick und sehr verschiedener Gunst oder Ungunst der jedesmaligen Regierung, die Arbeiten bis auf diesen Tag und haben seit dieser Zeit, also in einem Zeitraume von 113 Jahren, gerade ein Viertel der Stadt den wiß- und schaubegierigen Augen des modernen Geschlechts zu enthüllen vermocht.

Wir glauben unseren Lesern kein anschaulicheres Bild von Vergangenheit und Gegenwart des interessantesten und großartigsten Ueberrestes aus dem Alterthume geben zu können, als wenn wir die Schilderung des Augenzeugen aus jener Zeit der unsrigen vorausschicken. „Mehrere Tage vorher schon“ – so erzählt uns Plinius der Jüngere, der sich am 24. August des Jahres 79 nach Chr. Geb. mit seinem Onkel, dem bekannten Naturforscher, zu Misenä, dem damaligen Ankerplatze der römischen Flotte, befand – „hatten wir die Stöße eines Erdbebens verspürt. Wir waren wenig davon überrascht, weil das eine in Campanien sehr häufige Erscheinung ist. Diesmal jedoch wurden dieselben so heftig, daß sie nicht nur Alles auf das Stärkste erschütterten, sondern zu zerstören drohten. Obgleich es Morgen war, so herrschte doch nur ein außerordentlich schwaches und unzureichendes Licht. Alle Gebäude bebten, und obschon wir auf offenem Platze standen, mußten wir bei der Enge und Dichtheit der Straßen und der damit drohenden Gefahr die Stadt verlassen. Die Menge folgte uns in höchster Bestürzung, und, wie das den von Schrecken befallenen Gemüthern eigen ist, daß jeder fremde Rath ihnen mehr gilt als der eigene, so drängte man sich um uns und folgte uns auf unserm Wege. Als wir eine gute Strecke von den Häusern entfernt waren, standen wir still in der Mitte einer höchst gefährlichen und erschreckenden Scene. Die Wagen, welche wir heraus beordert hatten, rollten dergestalt hin und her, daß wir sie selbst mit Unterlegen von großen Steinen und auf ganz ebener Erde dennoch nicht zum Stillstehen bringen konnten. Die See schien in sich selbst zurückströmen zu wollen und durch das Erdbeben von ihren Ufern vertrieben zu werden. Das Ufer war ganz bedeutend ausgedehnt, und verschiedene Seethiere blieben auf der trockenen Erde liegen. Auf der andern Seite des Golfes erhob sich eine schreckliche schwarze Wolke, platzte unter Bildung einer schlangenartigen Flamme, stieß eine lange Masse von Feuer aus und war einem furchtbaren, ganz außergewöhnlichen Blitze zu vergleichen. Bald darnach schien die Wolke niederzusteigen und den ganzen Ocean zu bedecken, und in der That war von der Insel Capri und dem Vorgebirge Misenä nichts mehr zu sehen.

Meine Mutter beschwor mich, rasch zu entfliehen, was ich bei der Schnelligkeit meiner Jugend leicht hätte thun können. Sich [774] selbst anbelangend, so glaubte sie, ihr Alter und ihre Corpulenz mache ihr das ganz unmöglich; sie wollte indessen gern den Tod erleiden, wenn sie nur die Genugthuung hätte, mich gerettet zu sehen. Ich jedoch verweigerte es durchaus, sie zu verlassen, nahm sie bei der Hand und führte sie weiter. Sie willigte nur ungern ein und fuhr fort darüber zu klagen, daß sie meine Flucht verhindere. Nun begann Asche auf uns zu fallen, wenn schon nicht in großer Masse. Ich wandte mich um und sah einen dicken Rauch, der wie ein Bach sich hinter uns drein wälzte. Ich schlug vor, da es noch hell genug war, von der Straße abzubiegen, damit meine Mutter in der Dunkelheit von der uns folgenden Menschenmenge nicht zu Tode gedrückt würde. Kaum hatten wir die Straße verlassen, als dichte Finsterniß uns überfiel, nicht die einer wolkigen oder nicht vom Monde erhellten Nacht, sondern wie die eines ganz und gar verschlossenen, durch kein Licht erleuchteten Zimmers. Nichts war zu hören als das Wehklagen der Frauen, das Weinen der Kinder und das Rufen der Männer. Die Einen schrieen nach den Kindern, die Andern nach den Eltern, diese nach ihren Gatten (denn nur durch die Stimme konnten sie einander unterscheiden und erkennen). Jene beklagten ihr eigenes Loos oder das ihrer Familie. Mehrere wünschten zu sterben aus Furcht vor dem Tode, Andere wieder erhoben ihre Hände zu den Göttern. Die Mehrzahl bildete sich ein, die letzte und ewige Nacht sei gekommen und mit ihr der Untergang der Götter und der Welt. Unter diesen gab es solche, die das wirkliche Uebel noch durch eingebildetes vergrößerten, indem sie Andern glauben machten, Misenä stände wirklich in Flammen.

Endlich brach ein Lichtschimmer durch. Wir hielten es eher für den Vorläufer eines neuen Ausbruchs der Flammen, als für das, was es in der That war, nämlich die Wiederkehr des Tages. Das Feuer fuhr indeß fort niederzufallen. Dann wieder wurden wir in dichte Dunkelheit eingehüllt. Ein heftiger Schauer von Asche regnete nieder. Dann und wann, wollten wir nicht davon eingehüllt oder verbrannt werden, mußten wir sie von unserm Leibe abschütteln … Endlich verschwand nach und nach die Finsterniß gleich einer Wolke von Rauch. Der Tag kam wirklich wieder, und sogar die Sonne erschien, obgleich sehr schwach und wie von einer beginnenden Verfinsterung bedeckt. Alles, was sich rund um uns dem sehr angegriffenen Auge darbot, schien verändert und mit weißer Asche, gleich tiefem Schnee, überzogen. Wir kehrten nach Misenä zurück, wo wir uns, so gut es ging, erholten, und verbrachten zwischen Furcht und Hoffen eine ängstliche Nacht. Leider war ersteres Gefühl überwiegend, denn das Erdbeben dauerte fort, während mehrere überspannte Köpfe umher rannten und ihre und ihrer Freunde Uebel durch gräuliche Weissagungen vermehrten.“

Am entgegengesetzten Ufer des Golfes von Neapel, vier deutsche Meilen in gerader Richtung entfernt von dem Standpunkte des römischen Schriftstellers, herrschten zu derselben Stunde desselben Tages alle Schrecken des verheerenden Elementes. Dort lag dicht am Fuße des wildtobenden Berges die blühende Hauptstadt des sonnigen Campanien, das reizende, üppige, vergnügungssüchtige Pompeji, der vielbesuchte Sommeraufenthalt des römischen Patricierthums. Was den Bewohnern von Neapel, Bajä und Misenä nur zum Schrecken geschah, das gereichte denen von Pompeji und einigen andern benachbarten Orten, wie Herculanum, zum Verderben und zur Zerstörung. Nur Weniges von ihren Habseligkeiten rettend, flüchteten sich die Einwohner, 20,000 an der Zahl, rasch nach allen Richtungen. Mehrere wurden unter dem Gräuel der Verwüstung begraben, und die blühende Stadt selbst wurde ihr großes Grab, überdeckt von der Asche des Vesuv, einem einförmigen weißen Leichentuche.

Wenn wir heute die Stätte jener ungeheuern Verwüstung aufsuchen, nachdem abermals über hundert Jahre seit ihrer Wiederentdeckung vergangen, so begegnet unser Auge einem unvergleichlichen Bilde.

Wir betreten von dem „Thore der Marine“ her das Innere der Römerstadt. Draußen Alles buntes Leben, lebendige Bewegung und modernes Treiben, hier drinnen ernstes Schweigen, tiefste Ruhe und ewiger Stillstand. In raschem Fluge hat uns die Eisenbahn von Neapel hierhergebracht. In der Veranda des dicht an der „Station Pompeji“ gelegenen italienischen Wirthshauses finden wir ein hastiges Kommen und Gehen von Touristen aller Nationen, gemischt mit dem Geschrei der Kutscher, der Geschäftigkeit der Kellner, dem Geklimper und Geplärr italienischer Troubadours und dem Gewimmer der Bettler. An dem Eingangsgitter zu dem die Stadt umschließenden Erdwall werden wir von einer Schaar amtlicher Ciceroni aufgehalten. Ein langes Hin- und Herreden um den Preis für die Führung hemmt unsere ungeduldigen Schritte. Endlich werden wir auch dieses letzten Scandals ledig und wir treten ein in die Todtenstadt, wo mit einem Male der ganze Ernst der Vergänglichkeit uns umgiebt und der Geist des classischen Alterthums alle anderen Eindrücke des modern-italienischen Lebens verdrängt.

Doch folgen wir nicht weiter dem Fluge der Phantasie in jene fremde, großartige, vergangene Welt, sondern betrachten wir zuerst mit ruhigem und zerlegendem Blicke, was sich uns zur objectiven Betrachtung hier darbietet.

Pompeji ist in elliptischer Form gebaut, und sein Umkreis mag wohl eine deutsche Meile betragen. Es ist rings von Mauern umgeben, außer auf der Südwestseite; sei es, daß sie dort bei der Belagerung durch Sulla zerstört wurden, sei es, daß der rasche Fall des Bodens nach dem Meere zu sie unnöthig erscheinen ließ. Die Mauern sind aus schweren Tuff- und Travertin-Blöcken, ohne Kitt, sehr solid und in bedeutender Breite aufgeführt und meist doppelt, die äußere etwa 25, die andere gegen 40 Fuß hoch und beide durch einen 15 Fuß breiten Erdwall verbunden. Auf den Steinen finden sich noch pelasgische und oscische Schriften. Einzelne Thürme, meistens in der Nähe der Thore errichtet, bedeckten den Wall in seiner ganzen Breite; sie haben Bogengänge zum Durchmarschiren für die Truppen und Oeffnungen für Ausfälle bei Belagerungen. Augenscheinlich später gebaut als die Mauern, sind sie durch absichtliche Zerstörung jetzt nur noch Ruinen. – Acht Thore führten nach Herculanum, dem Vesuv, Capua, Nola, dem Sarno, Nocera, Stabiä (heut Castellamare) und ans Meer.

Die Straßen sind meistens sehr eng, und nur in den größeren kann es möglich gewesen sein, daß zwei Wagen, selbst von der geringen Breite, wie sie bei den Alten Sitte war, an einander vorbei kamen. Das Pflaster ist solid aus großen, eckigen, an einander gepaßten Lavablöcken, an den Seiten finden sich, etwa 1 Fuß erhöht, Trottoirs; die Geleise der Wagenräder sind noch deutlich zu sehen; auch giebt es Steine zum Aufsteigen für Reiter, sowie Löcher in den Seitenwegen zum Anbinden der Pferde. Brunnen an den Straßenecken und auffallende Reliefs auf den Pflastersteinen, die gegen bösen Zauber schützen sollten, sind nicht selten. Die Straßen sind meistens gradlinig und durchschneiden sich rechtwinkelig.

Bei den Privathäusern ist es nicht immer möglich gewesen, den Namen des Besitzers festzustellen; man nennt sie daher theils nach den darin gefundenen Gemälden und Statuen, so das Haus der Tänzerinnen, des Faun, des Narcissus, Apollo, Adonis, Meleager, Castor und Pollux, des dramatischen Dichters; theils nach den fürstlichen oder sonst hochgestellten Personen, in deren Anwesenheit sie ausgegraben wurden, so das Haus des Großherzogs von Toscana, des Königs von Preußen, des Kaisers Joseph, des Generals Championnet, der Großfürsten von Rußland; theils nach der vermuthlichen Beschäftigung der Inhaber, so das Haus des Arztes, weil hier medicinische Instrumente gefunden wurden, des Hufschmieds, des Apothekers, des Bildhauers etc. Die meisten dieser Privatwohnungen sind einstöckig; nur die besseren zählen zwei, sehr selten drei Geschosse. Die Kramläden sind eng und ärmlich; fast alle einander ähnlich, haben sie vorne den Raum für’s Geschäft, sind nach der Straße zu weit offen, mit einem großen, gemauerten Verkaufstische und einem kleinen Ofen etwa, wenn es eine Speisewirthschaft war; nach hinten ein oder zwei kleine, dunkle Wohnzimmer; Fenster giebt es da nirgends. Es war also zu jenen Zeiten, wie es heute noch ist, und die damaligen Kneipen und Cantinen scheinen sich so wenig verändert zu haben, als die Fischer und Barkenführer, die wir auf den pompejanischen Wandgemälden schon im selben Costüm, mit denselben rothen, beutelartigen Mützen erblicken, wie sie ihre neapolitanischen Confratres noch heute tragen. Manche dieser Boutiquen haben über der Thüre in rother oder schwarzer Farbe den Namen des Kaufmanns; bei anderen Anstalten deuten Figuren in terra cotta an, was darinnen zu haben ist; so bezeichnet eine Ziege einen Milchladen; zwei Männer, die eine Amphora tragen, eine Weinschenke; zwei Fechter eine Gladiadorenschule; ein Junge, der auf dem Rücken eines andern festgehalten und von einem Manne durchgeprügelt wird, eine Schule (?).

Die Häuser der Reichen, wenn auch geräumiger, verrathen [775] doch in ihrer Construction ein Volk, das den größten Theil des Tages unter freiem Himmel zuzubringen geneigt war. Nach der Straße zu findet sich immer ein ganz bescheidener Eingang, die Räumlichkeiten an beiden Seiten hatte der Hausherr gewöhnlich an Kaufleute, Krämer, Wirthe vermiethet, was ihm, nach den Wandinschriften zu urtheilen, einen guten Pfennig abgeworfen haben muß. Der Rest des Hauses erscheint, wie das Leben der Römer, in zwei Theile getheilt, einen öffentlichen und einen privaten. Im ersteren eine offene area von einem Säulengang umgeben, darin dann wieder ein oder mehrere Zimmer zum Warten und die Loge des Thürstehers; darauf das atrium, die Halle, wo der Patricier seine Clienten zu empfangen pflegte; die Wände sind mit Gemälden und Arabesken geziert, der Fußboden stets von Mosaik; an den Seiten zuweilen noch kleine Zimmer, alae, sowie Gemächer für Fremde, hospitia. Im zweiten, inneren Theil ist ein geräumiger, in der Mitte ganz freier Hof, peristylium, um den eine bedeckte Colonnade geht, die den doppelten Zweck erfüllt, zu den verschiedenen Zimmern zu führen und bei Regenwetter zur Promenade zu dienen. Hier finden wir den Garten, mit Statuen und einem Fischbehälter, die Wohn-, Schlaf- und Badezimmer und den Salon. Kein einziges dieser Häuser hat jedoch einen Kamin aufzuweisen, obschon man Kohlen vorgefunden hat; auch eigentliche Armenwohnungen fehlen bis jetzt ganz – sollte Pompeji keine Armen gehabt haben? – und ebenso Ställe oder Remisen; die Pferdeskelette, die man aufgefunden, lagen im Hofraum der Wirthshäuser. Die chirurgischen Instrumente deuten auf einen hohen Grad medicinischer Bildung, doch ist von einem Spital keine Spur. Künftige Ausgrabungen werden wohl ein Licht hierauf werfen.

Die Gräberstraße, welche den westlichen Ausläufer der Stadt bildet, hat einen durchaus römischen Charakter. Der vor dem Herculanumthor liegende Theil derselben bildet eine Art Vorstadt, wie es scheint, das aristokratische Viertel; hier ist die Villa des Diomedes, eine der größten Privatwohnungen, die eine reiche Ausbeute an Schmucksachen, Hausgeräthe, Statuetten, Gemälden und Münzen gegeben; zwei menschliche Skelette wurden bei der Gartenthüre, achtzehn andere, zum Theil mit goldenen Hals- und Armbändern, im Innern gefunden. Die geringe Anzahl der im Ganzen in Pompeji entdeckten Leichen läßt vermuthen, daß es den meisten Einwohnern gelang, sich zu retten. Auch deuten die vielen in die Mauern gehauenen Löcher darauf hin, daß die Bewohner durch dieselben in’s Freie gelangten, wenn man nicht jene Oeffnungen auf Rechnung späterer, interessirter Nachgrabungen schreiben will.

Mit Ausnahme weniger Frescogemälde, Amphoren, Statuetten u. s. f. sind alle hier gefundenen Sachen längst nach Neapel in’s Museo Borbonico gewandert, wohin auch heutzutage noch alle neu entdeckten Kunst- und Alterthumsschätze kommen, einschließlich sogar der Wandmalereien, die man mit ihrem Grund recht geschickt auszubrechen versteht.

Gegenüber der Villa des Diomedes ist ein Wirthshaus, und weiter hinauf, sowie jenseit des Thores, sind Grabdenkmäler der angesehensten Familien. Auch Cicero’s Villa, das Haus der Vestalinnen mit seinem gastlichen Salve an der Schwelle, dessen innere Verzierungen indessen nicht sehr vestalischer Natur sind, und ein Zollhaus sehen wir in dieser Straße. Besonders bemerkenswerth, außer den genannten Wohnungen, sind noch: das Haus des Sallust, des Pansa, des Centauren, die Schenke in der Mercuriusstraße und das höchst wichtige Haus des M. Lucretius. Die neuesten Ausgrabungen in der Nähe des großen Theaters haben noch mehrere sehr interessante Wohnungen mit gut erhaltenen Gemälden bloß gelegt.

Von den öffentlichen Gebäuden zieren die meisten die Südseite von Pompeji. An der Großartigkeit der Ausfassung, dem Reichthum und dem Kunstsinn in der Ausführung erkennen wir den großartigen, stets auf das Allgemeine gerichteten Sinn der Alten.

Von den Tempeln nennen wir nur den säulenreichen des Jupiter, aus Ziegelsteinen und Tuff errichtet; er wird an imposanter Schönheit nur übertroffen von dem Tempel der Venus, 150 Fuß Länge, bei 75 Fuß Breite, der von einem 12 Fuß breiten Porticus mit 48 dorisch-korinthischen Säulen umgeben ist; ferner den sogenannten griechischen, auch Neptun- oder Hercules-Tempel, das älteste Gebäude der Stadt, leider fast ganz zerstört; und den Tempel des Augustus oder das Pantheon, mit vielen Statuen und reichen Decorationen, aber auch mit einem Ueberfluß an Speisen und Getränken versehen, deren Ueberreste hier gefunden wurden. Ebenso deuten die culinarischen Wandgemälde stark darauf hin, daß hier zu Ehren der Götter zuweilen tapfer getafelt wurde. Das Iseon, oder aedes Isidis, weil der Isis-Cultus, gesetzlich verboten, nur geduldet werden konnte, ist besonders für Alterthumsforscher interessant; hier wurden viele Skelette gefunden, unter andern das eines Mannes, der sich mit dem Opferbeil durch zwei Mauern einen Weg gebahnt hatte und umkam, ehe er die dritte durchbrochen. Im Innern des Heiligthums steht ein langes, hohles Piedestal für Statuen, mit niedrigen Seitenthüren an der Treppe, durch welche der Priester ungesehen hinunterkriechen und dann seine Orakel geben konnte, als gingen sie von der Statue der Göttin aus.

In allen Priesterwohnungen fanden sich ansehnliche Summen Geldes, denn, sagt schon Euripides,

„das Pfaffenvolk war stets nach Gelde lüstern.“

Von nützlichen öffentlichen Gebäuden hat Pompeji eine große Zahl; da sind zwei Bäckereien, in denen Gefäße, Mulden, Korn und Mehl gefunden wurden; eine Musik-Akademie; ein städtisches Aerarium; ein Kornhaus mit den Normal-Maßen für Oel, Korn, Wein etc. – In einem Gefängniß fand man mehrere Skelette mit Ketten an den Füßen.

Ferner sind bemerkenswerth: das Senatshaus; das Forum mit seinen Statuen und Colonnaden, der größte und imposanteste Platz der Stadt; das dreieckige Forum; die öffentlichen Bäder (thermae) für beide Geschlechter, in denen wir die zweckmäßige, bequeme, luxuriöse Einrichtung bewundern müssen; die Basilika oder das Tribunal mit einem unterirdischen Gewölbe für die Verbrecher; ferner ein kleines Theater (Odeon) unt das große Theater. Letzteres konnte über 5000 Personen fassen; man unterscheidet deutlich das Parterre oder den privilegirten Platz, wo die Tribunen, Ritter und andere Vornehme ihren Sitz hatten; das Orchester mit den erhöhten bisellia für die höchsten Beamten; hinter dem Parterre amphitheatralisch aufsteigend die Sitze für die Plebejer; endlich hoch oben, „im Paradies“, nach Art unserer Logen von einander getrennt und durch dünne Eisengitter dem Blicke des Publicums entzogen, saßen die Frauen. Am Ostende der Stadt ist das Amphitheater, wie gewöhnlich in elliptischer Form (die größere Axe hat 430 Fuß), allerdings kleiner und weniger alt als das zu Santa Maria di Capua, doch besser erhalten; die Einrichtung ist noch jetzt deutlich zu erkennen. Nach genauer Berechnung hatten hier über 10,000 Personen Platz. Verbinden wir mit dieser Thatsache die Angabe des Dio Cassius, wonach die Bürger beim Ausbruch des Vesuv gerade im Amphitheater waren, so können wir uns den geringen Verlust an Menschenleben erklären. Der fallende Aschen- und Feuerregen schnitt ihnen den Rückweg in die dem Verderben geweihte Stadt ab, und sie konnten, nach Osten fliehend, sich retten.

Nahe bei dem großen Theater stand die Caserne, in der Waffen aller Art, Schmucksachen, Arm- und Halsbänder gefunden wurden. Letztere Gegenstände lassen unverkennbar auf Damenwelt schließen, die das Haus des Mars noch außer dessen Söhnen beherbergte. Von den 63 Skeletten, die in dieser Caserne ausgegraben wurden, lagen 34 an einem Thoreingange – vielleicht die Wache an jenem Unglückstage, die treu auf ihrem Posten verharrend den Tod fand.

Dies im Allgemeinen die Umrisse der Formen, wie die alte Stadt selber sie uns bietet. Aber Pompeji liegt nicht mehr ganz in Pompeji. Das neapolitanische Museum birgt einen Haupttheil, wir meinen seine Kunstschätze, seine Inschriften, seine Mosaikböden und seine Hausgeräthe. Um die Römerstadt vollständig zu verstehen und ganz zu genießen, ist es unbedingt nöthig, auch hier einige Stunden, ja, wenn man kann, mehrere Tage zu verweilen.

In sieben Sälen des museo borbonico Neapels (jetzt museo nazionale) sind die verschiedenen Geräthschaften, Schmucksachen und Waffen, und in mehreren Hallen und sonstigen Räumen die Gemälde und Statuen aufgestellt. Es würde zu weit führen, wollten wir mit unseren Lesern einen Gang durch all diese Dinge aus der alten Welt anstellen. Wie würde die weibliche Welt bewundernd anhalten vor den prachtvollen geschnittenen Steinen, vor den eleganten Schmucksachen in etruskischem Style und endlich vor den Ueberbleibseln, die Küche und Keller und Conditorladen der staunenden Nachwelt geliefert! Hier das zierlich gearbeitete Glasgefäß mit den eingemachten Früchten, da die zum Dessert reichlich aufgeschichteten Nüsse und Mandeln, hier wieder der achttheilige Kuchen mit dem Namen des Bäckers oben aufgedrückt, dort die [776] kühlen Weinbehälter mit dem innern aus vollen Inhalt deutenden Beleg. Mit all diesen Dingen nun muss man Pompeji beleben, wenn man es mit voller Freude genießen und mit vollem Vortheil durchwandern will. Da die bourbonische Regierung aus gerechter Furcht vor dem unter ihrem Scepter so fröhlich gedeihenden Diebstahl Alles, was nicht nagelfest war, aus der Stadt forttragen ließ, so ist diese selbst dadurch etwas öde und verlassen geworden, und nur wenn man sich Penaten, Statuen, Dreifüße, Trinkgeschirre und Toilettengeräthe wieder an ihre Stelle denkt, gewinnt das Ganze wieder frisches Leben und lebendige Bedeutung; und nicht viel Phantasie gehört dazu, weiter zu schauen und weiter zu träumen, sich auch noch Bulwer’s großartige und reizende Gestalten aus seinen „Letzten Tagen von Pompeji“ hinzu zu denken und mit ihnen Straße, Theater, Forum, Schmink- und Badezimmer zu bevölkern. Und wie anmuthig sieht Pompeji dann aus, wenn wir es so betrachten, auf der erhabenen Schwelle des Jupitertempels am Forum stehend! Vor uns der große weite Platz, darauf die Glaucus’ und Pansa’s und Diomedes’ in wallenden, elegant gefalteten Togen plaudernd auf- und abschreiten. Zur Rechten auf dem curulischen Stuhle der ernste Prätor, umgeben von der ehrerbietig dem Ausspruch des Gesetzes harrenden, buntgemischten Menge; zur Linken die Halle der Senatoren, jener Männer, deren Typus Jahrhunderte lang die Welt beherrschte, Gestalten voll Würde, Kraft und Bedeutsamkeit. In weitem Kreise vor uns die Ausläufer der Apenninen, ein vielgipfeliges, wolkenhohes Waldgebirge, an dessen Fuße das heutige Castellamare liegt mit seinen buntschimmernden Landhäusern und seinen schattigen Gärten von „Quisisana“ – „hier genes’t man“; rechts das smaragdene Meer, seine Barken und Segelschiffe; im Hintergründe Sorrento, die von Orangenwäldern umgebene Geburtsstadt Tasso’s, und Capri, die lockende Sireneninsel der Odyssee; links das sonnige Campanien, die Campania felix der Alten, wie es sich zwischen dem Küstengebirge und der Hauptkette der Apenninen, ein weites fruchtbares, von blühenden Dörfern und Städtchen besäetes Thal, bis nach La Cava und Salerno hinzieht; – und alles das überstrahlt von Italiens tiefblauem, wolkenlosem Himmel und umweht von seinen lauen Lüften, unter denen jeder Blick und jeder Athemzug die Strophe eines Gedichtes in uns erbauen möchte, denn was wir sehen und was wir athmen, ist lebendige Poesie in Körper und Gestalt.

Die Ausgrabungen in Pompeji selbst wurden seit dem Tage der Entdeckung in sehr verschiedener Weise betrieben und trugen immer den Charakter der jedesmaligen Regierung an sich. In der letzten Zeit, unter der Herrschaft von Ferdinand und Franz, lag auch über Pompeji und seinen Schätzen der Fluch der Pfaffen- und Camarillen-Wirthschaft, der Korruption und Bestechlichkeit, der Trägheit und des Vorurtheils. Jährlich waren 6000 Ducaten (12,000 Gulden rhn.) für die Arbeiten ausgeworfen; allein dem Augenschein nach zu urtheilen, ging es diesen Geldern nicht besser als jedem andern Finanzposten im glücklichen Königreiche beider Sicilien. Jedweder, der mit dem klingenden Metall auch nur in die entfernteste Berührung kam, wußte sich seinen Theil davon zu erbeuten. Jeder auf eine andere Manier, Alle aber stillschweigend in der That und in dem Grundsätze übereinstimmend, daß öffentliche Gelder zu bestehlen eigentlich kein Diebstahl sei. So mag es denn gekommen sein, daß bis beute erst so wenig ausgegraben ist, trotzdem daß keine auffällige Mühe und Arbeit für das Wegräumen der lose geschichteten Asche erfordert wird. Und auch das Museum befand sich unter der Herrschaft der Bourbonen in der kläglichsten Lage. Wir wollen nicht von den dunkeln Räumen und der unzweckmäßigen Aufstellung sprechen, die man nirgendwo mehr zu bedauern hatte, als hier in Neapel; Bornirtheit, Mangel an Liberalität und officielle Bettelei verbitterten dem Besucher jeden Schritt, den er in den kunstgefüllten Sälen machte. Die Figuren der Venus, darunter das Original der berühmten „Kallipygos“, waren in einem dunkeln Verließe zusammen mit allen Obscönitäten Pompeji’s eingemauert. Zeichnen oder Photographiren war in der Stadt sowohl wie im Museum verboten, und nur vom Könige persönlich konnte auf dem langen Umwege der Bestechung verschiedener Schranzen die Erlaubniß dazu erlangt werden; und allenthalben, wo man eine Schwelle übertrat, da streckte ein Custode die schmierige Hand entgegen, um Euch mit gieriger Miene um sein buono mano zu langweilen. Freilich, die armen Kerle konnten nicht anders handeln, da sie, wie jeder Beamte des alten Regiments, in der schäbigsten Weise bezahlt und deshalb Alle miteinander aus Diebstahl oder Bettel angewiesen waren.– Das ist besser geworden, seit Garibaldi den frischen Wind der Revolution über den faulen Moder des alten Despotismus wehen ließ. Die Regierung Cavour’s hat Zucht, Ordnung und Anstand in die Verwaltung der kostbaren Schätze gebracht. Hunderte von Arbeitern sind anhaltend unter der Oberleitung des gelehrten Fiorelli beschäftigt, neue Häuser und Straßen zu Tage zu fördern, und auch hier dürfen wir hoffen, daß unter der in Italien die Civilisation vertretenden Regierung Piemont’s bald reckt viel Erfreuliches für Wissenschaft und Kunst geleistet werden wird.




Meiner Mutter.
Von Albert Traeger.[1]

Durch mein so wildbewegtes Leben,
Das nie den Frieden sich errang,
Durch all mein Kämpfen, all mein Streben
Hallt andachtsvoll ein leiser Klang,

5
Wie bis zum Schiffer, der im Brande

Empörter Fluthen angstvoll ringt,
Gedämpften Schalls vom fernen Strande
Des Kirchenglöckleins Läuten dringt.

Dein Name ist’s, die mich geboren,

10
Die meines Daseins Hort und Stab,

Und die, ob ich mich selbst verloren,
Mich niemals doch verloren gab,
Du hattest Thränen nur und Bitten,
Indeß ich keine Sorge trug,

15
Daß alles Leid, was ich gelitten.

Stets Dir die tiefre Wunde schlug.

Undankbar muß ich mich bekennen,
Oft kränkt’ ich Dich mit leichtem Sinn,
Und kann doch nichts mein eigen nennen,

20
Dir dank’ ich Alles, was ich bin,

Dir auch den schönsten meiner Triebe,
Der mit dem Liede mich beglückt:
Das weiche Herz, die warme Liebe
Für das, was arm und unterdrückt.

25
Was drängend sich in mir entfaltet

Mit schmerzlich süßer Schaffenslust,
Das Fühlen, das mein Wort gestaltet,
Es hat den Keim in Deiner Brust;
Du bist es, welcher Dank gebührte,

30
Wenn ich ihn jemals mir errang,

Der ich nur fremde Herzen rührte
Mit Deines Herzens Wiederklang.

Und so leg’ ich denn meine Lieder,
Wie eine längst verfall’ne Schuld,

35
In Deine treuen Hände nieder,

Empfange sie mit milder Huld;
Wehmüthig will’s mich fast beschleichen,
Als gäb’ ich so das schönste Glück,
Des vollsten Blühens grünes Zeichen,

40
Dir meine Jugend jetzt zurück.


Daran, was ich vordem gesungen,
Erkenn’ ich, daß ich nun ein Mann,
Die wärmsten Töne sind verklungen,
Kalt fröstelt mich das Leben an,

45
Doch was auch kommt, es sei getragen,

Ob sonnenlos die Tage sind,
Noch kann ich Mutter zu Dir sagen,
Noch nennst Du lächelnd mich Dein Kind.


  1. Widmungsgedicht aus der so eben erschienenen zweiten Auflage der Traeger’schen Gedichte. Was Albert Traeger so rasch in der Gunst des Publicums gehoben: der tief poetische Hauch und Klang, der durch alle seine Lieder zieht, die echt dichterische Zartheit und die Fülle von schönen und wahren Empfindungen und Stimmungen, besonders aber die Innigkeit seiner Kindesliebe – das Alles finden wir in den neuen Gedichten dieser stark vermehrten und wahrhaft prachtvoll ausgestatteten zweiten Auflage wieder, der wir einen eben so schnellen Erfolg wie der ersten Auflage versprechen können. D. Redact. 
[777]

Das Singemäuschen.

Eine Erinnerung aus meinem Haftleben.

Unter den vielen und vielerlei Erlebnissen in der dreizehnjährigen Haft, welche ich wegen meiner Beziehungen zu den während der Jahre 1823–35 in einem großen Theile von Deutschland hervorgetretenen politischen Bewegungen aus dem Schlosse zu Marburg und der Bergfestung Spangenberg, sowie in dem Kastell zu Cassel zu erstehen hatte, wird das folgende als besonders mittheilenswerth anzuerkennen sein.

Es war in der zweiten Hälfte des Novembers 1846, als ich im Castell zu Cassel eines Tages zur Zeit der Dämmerung in gewohnter Weise beim Ofen saß und mit einem Male von dem hellen Schlagen eines – wie ich dem Schlage nach nicht anders annehmen konnte – Kanarienvogels, das ganz in meiner Nähe ertönte, überrascht wurde. Der Vogel schien im Kamin zu sitzen und mußte – so dachte ich – dorthin durch irgend einen Zufall verschlagen worden sein; als nach einiger Zeit das Schlagen wieder aufhörte, zweifelte ich daher auch nicht, daß er seinen Rückweg wieder gefunden habe. Um so größer war mein Erstaunen, am nächsten Tag, ganz zu derselben Zeit und von derselben Stelle her, ein gleiches Schlagen ertönen zu hören. In größter Spannung erwartete ich nunmehr die Abendvisitation, um alsdann den Arrestaufseher zu veranlassen, im Kamin nachzusehen. Derselbe fand die Thür des Kamins fest angelegt und im geöffneten Kamin konnte er nirgend Etwas entdecken; zum Ueberfluß erkundigte er sich noch bei einem Zellennachbar, dessen Öfen in dasselbe Kamin mündete, ob er nicht ein gleiches Schlagen gehört habe, erhielt aber von diesem eine verneinende Antwort.

Am zweiten oder dritten Tag später, zur Zeit, wo ich schon Licht hatte, ertönte das Schlagen von Neuem, jedoch diesmal nicht, als komme es aus dem Kamin, sondern aus dem Fußboden in der Nähe meines Sitzes am Ofen, bis es nach wenigen Minuten mit einem Male aus der Gegend des nach einer anderen Seite gelegenen Fensters hörbar wurde. „Wie,“ sagte ich mir da, „konntest Du auch nur einen Augenblick den Ursprung verkennen? Wie konnte es anders sein, als daß ein Arrestat, der in der Zelle unter Dir verbringt, die Dämmerstunde damit feiert, daß er von seiner Gabe Gebrauch macht, das Schlagen eines Kanarienvogels auf’s Täuschendste nachzuahmen?“ Als ich aber den bald nachher eintretenden Arrestaufseher frug, ob die gerade unter mir gelegene Zelle eben besetzt sei, mußte ich diese Annahme schon wieder aufgeben; denn nicht nur in der gerad unter mir gelegenen Zelle, sondern auch in den rechts und links daran stoßenden sollte sich in dem Augenblick kein Arrestat befinden, was ich gleich nachher dadurch noch bestätigt fand, daß ich zur Zeit der allgemeinen Visitation, trotz des angestrengtesten Hinhorchens, Thüren unter mir weder öffnen, noch schließen hörte. Es war also jetzt das Räthsel noch viel größer, eine neue Erklärung vermochte ich schlechterdings nicht mehr zu finden; deshalb unterließ ich auch, weiter über den Zusammenhang der Sache nachzudenken; ich war schon zufrieden, daß die unbekannte Stimme wenigstens hin und wieder zurückkehrte.

Da geschah es, ohngefähr zwei Wochen später, daß ich eines Abends gegen elf Uhr durch das mir bereits bekannte Schlagen aus dem ersten Schlafe aufgeweckt wurde. Ich konnte nicht verkennen, daß die Töne in dem Augenblick von Etwas herrührten, das im Inneren der Zelle dicht bei der Thür sich befinde; zugleich erfolgte das Schlagen in zuvor noch nicht gehörter Weise: die Töne, dem Schlage des Kanarienvogels sonst ganz ähnlich, halten einen sanften und wundervoll melodischen Klang und rollten, ohne irgend abzusetzen, weiter. Ich blieb lange, um nicht durch ein Geräusch zu stören, regungslos liegen. Endlich, nach ungefähr zehn Minuten, übermannte mich aber doch das Verlangen, dem Ding auf die Spur zu kommen. Ich setzte mich auf, um Licht zu machen; währenddeß kamen die Töne plötzlich von einer anderen, der meinem Bett gegenübergelegenen Seite her, aber erst als das Licht angezündet war, erkannte ich als unzweifelhaft, daß das zauberische Wesen jetzt hinter einer Schiefertafel steckte, die, auf dem Boden stehend, an die Wand angelehnt war. So leise als möglich erhob ich mich, um die Tafel vorsichtig wegzunehmen. Doch kaum hatte ich den Fußboden betreten, so schwebte auch schon Etwas wie ein Schatten hinter der Tafel hervor und nach der Fensterseite hin, und ebenso bald nahm das Schlagen dicht unter dem Fenster seinen Fortgang. Einmal im Recognocieren begriffen, setzte ich dies fort, bewegte mich leise nach dem Fenster hin, und, die Töne zum Leiter für meine Augen nehmend, gewahrte ich kurz vor demselben am Boden den aus einer Oeffnung hervorgestreckten Kopf eines – Mäuschens, dessen Mäulchen sichtbar die noch fortgehenden Töne entquollen. Der Sänger, oder vielmehr die Sängerin, war mir jetzt mit einem Male bekannt; meine Ueberraschung deshalb aber nicht geringer, denn bis dahin hatte ich von keinem Mäuschen gehört, das wie ein Kanarienvogel, nur noch schöner, weit melodischer und sanfter, als dieser, schlagen und dies, abweichend vom Kauarienvogel, sogar eine Viertelstunde und darüber, ohne ein Mal abzusetzen, fortsetzen könne.

Natürlich war am anderen Morgen mein Erstes, den Arrestaufseher von meiner Entdeckung in Kenntniß zu setzen, doch denselben zu überzeugen, fand ich erst zehn bis zwölf Tage später Gelegenheit.

Von der Nacht an, wo die Sängerin mir zuerst sichtbar geworden war, kam sie unter den gewohnten Schlägen immer häufiger zum Vorschein, und zwar nicht blos am Abend, sondern auch bei Tage; ja bald trieb sie sich ohne alle Scheu um den Sitz herum, den ich während des Tags vor einem Tische einzunehmen pflegte; ein Junge von zwei bis drei Jahren, der dem Arrestaufseher gehörte und manchmal eine Stunde am Tage bei mir verbrachte, durfte sich dem Mäuschen ganz vertraulich nahen, und besonders hübsch war es anzusehen, wenn der Junge, sobald das Thierchen zu schlagen anfing, mitten in seinen Bewegungen inne hielt und, einen Finger an die Nase legend, aufmerksam lauschte. Das Schlagen war übrigens nicht immer ein lang andauerndes, bei Tage mehrentheils sogar nur ein kurzes; am längsten, mindestens zehn bis fünfzehn Minuten, hielt es an beim Schlußconcert, welches das Mäuschen mit einem Male allabendlich präcis 73/4 Uhr gab; alsdann konnte ein noch so starkes Geräusch in der Nähe eintreten, das Schlagen brach doch nicht ab.

Sobald ich diese ganz präcise Wiederkehr des Schlußconcertes wahrgenommen halte, machte ich den Arrestaufseher damit bekannt, damit er um dieselbe Zeit sich einmal bei mir einstelle und mit eigenen Augen und Ohren überzeuge. Er kam, sah und hörte, und gestand mir dann, daß er sowohl, wie der Commandant des Castells, dem er zum Oefteren schon Mittheilung über die Sache gemacht habe, an dieselbe nie hätte glauben wollen. An einem der nächsten Abende erschien nun auch der Commandant und überzeugte sich von dem, was er immer noch bezweifeln wollte.

Einige Tage später trat der Commandant wieder bei mir ein, theils um sich nach dem ferneren Verhalten des Mäuschens zu erkundigen, theils um mir mitzutheilen, daß, wie er unterdessen erfahren habe, von einem Kaufmann Gundlach in Cassel ein ähnliches Mäuschen längere Zeit in einem Käfig bewahrt worden sei. Von dieser Mittheilung nahm ich denn Veranlassung, den Commandanten zu ersuchen, mir aus dem kleinen Bestand meiner Casse, die er bewahrte, einen ähnlichen Käfig und zugleich eine Mausefalle besorgen lassen zu wollen, in welcher das Mäuschen lebendig eingefangen werden könne. Ich hätte allerdings das Mäuschen wohl auch mit der Hand greifen können, allein ich, wollte es doch, auf keinen Versuch hierzu ankommen lassen, indem ich fürchtete, durch einen möglicherweise mißlingenden Versuch das Thierchen ganz zu verscheuchen.

Von da an sehnte ich wahrhaft den Augenblick herbei, wo ich Falle und Käfig erhalten würde, denn plötzlich hatte mich eine ordentliche Furcht beschlichen, es werde meine geheime Sängerin nicht lange mehr bleiben. Ich glaubte mir sogar den Vorwurf machen zu müssen, Verrath an unserm Verhältniß dadurch begangen zu haben, daß ich das Geheimniß nicht besser bewahrte. Meine trübe Ahnung sollte sich leider mir zu bald begründet zeigen. Schon am dritten Tag nach dem letzten Besuche des Commandanten blieb das Mäuschen aus. Da dies jedoch schon früher manchmal einen halben Tag und länger geschehen war, so hoffte ich noch auf den folgenden Tag. Allein diese Hoffnung war eine eitle, mein kleiner Liebling ließ auch an diesem Tag vergebens auf sich warten, wohl aber drangen an selbem, zu meinem Entsetzen, andere Töne an [778] mein Ohr, die von dem Oeffnen und Schließen der unter mir gelegenen Zelle herrührten. Sie sagten mir genug. Ich wußte jetzt, daß diese Zelle wieder einen Bewohner habe, und zweifelte somit nicht, daß von demselben das Mäuschen weggefangen worden sei. Meine Annahme erhielt bald Bestätigung, der Arrestaufseher bejahte, daß die betreffende Zelle, und zwar schon seit einigen Tagen wieder besetzt sei, und fügte das für mich noch gewichtigere hinzu, daß die Insassen derselben bereits eine große Anzahl von Mäusen weggefangen hätten. Die Beschaffung der Falle und des Käfigs war nun unnöthig geworden.

Ich gestehe, die nächsten Tage von wahrer Betrübniß über den Verlust erfüllt gewesen zu sein. War ja das Mäuschen das einzige lebendige Wesen, das nach längerer Zeit einmal wieder zu meiner Seele gesprochen hatte. Am längsten und am empfindlichsten mißte ich den letzten Abendgruß, den ich bereits seit Wochen von ihm zu erhalten gewohnt war.

Daß diese außerordentliche Erscheinung ebenfalls in wissenschaftlicher Hinsicht mein Interesse rege machen mußte, liegt in der Natur der Sache. Ich unterließ deshalb nicht, darauf zu achten, ob nicht vielleicht im Aeußeren schon ein Unterschied zwischen meinem Mäuschen und unserer Hausmaus zu erkennen sei, konnte jedoch für einen solchen mit Bestimmtheit mich nicht entscheiden; schien mir auch die Schnauze etwas zugespitzter zu sein. so schrieb ich dies jedoch mehr den Muskelbewegungen zu, welche das Schlagen, während dessen ich das Thierchen mehrentheils nur betrachtete, begleiteten. Die inneren Organe, namentlich das Stimmorgan zu untersuchen, blieb mir leider versagt. Nichts desto weniger glaubte ich, eine besondere Anlage als Naturspiel annehmen zu müssen, auch hielt ich dafür, daß mein Mäuschen nicht erst durch Nachahmung gerade die Weise des Kanarienvogels sich angeeignet habe, zumal, so viel ich wenigstens ermitteln konnte, zu jener Zeit weder in den Räumen des Castells, noch in der nächsten Nachbarschaft desselben ein Kanarienvogel eingesetzt war. Das Gundlach’sche Mäuschen, über das ich damals ein Näheres nicht hörte, schien mir dafür zu sprechen, daß ein solches Naturspiel nicht einzig in seiner Art sei, und es ist offenbar ganz natürlich, daß mir die Erforschung der näheren Geschichte desselben eine Herzenssache wurde.

Da Kaufmann Gundlach nicht mehr lebte, so wandte ich mich an dessen Schwiegersohn, den Herrn Kaufmann Scholl zu Cassel, dem ich folgende Mittheilungen verdanke:

„Zu dem Comptoir der Firma N. Gundlach, welche jetzt auch die meinige ist, wurden vor 14–16 Jahren mit einem Mal, gewöhnlich Abends, in der Wand Töne gehört, welche ich mit full, full bezeichnen kann. Dieselben erfolgten in der ersten Zeit in kleinen Zwischenräumen, später in immer rascherer Folge auf einander, überhaupt ähnlich dem Schlagen einer Nachtigall.

Sie wurden nicht selten an verschiedenen Seiten der Wand gehört, jedoch nie gleichzeitig, zuweilen gab sich sogar ganz deutlich rasches Ueberspringen der Töne von einer Stelle zur andern kund, es pflegte dies dann auch von einem Geräusche begleitet zu sein, welches man nothwendig der Bewegung eines größeren Thieres zuschreiben mußte. Mein Schwiegervater, der überhaupt für Naturkunde ein besonderes Interesse hatte, gab sich alle Mühe, den Zusammenhang der Erscheinung zu entdecken, lange aber erfolglos. Da wurden mit einem Male dieselben Töne, statt, wie bisher, in der Wand des Comptoirs, in der Wand der eine Treppe höher gelegenen Küche gehört. Schnell ließ nun mein Schwiegervater eine Falle besonderer Construction aufstellen, um das fragliche Thier lebendig einzufangen, und nicht lange dauerte es, so hatte man den Sänger. Man fing nämlich eine Maus, welche man gleich von vorn herein schon deshalb für diesen halten mußte, weil mit ihrem Einfangen die Töne in der Küche und dem Comptoir nicht mehr hörbar wurden. Mein Schwiegervater setzte sie unter eine Glasglocke, es verstrich aber eine Zeit, ehe sie hier die ersten Töne der erwähnten Art hören ließ. Sobald diese vernommen wurden, nahm mein Schwiegervater die Maus in ihrem Bewahr in seine Privatwohnung, die von dem Comptoir durch einen Hof getrennt war.

Nach einigen Wochen entsprang sie hier, und alsbald ertönte ihr munterer und fröhlicher Gesang in den Räumen des Erdgeschosses, wohin sie aus einer Stube ersten Stockes entkommen war; es gelang mittelst der bereits probat gefundenen Falle, sie auch wieder einzufangen. Was weiter aus ihr geworden, entsinne ich mich nicht mehr ganz genau; es steht mir jedoch so vor, als habe sie sich nochmals befreit und sei nicht wieder eingefangen worden. Was das Aussehen der Maus anlangt, so war, wie mir noch erinnerlich ist, der Kopf etwas länger und spitzer als bei unseren gewöhnlichen Mäusen, auch der Körper ungewöhnlich groß, und das graue Fell hatte einen bräunlichen oder röthlichen Schein, wie ihn das Fell der Ratten zeigt.

Noch muß ich bemerken, daß ungefähr ein Jahr später in den Wänden des Comptoirs, wo die Singemaus zuerst sich hören ließ, wieder Töne ähnlicher Art gehört wurden; doch nicht lange dauerte es, so hörte man nichts mehr, auch ist seitdem nichts wieder gehört worden. Ob wohl diese Töne von Abkömmlingen jener ersten Maus herrührten?“

Nachdem dieser Gegenstand mich lange mit seinem Dunkel beunruhigt hatte, mußte mir ein wenn auch noch nicht Alles aufhellendes Licht über ihn vom größten Interesse sein. Ich fand dasselbe in folgender Mittheilung des Berliner Bazar (Jahrg. VII. Nr. 23): „Ein englischer Officier, der an der Expedition nach China Theil genommen, erzählt, daß man in den Wohnungen der Chinesen vergoldete Käfige von den verschiedensten Formen findet, welche den europäischen an Eleganz nichts nachgeben, daß aber die Bewohner dieser kunstreichen Gefängnisse nicht, wie bei uns, Vögel, sondern Mäuse sind. Die Männchen unter diesen kleinen, zu der Familie unserer gewöhnlichen Mäuse gehörigen Thiere sind mit der Gabe des Gesanges ausgestattet, und zwar hat ihre Stimme die größte Aehnlichkeit mit der des Kanarienvogels, sie ahmen die langen Passagen und Cadenzen derselben vollständig nach, ja ihr Ton möchte eine noch weitere Ausdehnung, als der dieses Vogels haben. Einer der Naturforscher, welche die Expedition begleiteten, hat sich mit Hülfe einer Loupe von der Vibration des Kehlkopfs überzeugt. Zuweilen läßt die Maus lange warten, ehe sie sich entschließt, die sanften Töne hervorzubringen, die kein menschliches Wesen nachzuahmen im Stande wäre; hat sie jedoch einmal zu singen angefangen, so läßt sie sich auch durch das größte Geräusch darin nicht stören. Man beabsichtigt in kurzer Zeit einige Exemplare dieser merkwürdigen Thierart nach Europa zu bringen, wo sie sicher allgemeines Staunen erregen werden, wenn der Einfluß des veränderten Klimas sie nicht ihrer vorzüglichsten Eigenschaft beraubt, wie schon häufig bei Thieren, die man aus ihrem Vaterlande in andere Länder brachte, der Fall war.“ – Trotz dieser aufklärenden Nachricht fragen wir allerdings mit Recht immer noch nach dem Zusammenhange zwischen diesen chinesischen und unseren kurhessischen Singemäuschen. Den zahlreichsten Vermuthungen ist wohl kaum noch ein annehmlicheres Feld eröffnet worden; ich muß jedoch dasselbe dem Privatvergnügen des Lesers überlassen. Die Hauptsache ist, daß ich die volle Wahrheit ohne irgend welche Täuschung berichte, und ich finde daher schließlich auch die Bemerkung hier am Ort, daß sowohl der Commandant, als auch der Arrestaufseher heute noch in Cassel leben, und daß letzterer auch seinen damaligen Posten noch einnimmt.

Dr. med. Eichelberg zu Marburg.




Vom Hühnerhof.

Von Henriette v. Bissing

Wer unsere befiederten Hausthiere nur aus dem Gesichtspunkte ihrer Nutzbarkeit, der Augenlust oder Curiosität betrachtet, der kennt nicht zur Hälfte das Vergnügen, welches der Naturfreund auch auf einem Hühnerhofe zu finden weiß. Während Jener hier nur gefräßige, sich vielfach zankende Geschöpfe sieht, deren besseres oder schlechteres Gedeihen und größere oder geringere Eierproduction er mit dem Kostenaufwande vergleicht, den ihr Unterhalt ihm verursacht, oder wer sich doch nur an ihrer äußeren Gestalt und an der Verschiedenheit der Racen und ihrer Seltenheit ergötzt, faßt Dieser zugleich ihr Seelenleben

[779] mit in’s Auge. Er erblickt dann in dem Haushahn das Musterbild eines guten Familienvaters, in der fleißigen und unerschöpflichen Eierlieferantin seines Haushaltes, der Henne, zugleich eine treue, sich selbst verleugnende, mit Geduld und Ausdauer, mit Nachsicht und Zärtlichkeit begabte Mutter, in dem Küchlein das sich unter allen lebenden Geschöpfen verhältnißmäßig am raschesten entwickelnde und eins der reizendsten und possirlichsten, in dem Ei aber eines der größten Wunder der Welt. – Von dem letzt angedeuteten Standpunkte aus aufgefaßt, gebe ich meine Mittheilungen und beginne naturgemäß mit dem Ei.

Die erste Entstehung und Entwickelung desselben zu erklären, überlasse ich den gelehrten Naturforschern, ich halte das schon fertige, in’s irdische Dasein gerufene in der Hand und erblicke eine längliche Kugel, die sich kalt und hart wie ein Stein anfühlt. Allein ich weiß schon, daß diese Kugel inwendig hohl und die innere Seite der Schale mit einer weißen, weichen, ziemlich dicken Haut austapezirt ist, schon zur weichen Decke für das zarte Leben bestimmt, welches sich bald aus dieser kalten, harten Kugel entwickeln wird.

Der Raum, den die glatte Tapete umschließt, ist mit einer durchsichtigen, farblosen Flüssigkeit ausgefüllt, in deren Mitte eine etwas abgeplattete gelbe Kugel schwimmt. Diese Kugel besteht aus einer mehr verdickten Flüssigkeit, die durch eine sehr zarte Haut zusammengehalten wird, an deren einem Ende sich einige feine Blutgefäße und ein kleiner ausgekräuselter Faden zeigen, der seinerseits wieder noch mit einer trüben, schleimigen Masse überzogen ist.

Aus diesem unscheinbaren Fädchen entwickelt sich nun, wenn das Ei unter den gehörigen Wärmegrad gebracht wird, innerhalb des kurzen Zeitraumes von 21 Tagen ein lebendes Wesen, das nicht nur mit allen Sinnen und Lebensorganen, mit Eingeweiden für des Leibes Nahrung und Nothdurft, mit Knochen und Muskeln, mit Fleisch und Blut, sondern auch mit einem Herzen ausgestattet ist, das sich empfänglich zeigt für Freude und Genuß, für Leid und Verdruß. Ja selbst das Kleid bringt das Küchlein sich schon fertig mit auf die Welt, das bestimmt ist, es nicht nur zierlich zu schmücken, sondern auch gegen Nässe und Kälte auf das Beste zu schützen.

Schon am 19. Tage darf man die bebrüteten Eier nur vorsichtig in ein hinlänglich mit warmem Wasser gefülltes Gefäß legen, um sofort zu erfahren, welche unter ihnen lebende Küchlein in sich schließen. Denn diese beginnen alsbald sich zu drehen, auf- und abzuhüpfen, oder tanzend zu kreisen, während die unbefruchteten sich zwar oben schwimmend, aber doch gänzlich still verhalten, die verdorbenen aber sogleich zu Boten sinken. Diese kann man dann getrost wegwerfen, während man gut thut, diejenigen, die sich still verhielten, der Bruthenne doch noch wieder mit unterzulegen; denn oftmals ist ein Küchlein zu schwach, oder verspätet sich mit seinen Bewegungen.

Wenn nun aber die Zeit erfüllt ist, so beginnt das kleine Herz zu pulsiren, der Instinct regt sich unter der zarten Hirnschale, und das Küchlein beginnt mit seinem Schnäbelchen gegen die starken Wände seines Kerkers zu pochen, in welchen es jetzt noch als ein fest in einander verpackter nasser Klumpen ruht, den die Federn in der Gestalt von nassen Zwirnfäden zusammenzuhalten scheinen.

Endlich gelingt es dem noch so schwachen, aber emsig arbeitenden Thierchen, die äußere spröde Schale des Eies zu zersprengen, und es zeigt sich ein kleines Loch, das eine mäßiggroße Linse vollständig bedecken würde. Darunter aber zeigt sich jetzt noch die zähe und deshalb bei weitem schwieriger zu durchstoßende Haut. Indessen scheint es, als ob das Küchlein sich schon des hindurchdringenden Lichtes erfreue; denn obgleich noch gefangen, piept es schon fröhlich, ein Ton, auf den die Gluckhenne mit sichtlichem Stolze und froher Ueberraschung horcht.

Von diesem Augenblicke an beginnt sie sich auch schon ausschließlicher mit dem Ei zu beschäftigen. Mit Schnabel und Flügeln rückt sie dasselbe ihrem Herzen näher und ermuntert das Küchlein durch zärtlich lockendes Glucksen, sich die schwere Arbeit nicht verdrießen zu lassen. Jetzt scheinen die Kräfte desselben auch sichtlich zu wachsen, fort und fort hämmert das Schnäbelchen, und endlich ist das größte Hinderniß überwunden, es wird ein Riß in der Tapete bemerkbar. Nun kommen Flügel und Beinchen dem Schnabel auch bald zu Hülfe. Sie versuchen sich zu dehnen, sie stoßen und drängen, und während die Glucke dafür sorgte, daß die erste Oeffnung nach oben zu liegen kam, hat auch sie dem Küchlein sein schwieriges Unternehmen, so viel als ihr räthlich schien, erleichtert. Plötzlich zerbirst die Schale des Eies in zwei Hälften, nur das junge Leben ist nun völlig entfesselt. Doch nun auch todesmatt, versinkt das Küchlein sogleich in einen festen Schlaf, und schriebe ich ein Märchen nur nicht ein Stück. Naturgeschichte, so könnte ich durch eine Mittheilung dessen, was der Traum, dem Küchlein erzählt, die Leser noch eine Spalte lang unterhalten. Allein heute erzähle ich nur Wahres, Selbsterlebtes und Erforschtes, und so überlassen wir das Küchlein klüglich der höchst nothwendigen Ruhe, die es in wenigen Stunden für die neue Lebensperiode befähigt.

Wenn wir es nun wiedersahen, erkennen wir den nassen Klumpen nicht mehr. Die Augen blicken uns schon groß und verwundert und, obgleich noch etwas träumerisch, doch furchtlos an, und versuchen wir, es auf seine Füßchen zu stellen, vermag es schon, obgleich noch etwas schwankend, sich darauf zu erhalten. Auch sind die Federn nun völlig getrocknet und haben sich in einen weichen Flaum verwandelt, der das Küchlein, wie der schönste, feinste Pelz, vollständig, bis auf Schnabel, Augen und Beinchen einhüllt.

Doch immer noch blickt es matt und müde, starr und träumerisch vor sich hin, und versuchen wir das Schnäbelchen in ein Gefäß mit Milch zu tunken, so sträubt das kleine Geschöpf sich kräftig gegen dieses erste und beste Nahrungsmittel, das wir ihm reichen können. Dennoch haben wir ihm mit diesem Versuche schon den besten Dienst geleistet. Das vorher noch verklebte Schnäbelchen hat sich gelöst. Vielleicht ist auch auf homöopathische Weise etwas Milch auf die Zunge gelangt und hat den Sinn des Geschmacks geweckt, genug, wenn wir nach einigen Stunden das Manöver wiederholen, verschmäht unser Pflegling die Milch schon selten, ja, er hebt schon das Schnäbelchen hoch, um sie auf diese Weise in seine kleine Kehle zu befördern, und stellen wir ihn jetzt auf seine Füßchen, so vermag er nicht nur schon steif darauf zu stehen, sondern auch damit schon einige Schritte in die weite Welt zu thun. Wir müssen nun von Zeit zu Zeit den Versuch wiederholen, bis wir endlich uns und das Küchlein der nächtlichen Ruhe überlassen.

Am nächsten Morgen ist bei dem Küchlein vom Gehen nicht mehr die Rede, nun läuft es schon auf das Graciöseste umher, und wenn wir ihm jetzt hart gekochte und dann wieder zerkrümelte Eier, Grütze oder Brodkrumen hinstreuen, so pickt es schon darnach, und noch im Laufe dieses seines zweiten Lebenstages lernt es, sich ganz allein bei Speis und Trank zu bedienen.

Von diesem Tage an macht es überhaupt wahrhaft reißende Fortschritte in seiner Entwickelung. Als ein dreitägiger Knirps ist es schon muthwillig und neckt Mutter und Geschwister, indem es die erstere in Kamm und Augen zu beißen, den letzteren die zarten Daunen ihres Pelzes auszureißen versucht.

Nach acht Tagen kratzt nur scharrt es schon im Sande und sucht nach Futter so eifrig und geschickt wie die älteste Henne. Auch bemerken wir bei dieser Gelegenheit schon Zeichen der Klugheit und Gehorsam an ihm. Wir sehen es vielleicht mit Begierde über das Futter herfallen, das wir ihm stets reichlich spenden, als sich plötzlich die Henne in den Kopf setzt, dasselbe könne dem Küchlein schädlich sein. Sie läßt darauf einen Warnungsruf erschallen, den die Kleinen sogleich hören und verstehen. Sogleich lassen sie das schon mit dem Schnabel erfaßte Futter wieder fallen und vorsichtig, mit weit vorgestrecktem Halse. Verwunderung und Neugierde blicken lassend, treten sie alsbald davon zurück, es ruhig abwartend, ob die zur Prüfung des Futters herbeischreitende Mutter ihnen die Erlaubniß ertheilen wird, sich dem Genuße desselben hinzugeben. Gewöhnlich ist dies alsbald der Fall, indem die Glucke sich zuerst selbst bedient und dann lockend die gehorsamen Kinder aufmuntert, ihrem Beispiele zu folgen. Oftmals aber habe ich es auch erlebt, daß die Henne ihre junge Kinderschaar zusammenrief und sich so weit als möglich mit ihr von der Stelle entfernte, wo die ihr nicht paßlich scheinende Speise lag. Ob dies allemal seinen Grund in ihrer besseren Erkenntniß hatte, oder sie nur ihre mütterliche Autorität gegenüber meiner herrschaftlichen zeigen wollte, ist mir noch immer zweifelhaft geblieben, obgleich ich öfter dies Letztere glauben mußte.

Wieder einige Tage älter geworden, badet das Küchlein schon im Sande, indem es sich bald platt, bald von der Seite darauf [780] niederwirft und mit Flügeln, Kopf und Beinen dies lockere und doch scharfe Reinigungsmittel, das ihm im Hause hinzuwerfen wir nicht unterlassen dürfen, seiner Haut nahe zu bringen und die gern darauf nistenden Insecten zu vertreiben sucht.

Sechs Wochen lang, zuweilen etwas länger, oft selbst noch kürzere Zeit, sieht das Küchlein sich nun von seiner Mutter auf das Sorglichste gehütet, auf das Zärtlichste und Nachsichtigste verhätschelt; sobald die Henne aber auf’s Neue den Beruf zum Eierlegen in sich verspürt, schwindet fast plötzlich alle Zuneigung für die Küchlein aus ihrem Herzen. Bis heute noch setzte sie sich allabendlich auf das ihr zu diesem Zwecke auf den Fußboden eines sicher verwahrten Raumes bereitete Nest und versammelte die Küchlein lockend unter ihre Flügel. So wie sie größer wurden, wuchs auch die Beschwerde, die sie davon hatte, denn nicht nurr daß ihre

Auf einem norddeutschen Hühnerhofe.

eigene Stellung mit den zusammen gekrümmten Beinen und den ausgedehnten Flügeln für eine ganze Nacht äußerst unbequem war, sondern als die Küchlein zu groß wurden, um überhaupt noch alle Platz unter ihr finden zu können, setzten sich einige ihr gar auf Hals und Rücken. Dennoch ertrug sie Alles mit zärtlicher Nachsicht und Selbstvergessenheit; wo sind diese Gefühle nun so plötzlich hingekommen? An diesem Abende ersteigt sie den ersten besten höheren Gegenstand, den Rand einer Kiste, eines Korbs oder dergleichen, läßt aber dabei freilich noch den lockenden Gluckton vernehmen. Aengstlich schreiend und piepsend sehen die Küchlein diesem ihnen noch ganz neuen und unbegreiflichen Treiben der Mutter zu und versuchen endlich mit mehr oder weniger Geschicklichkeit sich ihr nach zu schwingen, was für das erste Mal nur wenigen gelingt. Die Uebrigen setzen sich endlich ermüdet, dicht neben einander geschaart, auf den alten Ruheplatz, und der Traum dieser ersten selbstständig von ihnen hingebrachten Nacht mag den Unterricht für das Erreichen der Hühnersteige bei ihnen fortsetzen.

In der Regel fährt auch die Glucke noch einige Abende damit fort, oftmals überlässt sie die Küchlein schon am zweiten oder dritten sich selbst und setzt sich so gleichgültig, als hätte sie die mütterliche Periode ihres Lebens mit all ihren Mühen, Sorgen und Freuden gänzlich vergessen, wieder zu Gatten und Nebenbuhlerinnen auf die Hühnersteige. Wollen aber die Küchlein sich auch hier ihr nachschwingen, so beißt sie sie eben so unbarmherzig davon zurück, wie dies die übrigen Hennen thun. Einstweilen, und bis sie sich erst mehr an eine so grausame Behandlung gewöhnt, oder bis sie stärker geworden und sich schon wehren und vertheidigen können, müssen die armen Kleinen nun sehen, wie und wo sie sich für die Nacht unterbringen.

Am nächsten Morgen, bei dem gemeinschaftlichen Frühstücke, erhalten sie einen neuen, fast noch empfindlicheren Beweis von der veränderten Gesinnung ihrer Mutter. Bisher war dieselbe unablässig bemüht, ihnen Futter zu suchen und die besten Bissen davon vorzulegen, und solche von der Mutter dargebrachte Bissen, von dem zärtlichsten Locktone begleitet, munden dem Küchlein ganz besonders gut. Denn wenn jener Ton erschallt, lassen sie das leckerste Mahl, das wir ihnen vorgesetzt, sofort im Stiche, um sich zankend und streitend den Vorrang beim spendenden Schnabel der Mutter abzulaufen, der doch nur einen einzigen Bissen fasten kann.

An diesem Morgen ist auch diese Lust der ersten Kindheit verschwunden. Kein gluckender Laut läßt sich mehr hören, und die Küchlein müssen von nun an nicht nur selbstständig und vereinzelt für ihren Unterhalt sorgen, sondern sich auch hüten, dem Schnabel ihrer unnatürlichen, oder vielmehr nur zu natürlich, Mutter (denn gehorcht die Henne nicht auch hierin dem Gesetz der Natur?) zu nahe zu kommen.

Allmählich entwickeln sich nun aus den Küchlein Hähne und Hennen und in ihnen alle guten und schlimmen Eigenschaften eines Geschlechtes, bei dem, wie überall im Thierreiche, der Stärkere den Schwächern beherrscht.

Daß ich den Haushahn das Musterbild eines guten Familienvaters nannte, will ich jetzt zu beweisen suchen. Wachsam, muthvoll und vorsorglich, zeigt er sich stets als der aufopferndste Beschützer, Versorger und selbst Erzieher der Seinen. Kann er sich ihnen doch auch ausschließlich widmen, da er weder für den Staat noch die Gemeinde Pflichten zu übernehmen hat. Zwar ist der Hahn im geselligen Verkehr mit seinen speciellen Geschlechtsgenossen streitsüchtig und kampfbegierig, allein bei weitem großartiger gesinnt [781] wie die Hennen, verschmäht er es aus kleinlichem Neide den Schwächeren anzufallen, nur Eifersucht und Ehrgeiz oder auch der Zorn über schlechtes Betragen kann ihn dazu veranlassen.

In der Regel ist sein Benehmen voller Mäßigung und Würde und zeugt von Selbstverleugnung und Generosität. Die Sorgfalt und Wachsamkeit eines Familienoberhaupts lassen ihm selbst während der Nachtstunden keine Ruhe. Oftmals schon um Mitternacht ermahnt er durch sein helles Krähen die Seinen, nicht allzu fest zu schlafen, um bei einer etwa sich nahenden Gefahr sich gleich vertheidigen oder doch flüchten zu können. Während des Tages späht er fleißig mit seitwärts gelegtem Haupte in die Luft hinaus, ob auch kein Raubvogel sich zeige, und er ist sicher der Erste, der die raubgierig herbeischleichende Katze, den jagdlustigen Hund wahrnimmt. Ja oftmals bewegt ihn schon der Schatten einer flüchtig vorübereilenden Wolke, seinen Warnungsruf ertönen zu lassen, den all die Seinen, selbst das acht Tage alte Küchlein, nicht sobald vernehmen, als sie auf Flucht und Rettung bedacht sind. Die alten Hennen zeigen bei dieser Gelegenheit freilich den wenigsten Respect vor der Unfehlbarkeit ihres Gebieters. Die Erfahrung hat sie belehrt, daß er oft blinden Lärm schlägt, eine Schwalbe für einen Habicht, eine Wolke für einen Adler gehalten hat. Sie werfen daher erst selbst einen Blick in die Gegend hinaus, von woher die vermeinte Gefahr sich nahen soll, und stellen sich, wenn sie von Hund oder Katze bedroht werden, denselben nicht selten mir gellendem Zankgeschrei muthig entgegen. Die Küchlein hingegen flüchten sich jedesmal ängstlich, wo sich dies am nächsten und besten thun läßt.

Unparteilichkeit ist eine zweite gute Eigenschaft des Haushahns. Er widmet seine Sorgfalt allen Mitgliedern seiner Familie in gleicher großmüthiger Weise. Er füttert Groß und Klein und bedient sich selbst erst dann des Futters, wenn Ueberfluß vorhanden ist. Er vertheidigt alle und sucht die Sitten der Hennen sowohl zu verbessern, als die des Küchleins, das eben ungehorsam sich zeigt.

In der Zuneigung zu seinen Frauen zeigt er sich zwar wie alle Sultane, indem er eine oder die andere derselben zur Favoritin erhebt, und bei dieser Wahl verfährt er oftmals mit demselben unbegreiflichen Geschmack, wie wir das nicht selten die Herren der Schöpfung thun sehen. Allzu sicher darf eine solche Favorithenne sich aber nicht auf diese Schwachheit verrathende Gunst verlassen, oder ihre Launen zu sehr übertreiben, denn obgleich der Hahn, wie gesagt, sehr nachsichtsvoll und verblendet sein kann, erniedrigt er sich doch niemals zum Pantoffelhelden. Am Schlusse meiner Abhandlung werde ich in einer Anekdote aus dem Leben von Hahn und Henne hiervon ein pikantes Beispiel erzählen.

(Schluß folgt.)




Ein Besuch in einer englischen Baumwollenanstalt.

Wir kennen Alle das Wort „Manchester“, aber Viele denken sich kaum etwas Besseres darunter, als unechten, baumwollenen Sammet. Aber die echte Hauptstadt alles Unechten, Gemeinen und Pöbelherrlichen, die Mörderin des Weltfriedens, die unglückseligste Mutter der Schutzzölle, die neronische Beherrscherin der englischen Politik, welche ihretwegen in aller Welt Kunden mit Kanonen erzwingen und erhalten will, die Pflegerin, Erzieherin und Ernährerin der amerikanischen Sclavenarbeit, die Molochs-Göttin, der wir unsere echten, edeln Industrien in Wolle, Leinen, Seide u. s. w. opferten, – dieses echte englische Manchester in Lancashire mit Millionen von verzweifelten Capitalien, Arbeitern und Dampfschloten hinter sich, muß man gesehen und studirt haben, um die furchtbare Bedeutung dieses Wortes ahnen zu können.

Manchester ist der Brennpunkt der England beherrschenden, die ganze Welt unmoralisch und materiell störend beeinflussenden Baumwollen-Interessen, für die unsere Leinweber dem Hungertode preisgegeben wurden, für deren Rechnung wir Alle gewaltsam besteuert werden, um unsere Schutzzollnester, unsere crösusreichen Elberfelder Mucker, unsere nur durch nationale Almosenspenden zu erhaltenden Twistspinner zu ernähren. Und statt uns stattlich und solid in wollene, leinene und seidene Stoffe zu kleiden, müssen wir uns mit gefälschten, künstlich vertheuerten seidenen, wollenen oder leinenen Lügen, mit künstlerisch ausgebildeter Betrügerei oder gar mit der reinen Baumwolle, der Vertreterin alles Pöbelhaften, dem gewaltsam gehätschelten, brutalen Emporkömmling, behelfen. Wenn man alle Fäden und Fasern der Baumwollen-Interessen aus unserer Geschichte, Cultur und Industrie herausziehen könnte, wenn nie eine Flocke auf einer Baumwollenstaude zu etwas Anderem verwendet worden wäre, als wozu die Natur sie bestimmte, mit andern Worten, wenn alle die unberechenbaren Millionen von Capitalien, die Künste, Maschinen- und Arbeitskräfte, die jetzt in der pöbelhaften Baumwolle stecken, zur Ausbildung und Vervollkommnung der edleren Industrien in Wolle, Leinen und Seide u. s. w. ihren natürlichen, unschutzzöllnerischen Weg gefunden hätten – wie schön müßte jetzt die Welt sein? Man denke sich’s ganz im Kleinen und Häuslichen. Jeder Mensch fühlt sich gedemüthigt, gemeiner, sobald er sich in Baumwolle steckt. Unsere Geliebte, unsere Frau und unsere Töchter sehen gemeiner, häßlicher aus, wenn sie Kattunfahnen (noch dazu auf die Käseglocken von Crinolinen gespannt) tragen, statt fließige, feine echte Wollenstoffe oder eigenthümlich lieblich säuselnde Seide.

Nun, so denke man sich wenigstens diese eine Folge der gänzlich gestrichenen Baumwollen-Interessen: unsere Arbeiter würden alle in edleren Industrien arbeiten und freien, durch keinen Schutzzoll geraubten Lohn beziehen, wir würden alle anständiger und schöner bekleidet sein.

So viel einleitungsweise. Genug, um alle in gemeinen Baumwollen-Interessen ergraute Sclaven und Ritter der Industrie zu einem allgemeinen Hohn- und Rachegeschrei zu vereinigen. Dies soll uns nicht irre machen. Wer ruhig geblieben oder es wieder geworden, mag uns getrost in die größte Anstalt begleiten, wo dem modernen Moloch der Industrie mit den gigantischen und vollkommensten Mitteln gehuldigt wird. Einmal in den Wundern der Maschinerie befangen, lassen wir uns hinreißen, als gehörten wir zu den Baumwollen-Enthusiasten erster Classe.

Himmlische Industrie, in deren Interesse sich jetzt die stolzesten Republiken der Welt in Bürgerkriegen zerreißen und nach Tyrannei seufzen, die die stolzesten Baumwollen-Lords zu frommen, demüthigen Gläubigen macht, damit sie den lieben Gott recht inbrünstig um den Sieg und die Verherrlichung der Sklaverei anflehen können!

Kaum sind wir mit der Eisenbahn aus dem dicksten Qualme Manchesters heraus, so schreien die Conducteurs an dem haltenden Zuge entlang: „Heaton Norries!“ Hier stieg ich also mit meinem Freunde und Führer aus, um zunächst eine echte Baumwollen-Industrie-Landschaft von Lancashire zu genießen. Dickes Gemisch von Regen, Nebel und Qualm, so dick und dicht, daß man glauben sollte, man könne sich ruhig darauf setzen. Ein verdrießlicher Wind schlägt dann und wann auf diesen dicken Polster, daß er auseinander weicht und uns eine Viertelminute lang Hunderte von dickqualmenden Krater-Schloten enthüllt. Das ist Stockport, sagt mein Freund. Tief unten vom Eisenbahndamme ein ungeheuer Polster von Qualm, Rauch, Ruß und Regen, zuweilen aufklaffend unter einem trägen Windstoße und einen Wald von dickqualmenden Schloten enthüllend – das ist also Stockport, ein Stück von Manchester und wegen der größten aller Baumwollen Spinnereien eigentlich dessen Vertreter.

Aus dem dicken Polster von Rauch und Dampf ragt dicht an der Eisenbahn ein Schlot über dieses furchtbar begrabene Leben hoch empor und leitet den Blick auf ein riesiges Kubik-Schachbret herab, einen Würfel von Bauwerk, dessen unabsehbare acht Fensterreihen übereinander auf jeder Seite eben an die Quadrate eines Schachbretts erinnern, Ueber 800 Fenster auf jeder Seite, im ganzen Gebäude viel über 10,000. Ein großer leerer Raum auf der einen Seite ist ein niedergerissener Stadttheil, der Platz machen mußte, um eine fünfte Vergrößerung und Erweiterung dieses Ungeheuers von Baumwollen Spinnerei der Herren Kershaw, Leese und Co. aufzunehmen. Aber beinahe die Hälfte der Lancashire-Spinnereien arbeiten entweder blos halbe Zeit oder gar nicht. Alle Wochen werden mehrere Hunderte von Pferde- und Tausende von Menschenkräften ausgespannt, um auf den Sieg der Sclavenhalter und auf Versclavung der Indier zur Baumwollenzucht zu warten. Die mächtigste [782] englische Industrie, die verderblichste für Europa, hängt von der Peitsche, der Knute, der Tyrannei auf der andern Halbkugel ab. –

Die erwähnte fünfte Erweiterung der Kershaw’schen Anstalt ist einstweilen aufgeschoben worden. Gott sei den Millionen von Arbeitern und Capitalien gnädig, deren Heil vom Siege der Sclavenhalter Amerika’s und der englischen Satrapen Indiens abhängt!

Nachdem wir dem Cerberus von Wächter, in einem Käfige am Eingänge wohnend, befriedigende Legitimation gegeben, treten wir ein in die noch voll arbeitende Anstalt, eine ganze Stadt, ein Königreich der Baumwollen-Industrie. Unter Krahnen, schwebenden Balken, auf donnernden, krachenden Boden, zwischen zischenden, puhstenden Legionen von einäugigen Dampfkesseln, durch Labyrinthe von Wegen und Gängen kommen wir endlich in’s Bureau, wo wir mit einem Führer und Erklärer versehen werden.

Zuerst wird vor zwei mysteriösen Maschinen Halt gemacht, in deren Innerem es stürmt und tobt wie ein gefesselter Orkan, der zugleich an allen Wänden seines Kerkers vor Wuth platzen möchte. Das sind die „blowers“ oder Bläser, sagt der Junge vor der einen Maschine. Was thun sie? „Das,“ sagt er, indem er eine tüchtige Handvoll Rohbaumwolle aus dem Ballen reißt und sie, nachdem er uns den Schmutz, die Holzstückchen und Knoten darin gezeigt, seiner Maschine zu fressen giebt. Sie zupft daran etwa wie eine fromme Kuh, der man eine Handvoll Heu vorhält. Es ist rasch verschwunden. Der Junge holt einen ganzen Arm voll baumwollenen Schnee unter der Maschine hervor und behauptet, daß dies die eben verzehrte Handvoll sei. Wir zweifeln, und er zeigt es uns, wie's zugeht. Im Innern wird die Baumwolle mit rasender Kraft und Geschwindigkeit zerzaust und geworfelt, so daß alle fremdartigen Bestandtheile zu Boden fallen.

Nun ist sie reif und rein zum Spinnen, sagen wir. Das ist unser stärkster Irrthum. Es war das erste von mehr als einem Dutzend läuternden Fegfeuern. Die nächsten sehen wir unter den beiden Roh-Bläsern, eine ganze Reihe dumpf zischender und pfauchender Höhlen, in welche der baumwollene Schnee wie ein milchiger Regen herabströmt. Wir sehen in das Innere hinein und finden, daß die Baumwolle gleich am Eingänge von einer furchtbaren Windkraft in die dünnsten Nebel zerblasen wird. Die Kraft geht von einem runden, stehenden Nebel aus, den wir nach Stauung der Maschine als ein Parallelogramm von stählernen Flügeln erkennen. Sie bewegen sich so schnell, daß sie zu einem kaum sichtbaren Nebelfleck verschwinden. Hier werten die Samenkörner und kleineren fremdartigen Bestandtheile vollends abgesondert und durch Ritzen unten zu Boden geschleudert, während die leichtern Baumwollenfasern von Worfelschaufeln unten und deren unsichtbar schnellen Drehungen im Fluge erhalten werden, bis sie am entgegengesetzten Ende wie ein immerwährender Schneesturm herausfliegen, so daß wir im Nu beim Zusehen über und über in chinesische Trauer gekleidet sind und wie lebendige Schneemänner nebeneinander stehen. Gegenüber wird der Baumwollenschnee von „Käfigen“ verschlungen, die ihn auf der andern Seile in wattenartige Bogen gepreßt abliefern. Ein Blick in einen solchen geöffneten Käfig zeigt uns einen Wirrwarr von Freß- und Verdauungsapparaten, so schlingt es, so wurmt und windet es sich darin.

So geht die Baumwolle durch, glaub’ ich, zwölf Reinigungs-, Worfel-, Fächel-, Dresch- und Siebungs-Processe, bis sie zuletzt ruhig, blendend weiß, wunderschön als ein sich sanft senkender Schnee hinsäuselt, aber ohne Flocken, ohne sichtbare Zwischenräume.

Jetzt rollt sich diese gleichsam flüssige Baumwollenmasse auf „Wickel“, große Rollen („laps“), die nun einer ganz andern Armee von Maschinen in einem andern Raume zum Krempeln und Kämmen übergeben werden. Wir fragen nach der Zahl derselben, wie sie auf beiden Seiten wie dicke Bürgermeister aufgestellt sind.

„Achtzig auf der einen, siebenzig auf der andern.“ Sie alle krempeln und kämmen mit einer Präcisison, Einheit und Eleganz mechanischer Kunst, wie sie das beste preußische Regiment auf der Parade nicht nachmachen kann. Die „Wickel“ werden so gestellt, daß die Maschinen selbst sie abwickeln und den ätherischen Wattenpelz gerippten Walzen der Krempel und Kämm-Maschinen übergeben. Diese sind von allen Seiten geschlossen, so daß sie ungesehen im Dunkeln arbeiten. Eine, für unsere Belehrung aufgemacht, zeigt einen großen sich drehenden Cylinder in der Mitte und eine Menge kleinere um ihn herum als Krempelkämme thätig. Kleine Stahldrähte, feiner und dichter als die Borsten in einer Haarbürste, auf diesen Cylindern spielen so gegen den großen mittleren, daß sie die in ihre Zähne gezogene Baumwolle den in entgegengesetzter Richtung eingreifenden Stahlborsten desselben überliefern, so daß sie sich wie ein zarter Reiffrost über denselben verbreitet, nachdem sie von Cylinder zu Cylinder oder Krempelhechel zu Krempelhechel in allen ihren feinsten Fäserchen so glatt gekämmt ist, daß sie wie das beste, gekämmte Haar des Stutzers neben einander liegen. Von dem großen Cylinder nun wird der so glatt gekämmte baumwollene Hauch durch einen rasch und leise entgegengesetzt eingreifenden, zitternd vor und zurück spielenden Kamm wie ein schneeweißer Nebel fortwährend abgehechelt. Dieser Nebel sieht kaum so substantiell aus, wie ein Paff Rauch von der Cigarre, gleichwohl zieht er sich sicher und graciös zu einem lockern, ebenen, glatten Faden zusammen, der fortwährend durch eine Röhre gezogen sich fortbewegt, um durch folgende Maschinen-Operationen erst die Weihe zum glatten, haarartigen, egalen, glänzenden Maschinen-Baumwollenfaden zu erhalten. Die wolkige, abgekämmte Scheibe („silver“) zieht sich also zu einem lockeren Faden zusammen, indem sie sich durch eine Röhre hinunter in einen nässenden Trog bewegt, um von da aus mit sechzehn ganz ähnlichen Scheiben und Fäden zu einem einzigen vereinigt zu werden. Dies geschieht, um die sonst noch möglichen Unebenheiten in den einzelnen Fäden so zu vertheilen, daß an dem hernach daraus gesponnenen Faden keine bemerklich werden, da die Wahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens aller dieser noch möglichen Unebenheiten an einer Stelle wie viele Millionen zu Eins sein würde und deshalb unter vielen Millionen von Meilen Fäden, die täglich gesponnen werden, kaum alle Monate einmal wirklich vorkommt.

Die je sechzehn zu Fäden gewordenen und vereinigten Scheiben wickeln sich wie ein ruhig fließender milchiger Strom um große Walzen, die, wenn bis zu einer gewissen Dicke umwickelt, abgenommen und durch leere ersetzt werden. Die 150 Krempel- und Kämm-Maschinen thun genau dasselbe neben einander, d. h. sie verwandeln den vorher erwähnten Schneesturm in ungedrehte, dicke, talglichtartige, aus je sechzehn Strähnen neben einander gelegte und dann auf Walzen gewickelte Fäden.

Jetzt endlich kommt das Spinnen – noch lange nicht. Die Walzen wandern in das Departement der Zieh-Maschinen. Als die Zeiten, wo Bertha spann, noch nicht vorbei waren und die Spinnstuben noch zur täglichen Winter- und Dorfpoesie gehörten, war die geschickteste und feinste Spinnerin Deutschlands nicht im StaNde, den Faden so regelmäßig und gleichartig auszuziehen, als es hier ein paar Hundert Maschinen einer Spinnerei Tag und Nacht thun, ohne müde zu werden, einzunicken, den Faden zu zerreißen, sich den Wocken stehlen zu lassen und ihn durch Küsse wieder einlösen zu müssen. Hier ruht, hier küßt nichts, hier ist Alles, Alles morgenweit um uns her und acht Stockwerke hoch, Alles, Alles endlos drehende, rollende, walzende, donnernde, von Dampf und Angst, Börsen-Coursen und Kriegsnachrichten gepeitschte, gefühllose, unersättliche, unerbittliche Bewegung.

Die Operationen der Ziehmaschinen zu beschreiben, halte ich kaum für möglich, ohne Zeichnungen und technische Ausdrücke zu brauchen. Sie beruhen auf der Einrichtung, daß je zwei von den sechzehnfachen Fäden von einer sich langsamer bewegenden Walze auf eine sich schneller drehende zu einem 32fachen, aber dünneren ausgezogen werden. Dieses Ausziehen von je 32 und 32, von 64 und 64, 148 und 148 Fäden und so weiter zu je einem wird desto weiter getrieben, je feiner der endlich gesponnene Faden werden soll. Unser Cicerone im Zieh-Departement bemerkte beiläufig, daß man eben nichts besonders Feines spinne und deshalb blos 4608 Fäden zu je einem ausziehe.

Wenn aber dabei einmal einer reißt mitten unter Tausenden, die vor uns hin und zusammenkriechen? Wunder über Wunder! So wie einer reißt, fällt eine Platte an der Stelle hörbar nieder, wodurch vor den Augen des Maschinisten ein Zeichen entsteht, das ihn mahnt, die bestimmte Stelle sofort in Ruhe zu versetzen. Dies geschieht; eines der beaufsichtigenden Mädchen holt das davon gelaufene Stück Faden zurück, legt es an das Ende des zurückgebliebenen, und der Schaden ist schneller geheilt, ehe wir nur bemerken, daß die Maschine still stand. Dieses Ankleben, scheinbar eine gedankenlose Kinderei, ist beiläufig eine solche Kunst, daß man ordentlich Lehrjahre durchmachen muß. Wir versuchten’s unter allgemeinem Gelächter öfter, ohne daß die Fäden nur daran dachten, sich wieder zu vereinigen. Unser Führer bemerkte noch, daß man für den feinsten Twist die Fäden bis zu 60,000 aus- und zusammenziehe, [783] um aus diesen 60,000 eben je einen einfachen, feinsten Faden zu spinnen.

Maschinen zum weiteren und zugleich compacteren Ausziehen – Spindelmaschinen – liefern schon so zusammenhängende, lampendochtähnliche Fäden, daß sie sich auf Spindeln wickeln. Dies geschieht in dem Drossel-Raume, einer Singakademie, wo nicht weniger als 18,000 Drosseln immerwährend Chor singen. Das sind die 18,000 sausend gedrehten Spindeln dicht neben einander in schnurgeraden Linien, von einem Rade gedreht, und dies Rad von einem einzigen Riesenschaft aus, der senkreckt durch alle Etagen hindurchsteigt, alle 250 Pferdekräfte der ganzen Anstalt in sich vereinigt und über Millionen von mechanischen Bewegungen ausdehnt. Durch langsameres Ab- und schnelleres Aufwinden der Spindeln und Spulen werden hier die Fäden endlich zu ihrer erforderlichen Feinheit ausgezogen und dabei für die feinsten Sorten von Twist für Spitzen, z. B. für Nr. 100, bis zum Sechzigtausendfachen ihrer ursprünglichen Einfachheit verdoppelt. Je feiner das Garn oder der Zwirn, desto mehr Doppelung und Ausziehung, weil nur dadurch die möglichen Ungleichheiten bis zum Unentdeckbaren verschwinden. In London kann man in jedem Posamentirladen 100 verschiedene Stärke- und Feinheitsgrade von Nähbaumwolle kaufen.

Obwohl verschiedene Firmen beliebig andere Arten des Numerirens angenommen haben, gilt doch als Regel, daß, je höher die Nummer, desto feiner der Faden. Alle Arten, auf hölzerne Wickel gewunden und so glatt und eben, daß nie ein Faden den andern kreuzt, sind durchaus seidenglänzend, rein wie frisch gefallener Schnee und so egal, daß die feinsten Haare im Malerpinsel nicht glatter sein können. Jede Frau, die mit englischer Nähbaumwolle arbeitet, kann uns dies zeigen und bestätigen.

Wir steigen eine Etage höher, während das ganze Königreich mit Tausenden von Gaslichtern illuminirt wird. Hier verbreitet unser alter Freund, der Hauptschaft, ebenfalls ein unabsehbares spinnendes Leben, aber nicht mit Drosseln, sondern mit „Mauleseln“. Die Spinngestelle zum Ziehen und Drehen des Schußgarns heißen hier eben Maulesel, und wir lassen den Namen gelten, wie Schulze und Müller, ohne nach Ursachen zu fragen. – Es arbeiten immer je zwei Mauleselgestelle mit und gegen einander, ein fahrendes und ein stehendes. Ersteres, auf Eisenschienen hin- und zurückfahrend, zieht die sich drehenden Fäden – immer Hunderte auf einmal – aus und übergiebt sie im Wiederkommen den aufrollenden Spindeln des letzteren. Das geschieht Alles so leicht, sicher und gewissenhaft, daß ein Paar Männer und Jungen im Stande sind, alle etwa reißenden Fäden an je zwei Paaren im Nu wieder anzulegen.

Eine Treppe höher – wieder Drosseln in’s Unabsehbare. Noch eine Treppe höher – Alles voll Maulesel bis in verdämmernde Ferne. Alles Maschinerie von den tiefsten Tiefen bis zu den höchsten Höhen und in jeder Etage unabsehbar. Dazwischen nur einzelne verstreute, mechanische, lautlose, in dem ewigen Gewirr und Gedonner ohne bin unhörbare Menschen, alle gespannt aufpassend und mechanisch zugreisend, wenn die Maschinerie es verlangt, Knaben, Mädchen erhitzt (die feinen Fäden gedeihen nur in hoher Temperatur), alt, nichtssagend, wie Maschinentheile aussehend, Menschen kaum hier und da einzeln und einsam zu entdecken - und doch 1800 Menschen an der Zahl. Ueber 1800 Menschen, deren Seele und Gesundheit hier mit versponnen wird, indem sie Maschinen beaufsichtigen, welche über 120,000 spinnende Hände nicht blos ersetzen, sondern an Feinheit und Meisterschaft der Arbeit unendlich übertreffen.

Endlich ein geschlossener, übersehbarer Raum voll junger Mädchen; aber sie sehen alle so kahl ans wie Puppenköpfe, nur älter, ernster, blässer. Sie beaufsichtigen die allgegenwärtige, uns noch nicht zu Gesicht gekommene Dampfthätigkeit, die hier in zauberhafter Geschwindigkeit das Garn von den vollen Spindeln auf große, dicke Wickel dreht. Wir können hier nicht auf die Unterschiede des von Drosseln und Mauleseln gesponnenen Twistes eingeben; genug, daß erstere das Grund- oder Ketten-, letztere das Einschußgarn liefern. Das so gewickelte Garn marschirt nun dem Webstuhle entgegen und dabei durch verschiedene Processe der Vorbereitung, z. B. durch Kleister und über heiße Walzen, die einen unangenehmen Dampf verbreiten und das Garn trocken und gestärkt entlassen. Dies geht nun in die Hände der geschicktesten und am besten bezahlten Arbeiter, die den Webstuhl „bekleiden“. Sie verdienen 10 bis 15 Thaler wöchentlich.

Der Mechanismus des Webens ist ziemlich bekannt. Nur daß die Maschine viel sicherer, schneller und massenhafter arbeitet, als unsere verhungernden, verschollenen Leineweber. Wir machen nur auf die beiden mechanischen, dampfgetriebenen Hände aufmerksam, welche das Weberschiffchen immerwährend leise, blitzschnell und sicher durch die auf- und abkreuzenden Fäden treiben und so den Einschlag machen.

Nun einen Blick in das Webe-Departement! Wer wird’s uns glauben, wenn wir sagen, wie viel Webstühle derselbe allgegenwärtige, allmächtige Schaft hier bewegt? Glaubt’s oder nicht – es sind 1345 mit 2690 mechanischen Händen für die Webeschiffchen und einer Menge Kinder- und Mädchenhände zum Bedienen. Diese unendlichen Lichter, dieses ewige Klappen, Quirlen, Ziepen und Bumpsen, dieses Sausen und Säuseln, dieses Hereindonnern des Dampfriesen von unten, diese schweigenden, ernsten Kinder dazwischen – welch’ eine Welt, welch’ eine verzauberte, verwunschene Herrlichkeit und Glorie der verfluchten, Menschen beherrschenden, Republiken zerstörenden, Sklaverei heiligenden, Freiheit brandmarkenden, England demoralisirenden, die Welt verrückenden dämonischen Baumwollen-Industrie!

Noch einen Blick in den einsamen, eleganten Kerker des Dampfriesen, der mit jedem Athemzuge, jedem leicht gleitenden Stoße der Kurbel 250 Pferdekräfte durch diese ungeheuere acht Stock hoch über einander gebaute Maschinenstadt so sicher und regelmäßig ausstrahlt, daß unzählige Maschinen auf sein Geheiß pünktlich und präcis worfeln und schaufeln und sieben und Schneestürme von Baumwolle unterhalten, daß diese Schneestürme sich in feine, ruhige Nebel verwandeln, riefe dann zu milchigen Strömen runder Fäden werden, diese Fäden sich bis zum Sechzigtausendfachen in einander und zur Feinheit des Spinnenfadens ausglätten und dehnen, diese Fäden sich in beinahe anderthalbtausend Webstühlen zu glatten Callicoflächen verdichten und aufrollen und Palmerston nöthigen, in der ganzen Welt Kriegsschiffe zu halten und Löcher nach China und Japan hineinzuschießen, Callico und baumwollene Taschentücher hindurchzustecken und den Böllern rund um die Erde zu drohen, die sich dieser Baumwollen-Politik nicht fügen wollen. Wackerer, stolzer, einsamer Dampfriese, du weißt nichts von dem anfangs unschuldigen Milch- und dem nachfolgenden Blutregen, den die Früchte deiner Kraft über die Erde ausschütten. Hättest du aber Bewußtsein, gewiß würdest du dich lieber in deinem eigenen Dampfe ersticken, statt die Verantwortung dafür auf dich zu nehmen. Und wie wär’s, wenn man diese stolze Anhäufung von Technik, Mechanik und Genialität edleren, kleidsameren, nicht durch Sclaverei erpreßten Stoffen zu Gute kommen ließe? Wenn du in Wolle, Seide, Flachs schwelgen könntest? Wenn die Millionen Capital-, Pferde- und Menschenkräfte, die jetzt in dem Fluche Amerikas zittern und schon vor Angst still stehen, dem friedlichen Producte des Schafes, der stillen, dichterischen Arbeit des Seidenwurmes, den Früchten deutscher Flachsfelder zugeflossen wären?

Der Riese schweigt, und auch wir Zwerge können nichts Besseres thun.




Blätter und Blüthen.

Ein Retter in der Noth. Im Sommer 1858 brannte der größte Theil des Dorfes Göhren (Kreis Arnswalde) ab. Drei Tage nach dem Brande führten mich Berufsgeschäfte auf die Brandstätte. Rauchende Schutthaufen auf allen Seiten bezeichneten den Umfang des Feuers. Aus mehreren derselben wurden halbverbrannte Pferde, Kühe, Schweine und Schafe hervorgezogen und auf Schlitten aus dem Dorfe geschleppt. Es war sehr warm. Ein bestialischer Geruch machte den längeren Aufenthalt auf der Brandstätte unmöglich. Hinter derselben, am Seeufer, sah ich den Bauer Meier. Er war einer der Abgebrannten. Mit trübem Lächeln reichte mir der Biedermann die Hand und erzählte dir Einzelnheiten des Unglücks. „Ich habe Vieles verloren,“ sagte er, „aber Gott hat mir zur rechten Zeit einen Freund gesandt, daß ich nicht Alles verlor. Ich hatte,“ erzählte er weiter, „mit den Meinigen den ganzen Tag über bei großer Hitze auf dem Felde bis zum Dunkelwerden gearbeitet, und wir saßen eben [784] beim Abendessen. Es mochte halb elf Uhr sein, als es plötzlich hell in der Stube wurde. Sogleich lief ich auf die Straße und sah, wie sich das Feuer vom Lehnschulzenhofe her mit großer Schnelligkeit nach meinem Hofe zu ausdehnte. Schon brannten die Gebäude meines Nachbars. Ich rief den Meinigen zu, das Vieh zu retten, und lief nach dem Schafstall; aber die Schafe wollten den Stall nicht verlassen. In der Angst versuchte ich eins nach dem andern über die Thürschwelle zu schaffen; über mir hörte ich das Strohdach schon brennen, und kaum war es mir gelungen, einige Schafe hinauszuschieben. Ich fühlte, die Thiere würden verbrennen müssen, und schrie laut: „Gott, mein Gott, hilf mir!“ Da war es mir, als ob etwas neben mir vorbei in den Stall sprang. Gleich darauf hörte ich das heisere, wüthende Gebell meines Hundes hinter den Schafen, und im Augenblick waren alle auf dem Hofe. Die Thiere hatten mich umgestoßen. Schon brannte das aus dem Hofe liegende Stroh. Der Hund trieb oder jagte vielmehr die Schafe über die Straße den Berg hinauf. Die Meinigen liefen mit einigen Sachen nach dem Seeufer. Ich wollte nach dem Kuhstall, aber das brennende Stroh versperrte mir den Weg. Jetzt suchte ich mich selbst zu retten, es war die höchste Zeit; da sah ich mein Rindvieh durch das brennende Stroh laufen, getrieben, gebissen von dem Hunde. Am Seeufer kam mir meine Frau entgegen. „Schafe und Kühe sind gerettet!“ rief ich ihr zu, „aber wo sind die Pferde?“ Sie standen am See, neben ihnen der Knecht. Jetzt fehlten noch die Schweine, sie mußten verbrennen, denn alle Gebäude standen in Flammen und verbreiteten eine furchtbare Hitze. Plötzlich hören wir das Schreien der Schweine, es kommt näher. Die Schweine werden zwischen den brennenden Bäumen des Gartens sichtbar, hinter ihnen der Hund. Er jagt sie in’s Wasser und springt ihnen nach. Eine Viertelstunde später fand ich dort auf dem Berge all mein Vieh in einen Haufen zusammengedrängt, umkreist von meinem Hunde.

Ich habe weder Betten noch Kleider, überhaupt nichts, als was ich auf dem Leibe trage, aus dem Hause gerettet, meine Gebäude sind auch schlecht versichert, aber ich habe mein Vieh, und der liebe Gott wird weiter helfen.“

So erzählte der Mann und liebkoste dabei einen grauhaarigen, zottigen Hund, der aber kluge Augen und scharfes Gebiß hatte. „Dies ist mein Retter!“ fügte Meier noch hinzu, „und so lange ich lebe, will ich ihn halten wie meinen treuesten Freund.“

Auf meine Frage, wer die Thüren des Kuhstalles und des Schweinestalls geöffnet habe, erfuhr ich, daß die Frau die Kühe von den Ketten gelöset, vergebens aber das Vieh aus dem Stall zu bringen versucht hatte.

Aehnlich war es der Dienstmagd mit den Schweinen ergangen; sie hatte die Thür des Stalles geöffnet und einzelne Schweine hinausgebracht, aber mit Gewalt waren sie immer wieder in den Stall zurückgekehrt.




Ein unabhängiges Organ der Herzogthümer. Ein Schiffscapitain, welcher nach fünfjähriger Abwesenheit wieder nach Schleswig kam, gestand, daß er sich in seiner Heimath jetzt wir im Zuchthaus fühle, so drückend ist die dortige Polizeiwirthschaft. Unsere Leser haben in einer der letzten Nummern der Gartenlaube einen Einblick in diese Zustände nationaler und menschlicher Entwürdigung gethan. Daß die eiserne Zuchtruthe Dänemarks mit besonderem Wohlbehagen über der Presse geschwungen wird, ist natürlich, und doch ist das öffentliche Wort noch der einzige Schutz des verrathenen und verlassenen Volks von Schleswig. Ein unabhängiges Organ ist für beide Herzogthümer, besonders aber für Schleswig, jetzt, wo man aus Deutschland doch keinerlei Hülfe zu erwarten hat, die erste Nothwendigkeit: 1) weil keine einzige dänische Unbill fortan unregistrirt und ungerügt vorübergehen darf; – 2) weil nur dadurch und durch männliche Zusprache Kopf und Herz des bedrängten Volks oben erhalten werden kann; – 3) weil es unerläßlich ist, daß man in Deutschland nur verbürgte Nachrichten aus den Herzogthümern erhalte, für die ein solches Organ die lautere Quelle sein muß; – 4) weil das deutsche Volk selbst in seiner Liebe zu dem oft besungenen meerumschlungenen Lande durch die Stimme von dorther fortwährend warm erhalten werden muß; – 5) weil die falschen Ansichten, welche über die Beziehungen zwischen Dänemark und den Herzogthümern in den für solche deutsche Verhältnisse maßgebenden Kreisen den Auslands, wie in Paris und London, vorherrschen, gründlich nur durch ein Blatt gesäubert werden können, das ausschließlich den Interessen der Herzogthümer dient. Eine solche Zeitung ist begründet: seit einem Vierteljahre erscheint ein „Norddeutscher Grenzbote. Politische Wochenschrift“ (gedruckt, verlegt und redigirt unter der Verantwortlichkeit von Ackermann und Wulff in Hamburg).

Niemand wird bezweifeln, daß ein sehr ehrenwerther Opfermuth dazu gehört, in einem Lande von offen zur Schau gestellter Rechtlosigkeit Capital, Arbeit und persönliche Sicherheit zu wagen, und um so mehr müßte man erwarten, daß wenigstens die freisinnigere deutsche Presse ein solches Unternehmen nach Möglichkeit unterstützen würde. Die Nummer 20 des Blattes wirft jedoch ein unerfreuliches Licht auf die traurigen Erfahrungen, die dasselbe in Deutschland gemacht, und daß namentlich die Wochenschrift des Nationalvereins unter diese Beleuchtung fallen muß, ist ebenso zu beklagen, als die Theilnahmlosigkeit, durch welche „diejenigen Männer, die aus dem Elende hier in den Herzogthümern heraus dort (in deutschen Staaten) vortreffliche Stellungen wiedergefunden,“ sich ausgezeichnet haben. – Bereits ist der Norddeutsche Grenzbote in Schleswig verboten, ein Zeichen, daß er redlich seine Pflicht gethan; soll das Blatt den dänischen Verfolgungen nicht erliegen, so darf der deutsche Patriotismus es nicht sich selbst überlassen. Abonniren ist besser, als bemitleiden. Wir empfehlen unseren Lesern dieses unabhängige Organ der Herzogthümer.




Hoff’scher (sic!) Malz-Extract; vis cerevisia (sic!). – Ueber dieses neueste Product afterärztlicher Industrie ist den Lesern der Gartenlaube ein unbestochenes ärztlichen Urtheil vielleicht willkommen. Schon die eben angedeuteten Fehler der Aufschrift, im genus (Extract ist Neutrum) und in der Declination (es muß heißen cerevisiae) verrathen die Hand des Pfuschers. Ref. hat das Gebräu natürlich selbst gekostet und darin ein sehr dunkeles, dickliches, stark schäumendes, bitter-süßlich schmeckendes, bald nachher aufblähendes Getränk erkannt, welches von Seiten des Geschmackes unter den Frauen und auch unter Männern, die das Weichliche lieben, manchen Liebhaber finden mag. Ref. selbst zieht das gewöhnliche Hausbier bei weitem, vor und ist der Ansicht, daß das Hoff’sche Fabricat vor diesem nur den außergewöhnlich hohen Preis (eine kleine Flasche = 5 Sgr.) voraus hat. Auch in gesundheitlicher Beziehung wird durch das Bier, welches wir uns durch Verdünnen mit Wasser und nochmaliges Gähren in Flaschen selbst herstellen, ganz dasselbe erreicht; aber auch den Hoff’schen Wundertrank kann sich jeder selbst bereiten: die „Pharmaceutische Centralhalle“ constatirt, daß derselbe in Wirklichkeit kein Malz-Extract sei, sondern nur dunkles Braunbier mit einem Aufguß von Dreiblatt und Faulbaumrinde. Die chemische Analyse ergab unter 100 Theilen 3 Theile Weingeist, beinahe 92 Theile Wasser, fast ein Theil eines bittern Extracts mit der Farbe von Faulbaumrinde und 41/2 Theile Malzpulver, Malzgummi. „Wenn man“ – heißt es daselbst – „1 Loth Faulbaumrinde und 2 Quäntchen Dreiblatt durch 1/4 Quart Braunbier ausziehen läßt, und nachher 3/4 Quart Bier zugießt, so hat man dasselbe für 21/2 Sgr., was als Geheimmittel 221/2 Sgr. kostet.“ Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß jene lobenden Atteste und selbst jene Audienzen des „menschenfreundlichen“ Erfinders bei Kaisern und Königen das schlichte Urtheil nicht beirren können; in medicinischen Dingen sind gekrönte Häupter ebenfalls nur schwache Menschenkinder! –

Die obige wie die früheren Kritiken der Art haben nur den Zweck, das Urtheil, welches sich der gesunde Menschenverstand eines jeden Unbefangenen über solche Reclame Artikel von vornherein selbst gebildet hat, in sachlichem Sinne zu substantiiren. Die Erklärungen, mit welchen zuweilen Seitens der Betroffenen geantwortet wird, können so lange nicht berücksichtigt werden, als sie, anstatt durch Thatsachen und wissenschaftliche Gründe zu widerlegen, uns blos zu überschreien suchen, welcher Triumph ihnen gern belassen wird. Bezüglich der sogenannten haartreibenden Mittel z. B. steht es ein für alle Male wissenschaftlich fest, – sie mögen nun diesen oder jenen Stoff enthalten oder nicht, – daß sie auf den Haarwuchs keinen Einfluß üben. Ist die Drüse, in welcher jedes einzelne Haar keimt, noch erhalten, so wachsen sie ganz von selbst wieder; ist aber diese Drüse geschwunden – wie meist bei den sogenannten „Platten“, – so bleibt der Kopf kahl trotz aller Geheimmittel! –

Dr.P. Niemeyer.




Kleiner Briefkasten.

F. S. Z. in L. Sie fordern, daß die deutsche Presse sich der deutschen Nationalität in Böhmen gegen die czechischen Unterdrückungsmaßregeln annehme, und deuten auf Schleswig-Holstein hin, für das man unermüdlich Lanzen breche. – Der Deutsche sollte allerdings nicht erst fragen: unter welchen Umständen wird eine Unterdrückung seiner Sprachgenossen versucht? Im vorliegenden Fall ist jedoch diese Frage und ihre Antwort unerläßlich. In Schleswig geschieht die Unterdrückung durch eine fremde Macht, um das Land für immer von Deutschland loszureißen. In Böhmen geschieht sie in einem deutschen Bundesland und unter einem deutschen Fürsten durch eine Partei. Dort wird die Vertheidigung der eigenen Nationalität von der fremden Gewalt als ein Verbrechen gestraft, hier ist sie Recht und Pflicht zugleich und kann keinem Strafgesetz verfallen. Hier heißt es vor Allem: selbst ist der Mann! Partei gegen Partei! Zeigen Sie in Böhmen die Energie und Zähigkeit des Widerstandes gegen die fremde Anmaßung, wie man sie in Schleswig bewährt hat, so werden Sie den durch die deutsche Cultur zurückeroberten Boden behaupten „Schmerzensschreie“ sind da nicht nöthig, wo eine Nationalität eine solche numerische und industrielle Macht besitzt, wie die Deutschen in Böhmen. Nur männliches Aufraffen und Rühren der vorhandenen Kräfte, das hilft! Uebrigens legen Sie dieser czechischen Bewegung größere Wichtigkeit bei, als sie hat. Die jetzige Uebertreibung der Ansprüche dieses Slavenbruchtheils ist nur der Rückschlag von der ehemaligen k. k. Uebertreibung in der beamtlichen Germanisirungsmanier. Mächtiger, als diese Volksliebe zu einer selbstständigen Eigenthümlichkeit, ist das Bedürfniß, das der große Verkehr dictirt. Wollen die Herren Czechen sich nicht von allem Culturfortschritt abschließen, so müssen sie mit den großen Nationen, die allein die Träger der Cultur sind, in Verbindung bleiben. Da nun das Czechische ringsum vom Deutschen umschlossen ist, so kann es auch keinen andern Culturhalt haben, als die deutsche Nation ihm bietet. Böhmen ist mit Leib und Leben so von Deutschland abhängig und vom deutschen Geist durchzogen, daß eine Vernichtung des deutschen Wesens in diesem Lande nunmehr zu den Unmöglichkeiten gehört, wenn nicht die Deutschen selbst czechisch werden wollen.

L. in B. Von Otto Ruppius sind im Laufe der letzten Jahre (bei F. Duncker in B.) noch erschienen:

Der Pedlar, Roman aus dem amerikanischen Leben.
Das Vermächtniß des Pedlars.
Geld und Geist.
Der Prairieteufel.
Genrebilder aus dem amerikanischen Leben.

Ruppius behandelt in diesen Romanen, welche meist nur 12 oder 16 Sgr. kosten, die Erlebnisse von Deutschen in verschiedenen Schichten der amerikanischen Gesellschaft und giebt ein getreues Bild der darin herrschenden Anschauungen.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.