Die Gartenlaube (1861)/Heft 48
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No. 48. | 1861. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
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Das Bombardement von Schärding.
„Die bei uns eingedrungenen Soldaten zeigten aber für Alles, was wir an uns trugen, eine so außerordentliche Aufmerksamkeit, daß sie sich nicht mit dem Sehen begnügten, sondern wie Kinder Alles anrühren und behalten wollten. Obwohl es mir schwer fiel, mich von meiner Uhr zu trennen, fand ich mich doch in dem Gedanken darein, daß ich auch ohne sie recht gut wußte, welche Stunde für mich geschlagen hatte. Auch der Abschied von meinem Siegelring fiel mir nicht gar zu schwer; auch ohne ihn besaß ich den wohl ausgefertigten und besiegelten Urkundsbrief, daß ich ein Bettler geworden war. Schwerer ward es mir, meinen Ueberrock verschwinden zu sehen, denn wir waren sehr befreundet mit einander, und noch jetzt muß ich ihm nachsagen, daß er mich immer sehr warm gehalten hat, viel wärmer als Uhr und Siegelring. Mein einziger Trost war, daß mir der zweite Rock blieb, den ich der Kälte wegen darunter gezogen hatte, allein die Freude war von sehr kurzer Dauer. Ein Zweiter, ein baumlanger Chasseur, sah gar keinen Grund, weshalb er sich nicht mit dem zweiten Rock begnügen sollte, nachdem der erste nicht mehr zu haben war. Ein Dritter fand meine Weste allen billigen Anforderungen entsprechend, ein Vierter mochte glauben, daß ich viel freier athmen würde, wenn er mich von meiner Halsbinde befreite, und war aufopfernd genug, sich statt meiner dieser Beklemmung zu unterziehen. Der Fünfte endlich fand zu guter Letzt an meinen Stiefeln Geschmack und lud mich mit einer höflichen, aber zweifellosen Handbewegung ein, auf die Bank niederzusitzen und die Stiefel auszuziehen. Als das nicht ging, weil von meiner Seite die nöthige Bereitwilligkeit fehlen mochte, verschmähte er nicht einmal, meinen Kammerdiener zu machen. Er nahm eins meiner Beine nach dem andern, setzte sich rittlings darauf und ritt mir so die Stiefel recht angenehm von den Füßen herab. Ich habe auch nicht verfehlt, hiervon Nutzen zu ziehen, und habe diese Methode später im Falle Bedürfens mit entschiedenem Erfolge angewendet.
Inzwischen war es meinen Leuten nicht besser gegangen; Schuhe, Strümpfe, Röcke, Hauben – Alles fand Liebhaber. Ich wunderte mich dabei nur über die Vorsicht, mit welcher diese Krieger auf ihre Angehörigen dachten, denn da sie die meisten Sachen für sich unmöglich gebrauchen konnten, mußte ich annehmen, daß sie dieselben ihren Frauen und Kindern zum Angedenken bestimmt hatten. Constanzen, die ein schwarzseidenes Kleid trug, rissen sie den Rock eben so schnell als kunstfertig ab, daß sie nur das Leibchen behielt. Den Rock schlitzten sie im Nu mit den Säbeln in lange schmale Streifen, und banden sie sich mit sichtbarem Seelenvergnügen als Cravatten um den Hals. Nachdem sie so ihre Arbeit ebenso rasch als gründlich beendet hatten, griffen sie artig salutirend an ihre Mützen und Helme und entfernten sich. Der letzte in der Thüre war ein blutjunger Mensch, ein Voltigeur, und trug den Shawl meiner Katharina über’m Arm. Ich bemerkte es, sprang hinzu und faßte ihn am Arm, indem ich auf Katharinen hinwies, die in gesteigertem Fieber auf dem Stroh lag und das Kleidungsstück hart vermißte. Ich bat ihn, der Kranken das einzige letzte Schutzmittel nicht zu nehmen – aber er machte sich lachend von mir los und eilte den Uebrigen nach.
Wir blieben wortlos zurück und machten unsern Gefühlen in verschiedenartigen Ausrufungen Luft. Da ging die Thüre wieder auf, und der Voltigeur kam zurück. Ohne ein Wort zu sagen, trat er zu Katharinen hin, breitete den Shawl über sie aus und legte eine Bouteille Wein neben sie hin. Dann trat er zu mir, faßte meine Hand und rief: „Ik ’aben gedacht an meine Mutter daheim dans la France – ik wollen faire du chagrin für eine Mutter en Allemagne.“
Der brave Junge verschwand, aber mit seinem Geschenk war das Glück. So oft wir auch im Laufe des Tages neuen Horden in die Hände fielen, die unser Besitzthum musterten, so legte doch Keiner Hand an den Shawl. Er blieb uns, und Katharina trug ihn noch nach Jahren – nie ohne den warmen Wunsch, daß der gutherzige Voltigeur zurückgekehrt sein möge zur Freude der Mutter, an die er so redlich gedacht.
Als wir nun allein waren und ich mein Häuflein übersah und seine Toiletten musterte, kam es mir gar zu drollig vor, wie wir Alle aussahen, und ich konnte mich nicht enthalten, darüber laut aufzulachen. Katharina hob sich halb verwundert, halb unwillig empor und rief mir zu: „Regler! Mann! Ferdinand! Bist Du denn wirklich von Sinnen gekommen, daß Du bei all dem Herzleid noch lachen kannst?“ Ich aber trat zu ihr hin und rief: „Sei getrost, mein liebes Weib! Ich habe meine fünf Sinne wirklich noch beisammen! Aber so, wie es nun mit uns steht, was kann ich da Klügeres thun, als lachen? – Habe ich nicht Recht gehabt, als ich sagte, es sei ein Trost, daß uns doch etwas übrig geblieben war? Und habe ich nun nicht wieder Recht, wenn ich sage, es ist ein Trost, zu wissen, daß wir nun gar nichts mehr haben? Was macht dem Menschen mehr Sorge, als zu erhalten, was er hat? Siehst Du, davon sind wir gründlich geheilt. Das Glück kann nun jeden Augenblick kommen und uns zu sich in sein Schiff nehmen, das Gepäck wird uns wenig Kummer machen!“
Das Glück kam aber nicht, sondern ein Trupp Franzosen um den andern, und keiner unterließ, uns seinen Besuch zu machen. [754] Sie nahmen an der Kahlheit unseres Salons nicht nur keinen Anstoß, sondern fanden denselben und unsere Toilette hie und da noch zu luxuriös, und überzeugten uns praktisch, wie wenig davon ganz unentbehrlich ist.
Darüber mochte es Mittag geworden sein, und der ungestümste aller Mahner und Gläubiger, der Magen – hier in einem ansehnlichen Pluralis vertreten – begann seine Befriedigung immer dringender zu fordern. Als es etwas ruhiger geworden war, machte ich mich aus unserm Versteck heraus und ging auf’s Fouragiren aus. Bei der Bäuerin war wenig mehr zu haben, denn auch ihr waren Kisten, Kasten und Truhen geleert worden. Sie wischte sich die Augen mit dem Rücken der Hand aus – mit dem Schürzenzipfel konnte sie nicht, weil sie keine mehr besaß. „Geben kann ich Euch nichts,“ sagte sie, „Ihr müßt halt suchen, wo Ihr noch was findet!“ – Ich ging also mit Hansen auf Entdeckungsreisen aus und war so glücklich, einen Brodwecken zu erwischen, den ein Franzose im Uebermuthe wieder weggeworfen haben mußte, denn er lag seitwärts vom Wege im Schmutz. Hans war im Stadel herumgekrochen und hatte das improvisirte Nest einer Henne entdeckt, mit einer Anzahl Eier gefüllt. Damit war für den Hunger gesorgt; wie triumphirend kamen wir mit unserer Beute herbei, und im Augenblick hatten die Frauenzimmer wie in ruhiger Zeit das Geschäft übernommen, den Tisch zu beschicken. – Wie es nun immer geht, daß man sich mit dem, was man hat, nicht begnügen will, kam mir der Gedanke, daß wir die Eier ohne Salz essen sollten, und ich sprang daher nach der Küche hinüber, uns diesen Luxus zu verschaffen.
Damit aber war uns, oder wenigstens mir, die ganze Mahlzeit versalzen. Kaum setzte ich den Fuß aus der Küche wieder heraus, als mir der dicke Bierbrauer Waninger um den Hals fiel und mich an seine Brust oder eigentlich an seinen Bauch drückte, daß mir fast der Athem ausging. „Gott sei Dank!“ rief er dabei ein über das andere Mal, „Gott sei Dank, daß ich Sie antreffe, verehrtester Herr Controlor! Ich habe eine schwarze Henne zur heiligen Mutter Anna verlobt, wenn ich Sie finde!“ Mir ahnte schon nichts Gutes, denn hinter dem Dicken sah ich ein Piquet Grenadiere stehen, die er sich offenbar nicht aus Spaß zur Begleitung erbeten hatte. Ehe ich aber zu fragen vermochte, war ich vollständig aufgeklärt. „Der Marschall Massena ist unten in der Stadt,“ fuhr Waninger fort, indem ihm fortwährend die Thränen über die runden Backen kugelten. „Er ist beim Weißmannbräuer einquartiert und ist außer sich vor Wuth, daß Niemand von den Beamten aufzufinden ist. Er will den Maire haben, denn wir sollen Contribution zahlen, und wenn er in einer Stunde nicht gefunden ist, will er die Stadt der Erde gleich machen und Alles über die Klinge springen lassen. Ich Mann des Unglücks habe ein Wörtchen davon fallen lassen, daß ich Sie gestern Abends noch in der Stadt gesehen habe, und seitdem habe ich diese sechs Teufel hinter mir, die mich nicht eher loslassen, bis ich den Herrn Amtscontrolor zur Stelle geschafft habe.“ „Herr,“ fuhr ich auf ihn los, „für den Freundschaftsdienst danke Ihnen der Teufel! Was soll ich bei dem Marschall in der ausgeraubten und ausgebrannten Stadt? Sagen Sie nur um Himmelswillen, wie Sie mich ausgekundschaftet haben!“
„Ach, verehrlester Herr Controlor,“ entgegnete Waninger schluchzend, „werfen Sie deshalb keinen Groll auf mich – ich bin ja selbst nur ein willenloses Werkzeug! Auf die Spur aber hat mir Ihr isabellfarbener Ueberrock geholfen. Es trägt Niemand einen solchen in ganz Schärding, und wie ich in stiller Verzweiflung meine Grenadiere da auf’s Gerathewohl vor’s Thor hinaus spazieren führte, da kam mir ein Franzose mit Ihrem Ueberrock entgegen. Den ließ ich durch meine Schutzengel festhalten, bis er gebeichtet hatte, und aus seiner Beschreibung errieth ich bald, Sie könnten nach der Waitzenau geflüchtet sein. Aber nun kommen Sie nur – es hilft doch einmal nichts, also wollen wir immerhin zusammen in den sauren Apfel beißen!“
Dagegen ließ sich in der That nichts einwenden; auch hatten die Grenadiere bereits begriffen, daß ich der Gesuchte sei, und nahmen mich und Waninger in die Mitte, uns abzuführen. Mit knapper Noth gelang es mir, ihnen begreiflich zu machen, daß ich ohne Stiefel den nassen Weg in die Stadt nicht machen konnte; aber sie wußten Rath, und im Nu hatte ich ein Paar vollkommen wasserdichte Holzschuhe an den Füßen.
Inzwischen war den Meinigen mein langes Außenbleiben aufgefallen; sie suchten mich und kamen nun in weinendem Chore herangestürzt. Das war nun allerdings das Schwerste, was uns getroffen hatte, denn bis dahin waren wir noch Alle unversehrt und vereinigt geblieben. Zudem konnte man nicht wissen, ob und wann ich wiederkommen würde, denn es war nichts Seltenes, daß die Beamten aufgehoben und in entlegene Länder geschleppt wurden, von wo sie gar nicht mehr oder erst nach Jahren zum Vorschein kamen. Auch mir konnte ein solches Loos bestimmt sein; meine Katharina und die Kinder hingen daher an mir, als ob es einen Abschied für’s Leben gelte. Auch mir ging es sehr nahe und ich fühlte, wie mir die Thränen über das Herz herauf schwellen wollten, aber ich drängte sie mit dem Gedanken zurück, daß wir Alle untersinken würden, wenn nicht wenigstens ich den Kopf über dem Wasser behielte. „Beruhigt Euch,“ rief ich, „mir wird kein Leid geschehen! Ich fürchte mich vor dem Marschall nicht, und Ihr sehr nun erst, welch’ angesehener Mann Euer Vater ist, daß ihn ein so großer Herr wie eine Stecknadel suchen läßt. Und dann – so lange Alles drunter und drüber ging, war von Amt und Geschäft keine Rede mehr – aber nun ist Alles ruinirt, da haben wir hinterher vollauf zu thun, und es ist nur meine verfluchte Schuldigkeit, wenn ich gehe. Dabei kann es nie sehr weit gefehlt sein!“
Aber was ich sagte, wollte nicht verfangen, vielleicht weil man dem Redenden anhörte, daß ihm dabei auch nicht ganz wohl zu Muthe war. Zuletzt machten die Grenadiere der Sache ein Ende, indem sie mich und Waninger zum Aufbruch zwangen. Ich schritt mit einer Empfindung hinweg, die sich nur fühlen, nicht beschreiben läßt; aber ich winkte immer mit lachender Miene zurück, so lange ich die Meinigen sehen konnte. Die hingen an einander erstarrt wie ein Bienenschwarm, den beim ersten zu frühen Ausflug der Nachtfrost erreicht hat.
Eine halbe Stunde später schritten wir dem Weißmann’schen Brauhause zu, das so unversehrt dastand, als ob den Tag zuvor anstatt Kugeln Schneeflocken gefallen wären. Das kam aber daher, weil Marschall Massena, als er 1805 in Schärding war, in diesem Hause gewohnt hatte und von den Bräuersleuten, wie auch von der schönen Tochter überaus gut und freundlich bewirthet worden war. Dafür war er so artig und befahl den Kanonieren in diese Richtung nicht zu schießen. Dafür erhielten die übrigen Häuser die verdoppelte Ladung, aber Massena’s frühere Wohnung sammt dem Capuzinerkloster daneben blieb verschont.
Darum herum, im Hofe, im Erdgeschoße und auf den Treppen wimmelte es von Soldaten. Viele drängten sich an uns heran, während wir hindurch marschirten, verhöhnten uns und machten drohende Gebehrden. Ohne Zweifel hielten sie mich für einen Spion, der aufgeknüpft werden sollte, oder wohl gar für den Unglücklichen, der den verhängnisvollen Schuß auf den Parlamentär abgefeuert hatte. Oben auf der Treppe angelangt, wurden wir von unserer Escorte einem Adjutanten übergeben, der sogleich mit uns in den Saal eintrat und uns vor oder richtiger hinter den Marschall führte. Dieser saß an einem mit Karten und Papieren überdeckten Tische, eben beschäftigt, eine Flasche Rothwein zum Dejeuner zu leeren. Er wendete uns den Rücken zu, ich aber sah sein Angesicht in dem gegenüber angebrachten hohen Pfeilerspiegel. Als der Adjutant rapportirte „Monsiour l’a-djoint du maire de Schaerding,“ sah ich, daß der ausdrucksvolle, von dichtem schwarzem Haar umgebene Kopf plötzlich zinnoberroth und dann kirschbraun wurde vor Zorn. Indem der Marschall aufsprang, sah ich schon ein gewaltiges Ungewitter über mich ausbrechen, aber wie er sich umwandte und mich erblickte, zuckte es hell über das dunkele Gesicht, das einen wohl in Verwirrung setzen konnte durch die strengen Züge und das wilde, flackernde Auge. Er lachte und rief, ob das die Robe sei, in welcher hier zu Lande die Maires erschienen. Ich sah allerdings befremdlich aus, denn ich hatte nichts am Leibe als Hosen und Hemd, war barhäuptig, und die Holzschuhe vollendeten meine Toilette in würdiger Weise. Als mir Waninger, der das Französische nothdürftig ratebrechte, die Frage verdeutscht hatte, war all meine Befangenheit verschwunden. Ich verbeugte mich mit allem möglichen Anstande und erwiderte: „Nein, Herr Marschall, das ist die Uniform, die uns Ihr Kaiser hat anziehen lassen!“ Der Marschall schien auf meine Antwort gespannt, denn er blickte fest auf den dolmetschenten Bierbrauer, der aber keines Worten mächtig dastand und sich den Angstschweiß von der Stirn trocknete. „Aber um aller Heiligen willen, verehrtester Herr [755] Controlor,“ jammerte er, „das wage ich nicht zu übersetzen! Das brächte Sie und mich in’s Unglück!“ Ich zuckte die Achseln; der Marschall aber, ungeduldig über die Zögerung, rief einen jungen Officier herbei, welcher meine Antwort übersetzen mußte. Als er sie vernommen, maß er mich einen Augenblick vom Kopf bis zum Fuß und ließ mir dann durch den Officier sagen, ich sei sehr kühn, aber er verzeihe mir, denn er sehe wohl, daß mir übel mitgespielt worden sei. Darauf ward mir bedeutet, mich niederzusetzen und zu schreiben, was mir dictirt würde. Es war das Verzeichniß der Lebensmittel, die ich binnen zwölf Stunden herbeischaffen sollte, und einer Kontribution an Geld. Anfangs schrieb ich geduldig, was mir Waninger seufzend verdolmetschte, denn da der junge Officier abgetreten war, mußte er wieder das gefährliche Amt übernehmen. Als aber die Zahlen gar kein Ende nahmen und alle zahmen Thiergattungen, wie sie kaum in der Arche Noah gewesen sein mochten, gleich nach Tausenden verlangt wurden, fing ich an auf meinem Sitze hin und her zu rücken und vernehmlich zu brummen. „Sagen Sie dem Herrn Marschall,“ rief ich dem entsetzten Waninger zu, „ob er mich für einen Taschenspieler hält, der Tauben und Meerschweinchen aus seinem Hute herauszaubern kann?“ Der unglückliche Dolmetscher bebte am ganzen Leibe.
„Das getraue ich mir nicht zu sagen – das lassen Sie sich von Jemand Anderem übersetzen!“ Dies Zwiegespräch wurde anscheinend unmerklich eingeschaltet, denn Massena fuhr fort im Saale auf und ab zu schreiten und zu dictiren. Ich sah ihm aber wohl an, daß ihm unsere Zwischenbemerkungen nicht entgingen. Zuletzt kam die Contribution. Bis kommenden Tag Mittags 12 Uhr sollten achtzigtausend Gulden baar erlegt sein. Das wart mir zu viel. „Das schreibe ich nicht!“ rief ich unmuthig und warf die Feder auf den Tisch. „Das heißt mit unserm Elend noch Spott treiben! Sagen Sie dem Longinus da, der herumsteigt wie der Hahn im Werg, daß ich das nicht schreibe!“ Der Dolmetscher war starr; Massena aber stand mit zwei gewaltigen Schritten hinter mir und gab mir einen derben Schlag auf den Rücken. „Est ce que vous êtes fâché, monsieur?“ rief er mit blitzenden Augen, als habe er nichts Geringeres vor, als mich in der Mitte abzubrechen.
War ich zuvor schon aufgeregt, so stieß die erlittene Mißhandlung dem Fasse vollends den Boden aus. Zornglühend sprang ich auf und trat vor den Marschall hin, der unwillkürlich einen Schritt zurück machte. „Ja,“ rief ich und vergaß im Eifer ganz, daß mich der Marschall nicht verstand, „Ja, ich bin fâché! Ich bin es als Beamter Sr. Majestät des Kaisers von Oesterreich nicht gewohnt, mit Schlägen tractirt zu werden! Das mag bei Ihnen Sitte sein; bei uns nicht, Herr Marschall! – Ja, ich bin entrüstet und scheue mich nicht, es zu zeigen! Es ist geradezu Hohn, mit dem Elend, in das Sie uns versetzt haben, von uns eine solch’ ungeheuere Summe zu verlangen. Ebenso gut könnten Sie fordern, ich solle bis morgen Mittags 12 Uhr die zusammengeschossene Stadt wieder aufbauen! Es ist Hohn mit unserer Armuth, diese Lieferungen zu verlangen, jetzt, nachdem Ihre Horden Alles ausgeplündert und kaum eine Klaue übrig gelassen haben! Es ist Hohn, Lieferungen zu fordern, die man kaum in Friedenszeiten und beim größten Ueberflusse aufbringen könnte, und es ist noch der größte Hohn, daß ich sie liefern soll, ohne alle amtliche Hülfsmittel und binnen einer Zeit, die nothwendig einen Hexenmeister voraussetzt. Wenn es auf die armen Schärdinger denn doch einmal abgesehen ist, so machen Sie ihnen rasch und ohne Flausen den Garaus! Und mich, der Ihnen die Wahrheit gesagt hat, und den Sie doch schon einmal ruinirt haben, mich lassen Sie füsiliren, damit mein Weib zur Wittwe und meine Kinder zu Waisen werden … und damit bin ich zu Ende!“
Der Marschall war während meiner ganzen Standrede unbeweglich geblieben und hatte kein Auge von mir verwandt. Dolmetscher Waninger war vor Schrecken halb ohnmächtig in einen Stuhl gesunken; die dienstthuenden Officiere und Soldaten standen lautlos an den Wänden herum, unter ihnen der junge Lieutenant, der schon einmal als Uebersetzer gedient hatte und jetzt zurückgekommen war. Diesem winkte Massena vorzutreten und befahl ihm, was ich gesagt hatte, auf’s Genaueste zu übertragen. Ich hätte es aus seinen Gebehrden entnehmen müssen, wenn ich auch noch weniger französische Worte verstanden hätte, als ich wirklich verstand. Der junge Mann gehorchte mit sichtbarem Widerstreben.
Als er geendet hatte, sah mich der Marschall noch einen Augenblick durchdringend an. Dann trat er näher vor mich hin, legte mir die Hand auf die Schulter und hielt, als wenn er sich revanchiren wollte, eine Gegenrede an mich hin. Auch ohne Waninger’s Hülfe, der diesmal sich nicht im Mindesten scheute, begriff ich den Inhalt. „Sie sind ein braver Mann,“ sagte. „Sie haben Muth; ich liebe das und sehe es gern, wenn man mir unumwunden seine Gedanken sagt. Zum Beweise dafür und zum Beweise, daß wir nur thun, was wir thun müssen, erlasse ich der Stadt die Contribution. Von den Lebensmitteln liefern Sie die Hälfte. Ich stelle Ihnen genügende Mannschaft zur Disposition – können Sie das in 24 Stunden schaffen?“
Diesen Ausgang hatte weder ich, noch Einer der Anwesenden erwartet. Alle athmeten in einer angenehmen Empfindung aus, ich aber faßte ohne Umstände des Marschalls Hand, schüttelte sie und dankte ihm ordentlich gerührt, weil er mich dafür, daß ich meine Schuldigkeit gethan, nicht bestrafte und so freundlich war, uns einen Theil von dem zu schenken, was uns ohnehin gehörte. Aber so ist der Mensch, wenn die Gewaltigen der Erde ihre Macht auch mißbrauchen, er erträgt es, so lange ihm ein Winkel gelassen wird, in dem er behaglich niederkauern kann. Erst wenn die Meute des Uebermuths ihn auch da aufstört, zeigt er Krallen und Zähne.
Der Marschall ging; ich ward in ein anderes Zimmer gebracht und mir bedeutet, meine Arbeiten zu beginnen. Ich that es so gut als möglich aus dem Kopfe, da alle Verzeichnisse und Register mit dem Landgericht in Rauch aufgegangen waren. Inzwischen ward von allen Seiten für meine Bequemlichkeit gesorgt: statt der Holzschuhe erhielt ich ein Paar abgeschnittene Reiterstiefel aus der Garderobe des Marschalls, und auch mein isabellfarbener Ueberrock, der an mir zum Verräther geworden, wurde ausgekundschaftet und mir wieder ausgeliefert. Auf des Marschalls Befehl wurde mir eine ausgesuchte Mahlzeit mit Wein aus seinem eigenen Flaschenkeller servirt. Der junge Adjutant, der mir halb zur Beschleunigung meiner Arbeit, halb als Wache beigegeben war, munterte mich auf, zu genießen – ich konnte ihm aber nicht Bescheid thun. Der Wein krampfte mir die Kehle zusammen, denn ich dachte an meine Kinder und an mein gutes Weib und an all die Bedrängnisse, denen sie vielleicht ausgesetzt waren. Aber auch dafür ward Rath. Ich hatte nur einige Worte über ihre Lage gesprochen, als mir der Adjutant anbot, meine Familie im Hause unterzubringen. Wenige Minuten nachher machte sich eine Ordonnanz mit einigen Zeilen von mir nach der Waitzenau auf den Weg, und ehe eine Stunde verging, sah ich die kleine Karawane wohlbehalten und unter dem Freudengeschrei der Kinder ihren Einzug halten. Ich durfte nicht zu ihnen hinab, denn man schien immer ein wenig zu fürchten, daß ich eine Gelegenheit zur Flucht benutzen würde – aber vom Fenster aus konnte ich ihnen zurufen und zuwinken; sie sahen Alle gesund und freudig zu mir herauf, die zwölf Kinderaugen und die meiner Katharina, wie Sterne, nur mit dem Unterschiede, daß ich in diesen Himmel hinab statt hinauf sehen mußte.
Sie wurden gegenüber in einem großen Zimmer im Nebengebäude einquartiert, und in freien Augenblicken konnte ich mein Herz damit stärken, daß ich hinüber sah und mich überzeugte, daß es ihnen an nichts mangelte. Sie hatten sogar einige Bettstücke und waren verhältnißmäßig sehr comfortable untergebracht. Auch mein betrübtes Lieferungsgeschäft ging mit Hülfe einiger Bürger, die sich unter meine Aegide geflüchtet hatten, über Erwarten gut von statten. Massena bezeigte mir seine Gunst auf jede Weise, ich ward täglich an seine Tafel gezogen und war hie und da so glücklich, einem Bedrängten durch mein Fürwort behülflich zu sein. Am vierten Tage waren die beabsichtigten Truppenbewegungen alle ausgeführt; auch der größte Theil der Lieferungen war da. Der Marschall beschloß daher aufzubrechen. Das geschah aber so unvermuthet, daß ich in dem unvermeidlichen Gedräng und Getreibe vergaß, mir von meinem Gönner eine Sauvegarde gegen die immer neu nachrückenden Truppentheile geben zu lassen. So zog er denn ab, ohne daß ich ihn nochmals sprechen konnte; im Vorbeireiten jedoch bemerkte er mich, und rief mir mit freundlichem Winke zu, daß ich bald von ihm hören solle.
Nun war es mir wieder gestattet, bei den Meinigen zu sein und mich mit ihnen des Wiedersehens zu erfreuen. Abgesehen davon begann aber für uns Alle eine neue und trübseligere Zeit, als wir sie schon durchlebt hatten. Daran waren zwei Dinge schuld. –
[756] Einmal war das Weißmann-Brauhaus das einzige Gebäude, das unversehrt geblieben war, daher stürmte Alles, was Unterkunft suchte und bedurfte, dahin zusammen – zum andern rückten fast jede Stunde neue Abtheilungen des französischen Heeres nach, die ebenfalls alle nicht den Ruinen und Brandstätten, sondern den bewohnten Oertern zueilten.
Bei dem Andrange der Obdachlosen und Flüchtigen konnten wir nicht umhin, den Einen oder Andern in unser ohnehin nicht sehr geräumiges Gemach aufzunehmen; das wiederholte sich aber öfter, und bald wurden wir ebenso wenig als der Hauseigenthümner gefragt, ob wir sie herein lassen wollten. Sie drängten sich eben herein, als wären sie alle auf einem im Untersinken begriffenen Schiff und unser Zimmer wäre das Boot, in das sich die Mannschaft flüchten müßte. Wäre es wirklich ein Boot gewesen, so wäre es schon am ersten Tage untergegangen oder umgeschlagen vor Ueberfüllung. Von Wohnen war nicht die Rede; wir lehnten nur an einander, und der war glücklich, wer eine Stelle an der Wand oder in einer Fensterbrüstung eroberte, wo er doch einige Stütze und die Möglichkeit des Ausruhens fand. Ein eroberter Stuhl, ein Tisch bildete den häuslichen Mittelpunkt einer Familie, der sorgfältig bewacht und mit schonungsloser Erbitterung vertheidigt wurde. Zu schlafen war den Meisten nur möglich, indem sie stehend an einander lehnten oder auf die Füße mühselig zusammen kauerten. In diesem Elend des Aufenthalts kam noch der Mangel an Nahrungsmitteln. Das Aermlichste und Ungenießbarste wurde wie ein Leckerbissen geachtet, und wer ihn durch Zufall oder auf andere Art errang, mußte auf der Hut sein, daß er ihm nicht von einem Rohern und Stärkern, den der Hunger zum Räuber machte, gewaltsam wieder entrissen wurde. Ich hatte mich mit den Meinigen zuletzt in den Winkel am Ofen zurückgezogen, hauptsächlich, weil unter den Füßen desselben die Kleinern, besonders bei Nacht, untergebracht werden konnten, ohne zertreten zu werden. Von dort aus konnte ich das entsetzliche Treiben wie aus einer Art Versteck betrachten. Ich konnte von da einen Blick thun in die Höhen und Untiefen des menschlichen Herzens, wie man von einem Bergrücken aus die weite Landschaft mit Bergen nur Thälern ausgebreitet sieht. Ich sah zwei Brüder, eisgraue Männer, die seit Jahren als Hagestolze miteinander ein ansehnliches Handelsgeschäft betrieben, sich wegen eines Stückes Fleisch in den Haaren liegen und erbittert miteinander kämpfen, bis der Eine ermattet und dem Verschmachten nahe zusammensank; aber ich sah auch eine Tagelöhnersfrau, die das Geschirr mit wärmender, im Capuzinerkloster erbettelter Suppe begierig an den Mund setzte, aber sogleich abbrach und sie einer andern Frau hinüberreichte, blos weil diese noch kränker und elender aussah, als sie selbst. Ich bemerkte einen jungen Mann, der mit thierischer Gier ein großes Brod verschlang, ohne auch nur einen Bissen seinem Weibe anzubieten, die vor Mattigkeit halb ohnmächtig am Boden lag; aber ich sah auch eine Frau, die den letzten zur nothwendigen eigenen Stärkung aufgesparten Schluck Wein einem unbekannten und ihr wildfremden Kinde gab, das sie mit verlangenden Augen angesehen hatte. Die das that, war meine Katharina.
Wir hatten in unserer Ecke mit unserem Vorrath trefflich hausgehalten, obwohl wir damit gegen unsere Leidensgefährten nicht gekargt hatten. Eine Hauptrolle spielten dabei einige Flaschen Rothwein, die letzten thatsächlichen Erinnerungen an Massena’s Gewogenheit. – Ich hatte anfangs gedacht, sie für äußerste Fälle aufzusparen; darum schien mir das Schürloch des von innen heizbaren Ofens der passendste Versteck dafür zu sein. Als ich aber eines Morgens nach meinem Schatze sah, fand ich, daß ein durstiger Nachbar gegenüber eine Ofenkachel ausgehoben und meinen Reichthum zu sich hinüber escamotirt hatte. Im ersten aufflamenden Zorn rannte ich um den Ofen herum, um ihn zur Rede zu stellen – aber ich war entwaffnet, als ich ihn sah. Er hatte es nicht einmal der Mühe werth gefunden, seinen Raub zu verbergen; bemeistert von dem vielleicht nie genossenen Getränke lag der Mann, ein ehrsamer Knopfmacher seines Zeichens, die leere Flasche in der Hand, im entzückten Schlafe da – neben ihm seine Lebensgefährtin, in deren Schooß eine zweite Flasche bewies, daß sie nicht gezaudert hatte, das Lebensschicksal des Gatten zu theilen, lächelnd trat ich zurück und war froh, daß eine etwas beiseite gekollerte Flasche dem einträchtigen Ehepaar entgangen war. Diese hatte ich nun wie ein Heiligthum bewahrt und wollte Katharinen das letzte Restchen reichen, die, noch immer vom Fieber geschüttelt, dessen am meisten bedurfte. Da erblickte sie neben uns ein Kind, ein Mädchen von kaum fünf Jahren, das, schwächlich gebaut, den Entbehrungen zu erliegen schien. Es war geraume Zeit im Zustande tiefen, betäubungsähnlichen Schlafs gelegen, und seine Augen hingen nun unwillkürlich, aber mit unverkennbarer Begier an dem gefüllten Glase. Als es getrunken hatte, neigte es das Köpfchen wie verklärt auf die Seite und entschlief wirklich, vielleicht weniger wegen des genossenen Weines, als weil ihm sein Wunsch erfüllt worden war.
Zu allem Leiden kam noch, daß in der Enge des Zimmers und in der abgeschlossenen Luft auch die Gesundheit leiden mußte. Ueber achtzig Menschen waren darin eingepfercht, ein Drittel davon war krank, und es verging kein Tag, wo nicht mitten unter uns der Tod sich seine Opfer holte. Es war ein eigenthümliches ernstes Gefühl, immer das Sterben so als Wandnachbar zu haben und die letzten schweren Seufzer zu hören, und doch ist es im Leben überall und zu jeder Minute nicht anders! Aber eine vorsichtige Hand hat uns all das auseinander und in die Ferne gerückt. Wäre das Leid jeder Stunde in der Welt in eine Stube zusammengedrängt, so wäre in keiner für das Lächeln eines Säuglings Raum.
Das Entsetzliche unserer Lage wurde durch die ununterbrochen nachrückenden Franzosen in’s Unglaubliche gesteigert. Die später kamen, wurden immer wilder und erbitterter als die früheren, denn sie waren alle beutelustig und doch fanden sie bei uns nichts mehr, sie hätten uns denn ausgezogen bis auf die Haut. Darüber ließen sie ihren Unmuth in Mißhandlungen aus: sie stießen mit den Bajonneten in die eingekeilte Menge, die nicht auszuweichen vermochte. Alle Augenblicke knallte ein Schuß, und die Kugel fuhr sausend über unseren Köpfen an die Wand, schwere Steine schmetterten in den Menschenknäuel; Jammergeschrei, Wehklagen und weinendes Gebet bezeichneten jeden Wurf.
Es war unmöglich, länger so auszuhalten. Zu dieser Ueberzeugung hatte ich mich zuvor allein aufgemacht, um eine andere Unterkunft zu suchen, und es gelang mir, eine solche in dem Landgerichtsgebäude zu finden. Ein Gewölbe des Erdgeschosses hatte dem Brande widerstanden und bot eine ebenso abgelegene als sichere Zuflucht. Fliegenden Schritts kam ich zurück, um die Meinigen dahin abzuholen.
Wir waren schnell marschfertig. Kaum waren wir aber aus dem Zimmer in den Hofraum herausgetreten, als wir uns von einer halb betrunkenen Soldatenschaar umringt sahen. Diese hatten sich ein großes Lagerfaß mit Bier aus dem Keller herausgewälzt, den obern Boden eingeschlagen und schöpften nun achtlos und in verschwenderischem Uebermaß mit Schüsseln, Häfen und Geschirren aller Art den ungewohnten Trank, dessen Wirkung sich bald fühlbar machte. Die Einen lagen singend und zechend am Boden herum. Andere hatten sich zu einem wüsten und ausgelassenen Tanze zusammengefunden, und wieder Andre hatten sich weitere Kurzweil ersonnen. Aus der Capuzinerkirche hatten sie die Fahnen herbeigeschleppt und schritten nun damit in wilder Procession tobend und johlend im Hofe herum, hinter sich die Tumba, auf welche sie ein geschlachtetes Schwein ausgestreckt hatten und psalmodirend herumtrugen.
Der Ueberfall, den wir erlitten, galt Constanzen, deren Schönheit den wüsten Gesellen aufgefallen war. Ein wüster, bärtiger Dragoner riß sie von Katharina’s Arm, drückte sie ungestüm an sich und wollte sie küssen. Das Mädchen aber schleuderte ihn mit einer Kraft, die man ihr nicht zugetraut hätte, von sich, daß er taumelte und beinahe zu Boden fiel. Das machte ihn um so begieriger und die Uebrigen wüthend. Schreiend hielt uns die ganze Schaar umringt, während der Dragoner mit Constanzen rang und sie an sich zu reißen versuchte. Der Uebermuth, schrie er, müsse gezüchtigt werden! Nun begnüge er sich nicht mit einem Kusse, sondern das Mädchen müsse ihm ganz angehören und ihm folgen. Wiehernder Beifall seiner Cameraden begleitete seine Worte. Vergebens bemühte ich mich, meine Tochter aus den Klauen des Unthiers zu befreien, vergebens weinte und flehte meine Katharina – vor unsern entsetzten weinenden Augen sahen wir das arme Mädchen im Nu durch ein Dutzend roher Fäuste von uns gerissen und durch die höhnende Schaar von uns getrennt. In ohnmächtiger Verzweiflung raufte ich mir das Haar, im herzerreißendsten Tone erscholl die Stimme Katharina’s: „Mein Kind! Constanze! Laßt mir meine Constanze!“ – Da, im entscheidenden Augenblicke, tönte
[757]hinter dem Rücken der Soldaten ein starkes männliches „Halt“. Es war eine Stimme, der man es mit dem ersten Laute anhörte, daß sie gewohnt war zu gebieten und ihrem Gebote gehorcht zu sehen. Betroffen und ernüchtert wichen die Soldaten zurück, und der Rufende, ein junger Mann in Obersten-Uniform, stand vor uns. „Mein Herr,“ sagte er zu mir mit echt deutschem Accent, „Ihre Fräulein Tochter heißt Constanze? Darf ich mir Ihren Familien-Namen erbitten?“ – „Nun,“ fuhr er fort, nachdem er denselben gehört hatte, „was kommt Euch in den Sinn, Kameraden, diese Dame zu beleidigen? Sie ist eine der Unsrigen, die Verlobte eines Eurer tapfersten Officiere!“ – Wie auf ein Zauberwort machten die Dragoner nach allen Seiten Platz, und der Eine von ihnen, ein riesenhafter Wachtmeister, faßte Constanzen an der Hand und führte sie mit steifer soldatischer Verbeugung an Katharina’s Seite zurück. – „Ich bin erfreut,“ fuhr der Officier fort, „daß ich Ihnen dienen und den Wunsch eines Freundes vollziehen kann. – Alphonse de Faure ist mein Jugendgespiele, mein Waffengefährte, mein Bruder; er hat mir erzählt, daß und wie er mit Ihrem Hause bekannt geworden, und hat mich beauftragt, Ihnen seine Grüße zu bringen, wenn mich das Kriegsgeschick nach Schärding führen sollte. – Ich bin hier,“ begann er wieder, indem er Constanzens Hand faßte und ihr einen schönen Ring mit einem blitzenden Edelstein an den Finger schob – „lassen Sie mich meinen Auftrag erfüllen. Mit diesem Ringe giebt Ihnen Alphonse Ihr Wort zurück: Sie sind frei und ungebunden, wie zuvor – er ist bei Eckmühl auf dem Felde der Ehre gefallen. In meinen Armen ging er hinüber, und der Gedanke an Sie, mein Fräulein, dieser Auftrag für mich war sein letztes irdisches Geschäft.“
So kurz unsre Begegnung mit dem Obersten gewesen war, fühlten wir uns alle von der unerwarteten Botschaft ergriffen – Constanze begann leise zu schluchzen. „Ich danke Ihnen für diese Thränen,“ fuhr der Franzose selbst ergriffen fort, „ich danke Ihnen im Namen unsres so früh geschiedenen Freundes. Sie haben ihn nur flüchtig gekannt. Aber seien Sie versichert, so oft Sie beim Anblick dieses Rings sich seiner erinnern, haben Sie eines tadellosen Ehrenmannes, eines edlen Herzens gedacht!“
Damit verließ er uns, und wir begannen, fortan unbelästigt, den Weg zu unsrer neuen Zuflucht fortzusetzen. Als wir eine Strecke gegangen waren, bemerkte ich erst, daß ein Dragoner mit voller Bewaffnung hinter uns herschritt. Auf mein Befragen erklärte er, er sei uns als Sauvegarde beigegeben und eine solche werde uns von diesem Augenblick an verbleiben.
So geschah es auch, und die nächsten Tage gingen in Ruhe vorüber, so weit sie unter unsern Umständen möglich, war. Endlich hörten auch die Durchzüge auf – wir waren endlich frei, und niemand hinderte die Bürger mehr, in den Ruinen ihrer Häuser sich neue Nester ihres Fleißes und ihrer Emsigkeit anzubauen. Alles war rührig, den Schutt wegzuräumen und daraus hervorzusuchen, was etwa der Gewalt des Feuers, mehr oder minder erhalten, entgangen war. Jede Kleinigkeit wurde mit Entzücken begrüßt [758] – war sie doch ein Angedenken frühern Besitzes und Glückes, und der Vorbote von künftigem. Das Leben begann in Allen wieder zu pulsen, denn die Triebfeder desselben war wieder in Thätigkeit – die Hoffnung! – Zuerst wurden die Werkstätten der dringendsten Bedürfnisse wieder hergestellt, die Backöfen, Metzgereien und Brauhäuser, und um den dreieinigen Kern schoß alles Uebrige krystallartig an. Mit der Sicherheit der Wege kam auch das Landvolk mit seinen geretteten Vorräthen wieder zu Markt, der Handel und Wandel ging seine Wege, und mit dem Verkehr waren auch dessen Verwicklungen wieder da. Der Landrichter, der sich noch zu guter Zeit geflüchtet, lag auswärts krank und konnte nicht zurück kommen; wohl oder übel mußte ich also selbst und allein, und, so zu sagen, aus dem Nichts zu amtiren anfangen.
Es vergingen aber mir wenige Tage, da bekam ich schwarz auf weiß den Beweis in die Hände, daß ich Recht gehabt habe, auch im größten Leid den Muth und meine Heiterkeit zu behalten. Ich erhielt meine Ernennung als Landrichter in Bayerbach, eine ebenso angenehme als einträgliche Stelle, in der ich hoffen durfte, die erlittenen Verluste wieder ersetzen zu können. Dolmetscher Waninger hatte überall ausgetrommelt, wie keck ich mit dem Marschall gesprochen hatte; das mochte in Wien bekannt geworden sein, und wie mich schon die Bürger mit Dank und Erkenntlichkeit überhäuften, ward mir auch diese Belohnung und Auszeichnung dafür zu Theil.
Wir standen eben an den Ruinen des Hauses, wo wir gewohnt hatten, und sahen zu, wie man das Kellergewölbe öffnete und ausgrub. Es war doch nicht ganz eingestürzt, die Bogen der einen Ecke hatten widerstanden, und so war uns ein beträchtlicher Theil nothwendiger Dinge, hauptsächlich Kleider und Wäsche, wiedergegeben. Die Freude darüber wurde zum Entzücken, als ich das schicksalwendende Blatt entfaltete. Mit dem einen Arm hielt ich es jubelnd empor, mit dem andern schloß ich meine Katharina an’s Herz, um uns herum die freudeweinende Schaar unserer Kinder. Um die ganze Gruppe aber bildete sich im Augenblick durch die zusammenlaufenden Menschen ein weiter Ring – lauter Leute, die dann heran kamen, mir dafür dankten, daß ich die Brandschatzung von der Stadt abgehalten, und die mir mit Thränen in den Augen und mit warmem Händedruck versicherten, wie ungern sie mich von sich ließen!
Wir verließen Schärding einige Tage später, auf einem nothdürftig zusammengetriebenen Fuhrwerk, betrübt und doch freudigen Herzens! Hinter uns her schallte der herzliche Lebewohlruf der bittern, so schwer geprüften Schärdinger, und uns entgegen kam die Nachricht von der Schlacht von Aspern geflogen. Alle Glocken in den umliegenden Dörfern klangen zusammen, und unsere Herzen schlugen noch erhabener, denn wir durften doch hoffen, daß, wenn uns auch noch manche Prüfung auferlegt sein sollte, die deutsche Kraft sich endlich doch ermannen und zum Siege über die fremde Zwingherrschaft vereinigen werde!
So habe ich nun niedergeschrieben, was ich in jenen denkwürdigen Tagen erlebt und gesehen. Damit schließe ich für diesmal. Wie es mir von da an erging, und wie mich das Unglück noch tiefer zu stürzen vermocht, als ich damals gestürzt war, das will ich ein ander Mal erzählen, wenn ich Zeit und Gesundheit dazu habe. – Vielleicht – hoffentlich aber holen mich meine schon hienieden engelgleiche Constanze, mein munterer und so schwer heimgesuchter Fritz, meine gute, vielgeprüfte Lina bald nach. Hoffentlich kommen sie bald mit all den Edlen, die ich begraben sehen mußte, und führen mich hinüber, um mit meiner Katharina die goldene fünfzigjährige Hochzeit nachzufeiern – hier unten ward sie mir ja wenige Tage vorher entrissen!
Das Eine nur habe ich noch beizufügen, daß nach Jahren, als die Pfarrkirche von St. Johann in Schärding wieder aufgebaut war und eingeweiht werden sollte, die guten Schärdinger sich meiner erinnerten und mich zu diesem Feste einluden. Ich schlug es nicht aus; traf ich doch gar viele alte Bekannte, mit denen ich mich an die grauenhaften Stunden erinnern konnte, die wir durchgemacht hatten. Von außen waren nur wenige Spuren davon übrig geblieben; das Städtchen war neu und wohnlich ausgebaut, und das Leben bewegte sich darin, als wären jene schlimmen Tage nur ein Traum gewesen. Nur die Kirche von Sanct Sebastian lag noch in Ruinen und liegt so bis zur Stunde, ein ernstes Denkmal für den 26. April 1809 und das Bombardement von Schärding.“
Ein russischer Patriot.
Es sind neun bis zehn Jahre her, da begegnete man in London einer Reihe von Gestalten, die trotz des Zusammenflusses von Menschen aller Länder in der großen Weltstadt, sogleich auffielen und im Augenblick sich als Nicht-Engländer zu erkennen gaben. Es waren meist Männer mit langen Bärten, die man damals in England gar nicht trug, weshalb denn auch jene Leute der Gegenstand fortwährender, oft auf impertinent englische Weise kund gegebener Bemerkungen in den Straßen und an öffentlichen Orten waren. Seit dem Krimkriege haben die Engländer selbst die langen Bärte angenommen, und dieses Unterscheidungszeichen ist null geworden, auch haben jene Leute, die damals, von einer tiefen Aufregung ergriffen, sich theils feindlich, theils als völlige Neulinge dem fremden Lande gegenüber stellten, sich beruhigt, der Nothwendigkeit unterworfen und, wenigstens äußerlich, dem englischen Leben assimilirt.
Ich spreche von den Flüchtlingen der politischen Bewegungen von 1848, die aus allen davon ergriffen gewesenen Ländern sich auf dem gastfreien Boden Englands zusammen gefunden hatten. Im Anfang, noch erfüllt von dem kaum Geschehenen und noch der Hoffnung lebend, daß sich binnen Kurzem ähnliche erfolgreichere Versuche machen würden, bildeten diese Leute wirklich eine Art Vereinigung, ein Centrum eines politisch erregten Lebens, von dem aus sie auf die verlassene Heimath zurückzuwirken hofften. In diesem kleinen Kreise brüderlich vereinter Menschen, aus den wichtigsten Ländern Europa’s, dachten sie den Völkern, denen sie angehörten, ein Vorbild zu geben von der Verwirklichung des Traumes, den die Edelsten unter ihnen geträumt: die Aufhebung der trennenden Schranken nationaler Staaten und die Verbrüderung der verschiedenen menschlichen Gesellschaften in der Freiheit.
Die Hoffnung wurde zu nichte, die Geschichte ging einen andern Gang; jener Kreis löste sich auf, theils durch die Unmöglichkeit, daß Menschen lange zu einem Zweck verbunden bleiben, wenn dieser Zweck sich als unerreichbar in weite Ferne zurückschiebt, theils durch die Nothwendigkeit für die Einzelnen, sich eine Beschäftigung zu suchen, eine Stellung zu gründen, für sich und die Ihrigen Brod zu schaffen. So zerstreuten sich Alle hierhin und dorthin; die Meisten wurden gänzlich absorbirt durch die Sorge für die materielle Existenz; nur einige Wenige konnten, in besonderen Verhältnissen lebend, der unmittelbar politischen Laufbahn treu bleiben. Wer aber in jenem Kreise gelebt hat, wird nicht anders als mit lebhaftem Interesse der vielen bedeutenden Persönlichkeiten gedenken, die, durch gemeinschaftliche Ueberzeugung und gemeinschaftliches Unglück verbunden, selbst in England die lebhaftesten persönlichen Sympathien erregten. Manche von ihnen sind dem Auge entschwunden. Einzelne schon todt, Andere in fernen Ländern verschollen; Einige aber haben nicht aufgehört, die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen und durch eine weitgreifende Thätigkeit auf größere Kreise zu wirken.
Unter den Namen dieser Letzteren glänzt ganz besonders der von Alexander Herzen, der freilich, ein Russe von Geburt, nicht ganz unmittelbar in den Kreis jener Ereignisse hinein gehörte, aber doch durch eine lebhafte Parteinahme bei denselben zunächst sein Exil herbeiführte. Als sich im Sommer 1852 in den Flüchtlingskreisen in London die Nachricht verbreitete, Herzen werde nach London kommen, so erregte dies eine gespannte Erwartung, denn sein Name war erst kürzlich (den Deutschen wenigstens), aber gleich in entschieden bedeutender Weise, bekannt geworden. Es war nämlich 1850 ein Buch von ihm erschienen in deutscher Sprache, unter dem Titel: „Vom anderen Ufer“, in dem zum ersten Male der noch frische Schmerz der Enttäuschungen nach der [759] Revolution von 1848 seinen Ausdruck fand. Dieses Buch war ein Beweis, wie tief Herzen die Ereignisse jener Zeit mitgelebt hatte. Es war ganz unmittelbar unter dem vereinten Einfluß der drei hauptsächlichsten Erregungen geschrieben, welche damals die Seele jedes Edleren unter den Kämpfern für die Freiheit füllten: die Begeisterung für das künstlerische Ideal der Freiheit, der blutende Schmerz über die begangenen Fehler und Irrthümer und der heftige Skepticismus, der als eine gewaltsame Reaction der großen getäuschten Liebe nun an allem Erfolge zu zweifeln begann und die Lebensfähigkeit des westlichen Europas überhaupt in Frage stellte. Der lebhafte, mehr polemisch hinwerfende als theoretisch entwickelnde Styl, die kühne Schärfe des Gedankens, die vor keiner Consequenz; zurückscheute und unverzagt die Finger in die brennenden Wundenmale der Zeit legte, würden schon allein dem Buch eine große Wirkung gesichert haben; erhöht wurde dieselbe aber noch dadurch, daß der Autor ein Russe war und uns zugleich mit seinen Ansichten über den Westen den Blick in eine beinah gänzlich neue Welt eröffnete, wo nach seiner Meinung junge Kräfte unter eigenthümlichen gegebenen Bedingungen einer Entwickelung harrten, deren der Westen nicht mehr fähig schien.
Die Erscheinung Herzen’s hatte also von vornherein das doppelte Interesse, erstens in einem Russen (nur Bakunin war ihm darin vorangegangen) eine leidenschaftliche, thätige Theilnahme an den Freiheitsbewegungen in Europa zu finden, zweitens durch ihn Aufschlüsse und Vorstellungen von jenem ungeheuren Reich im Osten zu erhalten, dessen inneres Leben uns bisher beinah ganz verschlossen gewesen und nur seit wenigen Jahren durch Custine und Haxthausen in ungenügenden Umrissen bekannt geworden war.
Die persönliche Bekanntschaft mit ihm enttäuschte die Erwartung nicht, zu der sein Buch berechtigt hatte. Das kräftig männliche Aeußere, das ausdrucksvolle Gesicht, die schönen, ungewöhnlich treu alle Seelenstimmungen wiederspiegelnden Augen, die lebhafte, blitzende Weise, in der sich eine allseitige Bildung, eine scharfe Beobachtung und ein kühner, schöpferischer Geist sogleich im Gespräch offenbarten – alles dies mußte von vorn herein ein lebhaftes Interesse einflößen. Herzen ließ sich in London nieder. Er war eben von harten Schicksalsschlägen heimgesucht worden. In Zeit von wenigen Monaten war ihm seine Mutter, eine noch jugendlich kräftige Frau, sein zweiter Sohn und ein Freund durch einen schrecklichen Unfall, und in Folge dieses Unglücks seine Frau mit einem eben erst gebornen Kinde durch den Tod entrissen worden. Schwer gebeugt und durch trübe Nebenumstände mehr innerlich gekränkt und zerrissen, als die Welt, außer seinen intimsten Freunden, es ahnen konnte, zog er sich in eine fast völlige Einsamkeit zurück. Hier ging ihm, wie es allen edlen, gesunden Naturen zu gehen pflegt, die Nothwendigkeit auf, sich von der lähmenden Qual des Schmerzes durch eine That zu befreien, und er fing an, seine Memoiren zu schreiben, zunächst nur für seine Kinder und Freunde, dann aber wuchs aus den subjectiven Erinnerungen ein solcher Reichthum allgemeiner Beziehungen herauf, daß er fühlte, dies könnte ein mehr als persönliches Werk werden, und er beschloß, es dazu zu machen, wie er selbst in der Vorrede sagt. Dabei aber blieb er nicht stehen, sondern so wie er in den Memoiren von dem persönlichen Erleben den Blick zurückgewendet hatte auf allgemeine Zustände und Forderungen, insbesondre seines Vaterlandes, so beschloß er, nun auch sein vereinsamtes Leben auf’s Neue dem Besten dieses Vaterlandes zu weihen. Er gründete in London eine russische Presse, durch die er censurfrei die Blitze freier, aufklärender Gedanken nach Rußladt hineinschleudern und Alles das drucken konnte, was daheim unterdrückt wurde. Dadurch hatte er zwischen sich und seinem Vaterlande ein neues großes Band geknüpft, denn seit seiner lebhaften Theilnahme an den Pariser Ereignissen von 1848 war ihm die Heimath verschlossen. Aber freilich, ob das Unternehmen gelingen werde, ob es möglich sein werde, Schriften und Bücher solcher Natur nach Rußland hinein zu bringen, ob die Mittel eines einzelnen Mannes, der, wenn auch vermögend, doch kein Krösus war, hinreichen würden, ein derartiges Unternehmen bis zu einem möglichen Erfolge durchzuführen, ob endlich vor Allem seine Bemühungen in Rußland ein Echo und somit den wahren, lebendigen Wirkungskreis finden würden – Alles dies waren bedenkliche Fragen und erregten Zweifel bei Manchen, die dem Anfang der Sache zusahen. Aber Herzen zweifelte nicht. Mit der Zuversicht, ohne die nie ein großes und kühnes Werk gelingt, ging er an das seine. Er wußte es durch den sicheren Takt des genialen Menschen, daß er ein lebendiges Werk begann und daß ein tausendstimmiges Echo aus dem nur scheinbar schlummernden Rußland ihm antworten werde.
Merkwürdig und erfreulich war es, daß fast die Ersten, die sich um ihn bei diesem Werke schaarten und die er zur thätigen Theilnahme herbeizog, Polen waren. Eine der Haupttendenzen von Herzen war nämlich, daß das an Polen verübte Unrecht wieder gut gemacht werden müsse. Er war einer der ersten Russen, der dies öffentlich aussprach und den Polen die Hand zum brüderlichen Bunde reichte. Sein Drucker selbst war ein Pole, der sich dem Werk mit der größten Hingebung unterzog und jetzt als unabhängiger Eigenthümer an der Spike der Druckerei steht. Einer der edelsten unter den polnischen Flüchtlingen, Stanislaus Worcell (seitdem in London gestorben), begrüßte den Anfang dieses Unternehmens mit Freudenthränen. Bei zwei polnischen Meetings (das eine im Herbst 1853 zur Getächtnißfeier der polnischen Revolution, das andere im Frühjahr 1855 während des Krimkriegs) erschien Herzen auf der Tribüne vor einem zahlreichen Publicum und verkündete die Existenz eines nach Freiheit strebenden, den Polen brüderlich gesinnten Rußlands. Ganz besonders das zweite Mal erregte das Erscheinen dieses liberalen Russen zu der Zeit, wo England gerade Rußland bekämpfte, einen großen Enthusiasmus, und sein Auftreten war ein wahrer Triumph, denn bis dahin war das liberale Rußland im westlichen Europa und besonders in England fast noch nicht bekannt gewesen.
Man kann sagen, daß die politische Thätigkeit Herzen’s sich von Anfang an in drei großen Forderungen concentrirte: 1) die Vernichtung ber autokratischen und bureaukratischen Despotie, 2) die Abschaffung der Leibeigenschaft, 3) die Versöhnung mit Polen und die Emancipation desselben von der russischen Oberherrschaft. – Dies schienen ihm die lebendigen Fragen, um die es sich handelte, und es bewies große Mäßigung und großen politischen Takt, daß er, der theoretisch bis zu dem äußersten Forderungen des Socialismus geht, dabei stehen blieb. Hierin unterschied er sich von mehreren seiner politischen Glaubensgenossen und Mitexilirten, daß er die Freiheit nicht octroyiren wollte, daß er die Unmöglichkeit plötzlicher Uebergänge einsah. Was er verlangte, war die Decentralisation und die Autonomie der Provinzen; das größte Gewicht aber legte er stets auf die freie Entwickelung der tief im Volksleben wurzelnden nationalen Einrichtung der Gemeinde, die allerdings, weil sie auf gemeinschaftlichem Grundbesitz beruht, eine der wichtigsten Fragen der Zeit in sich schließt, ob es nämlich möglich ist, das Proletariat zu vermeiden oder nicht.
Gleich nach dem Tode des Kaisers Nicolaus, welches Ereigniß, wie Herzen hoffte, das Signal für’s Erwachen des russischen Volks sein würde, druckte er einen offenen Brief an den Kaiser Alexander, in welchem er ihn aufforderte, der Bringer einer neuen besseren Zeit für Rußland zu werden und vor Allem die Schmach der Sclaverei aufzuheben, die auf dem unglücklichen russischen Bauer lastete.
Zu gleicher Zeit schuf er ein periodisches Journal,unter dem Namen des „Nordstern“ (l’étoile polaire), zur Erinnerung an die fünf Märtyrer der russischen Revolution von 1825, die eine Zeitschrift unter demselben Titel herausgegeben hatten. In diesem Journal erschienen seine Memoiren in Lieferungen; sie erregten zunächst das persönliche Interesse, welches alle Memoiren haben, indem sie das Publicum mit der Jugend und dem Entwickelungsgang eines Mannes bekannt machten, der nun schon in mehrfacher Beziehung als eine bedeutende Persönlichkeit vor ihm stand. Die Schilderungen, welche er uns darin von seiner Jugend giebt, führen uns in Zustände ein, in denen eine geistig und physisch nicht ungewöhnlich kräftige Natur hätte untergehen müssen. Geboren in Moskau im Jahr 1812 wurde er als ein Säugling aus den flammenden Straßen von Moskau getragen, und französische Soldaten reichten ihm ein Stück Brot, weil die Amme durch den Schreck der Nahrung für ihn beraubt ward. Obgleich der Sprößling einer vornehmen russischen Familie, war seine Stellung doch der Art, daß sie früh in dem denkenden Knaben Betrachtungen entwickelte, die gewiß viel zu seiner späteren Geistesrichtung beitrugen. Er war nämlich in illegitimer Ehe geboren, und obwohl seine Mutter eine unendlich gute, von Allen, die sie kannten, hochgeachtete Frau war und sein Vater ihn außerordentlich liebte, so kamen ihm doch schon früh Aeußerungen zu Ohren, die in seinem jungen Kopfe ihre Arbeit thaten. Auch war der Charakter seines Vaters nicht geeignet, [760] die Jugend eines Kindes heiter und eben zu machen. Das Bild, welches Herzen von demselben entwirft, ist ein wahres, künstlerisches Meisterwerk und eines der gelungensten in dem an originellen Gestalten reichen Buche. Es ist ein Typus, dem man jetzt nicht mehr begegnen kann; noch die volle Tradition der legitimen Aristokratie mit ihrer äußeren Verfeinerung und ihrem bodenlosen inneren Egoismus, vereint mit großer geistiger Begabung, die aber von der Philosophie des vorigen Jahrhunderts nur den Skepticismus, die Ironie und die Menschenverachtung aufgefaßt hatte. In der Einsamkeit, die der fromm gewordene Epikuräer um sich schuf und in der er sich selbst mit halb eingebildeten Leiden, eine sanfte, geduldige Frau mit Launen und eine Dienerschaft mit Despotismus quälte, wuchs der lebhafte Knabe heran; in den dürftigsten Beziehungen zu der Außenwelt; halb verhätschelt, halb tyrannisirt; frühzeitig darauf hingewiesen, seine eigenen Hülfsquellen zu entwickeln, um dem düsteren Einerlei seines häuslichen Lebens zu entgehen. In dieser frühen, durch die Noth entwickelten Thätigkeit nahm wahrscheinlich Herzen’s Charakter diese schöpferische Energie an, die ihn auszeichnete und die ihm über manche schwere Augenblicke seines Lebens hinweggeholfen hat. Die ersten Flammen revolutionärer Begeisterung entzündeten sich in der Seele des vierzehnjährigen Knaben, als die mißlungene Freiheitsbewegung von 1825 mit dem Tode von fünf der edelsten, gebildetsten Männer Rußlands auf dem Schaffot endete, und seine erste politische That war ein Schwur, den Tod jener Märtyrer zu rächen, den er, zusammen mit dem kaum gefundenen ersten Jugendfreunde, auf einer Anhöhe bei Moskau vor dem Abendroth leistete.
Seine Studien an der Universität von Moskan wurden unterbrochen durch eine neunmonatige Untersuchungshaft wegen Theilnahme an der Bildung einer geheimen Gesellschaft, die nie stattgefunden hatte, und geendet mit einem mehrjährigen Exil in Perm, Wiätka und Wladimir, welches der Haft folgte. Noch während des Exils verheirathete er sich, lebte dann, als ihm die Rückkehr gestattet war, in Moskau, im Kreis seiner Familie und seiner Freunde und zog bald die Aufmerksamkeit des Publicums auf sich, durch eine Reihe von Artikeln und Schriften, die er veröffentlichte, theilweise abstrakten Inhalts, theils Novellen und ein Roman: „Wer ist schuld?“ der eine so glänzende Begabung des Autors nach dieser Seite hin bewies, daß man mit Recht bedauern muß, daß seine spätere Lebensrichtung ihn nie auf dieses Gebiet zurückkehren ließ.
Nach dem Tode seines Vaters begab er sich 1847 mit seiner Familie in das Ausland, hielt sich in Paris auf und erlebte dort die Ereignisse von 1848 mit. Dann ging er nach Italien, wo ihn die oben erwähnten harten Schicksalsschläge trafen, und seit 52 lebt er mit seinen drei übrig gebliebenen Kindern in England. Wer diese kurze Skizze seines früheren Lebens auszufüllen wünscht, den verweisen wir auf die Memoiren selbst, die in deutscher, französischer und, zum Theil wenigstens, in englischer Uebersetzung erschienen sind und dem Leser außer dem reichen, bewegten, lebendig colorirten Lebensbild auch die mannigfaltigsten allgemeinen Beziehungen mit Blicke in wunderbare, fremdartige Zustände gewähren. Wir aber wenden uns noch einmal zurück zu der Betrachtung von Herzen’s literarischer und politischer Thätigkeit, als dem, was seine Bedeutung für weitere Kreise und für die Nachwelt ausmacht, wenn gleich denen, welche das Vergnügen haben, seinen edlen, liebenswürdigen Privatcharakter näher zu kennen, auch die Details, die seine Persönlichkeit betreffen, sehr interessant sein müssen.
Außer seinen früheren Arbeiten in Rußland, welche, den Roman und die Novellen ausgenommen, bis jetzt nicht in Übersetzungen existiren, erschienen (schon in Europa) das oben erwähnte „Vom anderen Ufer“ ferner „Briefe aus Frankreich und Italien“, welche die interessantesten Schilderungen aus den bewegten Zeiten von 48 und 49 enthalten; dann mehrere kleine Sachen, unter Andern ein Brief von Michelet; und die Entwicklung der revolutionären Ideen in Rußland“, eine Schrift von ungemeinem Interesse, mit einer geistreichen Skizzirung der wüsten Anarchie der russischen autokratischen Zustände mit einem höchst belehrenden Anhang über die russische Gemeinde.
Die ganze Reihe dieser letzteren Sachen gab Herzen’s Thätigkeit eine eigenthümliche Bedeutung, die nämlich, dem westlichen Europa zum ersten Male durch einen Russen einen tieferen Einblick in das russische Leben zu gewähren. Eine Reihe talentvoller Leute erschien durch ihn vor unseren Augen, von denen wir bis jetzt nichts gehört hatten; wir sahen die Anfänge einer vielversprechenden Literatur, die nur durch den Druck von oben zurückgehalten wurde; wir sahen den verzweifelten Kampf junger, strebender Menschen, die nirgend ein Feld für ihre Thätigkeit finden konnten und theils tragisch untergingen, theils in jene trostlose Gleichgültigkeit verfielen, welche in den literarischen Produkten der ersten russischen Schriftsteller zu einem Typus von Gestalten der Nicolaus’schen Periode geworden ist. Wir erfuhren ferner von der Existenz politischer Parteien, die ganz entschiedene Tendenzen befolgten: die autokratische, die, wie überall, nichts wollte, als die Erhaltung ihrer Macht; die slavophilische, welche als sie ultra-nationale die Herstellung der alt-russischen Formen, das Nalionalgefühl, die Reaction gegen die Reform Peter des Großen beabsichtigte; und endlich die Partei der freien Entwicklung, zu der Herzen und seine Freunde gehörten, die, vertraut mit der westeuropäischen Bildung, demselben Gedankenstrome folgten, der auch den Westen fortriß.
Zu diesen höchst interessanten und damals ganz neuen Mittheilungen gesellten sich andere über das eigentliche Wesen der russischen Autokratie und über das Volk, die nicht minder interessant waren, und es ist der Ort hier, noch einmal zu erwähnen, daß Herzen zur Zeit, als noch die Hand des Kaisers Nicolaus über Rußland lag, es mit voller Zuversicht aussprach, daß die slavische Welt sehnsüchtig ihrer eigentlichen Entwicklung harre und daß, sobald einmal die eisenen Bande, die nur eine starke Hand wie die von Nicolaus zu schnüren vermochte, zerreißen würden, sich dort bald ein reiches und eigenthümliches Leben zeigen werde. Man schüttelte damals allgemein ungläubig den Kopf über solche Behauptungen, und nur Wenige fingen an aufmerksam aus diesen Propheten aus dem Osten zu horchen. Ja man machte ihm sogar einen Vorwurf daraus, daß er, während er die große Lebensfähigkeit und die junge Kraft Rußlands verkündete, an der des westlichen Europas zweifelte; Einige wollten darin den Zug jener eroberungssüchtigen Tendenz sehen, die man anfing den Slaven zuzuschreiben und aus der, wie man behauptete, bereits eine lebendige Propaganda hervorgegangen sei.
Daß dieser letztere Vorwurf für die Slaven überhaupt sich bisher als völlig absurd und unbegründet gezeigt hat, bedarf kaum der Erwähnung. Die Völker des westlichen Europas haben es noch zu beweisen, daß auch der Zweifel an ihrer Fähigkeit zur politischen Wiedergeburt ungegründet war. Daß aber Herzen in Beziehung auf Rußland Recht gehabt, hat sich schneller, als er es vielleicht selbst dachte, gezeigt. Schon der Krimkrieg deckte unleugbar die innere Schwäche der autokratischen Macht auf; der Tod von Nicolaus zeigte es sogleich, daß Rußland nicht minder als der Westen am Vorabend ereignißvoller Zeiten stand. Unter dem sanften Scepter des Kaisers Alexander II. aber brach rasch der lang zurückgehaltene Trieb der Entwicklung sich Bahn. Die Literatur nahm einen gewaltigen Aufschwung, das verhaltene Wort wagte sich kühn hervor; die liberale Partei nicht allein, auch das Volk forderte laut die Aufhebung der schimpflichen Leibeigenschaft, und nun, wenn auch nicht mit der Vollständigkeit, mit der Herzen und seine Freunde es verlangten, ist das Wort doch einmal ausgesprochen und kann nicht mehr zurückgenommen werden; der russische Bauer ist frei und zwar mit dem Besitz der Erde, also kein Proletarier, und er wird diese Freiheit durchzusetzen und zu behaupten wissen unter jeder Bedingung. Wie wahr auch im Uebrigen Herzen prophezeit, beweist die große Bewegung, die jetzt durch ganz Rußland zieht.
Alle jene eben erwähnten Schriften Herzens, die theils in Deutsch, theils in Französisch erschienen und deren Wirkung unmittelbar mehr dem Westen galt als Rußland, waren vor Gründung seiner Presse geschrieben. Von dieser Zeit an schrieb er wieder fast ausschließlich russisch und wendete sich ganz seinen vaterländischen Interessen zu. Sein Unternehmen gelang über alle Erwartung. Das Erscheinen dieser ohne Censur gedruckten Sachen erregte in Rußland einen Sturm des Entzückens, und alle Bemühungen der Polizei vermochten nicht die Einführung der verbotenen Waare zu hindern. Dem „Nordstern“ folgte die Veröffentlichung mehrerer bedeutender Manuscripte, welche Herzen aus Rußland geschickt bekam, unter denen besonders die Memoiren der Kaiserin Katharina II. durch Uebersetzungen sich allgemein verbreitet haben. Eine besondere Wichtigkeit aber erlangte ein politisches wöchentliches Journal, „die Glocke“, das im Jahre 1856 zuerst erschien. Dieses Blatt wurde ein öffentliches Tribunal, vor welchem die Klagen der Unterdrückten laut werden und die schuldigen [761] Bedrücker dem Gericht der öffentlichen Meinung preis gegeben werden konnten. Die Menge der aus Rußland eingehenden Correspondenzen ist unglaublich groß. Unzählige Mißbräuche und Missethaten derer, die „über dem Gesetz stehen“, werden daselbst enthüllt, und manches Uebel wird durch den Schrecken, den dieses Blatt einflößt, abgehalten. Herzen und seine Presse sind eine politische Macht geworden, um seinen Namen schaaren sich die edelsten Sympathien der russischen Jugend und nicht blos der russischen allein, denn – ganz besonders seit den letzten Ereignissen in Warschau, nach welchen er es rückhaltlos aussprach: „völlige Unabhängigkeit für Polen“ und die Verfolgungen der russischen Regierung brandmarkte – gehören ihm auch die polnischen Sympathien aller Parteien, was sich bei Herzen’s Anwesenheit in Paris im letzten Frühjahre kund gab durch eine polnische Adresse, von sechshundert der in Paris lebenden Polen unterzeichnet, so wie durch Adressen von mehreren anderen Orten, wo polnische Flüchtlinge leben.
So kann man denn schließlich sagen, daß sicher keiner der auf fremdem Boden lebenden Exilirten eine so bedeutende Rückwirkung auf sein Vaterland sich erworben hat, wie Herzen. Daß ihn das Glück hierbei begünstigte, ist sehr wahr. Denn erstens war es seine äußerlich unabhängige Stellung, welche ihm die volle Freiheit des Wirkens möglich machte, dann aber war die Lage Rußlands eine solche, daß sich alle praktische Thätigkeit auf ein paar positive, klar gestellte Fragen concentriren konnte, mit deren Lösung zunächst ein ungeheurer Schritt vorwärts geschah. Immerhin aber bleibt es Herzen’s Verdienst, daß er, wie schon oben bemerkt, die Mäßigung hatte, sich, obgleich er selbst theoretisch viel weiter geht, auf diese Fragen zu beschränken, zweitens, daß er seine Mittel, seine Kräfte und seine Zeit mit seltener Energie ausschließlich diesem Wirken widmete. Wir haben ein großes Bedauern auszusprechen, nämlich: daß seine politisch-polemische Thätigkeit ihn ganz von der wissenschaftlichen und belletristischen abzog. Dieses Bedauern muß aber schweigen vor der Liebe und Verehrung, mit der die Russen, die nur irgendwie zur Partei des Fortschritts gehören, seinen Namen aussprechen und erklären, daß er sich ein unsterbliches Verdienst um Rußland erworben. Welch schöneres Loos kann dem Menschen zu Theil werden, als in der Liebe seiner besseren Zeitgenossen schon der Anerkennung der Nachwelt gewiß zu werden! –
Görgey’s Geiger.
Als im letzten großen Acte der ungarischen Revolution die Armee sich zu einer Hauptmasse unter Görgey vereinte, als Alles, was nur eine Waffe tragen konnte, vom Edelmann bis zum Pferdehirten, zur Einreihung heraneilte, da stand eines Nachmittags in einem hohen Zimmer zu Hewas ein junger Mann in sichtlichem Kampfe mit sich selbst am Fenster. Eine schlanke, echt aristokratische Gestalt bezeichnete den Sohn aus „guter“ Familie, die hohe, breite Stirn und das blitzende Auge deuteten auf Intelligenz und Thatkraft, während die rosigen Backen und die völlig bartlose Lippe von kaum 17 Lebensjahren erzählten. Wenige Stunden entfernt schlug man sich, das wußte er; noch näher stand ein Theil von den Reserven der Revolutions-Armee, sein eigener Bruder war bei einem der Corps, und er sollte daheim bleiben, sollte das Stück Weltgeschichte an sich vorüberrollen sehen, ohne mitwirken, ohne dem innern Drange den Zügel schießen lassen zu dürfen – er war der jüngste männliche Sproß der Familie, und er wenigstens sollte als letzte Stütze der Mutter den Kriegsgefahren fern bleiben. Mit einem Laute des Unmunthes trat er vom Fenster zurück, einen raschen Gang durch das Zimmer machend, bis sein Auge eine nachlässig hingeworfene Violine neben einem aufgeschlagenen Notenhefte traf und er nach ihr, wie nach einem Mittel zur Befriedigung seiner Aufregung, griff. Er setzte das Instrument an das Kinn und begann einen Sturm von Accordengängen, als sollten die Saiten herunterfliegen und der Bogen brechen; in glänzenden Octaven und Decimen, in rasenden Läufern und Sprüngen schien er seine eigene Kraft erschöpfen zu wollen, und erst als er hörbar ermattete, ging er in ein klares, geordnetes Spiel voll mächtigen, tiefen Ausdrucks über; jeder seiner Töne aber hätte in den Salons der Kaiserstadt einen Sturm von Applaus hervorrufen, hätte den peinlichsten Kritiker zur Bewunderung dieser vollendeten Meisterschaft hinreißen müssen – und doch hatte dieser junge Mensch, den seine Familie wie seine weitere Umgebung einfach „Eduard“ rief, kaum zwei oder drei Concerte bei gelegentlichen Besuchen in Wien gehört und spielte versteckt im tiefen Ungarn seine Geige zu Niemandes Lust und Befriedigung, als seiner eigenen. „So aber,“ erzählte er selbst in spätern Tagen, als ihn das Schicksal in die weite Welt geschleudert, „sitzt mancher Liszt und mancher Vieuxtemps in Ungarn auf seinem Gute, von denen Niemand etwas weiß, als Gott und seine nächste Umgebung.“
Schon seit seinem vierten Jahre war eine Geige seine höchste Lust gewesen; von einem Diener hatte er die Anfangsgründe erlernt und hatte dann ohne jede Notenkenntniß für sich gespielt und das Gehörte nachgeahmt, bis in seinem zehnten Jahre ein Verwandter bei zufälliger Anwesenheit in Eduard’s Elternhause voll Erstaunen dieses eminente Talent bemerkt und ihm von Wien einen Lehrer zugesandt hatte. Nach zwei Jahren aber schon hatte dieser, unfähig dem aufstrebenden jungen Violin-Riesen mehr zu lehren, das Haus wieder verlassen, und von dieser Zeit an bildeten nur die Schöpfungen der ersten Geigen-Größen den Leitfaden für des jungen Virtuosen fernere, den größten Theil seiner Zeit ausfüllende Studien. Erst als der nationale Kampf der ungarischen Bevölkerung seine ganze Jugendbegeisterung weckte, fühlte er, daß neben der Musik noch etwas Großes für ihn bestehen könne; der Widerstand, welchen er gegen die thätige Theilnahme an der Bewegung fand, entflammte ihn noch mehr, und als er jetzt seinen Zorn unter den Klängen seiner langjährigen Vertrauten durchgearbeitet, war der feste, klare Entschluß in ihm zur Geltung gekommen, alle Hemmnisse, welche ihm die Familienrücksichten auferlegten, von sich zu werfen und zuerst dem Vaterlande sein Recht zu geben.
Am Nachmittag sattelte er sein Pferd zu einem Spazierritte – kam aber nicht wieder, und einige zurückgelassene flüchtige Zeilen benachrichtigten die bestürzte Mutter, daß er sich dem ersten Husaren-Regimente, auf welches er treffen werde, anzuschließen gedenke. Es war ihr Letzter, und in der Angst ihres Herzens sandte sie eine dringende Botschaft in das Hauptquartier des Obergenerals, welchem sie durch gesellschaftliche Beziehungen in früherer Zeit nahe gebracht worden war. Daß sie ihn dem Dienste des Vaterlandes bei der allgemeinen Begeisterung nicht wieder zu entreißen im Stande war, wußte sie; aber er sollte wenigstens geschont – und ihr erhalten werden.
Eduard war bereits seit drei Tagen eingereiht; statt des lustigen Einhauens aber, von welchem er geträumt, sah er sich weit im Rücken der Armee unter den Rekruten, deren Exercitien seiner Ungeduld eine schwere Aufgabe stellten; da bekam er eines Morgens Befehl, sich mit einer angekommenen Ordonnanz zum Obergeneral zu begeben. Erstaunt und ohne eine Erklärung von dem Ueberbringer der Depesche erhalten zu können, legte er mit diesem die mehrstündige Entfernung zurück und trat endlich in der ganzen Keckheit der Jugend, glücklich, sich in der Nähe des Feldherrn zu wissen, in das mit Officieren gefüllte Zelt des Letzteren. Heitere Laune schien unter den Anwesenden zu herrschen, nur kaum war er gemeldet, als er auch schon vor Görgey’s durchdringendes Auge geführt wurde.
Ein strenger Blick des Obergenerals überflog ihn. „Sie sind aus Ihrem mütterlichen Hause desertirt, Herr!“ redete er ihn an.
„Es wäre in der jetzigen Zeit wohl eher eine Desertion zu nennen gewesen, wenn ich geblieben wäre, General!“ war die unerschrockene Entgegnung.
„Hm, nicht übel! Indessen haben wir wohl zweckmäßigere Fäuste zum Dreinschlagen, als die Ihren, und können Sie viel leicht anders verwenden. Was ist bis jetzt Ihr hauptsächlichstes Studium gewesen?“
„Violinspiel, General!“
Ein halblautes Lachen erhob sich unter den Umstehenden, und selbst Görgey’s Lippen zuckten unter einem halben Spott. „Ich
[762] liebe die Musik leidenschaftlich,“ erwiderte er, „indessen wird die Geige in unseren jetzigen Verhältnissen uns kaum viel helfen können. Was spielen Sie denn?“
„Ich kann eine Schlacht spielen!“ rief der junge Mann, während seine Augen aufflammten und sein Gesicht sich röthete.
„Eine Schlacht? der Teufel!“ war des Generals gut gelaunte Antwort. „Nun, wir haben heute Ruhe und können schon einmal Allotria treiben; wir werden Ihre Schlacht hören. Schaffen Sie von irgendwo eine Violine herbei!“ wandte er sich an seinen Adjutanten.
„Ich spiele nicht auf jeder Zigeunerfiedel!“ entgegnete der junge Virtuose beleidigt, „in zwei Stunden könnte mein eigenes Instrument hier sein!“
Der General, sichtlich amüsirt, nickte und gab die nöthigen Orders. „In zwei Stunden also“, sagte er dann, „bis dahin werden Ihnen die Herren hier zu einer Erfrischung helfen, die nach Ihren Rekrutentagen Ihnen vielleicht willkommen sein wird!“ –
Kaum mehr als die festgesetzte Zeit war verstrichen, als Eduard aus dem Kreise der ihm zugewiesenen Officiere wieder zu dem Feldherrn beschieden ward; er sah den glänzenden Kasten, der seine geliebte Vertraute barg, und mit Hast folgte er Görgey’s Winke zum Oeffnen, das Instrument einer sorgfältigen Prüfung unterwerfend. Neugierig hatte sich Alles, was Eingang zu dem Zelte erhalten konnte, in einem dichten Kreise um ihn her gesammelt. Und in der vollen Begeisterung, welche in diesem Augenblicke in seiner Seele auffluthete, begann er. – Was er damals gespielt, wußte er in späteren Tagen nicht mehr; aber es mußte groß und erhaben gewesen sein, denn eine Todtenstille herrschte um ihn, als er geschlossen; mit einem tiefen Athemzuge aber erhob sich Görgey und legte die Feldherrnhand auf die Schulter des jungen Rekruten. „Ich hatte Unrecht, Ihre Geige zu belächeln, junger Mann,“ sagte er; „David bannte nur die bösen Geister, Sie aber wären mit Ihrem Spiele wohl noch mehr im Stande: Muth, Energie und Vertrauen selbst in hoffnungslosen Lagen zurückzuzaubern. Ihre Mutter hat Recht: es wäre schade um Sie im gewöhnlichen Dienste; die Säbelführung macht eine schlechte Bogenführung und der Zügel steife Finger –“
„Aber, General, ich mag nicht wieder nach Hause?“ unterbrach ihn der Angeredete im Dränge einer aufsteigenden Besorgnis;.
„Sollen es auch nicht, Herr, sollen aber aus dem Bivouac hinweg und an meiner Seite bleiben; sollen – mein David werten, wenn vielleicht einmal Zeiten kommen, die zu schwer für eines Mannes Seelenkraft zu werden drohen – davon aber versteht ihr jungen Weltenstürmer nichts! – Er bleibt in meiner Adjutantur“, wandte sich der Sprechende an einen der älteren Officiere, „nehmen Sie ihn vorläufig unter Ihre Flügel und unterrichten Sie ihn von dem Nöthigsten; ich denke, wir Alle werden durch ihn manchen genußreichen Abend haben!“ –
Von diesem Tage an blieb Eduard, zum ritterlichen Husarenofficier umgewandelt, in der unmittelbaren Nähe des Generals, der sich für ihn wie für ein anvertrautes theures Pfand besorgt zeigte. Wo keine Gefahr vorhanden war, wurde er zu leichten Adjudantendiensten verwandt; sobald aber das Feuern begann, mußte er nach der Bagage zurück. „Sie haben sich für mehr aufzuheben, Herr, als wie jeder unsrer Hirtenjungen zu Kanonenfutter zu dienen!“ erwiderte der General auf seine Klagen über die Unthätigkeit, zu welcher er verdammt sei; „an Ihrer Geige kann noch einmal eine Entscheidung hängen!“ und das mußte ihm genügen; wo sich aber ein ruhiger Abend bot, da war auch Eduard der Held desselben, und seine Klänge ließen oft, wenn sie in ein nationales Lied übergingen, die Umgebung des Generals im Enthusiasmus alle Schranken des Rangunterschiedes vergessen. Damals war es, wo die Berichte aus dem ungarischen Lager oft einer für den Zeitungsleser mysteriösen Person erwähnten und von „Görgey’s Geiger“ sprachen.
Immer aber ließ sich das junge feurige Herz nicht durch die vorgestellte Wichtigkeit seines ruhigen Berufs bändigen und hätte in seinem Eifer, sich nützlich zu machen, einmal fast ein Unglück herbeigeführt.
Ein Gefecht, das mit jeder Viertelstunde größere Dimensionen annahm, hatte sich entsponnen und die Außenlinien der ungarischen Armee ziemlich unvorbereitet überrascht. Görgey selbst hatte sich nach dem Orte des „Engagements“ begeben, und Eduard, zitternd vor Begierde, endlich einmal einem Gefechte beizuwohnen, hatte eine halbe Stunde nach dem Abgang des Generals sein Pferd bestiegen und sprengte lustig den Schüssen zu. Da sieht er einen kleinen Trupp Husaren, von einem Unterofficier geführt, in scharfem Trabe sich entgegen kommen, und sofort schießt ihm die Erinnerung an einzelne kürzlich vorgekommene Desertionen durch den Kopf. „Das sind Deserteure!“ klingt's in ihm; im Nu ist der jungfräuliche Säbel aus der Scheide, und mit einem donnernden „Halt!“ parirt er sein Pferd vor den Herankommenden. Die reiche Officiers-Uniform übt ihren Einfluß auf die Husaren, und der Führer meldet, daß sie zur Herbeischaffung von Munition abgesandt worden seien. „Munition! kaum daß die ersten Schüsse gefallen sind!“ lacht der junge Adjutant. „Deserteure seit ihr, und mich betrügt ihr nicht. Kehrt! und den Ersten, der eine andere Bewegung macht, haue ich nieder!“
Der Unterofficier remonstrirt, fügt sich aber endlich bei der Erklärung, daß Eduard jede Verantwortung auf sich nehmen will, und trabt mit feinem Detachement, von dem „Geiger“ gefolgt, zurück, welcher letztere seinen Fang direct auf den Obergeneral zu treibt. „Sieben von mir eingebrachte Deserteure!“ meldet er strahlend dem verwundert aufschauenden Feldherrn; kaum hat dieser aber einen Blick auf das Detachement geworfen und eine Erklärung des Führers erhalten, als er auch zornig auffährt: „Mensch, reitet Sie denn der Teufel? Wenn wir in 30 Minuten keine Munition haben, müssen wir weichen!“
Ein Wink von ihm sendet die Husaren auf’s Neue davon, Eduard aber muß seinen Säbel abgeben und wird unter Begleitung zurückgebracht. –
Als Görgey später „seinen David“ zum Bannen der Geister des Verraths am nöthigsten gehabt hätte, war dieser nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe. Die Gründe, welche ihn dem General entfremdet, hat er nie berührt, und wir finden ihn, als die ungarische Armee das Gewehr gestreckt, als Flüchtling wieder, nachdem die Häupter der Revolutionspartei und auch sein Bruder glücklich der blutigen Hand des Oesterreichers entkommen waren. Er hatte bei seiner Mutter, die im Confiscationswege von Haus und Hof getrieben worden war, als letzte Stütze geweilt, bis er ihr ein Unterkommen verschafft und er die Häscher schon auf seinen Fersen fühlte.
Einen Morgens sah er, nachdem er sich unter Elend, Noth und Gefahr durchgeschlagen, mit innerlichem Jauchzen Hamburg vor sich. Ein alter Rock, ein zerrissenes Beinkleid und ein Paar mit Bindfaden zusammengehaltene Schuhe waren Alles, was er auf dem Leibe trug. Alle übrigen Habseligkeiten halte er zur Fristung des Lebens verkaufen müssen und das letzte, mehrere Wochen getragene Hemd im Ekel von sich geworfen. Hamburg war zum Rendezvous der versprengten Flüchtlinge bestimmt, und schon seine erste Frage nach Leidensgefährten brachte ihn in die Arme einer Anzahl Geretteter. Die Hamburger Bürgerschaft hatte groß gegen die Märtyrer der Freiheit gehandelt; für jeden neu Ankommenden war Hülfe und Unterstützung bereit, wie sie nur die regste Sympathie mit den Unglücklichen geben konnte; und so fand sich auch Eduard rasch in das Haus eines dortigen Kaufmanns[1] einquartiert, der den Vorzug sich fast zu einer Ehre rechnete, mit Allem, was der äußere und innere Mensch des Flüchtlings bedurfte, rasch bei der Hand war und ihn bald in die behaglichste Lage, welche nur die Verhältnisse gewähren konnten, versetzte. Als aber die nothwendigste Aussprache mit den Schicksalsgenossen vorüber war, begann Eduard mit einer wahren Bitterkeit den Verlust seiner Geige zu fühlen; noch dachte er, von der wohlwollendsten Gastfreundschaft umgeben, nicht an seine Zukunft; aber er fühlte, daß nach der Zertrümmerung jeder bisherigen Existenz doch kaum etwas Anderes als die Geige seinen ferneren Halt bilden könne. Halb schüchtern erkundigt er sich, ob es nicht irgendwo eine gute Violine zu leihen gäbe, und sein Wirth, der nur eine augenblicklich Laune seines Gastes zu erfüllen glaubt, bringt ihn zu seinem Nachbar, dem Musikdirector.
„O, Sie spielen Violine – recht angenehm!“ sagt dieser höflich und macht ihm vorsorglich ein Instrument zurecht, bestreicht auch den Bogen für ihn sorgfältig mit Colophonium und zieht dann schon im Voraus sein Gesicht in verbindliche Fallen. Eduard lächelt, stimmt zuerst das ganze Instrument einen Viertelton höher und läßt dann, schnell seine Umgebung vergessend, der lange entbehrten [763] Luft freien Lauf; das Instrument ist gut, und wie Perlen rollen die Passagen, wie ein Sturm sausen die Arpeggios, wie ein inniges Liebeslied klingt die eingestreute Melodie. Der Musikdirector zieht sich mit immer größer wertenden Augen nach dem Piano wie nach einem Halte zurück; der Kaufmann hat in plötzlicher Ueberraschung den Mund zu schließen vergessen und blickt bald, als dürfe er seinem Urtheile nicht trauen, von dem plötzlich aufgetauchten Künstler nach dem Musikdirektor und von diesem wieder zurück; Eduard aber sagt endlich, als habe er nur einen Probestrich gethan: „Ein recht hübsches Instrument, nur im Tone nicht mächtig genug!“
„Aber, Herr, Sie geigen ja, wie ich in meinem Leben nur irgend etwas gehört habe!“ bricht der Musikdirektor los, „Sie spielen doch nicht etwa Komödie mit uns – wie ist Ihr Name?“
Eduard nennt ihn lächelnd – wer hat wohl in Deutschland bis jetzt seine Meisterschaft gekannt? und der Andere schüttelt wie vor einem Räthsel den Kopf. „Auch von Noten können Sie das?“ fragt er.
„Wir können es ja versuchen!“ ist die Antwort, und der verwunderte Musiker sucht hastig aus seinem Notenpack einige Piècen hervor. „Wählen Sie selbst!“ ruft er. Eduard aber schüttelt nach einem kurzen Einblicke den Kopf. „Haben Sie nicht etwas, das mehr verlangt?“
„Nun denn, hier ist der Paganinische „Carneval“ und die „Hexentänze“!“ ist die Antwort, und mit sichtlicher Spannung wirft sich der Musikdirektor zur Begleitung an das Piano; Eduard aber kennt ja beide Bravourstücke längst auswendig. und kaum wirbeln eine kurze Weile die barocken Gänge über die Saiten, folgen die gewagtesten Sprünge sich in wunderbarer Keckheit und Sicherheit, daß für diese Finger kaum eine Schwierigkeit mehr vorhanden zu sein scheint, als der Musikdirektor wieder aufspringt: „Aber das ist ja kaum möglich – Herr, Sie müssen Concerte geben, Sie haben hunderttausend Mark in den Fingern!“
„Aber erst soll er sich eine Violine suchen, die ihm mächtig genug ist, wie er sagt!“ ruft der entzückte Kaufherr, „heute Abend in meinem Hause, Musikdirektor!“ und damit zieht er den jungen Virtuosen nach der Musikhandlung, ihm auf die Seele bindend, sich das beste Instrument, das er finden kann, auf Rechnung seines Wirths zu nehmen.
In Eduard’s Seele wird es lichter Sonnenschein – wieder, eine gute, eigene Geige! Der Instrumentenhändler bringt Violinen „der besten Gattung“, wie er sagt, aber nach kurzem Anklingen der Saiten legt sie der Wählende bei Seite und fragt nach etwas wirklich Gutem. „Auf meine Rechnung!“ ruft der Kaufherr, den das verwunderte Gesicht des Verkäufers zu amüsiren scheint, „dem Herrn machen Sie kein X für ein U!“
„Er scheint es wirklich zu verstehen,“ sagt der Instrumentenhändler mit einem eigenthümlichen Lächeln und öffnet einen Kasten in einer entfernten Ecke. Zwei unansehnliche Gestelle kommen zum Vorschein, die so wenig auf einen Verkauf gerechnet zu haben scheinen, daß der Händler sie erst zum Theil besaiten muß. Kaum hat sie der Flüchtling aber angeklungen, als auch seine rege Aufmerksamkeit erwacht, er nach dem Bogen greift und beide einer genauen Prüfung in allen Tonlagen unterwirft. „Darf ich dieses Instrument behalten?“ wendet er sich endlich mit halb zweifelndem Blicke an seinen Gönner, „es wird nicht billig sein!“
„Dummes Zeug, ich habe es Ihnen doch versprochen!“ ist die Antwort. „Was kostet das Ding?“
„Tausend Mark!“ sagt der Instrumentenhändler ruhig, „es ist eine echte Cremoneserin.“
„Tausend – tausend Mark für das Bißchen Holz?“ ruft der Kaufmann sichtlich verblüfft.
„So ist es,“ lächelt der Händler, „der Herr versteht sich auf Instrumente!“ Eduard aber hat den gewonnenen Schatz schon wieder zurückgelegt. „Ich konnte mir denken, daß der Preis zu hoch sein würde, und verlange das Opfer nicht!“ sagt er, und damit scheint auch seines Wirthes Stolz wieder zu erwachen.
„Wenn das Ding soviel werth ist und es Ihnen völlig genügt, so werden mir auch wohl die tausend Mark für mein Versprechen nicht zu viel sein,“ erwiderte er, „sind Sie zufrieden damit?“
„Ich nehme Ihr Geschenk an,“ sagte der junge Virtuose, in überwallender Freude des Mannes Hand ergreifend, „und hoffentlich sollen Sie von der Geige noch mehr zu hören bekommen!“
Wenige Tage darauf ward zur Unterstützung der ungarischen Flüchtlinge ein großes Concert angezeigt, und zum ersten Male lasen deutsche Augen den Namen Eduard Reményi als Sologeiger auf einem Programm. Die Sage von dem aus der Wildniß gekommenen Künstler hatte sich schon in der Stadt verbreitet, die Neugierde, wie die Theilnahme für die Flüchtlinge hatten die Concert-Räume zum Erdrücken gefüllt; alle Erwartungen aber wurden durch das Geniale und echt Vornehme in der Erscheinung Reményi´s wie durch sein die Begeisterung entzündendes Spiel übertroffen; in den nächsten Tagen konnte sich der Gefeierte vor Einladungen nicht retten, und als ein zweites Concert zur Hülfe der Ungarn einen wo möglich noch brillanteren Verlauf genommen, ward dem jungen Künstler von den Damen Hamburgs ein Dutzend „selbstgefertigter“ feinster Spitzenhemden, von seinen männlichen Verehrern aber eine werthvolle goldene Uhr mit Kette und zahlreichen Berloques überreicht. Beide Spenden bewahrte er noch Jahre darauf, als die ersten sichtbaren Errungenschaften seiner Geige auf.
Von dem gesammten auf ihn fallenden Gelderträge aber behielt er nur das nöthige Reisegeld nach England und sandte das Uebrige durch Vermittelung seines Wirths an seine Mutter. – Von London aus, wo er in verschiedenen Concerten einen gleichen Enthusiasmus und pekuniären Gewinn erzielte, ward seiner Mutter eine erneuete Unterstützung, und dann wandte er sich nach den Vereinigten Staaten, Ruhm und Bewunderung auf seinem dortigen Wege vor sich hersendend.
Vor zwei Jahren hörte der Erzähler dieses das Letzte von ihm; damals war er, nach London zurückgekehrt, zum Concertmeister der Königin ernannt worden; die englischen Blätter bezeichneten ihn als einen der ersten jetzt lebenden Violin-Virtuosen; in seiner nächsten Umgebung aber war er nur bekannt als „Görgey’s Geiger“.
Die Bauden des Riesengebirges.
Jene verwundeten Hirsche, welche der Sage nach die Quellen von Warmbrunn entdeckten, haben gewiß viel dazu beigetragen, daß sich der Urwald in diesem Thalkessel und auf dem Hochgebirge lichtete und das Reich Rübezahls bis auf den heutigen Tag ein Lieblingsziel fremder Wanderer wurde. Kein schöneres Panorama, als dieser Haupthöhenzug der Sudeten mit seinem Kamm und seinen Kuppen hinter den von frischen Bergströmen durchrauschten, mit zahlreichen Häusern, Villen und schattigen Bäumen belebten Warmbrunner Thale! Freilich, da oben herrscht in der bei weitem größeren Hälfte des Jahres winterliche Einöde, und auch der Sommer hält nicht, was die lockende Bergrotunde verspricht! Auf den sumpfigen Knieholzwiesen oder den steilen Glimmerschieferkegeln ist ein beschwerliches Wandern, und nur der Anblick einzelner Schöpfungswunder, wie der Schneegruben und der beiden Teiche, nur die umfassende Rundschau über Schlesiens und Böhmens Berge und Ebenen entschädigt für die Weltverlassenheit des wüsten Gebirgskammes.
Doch die Ansiedelungen der Menschen erstrecken sich bis auf alle Höhen des Kammes hinauf! Unsere schlesischen Sennhütten, die Bauden, unterscheiden sich wesentlich von den Schweizer Sennhütten; sie haben, wie das Riesengebirge selbst, dem nicht nur die Gletscher, sondern auch die Adler fehlen, welches aber doch an großen Naturbildern reicher ist, als die anderen Mittelgebirge, einen eigenthümlichen Charakter. Die bekanntesten Bauden befinden sich auf der schlesischen, die zahlreichsten auf der böhmischen Seite des Gebirges. Jene sind meistens Gastherbergen für die Bergreisenden und mit größerem oder geringerem Comfort eingerichtet; diese bilden ganze Baudendörfer und sind Wohnungen für die Mitglieder dieser hochgelegenen Dorfgemeinden. Die Zahl der Bauden im Bereiche des Riesengebirges mag sich auf ungefähr 3000 belaufen. Man unterscheidet Sommer- und Winterbauden; jene werden nur im Sommer, der Viehwirthschaft wegen, bezogen und im Herbste wieder verlassen; diese bleiben im Winter wie im Sommer bewohnt.
[764] Natürlich sind jene von weit leichterer Bauart, improvisirte hölzerne Nomadenhütten, deren Dächer oft mit Steinen beschwert sind, um der Gewalt der Stürme besser zu widerstehen. Sie haben in der Regel nur ein einziges Zimmer, an dessen Wänden hölzerne Bänke umherlaufen und welches mit einem ebenso stattlichen wie nützlichen Kachelofen geschmückt und mit den verschiedensten Geräthschaften auf Topf- und Zinnbretern an den Wänden ausgestattet ist.
Die Winterbauden machen einen bei weitem ansehnlicheren Eindruck. Sie bestehen alle aus der eigentlichen Wohnung und dem Stalle, zwei gesonderten Hälften für die zwei- und vierfüßigen Insassen. Ein schmaler Gang, in den man sogleich durch die Hausthüre eintritt, trennt die mit Vernunft begabten Wesen von den Geschöpfen, welche nur der Instinct beherrscht. Die Wohnung enthält ein größeres und ein kleineres Zimmer. In jenem befindet sich der Kachel- und Backofen; es ist die Familienheimath, wo nicht nur gekocht und gebraten wird, wo auch die künftigen Urwähler und Landwehrmänner Schlesiens, die künftigen, der Gesammtmonarchie einverleibten Nachkommen Przemysl’s in Hemdchen am warmen Ofen kauern oder aus der Wiege schreiend ihre Aermchen hervorstrecken, wo alle Vorkommnisse des Familienlebens sich abspielen, wo alle Neuigkeiten des Gebirges Abends bei dem Scheine der Buchenholzfackeln besprochen werden! Ein zweites kleineres Zimmer ist die eigentliche Gaststube, in welche man die Reisenden führt und welche in den größeren Bauden nicht ohne Bequemlichkeit eingerichtet ist. Gegenüber der Wohnstube ist nun der Stall, meistens sehr sauber gehalten als das Allerheiligste der Baudenwirthschaft. Ein reisender Potter kann hier höchst bequem das Thierreich in allen seinen Eigenheiten belauschen und auf die Leinwand zaubern. Der Hausflur selbst führt in den nach der Bergseite zu gelegenen und von frischem Quellwasser gekühlten Milchkeller. Oben ist der Heuboden mit einigen Verschlagen und Bodenkammern. Schlafstellen und Schlafgemächern für das Gesinde und für Reisende. Das Heu bildet hier nicht nur das aromatische Lager, sondern auch die Decorationen, indem man zwischen seinen festgeschichteten Wänden hindurchwandelt. Die Bauden sind alle auf einem einfachen steinernen Unterbau aufgeführt, im Uebrigen aber aus vierseitig behauenen, übereinander ruhenden Baumstämmen zusammengezimmert; nur einige der neueren, mehr hotelartigen Banden haben steinerne Wände. Das Schindeldach läuft tief herunter; auch die Wetterseite ist mit Schindeln belegt, deren wärmende Wirkung für den Winter noch durch Moos und Tannenreisig verstärkt wird. In diesen Nomadenhütten und Hotels des Gebirges hat die Sommeridylle ihre poetischen Reize; das Winterleben dagegen ist von einer Oede und Einsamkeit, welche, gegen die Verlassenheit einer lappländischen oder grönländischen Polarlandschaft nicht zurücksteht. Wohl fehlt es gerade im Winter, sowohl bei Sonnen- als Mondbeleuchtung, nicht an dem wunderbarsten Farbenspiele, indem die von Süden heraufleuchtende Sonne die hohen Bergeszinnen in einen rosigen Schimmer taucht, der über den stets in Schatten begrabenen Nordabhängen schwebt, oder indem der Mond durch den Nebelflor der Nacht hindurch einzelne Stellen, über denen er gerade dahinwandelt, wie einen blitzenden Diamantschmuck erhellt! Doch, oft müssen die verschneiten Bewohner der Baude sich erst aus den Schneemassen, aus denen nur der Dachgiebel hervorragt, mühsam herausgraben, um überhaupt einen freien Blick auf Himmel und Erde zu gewinnen! Und wie beschwerlich ist die Wanderung von einer Baude zur andern, der gesellschaftliche Verkehr dieser von Schnee ummauerten Einsiedeleien! Rings liegt der Schnee sechs, zehn bis zwanzig Fuß hoch! Der Wanderer muß sich den Schneereifen unterbinden, einen mit Hanfschnüren durchflochtenen Holzreifen, der vor dem Einsinken in die lockeren Massen schützt. Und welche Gefahren drohen ihm auch dann noch von den zusammenstürzenden Schneewänden in den Hochschluchten oder von den Schneebrücken, welche, unterhöhlt von wühlenden, tosenden Gebirgsbächen, in der Luft schweben, oder von den Schneelehnen, wie sie sich oft von den Rändern des großen und kleinen Teiches loslösen und mit donnerndem Krachen auf die zugefrorne Eisfläche herabstürzen, daß die herausgeschlagenen Schollen sich zerborsten übereinander thürmen! Wie bedrohlich sind die Schneenebel und Schneewirbel, welche die den Weg oder mindestens die Richtung anzeigenden ausgesteckten Stangen verbergen! Schon Mancher hat sich in den zweifelhaften Schutz eines der Felsungethüme geflüchtet, welche einzelne Punkte des Kammes bezeichnen, und ist hier vor Hunger und Kälte zu Grunde gegangen und eine Beute des Raubgevögels geworden. In dieser Zeit pocht selten ein Gast an die Thüre der Bauden, ein Jäger, ein Waldarbeiter, ein Holzschläger und Zurücker, welche letztere mit ihren Hörnerschlitten das Holz, das sie als „Schleppe“ an dieselben festbinden, auf steiler Rutschbahn hinab in die Thäler bugsiren. Im Uebrigen ist die Genossenschaft der Baude auf sich selbst angewiesen, muß sich für die lange Belagerung des Winters auf das Beste verproviantiren und hat gewiß ein unbestreitbares Recht, sich dem Winterschlafe als Rettungsmittel gegen die Langeweile hinzugeben! Rübezahl macht keine Streiche mehr; er sitzt griesgrämig und mißmuthig über die Zeit der Aufklärung, welche ihn so transparent gemacht hat, daß er nur noch zur Illustration einer Zauberposse dienen kann, in seinem Schnee- oder Eispalast; die Politik reicht nicht auf diese Höhen, obgleich die Grenze zwischen Preußen und Oesterreich über sie hinläuft, die bekanntlich einen sehr scharf markirten politischen Einschnitt bildet – womit sollen sich die armen Baudenbewohner während der langen Wintersaison die Zeit vertreiben?
Desto reger ist Leben und Verkehr, wenn die Sommersonne den Schnee geschmolzen, der nur in den Schneegräben und an den Teichrändern liegen bleibt, wenn die Bergwässerchen aus den Mooren und Hochwiesen hervorquellen, die Laubwälder in der mittlern Bergzone mit voller Pracht sich schmücken und selbst die Trümmergesteine der „Sturmhauben“ die Zier des „Veilchenmooses“ zur Schau tragen. Da beginnt das Hirtenleben auf den Weiden, am frühen Morgen schon klirrt der Eimer der Melkerin, und wenn auch die Hirten nicht mehr, wie zu Andreas Gryphius’ Zeiten, das Hellahorn blasen, so fehlt es doch dann nicht an bunter Rührigkeit auf den Kämmen und Lehnen des Berges, und ein heiteres Volksfest weiht den Auszug der Heerden ein. Bald ergießt sich auch der Schwarm der Touristen in die Berge. Russische und polnische Badegäste, kritische Berliner, welche auch in Rübezahl’s Reiche überall die Eichen tadeln, daß sie keine Kürbisse tragen, Gymnasialdirectoren mit ihren Secundanern und Primanern, wandernde Studenten, die nach einem Commers auf dem alten Kynast in die Berge pilgern. Großbürger und Spießbürger, welche mit den Unbequemlichkeiten einer Bergpartie auf dem gespanntesten Fuße leben, feine Damen in Tragsesseln, von keuchenden Trägern über die schwankenden Steintrümmer der Granitkegel geschleppt – wer nennt sie alle, die Gäste, welche jetzt in abenteuerlichem Durcheinander die hölzernen Salons der Banden bevölkern? Wer malt alle die Genrebilder, welche dieser bunte Verkehr entrollt? Rübezahl müßte seine Freude daran haben, könnte er durch einen Spalt der Wände in die überfüllten Baudenzimmer blicken, besonders wenn er vorher durch einen Regenguß die Wiesenpfade aufgeweicht, die Bächlein stattlich angeschwellt und die fashionable Garderobe in triefende Unordnung gebracht! Da kehren die alten patriarchalischen Sitten wieder, Knigge’s Umgang mit Menschen wird suspendirt, der Kachelofen in Belagerungszustand erklärt und die erste Parallele mit einer Reihe ringsum aufgehängter Herren- und Damenstrümpfe eröffnet; es lösen sich viele, wenn auch nicht alle Bande frommer Scheu; die elegantesten Damen erscheinen im Costüm der Auerbach’schen „Barfüßele“, die elegantesten Herren in Hemdärmeln; man glaubt den Anblick einer japanesischen Badestube im milderen Lichte der christlichen Gesittung vor sich zu haben. Wenn aber erst der Ungarwein im Glase blinkt, Hier ein studentischer Rundgesang ertönt, dort ein auf das Hochgebirge verirrtes Salongespräch, wenn zuletzt Alles sich zu einem heitern gesellschaftlichen Kreise mischt, froh der unfreiwilligen Begegnung und unbekümmert um Adressen und Visitenkarten, Taufscheine und Pässe: dann hat das Baudenleben seine eigenthümliche Romantik, und das Gefühl, sich auf einem verlornen Posten der unentrinnbaren Civilisation zu befinden, das Gefühl, welches die Brust eines Hinterwäldlers schwellt, zieht auch in die Gemüther der frohen Tafelrunde ein.
Zum unveräußerlichen Inventar der Bande gehören die Harfenistinnen, meistens Töchter des gesangreichen Böhmen. Kaum haben die Gäste sich etwas von den Beschwerden der Wanderschaft erholt, den Staub von ihren Füßen geschüttelt, sich mit Trank und Speise erquickt und durch diese Stärkung des Leibes auch die Seele in eine für höhere Genüsse empfängliche Stimmung versetzt: so erscheinen jene Künstlerinnen, greifen in die Saiten und singen ihre czechischen Lieder. Man würde sich indeß irren, wenn man diese Damen für schöne Houri’s aus Rübezahl’s Paradiese hielte. Wohl findet sich bisweilen ein anmuthiges böhmisches Kind darunter, [765] unter, dessen Lächeln nicht ohne Liebreiz ist, welches die Lieder in der fremden Mundart mit recht charakteristischem Gepräge vorträgt und durch sein gebrochenes Deutsch eine Sprache herausfordert, die es besser und ohne Hülfe eines Dragoman’s versteht. Doch die Mehrzahl der Harfenistinnen befindet sich in einem Alter, in welchem die Künstlerinnen das Fach der ersten Liebhaberinnen längst aufgegeben haben und in das der ehrwürdigen und komischen Alten übergegangen sind. Manche Harfenistin singt seit zwanzig Jahren in derselben Baude und scheint sich eines lebenslänglichen Engagements mit Pensionsberechtigung zu erfreuen. Sie singt dasselbe Lied dem Sohn vor, welches sie bereits vor zwei Jahrzehnten dem Vater vorgesungen, und erweckt in jenem Gefühle der Pietät, während sie in diesem vielleicht andere Gefühle zu erwecken vermochte. Ja, man ist conservativ oben auf den Bergen, conservativer, als bei unseren Stadt- und Hoftheatern, obgleich es auch an letzteren nicht an künstlerischen Mumien fehlt.
Die zum Baudeninventar
gehörigen Harfenistinnen huldigen indeß der Kunst nicht
mit jener Andacht, wie sie Platen verlangt:
Keiner gehe, wenn er einen Lorbeer tragen will davon.
Morgens zur Kanzlei mit Acten, Abends auf den Helikon!
Dem ergiebt, die Kunst sich völlig, der sich völlig ihr ergiebt,
Der die Freiheit heißer, als er Noth und Hunger fürchtet, liebt!
Nein, ihr Pegasus zieht im Joche, man sieht sie höchst wirthschaftlich in den Milchkellern und Kuhställen; sie sind gleichzeitig die Wirthschaftsfräulein und die Gesellschaftsdamen der Bauden.
Dieselbe Hand, welche eben tapfer im Butterfaß herumgearbeitet oder die zur Käsebereitung unentbehrlichen Handgriffe verrichtet, entlockt den Saiten elegische oder heiter scherzende Klänge. Es bedarf in der That der Anregungen des Tokayer Ausbruches, um sich durch diese Sängerinnen in poetische Illusionen versehen zu lassen.
Zu den Stammgästen der Bauten gehören zwei sehr feindliche Menschenclassen, die Grenzjäger und die Schmuggler, welche nicht selten unter einem Dache friedlich zusammenkommen, ähnlich wie die italienischen Carabinieri und Fra Diavolo’s. Erstere suchen meistens durch persönliche Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit die Strenge und Härte ihres staatlichen Berufes vergessen zu machen. Die Pascher aber, deren Zahl sich seit dem preußisch- österreichischen Zollvertrage vermindert hat, sind sehr kecke, unternehmende Burschen, voll lustiger Streiche, Kniffe, Neckereien, von einem unverwüstlichen Humor, den sie sich auf ihren Bergfahrten trotz aller Beschwerlichkeiten zu bewahren wissen. Vertrauter mit der Topographie des Gebirges, als alle Geographen, Naturforscher und Kartenzeichner, wissen sie ihren Pfad durch die verschwiegensten Schluchten, über die unwegsamsten Knüppeldämme der Wiesenmoore, an den steilsten Felsenhängen hinab zu nehmen, und es hat oft den Anschein, als könnten sie jeden Knieholzbusch vorn andern unterscheiden. Die officiellen Träger, meistens phlegmatische Kernmenschen, die sich durch ihre kameelartige, in Bezug auf die bewältigten Lasten oft staunenswerthe Tragfähigkeit auszeichnen, stehen mit ihrer localen Kenntnis des Gebirges, welche sich wesentlich auf die Hauptpfade des Verkehrs erstreckt, hinter jenen freizügigen Bergwanderern weit zurück.
Die zahlreichen Bauden der böhmischen Grenzdörfer unterscheiden sich wenig von einander und zeichnen sich dafür durch seltsame Namen aus. Da giebt es eine Ochsengraberbaude, Guckuckhäuser, Plauerbauden, Leierbauden, Geiergucken, Rehhornbauden, das Reibeisen u. s. f. Aus der großen Tour über den Kamm des Gebirges kehrt man nur in die Spindler- und Petersbaude ein, zwei der am wohnlichsten eingerichteten und mit gutem Ungarwein versehenen Herbergen. Zu dem böhmischen Dorfe Klein-Aupe gehören die bekannten Grenzbauden, welche von drei hierher verbannten österreichischen Officieren, Graf Aufschläger, Fürst Reuß und von Baumecker im Jahre 1663, nach einer andern Nachricht von verbannten Schweizern gegründet worden sein sollen. Jedenfalls ist ihre Lage auf einen, der blumenreichsten Wiesengründe des Gebirges von erquickendem Reiz; keine Fernsicht stört die idyllische Abgeschlossenheit; Alles ladet zur fröhlichen Einkehr; köstliche Weine erquicken den Wanderer. Hierher gehen im Sommer und Winter die Vergnügungspartien von Schmiedeberg aus; hier entwickelt sich der heiterste gesellige Verkehr. Eines gleichen Rufs aus alten Zeiten schon erfreut sich die Hampelbaude, über welche der Weg von Schmiedeberg auf die Koppe führt. Zur Zeit, als der schlesische Dichter Andreas Gryphius die Sudeten durchwanderte (1670), hieß sie, „Tanlabaude“, von ihrem Eigenthümer Tanla, einem würdigen Greise, welcher jeden Morgen auf [766] dem Hellahorne den Morgengruß vor ihrer Thüre in die Ferne blies und seine Gäste mit einem aus Tannenzapfen bereiteten Branntwein erquickte, Gewiß hat dieser Tanla manchen der verfolgten evangelischen „Buschprediger“ beherbergt, welche oft auf improvisierten Kanzeln des Hochgebirges, in seinen Schluchten und Kesseln oder in den Bauden selbst das Wort Gottes verkündeten und selbst ihr Kirchengeräthe in diesen Herbergen der Knieholzregion verbargen. Die Hampelbaude liegt in der Nähe des romantischen „kleinen Teiches“, dessen hohe, steile Felsränder man aus ihren Fenstern erblickt. Auf dem Koppenplane selbst begrüßt uns die Wiesenbaude, nur wenige hundert Schritt von der Quelle des Weißwassers, der eigentlichen Quelle der Elbe, entfernt. Die Concurrenz erstreckt sich nämlich bis auf die „freien Berge“, und zwei Bäche, der Elbseifen und das Weißwasser, machen sich die Vaterschaft des Elbstromes streitig. Der erstere hat die Tradition und den Namen für sich; seit Jahrhunderten heißt seine Quelle die Elbquelle, die Wiese, auf der sie entspringt, die Elbwiese, der erste übermüthige Sturz des jungen Baches über die Felsenklippen der Elbfall. Schon der Rector der Hirschberger gelehrten Schule, Magister Schilling, ließ seine Primaner den Elbbach dicht an der Quelle überspringen, damit sie nachher in der Universitätsstadt Wittenberg sagen könnten, daß sie über die Elbe mit gleichen Füßen hinübergesprungen seien. Doch die vorlaute moderne Kritik läßt keine ehrwürdige Tradition bestehen; sie bestreitet dem Elbseifen trotz des genialen Wasserfalles seiner ersten Sturm- und Drangperiode das Recht, auf der Stammtafel der Elbe als Vater zu figuriren, sie räumt das Recht dem Weißwasser ein, welches weniger genial, aber desto praktischer in der 4,368 Fuß hoch gelegenen Wiesenbaude das Butterfaß treibt und sich dann durch den schauerlich wilden Teufelsgrund, eine Trümmerstätte des Pflanzen- und Steinreiches mit dem Charakter urweltlicher Oede, mit schäumenden Fluthen ergießt. Von den übrigen Bauden der Nordseite erwähnen wir noch die neue schlesische, welche den vom romantischen Zackenfall emporsteigenden Reisenden am Anfange der Knieholzregion begrüßt, und die kleine Schneegrubenbaude, mit reizender Fernsicht hoch oben am Rande der jäh herunterstürzenden Grubenwände gelegen. Das Hospiz auf der Koppe selbst, welches im Jahre 1857 niederbrannte, aber wieder aufgebaut wurde, mit seiner imposanten Rundsicht, sowie die meistens aus Stein ausgeführte Riesenbaude am Fuße der Koppe selbst gehören schon mehr zu den Hotels, welche für den Comfort der Reisenden sorgen – der eigenthümliche Charakter der „Bauden“ wird hier schon durch die moderne Civilisation verwischt.
Volksleben in Kopenhagen.
„Sie wollen jetzt nach Dänemark reisen, was haben Sie als Deutscher dort zu suchen?“
Diese permanente Antwort mußte ich durch acht Tage von Jedem anhören, den ich aufforderte, mich auf einen Ausflug nach Kopenhagen zu begleiten. Es kostete mich Mühe und Ueberredung genug, ein paar vernünftigen Menschen begreiflich zu machen, daß ich für die „Dänen“ und namentlich für die dänische Regierung ebenso wenig Sympathien empfinde, als irgend ein anderer Mensch im Vaterlande, daß mich diese Abneigung aber nicht hindere, einen Ausflug nach der skandinavischen Hauptstadt für das lohnendste zu halten, was man bei beschränkter Zeit erreichen kann. Meine Reisegefährten machten nur noch die Bedingung, vor der Fahrt nach Kopenhagen die prächtige Insel Helgoland zu besuchen, auf welcher wir eben ankamen, um der Feier der glücklichen Rettung des Königs von Preußen aus Mörderhand mit beizuwohnen und zwei Hannoveraner sich unsterblich blamiren zu sehen, die einen Beitrag zu einer Sammlung für die deutsche Flotte verweigerten, „wenn selbe unter preußischer Oberherrschaft stehe“. Eine bessere Einleitung zu unserer dänischen Reise konnten wir wohl nicht finden, als diesen Beitrag zur Lächerlichkeit der Nationalitäts-Eifersüchtelei unter deutschen Landsleuten für eine wahrhaft deutsche Sache. Gott besser’s!
Ein Beweis der bitter feindlichen Stimmung der Dänen gegen Deutschland tritt dem Fremden schon bei der Ankunft in Kopenhagen auffallend entgegen. Während vor einigen Jahren, bei meiner letzten Anwesenheit daselbst, alle Aufschriften, Schilder, Bekanntmachungen etc. in dänischer und deutscher Sprache abgefaßt waren, sind letztere spurlos verschwunden. Es überfällt uns ein sonderbar unheimliches Gefühl, mit dem ersten Schritt in ein fremdes Land von den heimathlichen Lauten so ganz und gar abgeschnitten zu sein. Selbst der Gang der Züge auf der Eisenbahn, ja selbst die Speisekarte in den deutschen Hotels ist dänisch abgefaßt. Natürlich begünstigt die Regierung diesen Deutschenhaß auf das Allerwärmste und mit beinahe kindischem Eifer, wofür die „Feier des Sieges bei Idstedt“, der wir beiwohnten, und aus die ich später zurückkommen werde, einen recht auffallenden Beleg abgab. Offenbar aber lauert hinter dieser so ostensibel zur Schau getragenen Abneigung die Furcht vor „deutschen Hieben“ nur vor dem, was die nächste Zeit verhängnißvoll bringen könnte.
Die Hauptsache, warum ich nach Kopenhagen gekommen und warum ich meine Freunde zu diesem Ausflug gepreßt hatte, war die Beobachtung des Volkslebens, welches sich in voller Naturwüchsigkeit fast nur hier allein noch vorfindet, wenigstens in Deutschland nichts auch nur annähernd Aehnliches aufzuweisen hat. Die reizende Lage der dänischen Hauptstadt, die reiche Sammlung von Kunstwerken, die selbe ihrem edelsten Sohne, dem großen Thorwaldsen, dankt, ist bereits in zahllosen Reisewerken genügend geschildert worden, wenden wir daher unsere Schritte diesmal zuerst zu dem A und O eines jeden richtigen Kopenhageners, zu dem großartigen
Nirgend existirt, sowohl in der Anlage, als in der Ausführung, ein ähnliches Etablissement. Alle nur denkbaren Bedingungen für ein Vergnügungslocal für alle Classen der Bevölkerung sind hier vereinigt und gelöst. Als der geniale Carstenson, auf welchen wir später zurückkommen werden, dem Ministerium den Plan zu diesem Unternehmen vorlegte, überließ dies der Actiengesellschaft, die sich zur Realisirung desselben gebildet hatte, den prachtvollen Platz hierzu, der ein Capital von mindestens einer halben Million repräsentirt, auf unbestimmte Zeit unentgeltlich, indem die Gemeinnützigkeit der Idee klar auf der Hand lag. Wollte das Ministerium den Platz heute zurück oder bezahlt verlangen, so wäre der Sturz desselben, ja eine Revolution die unabänderliche Folge. Wer den Kopenhagener und sein Tivoli kennt, der wird diese Behauptung nicht für übertrieben halten. Reich und Arm, Hoch und Niedrig, Jung und Alt hat das Tivoli in's Herz geschlossen, jeder Kopenhagener, ich behaupte Jeder, ohne Ausnahme, besucht sein liebes Tivoli die Woche ein oder zwei Mal, und an Sonntagen gleicht der Zug dahin in Wahrheit einer Völkerwanderung.
Worin liegt dieser Zauber, der alle Welt anzieht? Zuerst in der ungemeinen Billigkeit, die den Platz für Jedermann zugänglich macht, eine Billigkeit, die eben nur dadurch ermöglicht wird, daß Grund und Boden nicht verzinst zu werden braucht.
Das Entrée beträgt pro Person l Mark = 31/2 Sgr. – Wolle mir der freundliche Leser folgen und mit mir sehen, was ihm für seine 31/2 Silbergroschen geboten wird.
Um den Weg brauchen wir uns nicht zu erkundigen, zahlreiche Fußgänger und fortwährend ab und zu fahrende Omnibuswagen führen uns ohne Frage die kurze Strecke vor das Westerthor, wo das geschmackvolle Eingangsgitter, beim Einbruch der Dunkelheit mit unzähligen reizend gruppirten farbigen Lampen beleuchtet, uns sofort in die Augen fällt.
Ein stets zahlreiches, aus allen Ständen bestehendes Publicum durchschwärmt bereits fröhlich die ausgedehnten großartigen Anlagen. An Sonntagen werden z. B. zwölf- bis vierzehntausend Billets ausgegeben, die Actiengesellschaft, als Eigenthümerin des Etablissements, ist dadurch im Stande, trotz des winzigen Eintrittspreises, auch in diesem Jahre den Theilhabern eine Dividende von
[767] zehn Procent zu bezahlen. Besehen wir uns das stets wechselnde Programm einer Verstellung im Tivoli.
1) Um 5 Uhr beginnt unter Leitung des bekannten Componisten E. Lumbye in dem reizend arrangirten großen Musiksaal ein großes Concert, wobei derselbe ein Schlachtgemälde „Unter Accompagnement von Kanonenschlägen, Musketensalven, Horn-, Trommel- und Trompetensignalen“ zum ersten Mal executiren läßt. 2) und 3) Aus dem Theater im Freien folgen die Productionen der Geschwister Cotrelly und im offenen Circus jene des bekannten Kunstreiters Loisset mit seiner Gesellschaft. 4) Im geschlossenen Circus zeigt Professor Förster aus London großartige Nebelbilder. 5) Komische Pantomime auf dem Theater, unter Mitwirkung der Geschwister Osmond, worin der ungemein beliebte, und in seiner Art auch treffliche Pierot-Darsteller Herr Volkerson mitwirkt. 6) Eine Seiltänzergesellschaft zeigt ihre Kunststücke. 7) Lebende Bilder. 8) Tombola. 9) Vorstellung des Kunstreiters Loisset im geschlossenen Circus. 10) Großartiges Feuerwerk. 11) Auf der sogenannten Insel und in den vielen Restaurationslocalen sind fortwährend Concerte und Vorträge von deutschen, schwedischen und dänischen Volkssängergesellschaften.
Die Anlage ist mit geschmackvollen Blumengruppen, Irrgärten, riesigen Lauben, Statuen etc. und unzähligen Volksbelustigungen versehen, Caroussel, Kraftmesser, Menagerien, eine Rutschbahn im größten Maßstabe, Kegelbahnen mit künstlichen Ueberraschungen für den Sieger, Schießstände, Bazare etc. stoßen dem Beschauer fast bei jedem Schritte auf, große und kleine Speise- und Erfrischungslocale laden den Müden und Durstigen zu trefflicher Naturalverpflegung bei billigen, von der Direktion[2] streng normirten Preisen ein; unter Ab- und Zuströmen der Menge, im bunten Wechsel der fortwährend sich ablösenden Unterhaltungen bleibt die Schaulust bis Mitternacht rege, wo die Massen dicht gedrängt und froh bewegt nach Hause eilen.
Kein Mann Polizei wird in den weiten Räumen sichtbar, jede Rohheit, jede Unanständigkeit, würde je eine solche hier gewagt werden, würde sofort an jedem der Anwesenden einen strengen Richter finden, ehe die Behörde Zeit hätte, sich in’s Mittel zu legen.
Nach diesen einfachen Umrissen wird es der freundliche Leser wohl begreiflich finden, daß den Fremden sofort die Frage empfängt: Waren Sie schon in unserem Tivoli? und daß der echte Kopenhagener den Tag für verloren ansieht, an dem er verhindert ist, sein geliebtes Tivoli zu besuchen. Es war daher ein mehr als kühnes Wagniß, als Carstenson, der Gründer desselben, mit dem Plane hervorrückte, seiner Schöpfung eine Nebenbuhlerin zu schaffen, die dieselbe noch überflügeln sollte.
Carstenson ist für das Vergnügen der Kopenhagener das, was Thorwaldsen für den künstlerischen Ruf der Hauptstadt ist. Wir wollen daher in flüchtigen Umrissen die Laufbahn dieses genialen Abenteurers zu zeichnen suchen. Nach einem bewegten Leben als ehemaliger Officier der Fremdenlegion von Algier in seine Vaterstadt zurückgekehrt, entwarf er, ein geborener, nicht gelernter Architekt, die Pläne zum Tivoli in allen Details und rief selbe auf Rechnung einer von ihm gegründeten Actiengesellschaft in’s Leben. Es wurde ihm ein so namhafter Antheil am Gewinn zugesichert, daß er sich ruhig hätte in seiner Heimath niederlassen und seiner Schöpfung freuen können. Aber Ruhe lag nicht im Charakter Carstenson’s. Nachdem unter seiner Leitung das ungemein beliebte und an Zweckmäßigkeit und Genialität der Anlage unübertroffene Casinotheater ebenfalls auf Actien gebaut wurde, ließ sich unser Carstenson seinen Antheil an den beiden Unternehmen mit einer namhaften Summe abkaufen und ging nach – New York, um mit einem Compagnon den dortigen Industriepalast für die Ausstellung zu bauen. Die Speculation schlug fehl, das große Unternehmen rentirte nicht, und Carstenson kehrte nach zwei Jahren von Amerika ebenso arm und mittellos nach Kopenhagen zurück, als er von Algier dahin gekommen war.
Mit der ihm eigenen kühnen Genialität entwarf er nun den Plan zur Alhambra, welche das Tivoli überflügeln sollte. In wenig Wochen war das nöthige Capital dazu, abermals durch Actionäre, aufgebracht und der Bau in Angriff genommen. Mit fieberhafter Hast trieb Carstenson zur Vollendung, die er nicht mehr schauen sollte, denn kurz vor Beendigung des Baues starb er, arm und körperlich wie pecuniär ruinirt, und das Geschick seiner Familie der öffentlichen Wohlthätigkeit überlassend, welche sich auch an derselben in glänzender Weise bewährte. Während er ein großes Vermögen hätte hinterlassen können, versplitterte er dasselbe in der Manie, sich fortwährend neue, feenhaft decorirte Wohnungen zu arrangiren. Kaum war mit enormen Kosten eine Idee ausgeführt und er in die prachtvollen Räume eines neuen Hauses eingezogen, so widerte seine stets arbeitende Phantasie das originelle Einerlei seiner Schöpfung an, die reiche Ausstattung wurde mit außerordentlichen Verlusten verkauft und eine neue Einrichtung erfunden; ähnlich wie Alexander Dumas verschleuderte er die reichen Früchte seiner Arbeit in phantastischen Entwürfen und ruhelosem Schaffen genialer Projecte.
Das Hauptgebäude (Theater und Concertsaal) der Alhambra ist beides in maurischem Styl erbaut. Das Theater enthält in amphitheatralischer Form über bequeme Sitzplätze, die hohen Bogenfenster von farbigem Glas machen einen imposanten Effect. Statt des in Schauspielhäusern gewöhnlichen Kronleuchters im Zuschauerraume entzündet sich hier im Zwischenakt plötzlich eine aus unzähligen dicht an einander gedrängten Gasflammen bestehende und unter einem concaven Glasbehälter befindliche Sonne, deren Licht sich, durch Reverberen vervielfältigt, über das Auditorium tageshell ergießt und mit dem Beginn der Vorstellung wieder erlischt. Es ist dies eine ganz vortreffliche, zweckmäßige und wahrhaft überraschende Neuerung, deren Einführung an allen deutschen Bühnen zu wünschen wäre.
Schreiber dieses wohnte in der Alhambra – am 25. Juli – dem Siegesfest der Schlacht bei Idstedt bei, bei dem freilich der Wille, die Festlichkeit recht großartig zu gestalten, eben so wie im Tivoli, weit hinter der Ausführung zurückblieb und wie eine kindische Ostentation aussah. Schon den ganzen Tag lief eine Bande in schlechte Uniformen gekleideter Jungen trommelnd durch die Straßen der Stadt. Ich habe nicht erfahren können, ob diese bettelhafte Militairkleidung irgend einem Institut angehört oder bloß als Maskerade zur Feier des Tages dienen sollte. Auch an den öffentlichen Belustigungsorten fand ich diese jugendlichen Lärmmacher wieder in voller Thätigkeit. Das Fest eröffnete ein Schlachtgesang in Begleitung von 24 Kanonenschlägen. Drei Lustspiele mit Gesang, von denen ich, der dänischen Sprache nicht mächtig, nichts verstand, als daß selbe recht mangelhaft aufgeführt wurden, lebende Bilder auf dem Theater im Garten unter Gottes blauem Himmel von der Gesellschaft eines Herrn Alfonso und „dessen Damen“ ausgeführt, wobei fleischfarbene Tricots die Hauptrolle spielten, großes Concert mit einem neuen Tongemälde: „Die Schlacht bei Idstedt“, ein ziemlich wilder Tanz einer bildhübschen Künstlerin, Frl. Louise Hélin, die Pantomime: „Pierot als Barbier“ und ein von hundert Soldaten ausgeführtes Schlachttableau unter Feuerwerksbegleitung, das waren so ziemlich die Ingredienzien zur mageren Siegesfeier. Das zahlreich versammelte Publicum verhielt sich leidlich passiv und gab dem Schreiber dieser Zeilen auch hier Gelegenheit, den Takt zu bewundern, mit welchem in Kopenhagen sich die Menge bei Massenversammlungen aus allen Ständen benimmt. Nicht die geringste Störung fällt vor, Alles bewegt sich froh durcheinander und vergnügt sich harmlos an dem Gebotenen. In Berlin würde – leider muß dies ausgesprochen sein – ein öffentlicher Vergnügungsort für alle Classen der Gesellschaft mit einem so geringen Eintrittspreis ohne Exceß nicht denkbar sein. Freilich zeichnet sich der Berliner Pöbel an Rohheit vor dem der anderen deutschen Hauptstädte auf traurige Weise aus.
Uebrigens liegen die jetzigen Leiter der Alhambra und die Actionäre des Institutes nicht auf Rosen. Das Local konnte nur ein Jahr, durch den Reiz der Neuheit getragen, der gewaltigen Concurrenz des Tivoli widerstehen, schon im nächsten Monat wird dasselbe unter dem Subhastationshammer dem Meistbietenden zugeschlagen werden, ob es dann unter tüchtigerer Leitung als die jetzige, allerdings sehr mangelhafte und einseitige, sich wird halten können, bleibe dahin gestellt. Vor dem Westerthore hinaus schließt sich ein Vergnügungslocal, eine Schaustellung an die andere an; ich erwähne als Curiosum „die Mumie der Pastrana“; die prachtvollsten Gärten für Biertrinker mit eleganten Salons reihen sich an einander, und an allen diesen Bauten ist der Einfluß der originellen Carstenson’schen Architektur unverkennbar.
Auch das Seebad Marienlyst cultivirt in neuester Zeit durch Aufstellung einer Masse von Schaubuden, Restaurationen mit Tanzböden und Sängergesellschaften die Lust an öffentlichen Unterhaltungen. [768] Dies Unternehmen ist ebenfalls durch eine Actiengesellschaft in’s Leben gerufen und durch Schenkung des prachtvollsten und ausgedehntesten Waldbodens, in Berücksichtigung des gemeinnützigen Zweckes, vom Ministerium auf’s Humanste unterstützt worden.
Einen lohnenderen Ausflug, als den nach Helsingör[3] über Marienlust und zurück durch den Thiergarten kann man sich nicht denken. Für Personen von etwas lebhafter Phantasie wird am ersteren Ort auch die Hamletterrasse, auf welcher Shakespeare den Geist des Dänenkönigs erscheinen läßt, und Hamlet’s Grab Interesse haben. Letzteres wird auf einer kleinen Wiese des Gasthausgartens gezeigt, ist mit einem abgerundeten, sehr roh gearbeiteten Säulenstumpf verziert und läßt der Einbildungskraft des Beschauers den ausgedehntesten Spielraum übrig, Für Personen, welche auch die 31/2 Sgr. Entrée in’s Tivoli oder Alhambra nicht auftreiben können, bieten die Volksfeste im Thiergarten während zwei Monaten (Juni und Juli) den ausgedehntesten Unterhaltungsstoff. Bekanntlich zeichnet sich der Thiergarten durch seinen riesigen Baumwuchs und seine wunderbar schönen Anlagen aus. Während nun die glücklich situirte Minderheit in ihren Equipagen auf und ab stolzirend ihr liebes Ich die Allee entlang zur Schau führen läßt, treibt sich die Menge auf den von prachtvollen Buchen eingeschlossenen Wiesen herum, wo zahllose Zelte, Buden mit Erfrischungen, Gauklerbanden, Seiltänzer, Taschenspieler, Caroussels, Feuerfresser etc. etc. für den Preis von einem Shilling – 3 Pfennige – zum Besuche einladen. Hier geht es, namentlich an Sonn- und Festtagen, toll und lustig zu, und hier sollen sich allerdings, um mit dem Herzog Heinrich von Reuß-Schleiz-Lobenstein zu sprechen, mit einbrechender Dunkelheit die Begriffe von Anständig und Unanständig etwas zu verwirren anfangen. Nichts desto weniger hört aber auch dann die Gemüthlichkeit nicht auf, und rohe Aeußerungen von Betrunkenheit, Scandal und wüstem Lärm, wie bei ähnlichen Gelegenheiten in großen Städten unvermeidlich, wird der Fremde hier vergebens suchen. Welch’ ein Contrast zwischen den ekelhaften Orgien des Hamburger Berges und dem frohen Volkstreiben in Kopenhagen! Worin liegt der Unterschied? Die Regierung unterstützt an letzterem Ort die Unternehmer öffentlicher Vergnügungslocale in jeder denkbaren Weise und ermöglicht es denselben, diese durch kleine Eintrittspreise für alle Classen zugleich zu öffnen, während die schweren Lasten, die in Deutschland auf derartigen Etablissements ruhen, dies geradezu unmöglich machen. Wäre in Wien, Hamburg oder Berlin das Zustandekommen eines Institutes, wie das Kopenhagener Tivoli, unter ähnlichen Bedingungen denkbar, so würde dem Volke eine wahre Wohlthat erwiesen werten; die sogenannten kleinen Leute würden ihre paar Pfennige nicht mehr den Schnapsbuden zutragen, sondern nach und nach Sinn für anständigere Vergnügungen finden, das Zusammentreffen mit Gebildeteren würde nicht ohne Einfluß bleiben, und viele Rohheiten würden verschwinden, die uns jetzt mit Indignation erfüllen. Darauf hinzudeuten, ist der Zweck dieser Zeilen; möge derselbe kein verlorener sein!
W. S. in Halle. Ein armer Bergmann, welcher bis jetzt nur für die
Tiefe der deutschen Erde Sinn gehabt, sendet dem Meister Wilhelm,
dem deutschen Erfinder (Nr. 41 der Gartenl.), als Ergründer der Tiefe
der See einen Gruß und – als erste Gabe zum Bau eines
deutschen Taucherschiffs – 15 Silbergroschen. Wir ziehen den
Hut ab vor dieser Gäbe der Armuth und den verständigen Sinns und
warmen Mitgefühls. Die oberen Patrioten und vermögenden Herren
sollten wohl ein Beispiel nehmen an diesem armen Bergmann. Wir
haben Herrn Submarine-Ingenieur Bauer Gabe und Beischrift übersandt;
er ist der Mann, der ihren Ehrenwerth zu würdigen weiß.
L. in Leipzig. „Einiges aus der Schweiz “ Dank, aber geht nicht.
B. in T. – Das Leiden des großen Künstlers stammt nicht aus der von Ihnen vermutheten Ursache; eine körperliche Disposition von Jugend auf scheint durch die jahrelangen Entbehrungen sich zu der verhängnisvollen Krankheit ausgebildet zu haben. Hätten Armuth und Sorge nicht diejenigen Jugendjahre des Meisters bedrängt, in denen er bei rastlosem Fleiß sich körperlich rasch entwickelte, er wäre seinem Volke wohl länger erhalten geblieben.
F. H. in K. St. Nicht zu gebrauchen. Bitten über das Manuscript zu verfügen.
L. in S. Die „Stenographischen Unterrichtsbriefe“ von R. Fischer (Glauchau bei Moritz) dürfen auch wir Ihnen auf das Angelegentlichste empfehlen. Nach allen darüber eingeholten Urtheilen Sachverständiger sind sie klar und faßlich geschrieben und können mit dem besten Erfolg zum Selbststudium benutzt werden.
H. in W. Wenn Sie diese Zeilen lesen, schwimmt Th. Oelckers schon auf dem Meere. Er verläßt seine deutsche Heimath, in der er zehn lange Jahre hinter den Eisengittern einen sächsischen Zuchthauses verbrachte, um einem ehrenvollen Rufe als Redacteur eines deutschen Blattes in Porto Alegre (Brasilien) zu folgen. Oelckers nimmt die Achtung Aller mit, die ihn aus seinem Wirken und seinen Werken kennen, und die besten Wünsche für ihn und seine einflußreiche Stellung folgen dem Ehrenmann, der von seiner Heimath nur mit Gefühlen der Liebe und mit herzlichen Wünschen für ihr Wohl – vielleicht für immer – Abschied nimmt.
K. in Lp. Von Traeger’s Gedichten ist die zweite, sehr vermehrte und prachtvoll ausgestattete Auflage bereits erschienen. Wir kommen später auf dieses Buch noch zurück.
H. in Bernburg. Waschen Sie sich den Kopf immerhin mit Spiritus; noch besser dürfte Ihnen oder Ihrem Kopfe aber heißes Seifenwasser mit Spiritus bekommen.
Auerbach, deutscher Volkskalender 1862. Mit Bildern von Kaulbach, Thumann und Ille. broch. 121/2 Ngr.
Bock, Buch vom gesunden und kranken Menschen. Mit 25 feinen Abbildungen. Vierte vermehrte Auflage. broch. 1 Thlr. 221/2 Ngr., eleg. geb. 2 Thlr.
Diezmann, Goethe und die lustige Zeit in Weimar. broch. i Thlr. 10 Ngr.
Gerstäcker, Gemsjagd in Tirol. Mit 34 Illustrationen, eleg. broch. 3 Thlr. 10 Ngr., in engl. Preßdecken 4 Thlr. 5 Ngr.
Oelckers Mein Mitgefangenen, Gedichte broch 1. Thlr.
Roßmäßler, der Mensch im Spiegel der Natur. Mit Holzschnitten. 5 Bde. 2. Auslage broch. à Bd. 15 Ngr.
Ruppius, Ein Deutscher. Roman aus der amerikanischen Gesellschaft. Separat-Ausgabe aus der Gartenlaube. geh. 27 Ngr.
Stolle, Palmen des Friedens. Eine Mitgabe auf des Lebens Pilgerreise. Zweite Auflage, eleg. geb. 1 Thlr. 10 Ngr.
Stolle, ausgewählte Schriften. Volks- und Familienausgabe. 27 Bände. Zweite Auflage, broch. à Band 71/2 Ngr.
Storch, Gedichte. eleg. cart. 1 Thlr. 6 Ngr., prachtvoll geb. mit Goldschnitt 1 Thlr. 15 Ngr.
Storch, ausgewählte Romane und Erzählungen. Volks- und Familienausgabe. 19 Bde. broch. à Bd. 71/2Ngr.
Traeger, Gedichte. Zweite, sehr vermehrte Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 11/3 Thlr.
- ↑ Die Namen der einzelnen Hamburger Persönlichkeiten sind aus leicht erklärlichen Gründen absichtlich übergangen.
- ↑ Die Direktion besteht stets aus einem Beamten, einem geachteten, intelligenten Bürger und einem namhaften Schriftsteller.
- ↑ Das Dampfboot fährt dahin durch den Hafen, mitten durch die halbvermoderte dänische Kriegsflotte, von der ein Schiff im Jahre 1848 den ganzen Ostseehandel darnieder streckte. Schreiber dieses sah diesen Popanz auf einer Reise nach Petersburg auf dem russischen Dampfboot Wladimir drohend vor Swinemünde liegen und vor dem russischen Adler salutiren. Möge jeder Deutsche, der diesen Namens werth ist, jetzt nach Kräften sein Scherflein zur Bildung einer deutschen Flotte, zur Abwendung ähnlicher Schmach, beitragen!