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Die Gartenlaube (1860)/Heft 37

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 37. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Arcier.

Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Es war am andern Morgen gegen zehn Uhr, Frohn warf sich eben in seine volle Uniform, denn er hatte heute Wachtdienst in der Burg, als das Hausmädchen in sein Zimmer trat und ihm eine überraschende Botschaft brachte.

„Ew. Gnoden,“ sagte das Mädchen mit einer gewissen geheim thuenden Wichtigkeit, „möchten’s net so gütig san, und kommen auf an Augenblick ’nunter zur Mamsell Thereserl. Sie laßt Ihna gar schön bitt’n!“

Frohn war natürlich sehr bereit, dieser Einladung zu folgen; er knöpfte den Scharlachrock zu, warf einen Blick in seinen Spiegel und folgte dem dienenden Hausgeist in die noch unbetretenen Regionen des Hauses, die er im Stillen das Elfenreich getauft hatte.

Ein Elfenreich war es nun zwar nicht, worin das Thereserl haus’te, aber ein sehr hübsches Hinterzimmer, das durch eine Glasthüre mit dem Gärtchen in Verbindung stand, in welchem Thereserl die schönsten Blumen zog – sie dufteten durch die offene Thüre herein. Dies Gärtchen wurde von der Straße getrennt durch die Mauer mit der kleinen Thüre, an welche Franzl damals, als er Frohn zuerst in dies Haus brachte, angeklopft hatte. Das Zimmer der jungen Dame, in welches man durch einen stillen, nur von einigen alten dunklen Schränken bewohnten Vorraum kam, war nicht gerade luxuriös, aber es war unendlich besser und geschmackvoller eingerichtet, als das Wohnzimmer derer, welche das junge Mädchen die Herren Eltern nannte. Frohn konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob das hübsche Kind aus einem höheren Lebenskreise stamme und von gutmüthigen Leuten, denen es anvertraut, nur vor der Welt Tochter genannt werde, während sie es im Stillen mit Allem umgaben, worauf eine vornehme Dame Anspruch machen könne. Aber war dies der Fall, so wurde doch dem Eintretenden auf den ersten Blick klar, daß sie das junge Mädchen trotz aller Sorge nicht hatten vor einem großen Kummer schützen können.

Thereserl saß in einem hübschen Armstuhl hinter einem Nähtischchen am zweiten Fenster in der Ecke des Zimmers; eine angefangene Arbeit lag in ihrem Schooß, ihre Hände ruhten müßig darauf, und aus ihren hübschen Augen rannen Thränen über ihre Wangen hinab. Sie trocknete diese rasch, als sie Frohn erblickte, vor dem die Magd, ohne ihn weiter zu melden, die Thüre geöffnet hatte. Sie ging ihm entgegen und streckte ihm die Hand hin.

„Wie gut Sie sind, daß Sie zu mir kommen!“ sagte sie in ihrem hübschen Wiener Dialekt, auf dessen Nachbildung wir verzichten müssen, und fuhr dann lebhaft fort: „Ich hoffe, Sie denken nicht schlecht von mir, daß ich mir so viel herausnehme; aber sehen Sie, Herr von Frohn, als Sie gestern so vor mir saßen und erzählten so eine merkwürdige Geschichte, wie Sie sich so brav gehalten und für Alles einen Rath gewußt, und immer den besten …“

„Ich bitte, bitte, Demoiselle,“ fiel Frohn hier ein, „wenn Sie so reden, so muß ich ja denken, ich habe gestern den rechten Prahlhans und Aufschneider hervorgekehrt.“

„Nein, nein, gar nicht haben Sie das, im Gegentheil, ich hab’s recht gut gemerkt, wie Sie das, was Sie selber gethan, verschwiegen, um das zu erzählen, was Ihre Cameraden dabei gethan, und doch hab’ ich schon herausgehört, wer das Ganze allein durchgeführt hat – aber erst sollen Sie sich setzen, da auf das Sopha, und dann lassen’s mich weiter reden, was ich Ihnen sagen wollt’, – ja sehen’s, ich dacht’ mir gleich, wie ich Ihnen gestern so gegenüber saß: dem Herrn mußt du halt dein Leid klagen, der weiß einen Rath, wenn ihn Einer weiß in ganz Wien, und die ganze Nacht hab’ ich überlegt, wie ich’s mach’ und wie sich’s am besten schicken wollt’, und da hab’ ich recht gebetet heut’ Morgen zu allen vierzehn heiligen Nothhelfern, und dann hab’ ich ein recht Vertrauen gefaßt …“

„Daran hat die Demoiselle wohl und recht gethan,“ antwortete Frohn lächelnd, „denn wenn ich auch kein Heiliger bin – Ihr Nothhelfer zu werden, danach verlangt meine Seele – sagen Sie mir deshalb offen und rückhaltlos, was Sie bedrängt und Ihr junges Herz mit Kummer füllt.“

Der Arcier streckte ihr, indem er mit dem gutmüthigsten Tone von der Welt diese Worte sprach, die kräftige gebräunte Rechte hin, in welche das Thereserl für einen Augenblick die Spitzen ihrer weißen Finger legte.

„Ja, schaun Sie,“ begann sie, indem sie sich wieder auf ihren Sitz, der neben dem Sopha Frohn’s stand, niederließ; „Sie werden’s wohl schon gemerkt haben, wie’s hier im Hause steht; ’s wär’ Alles schon gut und wie’s sein sollt’, wenn nur der ewige Verdruß nicht wäre, der Verdruß, wissen’s, mit meinem Bruder, dem Franzl, dem nichtsnutzigen Menschen, der uns Alle noch unter die Erde bringt durch seine dummen Streiche.“

„Ist der so schlimm?“ fiel Frohn begütigend ein, da er sah, daß das Thereserl im Begriff war, sich in einen rechten Zorn hineinzureden.

„Gar zu schlimm, Herr von Frohn, Sie können sich’s nicht [578] vorstellen, die Anschläge, die er hat; zeitlebens hat er nichts getaugt, auf den Schulen nicht, da haben’s ihn fortgejagt, beim Maler nicht, bei dem er in die Lehre gegangen ist, der hat ihn auch fortgejagt, und dann ist er beim Theater gewesen und hat gemeint, er sei ein großes Genie und die Besten sollten noch von ihm lernen, aber da haben’s ihn ausgelacht, und der Herr Schikaneder, wissen’s, der in dem Schwarzenberg’schen Palais sein Theater hat, der hat ihn auch nicht mehr haben wollen. Da ist er denn zur Reitschule als Scholar gekommen, und ’s hat auch eine Weile gut gethan, daß der Vater gemeint hat, er wird jetzt Ruh’ vor ihm haben – nur daß er alle Augenblicke gekommen ist, um Geld zu verlangen.“

„Und jetzt hat ihn die Reitschule auch fortgeschickt, und ich soll einen guten Rath geben, wie man seine Nichtsnutzigkeit in irgend einem Soldatencorps zu passender Verwendung bringen könnte?“ unterbrach Frohn den eifrigen Redestrom.

„Ach, wenn’s weiter nichts wäre,“ fiel das junge Mädchen ein, „nein, viel schlimmer ist’s, denn schaun Sie, der Futterschreiber hat ihm nachgesagt, er hätt’ ihm anvertrautes Geld unterschlagen, und da ist die Polizei gekommen und hat ihm seine Sachen durchvisitirt, und was sie gefunden haben, das haben sie mitgenommen und haben ihn in’s Arresthaus eingesperrt.“

„Das ist freilich eine arge Geschichte,“ sagte Frohn betroffen und voll Theilnahme.

„Ja freilich,“ fuhr Thereserl, deren Thränen wieder zu fließen begannen, fort, „freilich ist’s eine arge Geschichte, aber das Aergste ist’s doch noch nicht, denn schaun Sie, Herr von Frohn, ’s ist nicht allein um das, für den Franzl wär’s ein rechter Denkzettel, daß er ’mal so anrennt, aber was das Schlimmste ist, er hat mir auch etwas gestohlen, und das haben sie jetzt auch auf der Polizei, und das ist gar schrecklich, denn wenn ich’s nicht wieder bekomme, so geht’s um mein Leben, und aus der Donau unten können’s mich herausfischen, ehe wenig Tage vergehen, und …“

Das junge Mädchen brach hier in ein heftiges Schluchzen aus, das ihre Worte erstickte.

„Nun, mein Gott,“ sagte Frohn, erstaunt über diesen leidenschaftlichen Ausbruch, „so holt man’s eben wieder. Ich begreife, daß Sie nicht gern auf der Polizei erscheinen wollen, um durch solch eine Reklamation Ihres Eigenthums als Anklägerin gegen Ihren Bruder aufzutreten. Aber Sie können ja sagen, Sie hätten es ihm selber anvertraut oder geliehen.“

„Ach Gott,“ fiel Thereserl ein, lebhaft mit der Hand winkend, als ob sie damit Frohn’s Vorschlag abwehren wolle, noch bevor sie es mit Worten thun könne, „wenn das ginge! Aber schaun Sie, ich kann’s ja gar nicht sagen, daß es mir gehört, und es gehört mir auch gar nicht, und da würden sie mich schön in’s Gebet nehmen auf der Polizei, wenn ich darein käme, und ausliefern thäten sie’s mir hernach doch nicht.“

„Aber was ist’s denn, Demoiselle Thereserl, was kann es denn sein, das Ihnen so am Herzen liegt, und das Sie doch nicht als Ihr Eigenthum reclamiren dürfen?“

Thereserl schlug ihre beiden Hände wie in heller Verzweiflung vor das Gesicht.

„Ach, wenn ichs Ihnen doch nur sagen könnt’!“ schluchzte sie, „wenn ich nur wüßt’, daß Sie nicht gar zu schlecht von mir denken würden, wenn ich’s Ihnen sagte!“

Frohn blickte auf das junge Mädchen mit steigender Verwunderung. Die Sache wurde ihm immer räthselhafter.

„Können Sie denn nicht Ihren Vater danach senden?“ fragte er jetzt.

Therese schüttelte stumm den Kopf.

„Nun, Sie haben mir so viel anvertraut,“ fuhr Frohn fort, „weshalb können Sie mir denn dies unglückliche Ding nicht nennen, an dem Ihnen so viel gelegen ist, und das ich Ihnen gern wieder verschaffen werde, wenn es in meinen Kräften steht?“

„Ja, ich wußt’s,“ stammelte Therese, von ihren Thränen unterbrochen, „daß Sie gut sein und Mitleid mit mir haben und mir helfen würden, aber schaun Sie, gerade darum wird es mir so schwer; ach, wenn ich’s einmal gesagt habe, dann ist’s aus und dann werden Sie mich verachten, und …“

Frohn legte mit der Miene gutmüthigster Aufrichtigkeit seine Hand auf ihren Arm.

„Rede die Demoiselle Therese doch nicht so thöricht,“ sagte er dabei. „Wie sollt’ ich Sie verachten?! Also hübsch heraus damit, was ist’s, was der böse Bube, der Franzl ihr genommen hat?“

„Ein Orden ist’s!“ sagte sie mit dem krampfhaften Schluchzen eines Kindes.

„Ein Orden?“

„Ein Stephansorden, gar schön aus Gold gemacht und ein rothes Seidenband, um ihn um den Hals zu tragen, dazu …“

„Der war in Ihrem Besitz, und der Franzl hat ihn fortgenommen?“

„Aus meinem Nähtischchen hier,“ sagte sie, „und einen goldenen Fingerhut und mein Geld dazu; den Orden muß ich wiederhaben, oder ich sterbe vor Angst und Verdruß!“

Therese gab sich wieder einem ihrer Anfälle von Verzweiflung hin.

„Aber erklären Sie mir,“ fragte Frohn erstaunt, „wie kommen Sie zu dem Orden? Wie kommt ein solches Kreuz in das Nähtischchen eines jungen Mädchens, wie Sie sind? Der Kaiser, der als Herzog von Toscana der Großmeister ist, wird ihn der Demoiselle Thereserl nicht verliehen haben; ein Geschenk zum Namenstag von der Gode wird’s auch nicht sein, und erben kann man die Stephansorden auch nicht, denn wenn ein Ritter stirbt, so muß das Kreuz sogleich an den Ordensherold ausgeliefert werden. Nun, ich merk’s schon,“ fuhr Frohn gutmüthig lächelnd fort, „es geht mir halt ein Lichtlein auf, ein kleines; soll ich’s der Demoiselle in’s Ohr sagen? – einen Schatz haben wir, das ist ein vornehmer Cavalier, der hat den Orden uns zum Spielzeug hier gelassen, und nun sind wir in tausend Aengsten, weil wir ihm doch nicht sagen mögen, daß wir einen Bruder haben, der lange Finger macht, und weil wir den Cavalier nicht auf die Polizei schicken können, sich seinen Sanct Stephan unter den gestohlenen Sachen wieder zu suchen!“

Theresens tiefdunkles Erröthen zeigte Frohn, daß er das Rechte getroffen.

„Ja, so ist’s,“ stammelte sie in größter Verwirrung, „so ist’s, nur ist’s noch schlimmer!“

„Noch schlimmer? Was heißt das, Thereserl?“

„Der Cavalier hat eine grausam strenge Mutter, und der Orden ist derselbe, den sein Vater früher immer selbst getragen hat, und wenn er an dem nächsten Sonntag den Orden nicht trägt und nicht hat, so gibt es eine Sekatur und einen Verdruß, daß es gar nicht aufzusagen ist; und wenn die Sache auf der Polizei zur Sprache kommt, und der Franzl hält nicht reinen Mund und gesteht, wem er’s genommen, und es kommt auf mich, dann machen’s mich zeitlebens unglücklich und elend, und es wird so schlimm, daß ich’s gar nicht denken mag.“

Frohn begriff nur zu gut, daß das junge Mädchen sich allerdings in einer unangenehmen Lage befinde; wenn der böse Franz gestand, daß er seiner Schwester den Orden genommen, so mußte diese freilich in den Verdacht kommen, daß sie ihn sich widerrechtlich angeeignet, falls der betreffende Cavalier nicht für sie einstand und ihre Unschuld erklärte. Und für sie nicht so offen und männlich einzustehen, dazu konnte dieser Cavalier allerdings Gründe und sehr triftige Gründe haben.

Natürlich hatte die Entdeckung, welche unser Freund von der Arcieren-Leibgarde gemacht, die Entdeckung, was Thereserl’s Zurückgezogenheit und ihr unsichtbares Elfenwalten in der Stille des hübschen Gartenzimmers eigentlich für eine tiefere Bedeutung habe, auf seine lebhafte Sympathie für das reizende Geschöpf ein wenig erkältend eingewirkt. Nichtsdestoweniger empfand er ein herzliches Mitleid mit ihr und sagte:

„Ich sehe schon, die Demoiselle hat nicht den Muth, die Geschichte dem anzuvertrauen, der allein hier helfen könnte und helfen müßte; und da soll der Herr von Frohn zu ihm gehen und ein vernünftiges Wort mit ihm reden. Nun ja, ich thu’s ja gern ihr zu Gefallen. Er wird die Sache dann schon in Ordnung bringen und seinen Orden von der Polizei sich wieder ausbitten. Sagen Sie mir nur, wie Ihr hübscher Schatz heißt, und ich will’s schon ausrichten.“

Thereserl machte wieder ihre lebhafte abwehrende Handbewegung.

„Ach Gott, das ist’s ja gerade, daß ich’s nicht sagen darf und kann, und daß ich mir lieber die Zunge abbiß, als es ausbrächte, und daß es auf der Polizei auch gar nicht auskommen darf.“

[579] Frohn blickte nachdenklich und betroffen das junge Mädchen an. „Und das Alles,“ sagte er dann, „weil Ihr Ordensritter eine so grausam strenge Mutter hat?“

Sie nickte mit dem Kopfe.

„Von der er abhängig ist?“

„Es muß wohl so sein!“

„Ist er denn noch gar so jung?“

„Zweiundzwanzig Jahre und –“ Sie endete nicht, als ob sie fürchte, schon zu viel gesagt zu haben.

Frohn sah nachdenklich vor sich hin.

„Wie ist’s denn gekommen?“ fragte er nach einer stummen Pause, „daß der leichtsinnige Zweiundzwanzigjährige den Orden bei der Demoiselle Therese hinterlassen hat?“

„Ach, ein Scherz war’s, ein leidiger. Als er zuletzt hier war und versprach, heute wieder zu kommen, da nahm ich ihm den Orden ab, als Pfand, daß er hübsch Wort halte, und deshalb ließ er’s geschehen und lachte dazu!“

„Eine üble Geschichte ist’s schon,“ rief Frohn aufstehend aus, und nachdenklich schritt er einige Male in dem Zimmer auf und ab.

„Aber,“ fuhr er fort, „da die Demoiselle mich einmal zum halben Vertrauten gemacht hat, so soll sie nicht umsonst auf mich gebaut haben. Ich will sehen, was zu machen ist. Nur ist’s heute keine Zeit. Ich muß fort, denn es geht auf Mittag und um Zwölf muß ich auf Wache in der Burg. Morgen Mittag werde ich abgelöst und komme zu der Demoiselle zurück, um ihr zu sagen, was ich mir ausgedacht habe.“

„Ach, Sie gehen, Herr von Frohn, ohne mir einen bestimmten Trost zu geben?“

Der Arcier zuckte die Achseln.

„Der Dienst geht Allem vor, auch dem Vergnügen, eine so liebenswürdige Demoiselle zu trösten.“

„Und gerade heute!“ sagte sie, die Hände wie in Verzweiflung zusammenschlagend.

Frohn reichte ihr die Hand. „Gerade heute? Kommt’s denn auf die vierundzwanzig Stunden an?“

Sie blickte verlegen zu Boden und sah dann mit ihren verführerischen Augen leuchtend zu Frohn empor.

„Nun, gehen Sie,“ sagte sie, „und denken Sie auf der Wach’ etwas aus, was der armen Thereserl aus ihrer Noth hilft. Aber erfahren darf kein Mensch davon! Was dann alles geschäh’, wenn’s ausgebracht würde, daß der junge Herr die arme Therese lieb hat und zuweilen zu ihr kommt, ganz im Stillen, das wär’ gar nicht auszusagen, und er ist doch ein gar so lieber, lieber Mensch –“

„Ein Engel, Thereserl, ein Engel!“ fiel Frohn mit gutmüthigem Lächeln ein.

„Ein Engel ist’s auch von lauter herziger Güte, und ich hab’ ihn auch so lieb, daß ich gleich hier das Leben für ihn gäb’, aber die Schande und den Spott und das Gerede von den bösen Leuten und die Beschimpfung, die ’s mir anthäten –“

Ein innerer Schauder zitterte bei diesen Worten durch die ganze Gestalt des geängstigten jungen Mädchens.

Frohn sah mit tiefer Theilnahme auf sie nieder.

„Ja, ja, Sie haben Recht,“ sagte er ernst.

„In’s Wasser müßt’ ich mich stürzen, lieber als das erleben,“ fuhr sie, wieder die Hände vor das Gesicht schlagend, fort.

„Und darum will ich Alles aufbieten, was in meiner Macht ist,“ entgegnete Frohn; „ich weiß schon, um was es sich handelt.“

Sie sah ihn fragend und ängstlich an, als ob sie aus seinen Zügen den Sinn dieser Bemerkung lesen wolle.

„Ich weiß schon, wer Ihr Schatz ist,“ sagte Frohn. „Soll ich ihn der Demoiselle in’s Ohr sagen?“

„Um Gotteswillen!“ rief sie erschrocken aus, indem sie ihre Hand auf seinen Mund legte.


4.

Frohn hatte seinen Wachdienst in der Burg angetreten. Die Wachtstube des kleinen Corps in der Residenz war eine düstere „Antecamera“, mit gepolsterten Bänken, welche an den Wänden unter einer Reihe von Pflöcken umherliefen, an denen die blanken Hellebarden der Arcieren hingen. Der zu besetzenden Posten waren wenige, da sich in die Bewachung der Burg außer den Arcieren noch die Corps der Trabanten-Leibgarde und der Burgwächter theilten. Die Arcieren, welche in Hofwagen zu ihrem Dienst abgeholt wurden, hatten immer die bevorzugten Posten vor den Gemächern der kaiserlichen Herrschaften.

Von vier bis sechs Uhr Abends hatte Frohn Posten gestanden; um Zehn war wieder die Reihe an ihn gekommen. Der Vice-Second-Wachtmeister und dem Range nach Rittmeister, der die Wache commandirte, ließ die Ablösung um diese Stunde wieder antreten und marschirte mit ihr ab; es waren außer Frohn noch drei Mann. Diese erhielten einer nach dem andern an den gewöhnlichen Stellen ihre unterhaltende und für das Staatswohl so bedeutsame Mission, die geschulterte Wehr zwei schrecklich langsam verfließende Stunden hindurch auf und ab zu tragen vor irgend einer hohen dunklen Flügelthüre, die sich aus dieser Ehrenbezeigung auch nicht das Allergeringste zu machen schien. Mit der abgelösten Mannschaft und unserem Freunde marschirte der Vice-Second-Befehlshaber weiter und endlich in einen stillen abgelegenen Seitengang hinein. Dieser hatte in der Wand links eine kleine Thüre, am entgegengesetzten Ende eine schmale Stiege, und der Thüre gegenüber hing eine düster brennende Wandlampe, die ihn sehr unvollkommen beleuchtete.

„Es soll hier für die Nacht ein Posten ausgestellt werden,“ sagte der Anführer des kleinen Pelotons. „Herr von Frohn bleibt dazu hier. Vor dieser Thür hier. Merken Sie sich Ihre Ordre: die Thür ist cassirt, Niemand geht da aus und ein, es mag sein, wer es will. Verstanden?“

„Zu Befehl!“ versetzte Frohn.

„Es ist Ihrer Majestät, der Kaiserin, ausdrücklicher Befehl,“ fuhr der Vice-Second-Wachtmeister fort. „Der Posten, der um irgend einer Person willen die Ordre verletzt, soll sofort in die Eisen gelegt werden!“

Der Wachtmeister zog nach dieser kurzen, inhaltvollen Standrede ab, und Frohn stand allein in dem dämmerigen Gange, vor der Thüre, die ihn sehr schwarz und düster und wie erbost darüber, daß man ihr das Recht auf die Existenz absprechen wolle, anblickte. Eine Weile ging er auf und ab und lauschte auf die vollständige Stille, welche diesen entlegenen Theil der weitgedehnten Gebäudemassen erfüllte. Seine Gedanken kehrten bald zu der armen Therese und ihrer Noth und Angst zurück. Es war wirklich eine verzweifelte Geschichte, und Frohn hatte trotz alles Sinnens noch keine Idee, wie es ihm möglich werden solle, ihr zu helfen. Der Orden mußte ohne Zeitverlust herbeigeschafft werden, die Polizei mußte ihn herausgeben und dazu noch bewogen werden, keine Nachforschungen anzustellen, wie er in des liederlichen Franzl’s Besitz gekommen. Kam das arme Thereserl auf den Polizeibericht, der am Ende der Woche der Kaiserin vorgelegt werden mußte, und dazu die Aufklärung, wie sie zu dem Orden gekommen, so war die in solchen Dingen ganz unerbittlich sittenstrenge Monarchin im Stande, dem im Verborgenen blühenden Elfenthum des jungen Mädchens und einer romantischen Jugendliebe durch eine grausame, entehrende Strafe und eine Ausweisung aus Wien ein entsetzliches Ende zu machen. Unter allen Umständen war die Kaiserin im Stande, so zu verfahren … ganz gewiß aber, wenn Frohns Voraussetzung über den jungen Herrn, der schon mit zweiundzwanzig Jahren des hohen lotharingisch-toscanischen Sanct Stephans-Ordens Ritter war, sich bestätigte.

Und gesetzt auch, der schlimme Franzl hätte geschwiegen und Thereserl selber hätte, wie sie versicherte, sich lieber die Zunge abgebissen, als Geständnisse abgelegt, die Kaiserin selber hätte sicherlich das Ordenszeichen und wer sein jetziger Eigenthümer sei, sobald sie es sich nur vorlegen lassen, erkannt. Frohn hatte in den Stunden, welche er mit seinen Cameraden in der Antecamera zugebracht, heute wie von Ungefähr das Gespräch auf den Orden gebracht und sich erkundigt, ob der ehrwürdige Chef des Corps, der Feldmarschall Graf Aspremont, denselben trage. Leider wurde ihm ausdrücklich versichert, daß die Excellenz weder Gerechtigkeits- noch Gnadenritter von Sanct Stephan sei. Durch ihn war also nichts zu erreichen.

Frohn hatte etwa zehn Minuten lang seinen Posten eingenommen und sich diesen Gedanken hingegeben, als er ein Geräusch hörte; ein paar dumpfe rasche Schritte, ein Schlüsseldrehen, und plötzlich flog die officiell und dienstlich nicht vorhandene Thüre auf. Eine schlanke jugendliche Gestalt, gehüllt in einen weißen Mantel, trat auf die Schwelle. Frohn kreuzte seine Hellebarde vor der Thüre.

„Die Thüre ist cassirt!“ sagte er. „Es darf Niemand heraus.“

[580] Der Mann im weißen Mantel sah ihn offenbar sehr überrascht und betroffen an. Erst nach einer stummen Pause antwortete er mit einer gebieterisch klingenden und doch außerordentlich wohllautenden Stimme:

„Weiß Er, wer ich bin?“

Die Lampe, welche der Thüre gegenüber an der Wand brannte, fiel jetzt hell genug in das durch den aufgeschlagenen Mantelkragen nur halb verhüllte Gesicht des jungen Mannes, um Frohn erkennen zu lassen, wer vor ihm stand.

„Zu Befehl, Majestät!“ erwiderte Frohn.

„So nehme Er die Hellebarde weg!“ sagte der junge Mann. Es war Niemand anders, als der römische König, der später als deutscher Kaiser Joseph II. hieß.

Frohn hielt die Waffe fest.

„Ew. Majestät halten zu Gnaden – ich habe die strengsten Befehle.“

„Wann wird Er abgelöst?“

„Um zwölf Uhr.“

„Ich verspreche ihm, vor zwölf Uhr wieder hier zu sein, mein Wort darauf!“

Damit schob der König die Hellebarde rasch bei Seite, und der weiße Mantel flatterte an Frohn vorüber. König Joseph eilte mit flüchtigen Schritten den Gang hinauf und war im nächsten Augenblick um die Ecke verschwunden.

Frohn blickte ihm in einer sehr begreiflichen Aufregung nach.

„Du bist ein Thor gewesen,“ sagte er sich. „Das Thereserl wird es Dir schlecht danken! Er wird sein Ordenskreuz auslösen gehen!“

Die Uhr der Burgkirche schlug ein Viertel. Frohn begann wieder auf- und niederzuschreiten – aber jetzt mit bedeutend rascheren Schritten. Eine Weile verging, die Uhren schlugen halb elf. Unser Posten machte die Bemerkung, daß einer Schildwache die Zeit nicht immer wie eine Schildkröte krieche, daß sie zuweilen auch sehr hurtige Fittiche haben könne.

Bei seinem Auf- und Abwandeln war Frohn schon mehrmals bis an die kleine Treppe am Ende des Ganges gekommen. Nachdenklich setzte er sich endlich auf das niedrige Holzgeländer dieser Treppe, das ihm einen bequemen Ruhepunkt darbot, legte die Hellebarde an seine Achsel und verschlang die Arme über der Brust. So hatte er eine Zeitlang gesessen – die Uhren schlugen eben drei Viertel auf elf – da hörte er unter sich Schritte. Sie kamen ziemlich sacht aus der Tiefe, die Treppe herauf … es waren offenbar zwei Personen, die emporstiegen und dabei leise mit einander sprachen.

„Er kann’s mir glauben!“ hörte er endlich eine weibliche Stimme sagen, als die sich Nähernden in seinen Gehörkreis kamen.

„Seit zehn Uhr steht ein Arcier-Posten vor der Thüre,“ antwortete eine tiefere männliche Stimme.

„Als ob man sich darauf verlassen könnte!“ antwortete die erstere. „Ich habe den weißen Mantel aus der Thüre zum Burggärtl unten kommen sehen, so wahr ich ein Paar gesunde Augen im Kopf habe.“

„Dann,“ sagte die andere Stimme, und zugleich hielten die Schritte im Steigen inne, „dann ist nichts Anderes zu thun, als es muß Einer von uns Beiden zu ihm hineingehen und mit eigenen Augen schauen, ob er zu Haus ist oder nicht. Die Kaiserin will Gewißheit haben, und wenn ich nichts Bestimmtes weiß, trau ich mich gar nicht, ihr wieder vor’s Gesicht zu kommen.“

Beide Redenden standen jetzt still, ein Stockwerk unter dem Standpunkte Frohns.

„Es wär’ freilich das Allerbeste … aber wie macht man’s?“ warf die weibliche Stimme ein. „Er hat streng verboten, nach zehn Uhr sein Zimmer zu betreten.“

„Einen Vorwand müßt’ man haben,“ lautete die Antwort, „einen Befehl von der Kaiserin – weiß die Frau von Lederer nichts, was man vorgeben könnte?“

„Ich meine schon,“ versetzte die Dame; „es soll morgen in der Früh ein Courier nach Parma abgehen, der römische König gibt da gewöhnlich Briefe an die Verwandten in Parma mit. Der Herr von Echtern könnte zu ihm hineingehen und sagen, er käme zu melden, daß der Courier schon in der Nacht abgehen solle.“

„Und daß ich um die Briefe bitte, wenn sie fertig seien; so läßt sich’s machen,“ antwortete der „Herr von Echtern“. „Aber dann muß ich zuerst in meine Uniform fahren, ich kann nicht so zu ihm hinein!“

„So geh’ der Herr von Echtern in sein Zimmer und fahr’ hurtig in seine Uniform,“ flüsterte die Stimme der Frau von Lederer; „ich erwart’ Ihn auf meiner Stuben und melde es dann der Kaiserin, wie’s steht!“

Im selben Augenblick begannen die Schritte wieder zu steigen, diesmal aber nur die der Dame; einen rascheren und schwereren Schritt hörte Frohn davon gehen und in dem Gange unter ihm verhallen.

Er selbst flog jetzt möglichst unhörbar von seinem Lauscherposten fort; als der Kopf der Frau von Lederer über der Treppe auftauchte, schritt der Arcier ruhig und gemessen vor seiner Thüre auf und ab.

Die kaiserliche Kammerfrau, als die vertrauteste der Vertrauten hatte Frohn sie öfter nennen hören, streifte in der breiten Poschenrobe und mit hoher steifgefältelter weißer Mütze an unsrer Schildwache vorüber. Sie warf einen forschenden Blick auf die dunkle Thüre, einen mißtrauisch spähenden auf den stattlichen Leibgardisten davor, dem der Letztere mit der Miene des unschuldigsten Gleichmuths begegnete, und verschwand um die Ecke des Ganges, in entgegengesetzter Richtung von der, wohin der weiße Mantel sich gewandt hatte.

Frohn lauschte mit hochklopfendem Herzen den verhallenden Schritten ihrer hohen Absatzschuhe, welche in immer weiterer Ferne verklangen.

„Hexe!“ rief er dann aus … „und dies arme junge Königsblut, das man beaufsichtigt wie einen Schüler! Hier gilt es Geistesgegenwart, oder wir sind alle Beide verloren, die Majestät wie die Schildwache!“

Mit diesen Worten lehnte er entschlossen seine Hellebarde an die Wand, ergriff das Schloß der Thüre und drückte sie auf. Er trat in einen schmalen Gang, und erblickte sich gegenüber eine zweite Thüre, die offen stand; in dem Raume dahinter einen Tisch und einen Leuchter mit brennender Kerze darauf. Beim Lichte derselben konnte er rasch weiter schreiten; als er in das erhellte Gemach kam, sah er, daß es eine Art von Garderobekammer oder etwas Aehnliches war; große dunkle Schränke standen rings an den Wänden umher. In der Ecke rechts zeigte sich ein kurzer dunkler Gang, Frohn vertiefte sich sofort darin, bis er an eine Tapetenthüre kam; diese wich seinem leisen Druck auf das Schloß, ohne Geräusch zu machen; vorsichtig spähend blickte er hindurch und sah nun, daß er auf der Schwelle eines Alkovens stand, in welchem, ihm zur Linken, sich ein Bett mit hohen grünseidenen Vorhängen und einem Himmel, der von einer Kaiserkrone überragt wurde, befand; aus dem Alkoven aber führte eine breite, aus schweren seidenen Draperien bestehende Portière in ein großes davor liegendes Zimmer. Das Erste, was unser Arcier in diesem letztem Raume gewahrte, war ein breiter, der Portière gegenüberstehender Schreibtisch, bedeckt mit Büchern und Papieren, und beleuchtet von zwei silbernen Armleuchtern, auf deren jedem zwei Wachskerzen brannten.

Frohn zog die Tapetenthüre hinter sich zu und trat sacht unter die Portière. Er sah, daß er sich in dem „Innersten der Gemächer“ des römischen Königs befand, und dies Innerste deutete auf einen Bewohner, der gewohnt war, sich geistiger Thätigkeit hinzugeben. Rechts und links zeigten sich Glasschränke mit Büchern der verschiedensten Formate; von Consolen herab blickten die Gypsbüsten alter Dichter und Philosophen; zwischen den Schränken waren Landkarten aufgehängt; an einer andern Stelle erhob sich über einem Schranke ein complicirtes und auf den ersten Blick nicht zu enträtselndes Etwas, das einem physikalischen Instrument oder dem Modelle einer mechanischen Erfindung ähnlich sah. Frohn gönnte sich die Zeit einer Untersuchung nicht; er trat an den Schreibtisch, warf einen Blick darauf und sah einen versiegelten Brief mit der Adresse:

          A sua Altezza,
     L’Archiduca Principe hereditario
               di Parma.

Dann recognoscirte er schnell den Raum, um sich zu vergewissern, wo er am besten die Rolle, die er spielen wollte, ausführen könne. Der Alkoven, der nur sehr unvollständig durch die Wachslichter auf dem Schreibtisch des Wohnzimmers mit erhellt wurde, war offenbar der zweckmäßigste Schauplatz dazu. Er zog sich darin zurück.


(Fortsetzung folgt.)
[581]
Deutsche Bilder.
Nr. 5.


Sickingen, von Hutten
auf der Ebernburg unterrichtet.

Das Ende des fünfzehnten und das des achtzehnten Jahrhunderts zeigen beide eine unverkennbare Aehnlichkeit: hier wie dort das Wehen einer neuen Zeit, das Morgenroth, welches die aufgehende Sonne verkündet, das Ringen des Menschengeistes, sich aus den Banden der alten Knechtschaft zu befreien. In beiden Fällen war es die Wissenschaft, welche den Kampf mit dem Despotismus aufnahm und in Deutschland die Reformation, wie später in Frankreich die Revolution herbeiführte. Gegen den Glaubenszwang und Geistesdruck der römischen Kirche erhoben sich die durch das classische Alterthum gebildeten Humanisten, die Lehrer und Vorläufer eines Luther, während die Encyklopädisten, Voltaire und Diderot an der Spitze, der Tyrannei des absoluten Königthums und einer entarteten, alle menschlichen Satzungen mit Füßen tretenden Aristokratie den Krieg erklärten. Die Gegner waren dieselben: unwissende Pfaffen, gemeine Höflinge, welche die Religion mit ihren fetten Pfründen, die Loyalität mit ihren einträglichen Stellen verwechselten und Thron und Altar zu schützen vorgaben, während sie nur ihre eignen Interessen und Privilegien im Auge hatten. Auch die Massen waren die nämlichen: von der einen Seite Geist, Witz und Gelehrsamkeit, von der andern Verleumdung, Hinterlist und Bosheit.

Um die Parallele bis zur fast vollkommenen Gleichheit zu erheben, fehlt in beiden großen geschichtlichen Perioden Erscheinung nicht, daß aus den Reihen des Adels und der Geistlichkeit selbst einzelne erleuchtete Männer hervorgegangen sind, welche die Gebrechen ihres Standes und die Nothwendigkeit einer gewaltsamen Umwälzung einsahen, sich ohne Zögern der neuen Bewegung anschlossen und dafür ihr Glück, ihr Leben opferten.

Solch ein wahrer Ritter des Geistes war der edle Ulrich von Hutten, der aus einem alten angesehenen Geschlechte an der Grenze von Franken und Hessen stammte, wo die Stammburg seiner Ahnen drei Meilen von Fulda entfernt sich mit ihren stattlichen [582] Thürmen, Wällen und Zugbrücken erhob; jetzt ein öder Trümmerhaufen, aber noch immer die Stätte, welche jedem Deutschen heilig ist und bleibt. Ulrich wurde auf dem Schlosse Steckelberg am 20. April 1488 geboren. Der lebhafte Knabe zeigte gute Anlagen und große Lernbegierde, so daß seine frommen Eltern beschlossen, ihn dem geistlichen Stande zu widmen. Sie brachten den zehnjährigen Knaben nach der einst berühmten Klosterschule Fulda, wo er einen guten Unterricht genoß und bedeutende Fortschritte machte. Aber das ruhige und beschauliche Mönchsleben sagte seiner feurigen und unstäten Natur am wenigsten zu; sein ritterlicher Sinn, der ihm angeboren war, sträubte sich dagegen, und eine Ahnung, daß er zu Höherem geboren sei, als Messe zu lesen und die Hora zu singen, trieb ihn der Freiheit in die Arme. Noch bevor er das für ewig bindende Gelübde abgelegt, entfloh er 1504 nach Erfurt. Hier fand er Gönner, die ihn unterstützten, Freunde, welche ihn in seinen Studien förderten, Lehrer, die seinem aufstrebenden Geiste eine bestimmte Richtung gaben.

Damals ging ihm zuerst das neue Licht des Humanismus auf; der Geist des classischen Alterthums wirkte, wie auf so viele seiner Zeitgenossen, auch auf ihn befruchtend, die Nebel der scholastischen Philosophie verscheuchend und die Bande des religiösen Vorurtheils zersprengend. Es war die schöne Blüthenzeit der wiedererwachten Wissenschaft, das Auferstehungsfest der griechischen und römischen Bildung, welche auf den jungfräulichen Boden deutscher Tiefe und sittlichen Ernstes fiel. Jünglinge und Männer schwelgten an dem Busen der Weisheitsgöttin und badeten in dem Strome der ewigen Schönheit, der aus dem glücklichen Hellas ihnen entgegen floß. Mit gleicher Liebe umfaßten sie den christlichen Himmel und den heidnischen Olymp, Götter und Heilige, Apostel und Philosophen.

In solcher Schule und Umgebung lebte und strebte Hutten auf der Universität zu Erfurt, bis er seinem geliebten Lehrer Rhagius auf die durch den Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg gestiftete neue Hochschule zu Frankfurt an der Oder folgte, wo ihm der edle Ritter Eitelwolf von Stein reichliche Unterstützungen zufließen ließ. Aber auch hier faßte ihn jene unwiderstehliche Wanderlust, die ihn von Ort zu Ort, von Land zu Land ohne Ruh und Rast trieb. Wie die fahrenden Ritter einer früheren Zeit, zog auch er auf Abenteuer aus, lockte es auch ihn, große und rühmliche Thaten zu Ehren seiner Dame zu bestehen, welche die Göttin der Wissenschaft war. Das ritterliche Blut regte sich in ihm und reizte ihn zu Kampf und Streit, bald mit der Lanze und dem Schwert, bald mit der spitzen Feder und der tönenden Lyra. So kam er wandernd und von jener Krankheit gequält, welche als pestartige Seuche damals zuerst in Europa erschienen war und keineswegs, wie heut, für die Folge schimpflicher Ausschweifungen gehalten wurde, nach dem nördlichen Deutschland. In Greifswalde und Rostock fand der junge Gelehrte vielfache Beachtung und gastliche Aufnahme, aber auch mancherlei Unannehmlichkeiten von Seiten einer habsüchtigen Familie, die ihn wegen einer Schuld, welche er nicht sogleich zu bezahlen im Stande war, auf offener Straße von bewaffneten Dienern überfallen und ausplündern ließ. Hutten rächte sich durch ein Gedicht, worin er seine Gegner der Verachtung preisgab. Jene Gewaltthat hatte ihn zum Dichter gemacht, das erlittene Unrecht ihn zum Mann gereift. Von nun an stand sein Geist im Dienste des unterdrückten Rechts gegen die Tyrannei der Mächtigen.

Von Wittenberg, wohin er sich zur Vollendung seiner humanistischen Studien begeben, knüpfte der verlorene Sohn wieder mit der Heimath an, indem er durch Vermittlung eines Freundes seinem Vater schrieb. Dieser erklärte sich bereit, seine Flucht ihm zu verzeihen, wenn Hutten zurückkehren, seine Narrenspossen, worunter die Wissenschaften und die Poesie verstanden wurden, für immer aufgeben und sich den einträglichen Rechtsstudien widmen wollte. Unter diesen Bedingungen verzichtete der praktische Vater auf seinen früheren Lieblingswunsch, den Sohn als Mönch zu sehen.

Kindliche Liebe und augenblickliche Geldnoth ließen ihn die Sache annehmbar finden; er kehrte in die Heimath zurück, wo er sich mit den Eltern aussöhnte; hierauf reiste er nach der berühmten Universitätsstadt Pavia in Italien, um unter Anleitung eines dort angesehenen Verwandten das römische Recht zu studiren. Bald nach seiner Ankunft kam es jedoch zum Kriege zwischen dem Kaiser Max und den Franzosen, welche Pavia besetzt hielten. Die vom Papst herbeigerufenen Schweizer erstürmten die Stadt und nahmen auch Hutten, trotzdem er ein Deutscher war, gefangen. Nur durch Aufopferung seiner ganzen Habe konnte er sich von ihnen loskaufen, so daß ihm nichts übrig blieb, als selbst Kriegsdienste zu nehmen, um nur sein Leben zu fristen.

Endlich gelang es ihm, wieder in die Heimath, wenn auch krank und elend, zurückzukehren. Leider entsprach der ihm zu Theil gewordene Empfang im elterlichen Hause nicht seinen Erwartungen. Der Vater war besonders unzufrieden, daß der Sohn ohne den gehofften Titel eines Doctor juris von der Universität gekommen war; seine begründeten Entschuldigungen wurden nicht gehört, und er selbst für einen ausgemachten Thunichtgut erklärt. Besser wußte sein alter Gönner, der Ritter Eitelwolf von Stein, das Talent und die Kenntnisse des jungen Gelehrten zu würdigen; er empfahl ihn nach Mainz dem neu erwählten Erzbischof Albrecht von Brandenburg, welcher ebenfalls daselbst eine Hochschule zu stiften beabsichtigte und zu diesem Behufe viele tüchtige Männer an sich zog. Auf den Rath seines Beschützers richtete Hutten zur Feier des Regierungsantritts ein Gelegenheitsgedicht an den Erzbischof, wofür ihm dieser zweihundert Goldgulden auszahlen ließ und das Versprechen gab, ihn nach vollendeten Studien an seinem Hofe anzustellen. In Mainz war es auch, wo Hutten die Bekanntschaft des berühmten Erasmus machte, für den er als das eigentliche Haupt der humanistischen Richtung eine fast religiöse Verehrung empfand. Leider starb bald darauf der gute Eitelwolf, mit ihm sanken auch Hutten’s Aussichten in das Grab.

Seine fortwährende Kränklichkeit zwang ihn, das Bad Ems zu besuchen; hier erhielt er die Nachricht von der grausamen Ermordung seines Vetters Hans von Hutten durch den Herzog Ulrich von Würtemberg, dessen Freund und Stallmeister jener war. Der Grund dieser furchtbaren That, die selbst in jener gewaltthätigen Zeit das größte Aufsehen erregte, war die Liebe des Fürsten zu der schönen Ursula, der Gattin seines Dieners. Weil dieser, um die Ehre seiner Frau besorgt auf den Rath seiner deshalb befragten Verwandten den Hof verlassen wollte, überfiel der jähzornige Herr auf der Jagd seinen früheren Günstling, indem er den Arglosen niederstach. Dem Morde fügte der Herzog noch eine Schmach hinzu; er schlang dem Leichnam einen Gürtel um den Hals und befestigte ihn an den zu Häupten des Todten in die Erde gestoßenen Degen, als hätte er nur ein gerechtes und ihm zustehendes Gericht an einem überwiesenen Verbrecher vollstreckt.

Die hinterlistige That schrie um Rache, die ganze Familie der Edlen von Hutten war beschimpft und tief verletzt; der alte Groll zwischen Fürsten und Adel, die sich gegenseitig mit eifersüchtigen Augen bewachten, loderte von Neuem hoch empor. Auch Ulrich fühlte die den Seinigen zugefügte Schmach und vergaß darüber die ihm oft zu Theil gewordene Geringschätzung seiner eigenen Verwandten. Während diese sich zum Kampfe gegen den Herzog rüsteten, griff er zu der Feder und schlug dem Mörder durch seine an die Öffentlichkeit gerichtete Anklage die tiefsten Wunden. Ohne Scheu und Menschenfurcht brandmarkte er die Stirn des fürstlichen Verbrechers in einer Reihe von Schriften, welche gelesen, bewundert und durch ganz Deutschland verbreitet wurden, so daß Kaiser und Reich sich bewogen fanden, den Herzog zur Verantwortung zu ziehen.

Nachdem Hutten so der Familienehre Genüge gethan und dadurch wieder in der Achtung seines unzufriedenen Vaters gestiegen war, wartete er nicht die ferneren Folgen seines kühnen Schrittes ab, indem ihm vor allen Dingen seine weitere humanistische Bildung am Herzen lag, die er in Italien zu erlangen hoffte. Diesmal war sein Vater um so mehr mit der Reise einverstanden, da er ganz gewiß hoffte, den Sohn mit dem juristischen Doctorhut bei seiner Rückkehr zu begrüßen. Hutten selbst hegte jedoch über das damals allgemein verbreitete römische Recht, dessen Lehrer und Kenner mit den höchsten Würden und Reichthümern überschüttet wurden, ganz abweichende Ansichten. Er erkannte zeitig genug die damit verbundenen Uebelstände. „Als hätte es nicht besser um Deutschland gestanden, ehe diese Menschen (Juristen) aufkamen mit ihren vielen Bücherbänden; dazumal, als hier nach Tacitus gute Sitten noch mehr galten als anderswo geschriebene Gesetze! Oder als ob noch jetzt nicht jedes Gemeinwesen um so besser verwaltet wäre, je weiter diese Glossatoren davon entfernt sind! Da sehe nur Einer jene Sachsen am baltischen Meere, wie sie ohne Aufschub und ohne [583] Gefährde Recht sprechen, indem sie zwar nicht die genauen Gesetzkrämer, aber die althergebrachten, heimischen Bräuche befragen; während hier eine Sache zwanzig Jahre zwischen sechsunddreißig Doctoren hangen kann.“ So richtig urtheilte, so genau erkannte schon damals Hutten den verderblichen Einfluß der römischen Gesetzgebung auf das gute, alte deutsche Recht.

Wie Luther ging auch Hutten diesmal nach Rom, um wie jener über die heillose Wirthschaft empört zurück zu kehren. Er schildert am besten in einem lateinischen Epigramm, an seinen Lehrer und Freund Crotus Rubianus gerichtet, den empfangenen Eindruck in sehr kräftiger Weise.

Wenn auch Hutten damals noch in lateinischer Sprache schrieb, so waren seine Gedanken wahrhaft deutsch. Dies bewies er auch durch die That, als er von Rom nach Bologna reiste, um daselbst seine Studien fortzusetzen. Unterwegs traf er mit einigen französischen Edelleuten aus dem Gefolge des Gesandten zusammen, die sich über den alten Kaiser Maximilian lustig machten. Hutten nahm sich seines Kaisers an; von Worten kam es zu Thätlichkeiten, und alle Fünfe fielen über ihn her; aber Hutten wußte sein Schwert nicht minder gut wie seine Feder zu gebrauchen; er stach den Nächsten nieder und schlug die übrigen Vier muthig in die Flucht.

Unterdeß hatte sich der Ruf des jungen Gelehrten nicht nur durch seine Reden gegen den Herzog Ulrich von Würtemberg, sondern auch durch verschiedene andere Streitschriften und meist politische Gedichte, worin sich eine tiefe Liebe zu seinem deutschen Vaterlande aussprach, immer mehr verbreitet, so daß sein Name schon damals mit hoher Achtung genannt wurde. Bald sollte derselbe noch berühmter werden durch seinen Antheil an dem Kampfe gegen die Kölner Pfaffen und Dunkelmänner, in den sich die aufgeklärten Humanisten gegen ihren Willen verwickelt sahen. Die Ursache dieses Streites war ein getaufter Jude Pfefferkorn, der nach Art solcher Apostaten seine frühern Glaubensgenossen vielfach anschuldigte und bei Kaiser und Reich darauf antrug, die Schriften der Juden ohne Ausnahme zu verbrennen. Dagegen erklärte sich der berühmte, durch Kenntnisse und Charakter gleich ausgezeichnete Reuchlin zu Köln in einem von ihm geforderten Gutachten mit ebenso großer Gelehrsamkeit als Unparteilichkeit. Als jedoch hierauf Pfefferkorn mit einer gemeinen Schmähschrift hervortrat, vertheidigte sich Reuchlin gegen all die albernen Anschuldigungen und Verleumdungen seines Gegners in seinem sogenannten „Augenspiegel“. Durch seine schöne Frau wußte der gemeine Pfefferkorn indeß ein Verbot gegen Reuchlin’s Buch von dem Pfarrer Peter Meyer zu erwirken und zugleich die Theologen der Kölner Universität auf seine Seite zu bringen, da die Meisten, dem verfolgungssüchtigen Dominicanerorden angehörig, Reuchlin wegen seiner Bildung und humanen Weltanschauung für einen ausgemachten Ketzer hielten.

Die Facultät bestätigte nicht nur das Verbot, sondern forderte einen förmlichen Widerruf, wogegen Reuchlin seine Vertheidigung veröffentlichte. Die Wirkung war ähnlich dem Aufsehen, welches in neuerer Zeit Lessing’s Auftreten dem orthodoxen Pastor Götze gegenüber in ganz Deutschland verursachte. Alle Freunde des Fortschrittes jauchzten dem ebenso kühnen, als besonnenen Reuchlin ihren Beifall zu, während seine Feinde, das heißt, alle Pfaffen und Heuchler, vor Wuth vergingen. An ihrer Spitze stand der berüchtigte Dominicanerprior und Ketzerrichter Jakob Hochstraaten, welcher Reuchlin’s Schriften öffentlich verbrennen ließ. Dieser appellirte dagegen an den Papst nach Rom; auch Hochstraaten eilte dahin, wohl mit Goldstücken ausgerüstet, um die vom Papst bestellten Richter zu bestechen. Zum Glück befand sich an der Spitze der Commission der ehrwürdige Erzbischof von Nazareth, der zu Reuchlin’s Gunsten entschied. Aber Leo X. fürchtete den mächtigen Predigerorden; weshalb er durch sein Machtwort den Proceß, ohne das gefällte Urtheil zu bestätigen, niederschlug und beide Parteien zur Ruhe verwies. Trotz dieses Ausganges feierte Reuchlin und in ihm die Partei der Humanisten einen glänzenden Sieg über seine Gegner. Diese wurden verhöhnt und verspottet und bald die Zielscheibe eines vernichtenden Witzes. Im Jahre 1516 erschien eine gegen diese Pfaffen und Ketzerrichter gerichtete Satire unter dem Titel: „Epistolae obscurorum virorum“, „Briefe der Dunkelmänner“, nach Form und Inhalt ein Meisterwerk der Kritik. Schonungslos wurde darin die Unwissenheit, Gemeinheit und Bosheit der Schwarzröcke aufgedeckt, ihre Schwächen enthüllt, ihr Verfolgungsgeist an den Pranger gestellt.

Diese Briefe waren für das damalige Deutschland ein Ereigniß von unabsehbaren Folgen, sie schlugen die pietistische Heuchlerzunft jener Tage wie ein flammender Blitz zu Boden und erhellten die dunkle Nacht. Die allgemeine Stimme bezeichnete sogleich Hutten als den Verfasser, ihm allein traute man diesen schneidenden Witz, den ritterlichen Muth zu, trotzdem er sich nicht genannt hatte. In der That hatte er auch im Verein mit gleichgesinnten Freunden diese Briefe geschrieben; die Mehrzahl rührt entschieden nach den neuesten Forschungen von ihm her, ebenso wie ein größeres Gedicht zur Verherrlichung Reuchlin’s. Als berühmter Mann kehrte diesmal Hutten aus Italien in das Vaterland zurück. In Augsburg, wo er in dem Hause des gelehrten Patriciers Conrad Peutinger die gastlichste Aufnahme fand, wurde er von diesem und andern Freunden in Gegenwart des Kaisers Maximilian dermaßen gerühmt, daß dieser ihn mit einem entsprechenden Lohn zu ehren beschloß. In feierlicher Sitzung setzte der selbst so poetische Fürst den von der Hand der schönen und tugendhaften Constanze Peutinger geflochtenen Lorbeerkranz dem Dichter auf das lockige Haupt, indem er ihn so vor aller Welt öffentlich krönte.

(Schluß folgt.)




Ein deutsches Milizheer!
Dauer der Wehrpflicht – Militärkosten – Schweizer Streitkraft in ihren einzelnen Abtheilungen – Militärische Fähigkeiten - Was Deutschland ersparen und an Macht gewinnen könnte – Macht Deutschland wehrhaft!
(Schluß.)

Die Dauer der Wehrpflicht in der Schweiz ist 24 Jahre, also viel länger als anderswo. Das Gesetz bestimmt das Alter von 20 bis 34 Jahren für den Auszug, die folgenden Stufen bis zu 40 Jahren für die Reserve, bis zu 44 Jahren für die Landwehr. Thatsächlich aber dienen, wie ein Gesetz von 1853 es gestattet hat, die Altersclassen von 20 bis 28 im Auszug, die folgenden bis 34 in der Reserve. Kein Heer zählt so viel Mitglieder in vollster Manneskraft, wie das schweizerische. – Die Uebungszeit ist nach den Waffengattungen verschieden, überall aber auf das mindeste Maß beschränkt. Der Rekrutenunterricht, auf den die Einreihung in den Bundesauszug folgt, dauert bei der Infanterie 28 Tage. Der Wiederholungscurs nimmt nur wenige Tage in Anspruch. Die Landwehr wird jährlich blos einen Tag zur Uebung und Besichtigung versammelt. Durchschnittlich während seiner ganzen Dienstzeit hat der schweizerische Milize jährlich nur 5 Tage Arbeit dem Staate zu opfern; die schweizerische Präsenzzeit ist also 7 bis 8 Mal kürzer als anderswo. Wenn die Anhänger des stehenden Heerwesens diese schweizerische Präsenzzeit „lächerlich“ kurz finden, so übersehen sie gänzlich, daß ihre gedrillten Soldaten das eigentliche Handwerk schon in den ersten Wochen lernen. Angeblich hält man sie deshalb jahrelang unter den Fahnen, damit sie sich an Gehorsam und Mannszucht gewöhnen. Aber in dieser Beziehung stehen die schweizerischen Wehrmänner wahrlich nicht hinter den monarchischen Soldaten zurück; dafür spricht schon der Umstand, daß man in der Schweiz fast gar keine Ausreißer kennt. Ferner ist zu erwägen, daß die Schweizer von Kind auf am Militärwesen, an Waffen- und Schießübungen besonderes Gefallen finden, und daß dadurch im Volke eine größere militärische Durchschnittsbildung entsteht, als da, wo lediglich Zwang die Soldaten zurecht drechselt. Deutsche Officiere haben wiederholt das Geständniß abgelegt, daß schweizerische Rekruten viel rascher als andere eingeübt werden. Hierzu trägt theilweise der militärische Jugendunterricht wesentlich bei. [1]

Wo das Volk nicht durch ein stehendes Heer im Frieden ausgesogen wird, da ist seine wirthschaftliche Kraft für den Krieg unendlich größer. Die Bundes-Militärkosten betrugen früher durchschnittlich 375,000 Thlr., im Jahre 1858 516,820 Thlr. Davon kamen auf den Unterricht (Rekruten- und Wiederholungscurse, Truppenzusammenzüge, Thuner Centralschule, Instructionspersonal) [584] 409,370 Thlr., auf Magazine, Kriegsgeräth etc. 94,392 Thlr. (darunter 60,064 Thlr. auf Anschaffung von Jägergewehren). Rechnet man hinzu, was die Cantone und die Wehrmänner für theilweise Selbstausrüstung jährlich ausgeben, so kommt man auf die Gesammtsumme von 1,200,000 Thlr. (für jede Familie im Lande 2 Thlr. 12 Sgr.), also ungefähr den fünften Theil sämmtlicher Staatsausgaben des Bundes und der Cantone (5,900,000 Thlr. oder für die Familie 11 Thlr. 22 Sgr., d. i. kaum mehr, als in andern Ländern für Militärzwecke allein aufzubringen ist). Alles, was Bund, Cantone und Einzelne jährlich auf das Heerwesen verwenden, beträgt nur den dritten oder vierten Theil dessen, was monarchische Staaten ausgeben, oder vielmehr nur den zehnten Theil, in Anbetracht, daß die Schweiz ein drei- bis viermal stärkeres Heer zur Verfügung hat.

Seit 1830, als die Schweiz mit Einschluß der Landwehr erst 100,000 Mann zählte, haben sich ihre Streitkräfte nahezu verdoppelt. Im Sonderbundskriege 1847 betrug die Gesammtmasse der aufgebotenen Milizen etwa 190,000 Mann, nämlich: aus den Mehrheitscantonen 147,600, aus den Sonderbundscantonen 39,750, aus den neutralen Cantonen Neuenburg und Appenzell I. Rh. 3000 Mann. Von jener Gesammtzahl erschienen im Felde ungefähr 140,000 Mann; ein Theil der aufgebotenen Landwehren war nur zu örtlichen Landsturmdiensten geeignet. Der unblutige Preußenfeldzug im Winter 1856–1857 bekundete sowohl rasche Mobilmachung als opferbereite Kraftanstrengung. Graubünden z. B. war bereit, außer seinem Contingent 2500 Scharfschützen zu stellen. Genf rüstete 14 Procent seiner 48,000 schweizerischen Einwohner aus, nämlich 6720 Mann aller Waffen mit 22 Geschützen. Waadt bot statt 9 Bataillone deren 25 an, ungerechnet die Specialwaffen.

Die gegenwärtige Stärke des eidgenössischen Heeres ist nach dem Geschäftsbericht[WS 1]des Militärdepartements für 1859 folgende. Der Auszug zählt 79,087 Mann (9418 mehr als vorgeschrieben), die Reserve 43,227 (darunter 8442 Ueberzählige), die organisirte Landwehr 57,416. Bei letzterer bleiben jedoch noch einige Lücken und Mängel zu beseitigen. Demnach besteht das feldtüchtige Heer aus etwa 180,000 Mann, welche vollkommen ausgerüstet und für den Beginn eines Feldzugs genügend eingeübt sind; Waffen und Geschütze sind als Reserve in hinreichender Zahl vorhanden.

Ueberblicken wir nun die Bestandtheile des eigentlichen Operationsheeres (Auszug und Reserve) nach ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Stärke, ohne die etwa 18,000 Ueberzähligen zu rechnen.

Die Infanterie (ohne Scharfschützen) besteht aus ungefähr 82.000 Mann in 105 ganzen, 20 halben Bataillonen und 24 einzelnen Compagnien. Sie hat das Bataillon (680 Mann) zur taktischen Einheit und theilt es ein in 6 Compagnien von 106 bis 117 Mann; vier derselben sind Füsiliere, zwei Jäger. Der Rekrutenunterricht für die Füsiliere muß wenigstens 28 Tage, für die Jäger 35 Tage dauern. Daran knüpft sich im Auszug ein jährlicher Wiederholungscurs von je 6 und 3 Tagen für die Cadres und die Masse, in der Reserve von je 2 und 1 Tag. Außerdem sind Uebungen im Zielschießen vorgeschrieben.

Wenn schon in den Bataillonen die Schußtüchtigkeit sehr verbreitet ist, so nimmt die Schweiz durch die Waffe der Scharfschützen unbedingt den ersten Rang unter allen Ländern ein, sowohl der Zahl als der Fertigkeit nach. In Auszug und Reserve stehen etwas über 7000 Scharfschützen, in 71 Compagnien von 100 Mann vertheilt. Außerdem können Landwehr und Landsturm noch eine große Zahl geübter Schützen liefern, besonders in den kleinen Cantonen. Der Rekrutenuntericht der Scharfschützen ist auf mindestens 28 Tage, der Wiederholungsunterricht für Cadres und Mannschaft auf je 6 und 4 Tage festgesetzt; bei der Reserve dauert die Wiederholung je 3 und 2 Tage. Die zahlreichen eidgenössischen, cantonalen und örtlichen Schützenfeste ergänzen den Unterricht in befriedigendster Weise. Entgegen dem Volksvorurtheil für das Standschützenwesen hat die Verwendbarkeit der Scharfschützen als leichter Infanterie beträchtlich zugenommen und kommt das Feldschützenwesen entschieden mehr in Aufnahme. Schon haben sich zahlreiche Vereine gebildet, um freiwillige Uebungen mit dem trefflichen neuen Jägergewehr vorzunehmen.

Die Artillerie ist etwa 11,000 Mann stark, mit Einschluß von 1500 Mann der Parkcompagnien und des Parktrains. Auszug und Reserve haben 79 Compagnien für 50 Batterien mit 274 bespannten Feldgeschützen, nämlich: 3 aus vierundzwanzigpfündigen langen Haubitzen bestehende Batterien, 6 Batterien von Zwölfpfünderkanonen, 29 aus Acht- oder Sechspfündern (4 Kanonen und 2 Haubitzen) bestehende Batterien, 4 Gebirgsbatterien und 8 Raketenbatterien. Außerdem sind für 12 Positionscompagnien mit 1000 Mann 202 Geschütze bereit. Rechnet man die in den schweizerischen Zeughäusern verfügbaren Geschütze hinzu, so kommt man auf eine Gesammtzahl von etwa 600 Stücken. Die Artilleriecompagnie beträgt zur Bedienung der schweren Batterien 138 Mann, der leichten 175 Mann; die Positionscompagnie zählt 80, die Parkcompagnie 60 Mann. Die Mannschaft sitzt bei Manövern auf Protzen und Caissons auf; die kostspielige reitende Artillerie kennt man nicht. Der Unterricht für die Rekruten der Artillerie erfordert 42 Tage, für die des Parktrains 35. Jeder Artillerist muß während eines Curses an der Kriegsschule zu Thun neben den praktischen Uebungen den Vorlesungen beiwohnen und sich über das Gehörte prüfen lassen. Der Wiederholungsunterricht findet alle zwei Jahre während durchschnittlich 12 Tagen statt. Zum Erstaunen mancher auswärtiger Fachleute ist trotz der kurzen Uebungszeit die schon im bürgerlichen Leben durch die schwierigen Bodenverhältnisse entwickelte Manövrirfähigkeit, sowie die Schußfertigkeit und Treffsicherheit der schweizerischen Artillerie derjenigen des Auslandes vollkommen ebenbürtig. In alle Specialwaffen werden auch nur solche Auszugspflichtige aufgenommen, welche sich wegen besonderer Neigung und Fähigkeit dazu melden. Aus diesem Grunde gelangt bekanntlich in allen Volkskriegen die Artillerie sehr rasch zu einem ausgezeichneten Grad der Tüchtigkeit.

Die Genietruppen, 1530 Mann, sind in 12 Sappeurcompagnien mit 1020 Mann und 6 Pontonniercompagnien mit 510 Mann eingetheilt. Ihre Uebungszeit ist wie bei der Artillerie. Die Cavallerie ist wegen des durchschnittenen Geländes und ihrer Kostspieligkeit unverhältnißmäßig gering, kann daher fast nur den Sicherheitsdienst besorgen und die Verbindungen zwischen den Heerestheilen unterhalten. Sie zählt ungefähr 3000 Mann, nämlich 2600 Dragoner, in Compagnien von 77 Mann eingetheilt, und 400 Guiden, in Züge von 32 Mann eingetheilt. Zwei Dragonercompagnien bilden eine Schwadron. Der Rekrutenunterricht dauert 42, der jährliche Wiederholungsunterricht 4 bis 7 Tage; die Remonte wird 10 Tage lang vor dem Wiederholungscurs eingeübt. Endlich sind noch etwa 300 Mann für den Gesundheitsdienst, Büchsenschmiede u. a. zu erwähnen.

In der Bekleidung hat das schweizerische Volksheer bisher leider gar zu sehr den stehenden Armeen nachgeahmt; die letzte Bundesversammlung hat auf Antrag des Bundesraths eine vollständige Umwälzung in Bekleidung und Ausrüstung beschlossen. Blauer Waffenrock, leichtes Tuchkäppi, leichtes Halstuch, bequeme graue Schlitzhosen, Schuhe, statt des weißen schwarzes Lederzeug als Leibgurt entsprechen den Anforderungen der Zweckmäßigkeit, Sparsamkeit und Kleidsamkeit, auch die albernen Epauletten werden abgeschafft.

Die Bewaffnung ist gleichfalls auf dem Wege, alles zu leisten, was die neuesten militärischen Erfindungen verlangen. Fast zu lange hat man gezögert, die gesammte Infanterie mit gezogenen Handfeuerwaffen zu versehen. Gegenwärtig ist man damit beschäftigt. Die nach dem System Prélaz-Burnaud unternommene Umänderung der Rollgewehre in gezogene ist nur ein Uebergangsbehelf; dieselben sollen später der Landwehr zu Gute kommen. Das neue schweizerische Jägergewehr, mit dem bis jetzt eine Jägercompagnie jedes Bataillons ausgerüstet ist, erfreut sich allgemeinen Beifalls, auch außerhalb der Schweiz. Es wiegt mit Bajonnet nur 9 Pfund und gibt noch auf 800 Schritte sehr guten Erfolg. Gleichfalls eine herrliche Waffe ist der neue Ordonnanzstutzen der Scharfschützen. Er ist mit Bajonnet nicht schwerer als 10 Pfund, und noch auf 1000 Schritte schlägt das leichte Spitzgeschoß (32 aufs Pfund) durch drei zolldicke Breter; in der Scharfschützenschule zu Luzern 1853 hatte man damit auf 700 Schritte über 95 Procent Treffer.

Im Geschützwesen ist die Schweiz nie hinter andern Ländern zurückgeblieben; auch die Einführung gezogener Kanonen ist bereits auf die Bahn gebracht. Die schweizerischen Kriegsraketen leisten ungemein Befriedigendes, ebenso der Minenzündapparat, der elektrische Militärtelegraph u. a. Das Brückenmaterial ist größtentheils schon nach dem System Birago eingerichtet.

Die Verpflegung eidgenössischer Truppen, wenn sie auch in großer Masse aufgeboten werden, findet bei der sehr entwickelten [585] Culturstufe und Volksdichtigkeit keine Schwierigkeit. An Transportmitteln, todten und lebenden, gebricht es nicht; die gesetzliche Zahl der Trainpferde für Auszug und Reserve ist 6106. Dem Transportwesen stehen bereits über 200 Stunden Eisenbahn zu Gebote; für rasche Mittheilung sorgen 553 Stunden Telegraphenlinien. Die Schweiz ist demnach vollkommen im Stande, ein beträchtliches Operationsheer aufzustellen und zu unterhalten.

Die ausgezeichneten militärischen Fähigkeiten der Schweizer sind weltkundig. Ihr Leben in rauher Gebirgswelt, ihr steter Kampf mit Naturhindernissen stählt Leib und Seele. Geschickte Benutzung der Bodenverhältnisse wird von früh auf praktisch erlernt. Körperliche Kraft und Gewandtheit, Marschfertigkeit, Leichtigkeit, grosse Lasten zu tragen, solche Eigenschaften sind allgemeiner verbreitet, als in andern Ländern. Sogar die Fabrikarbeit hat bei weitem nicht so viel körperliche Abschwächung erzeugt, als z. B. in England, weil der schweizerische Fabrikarbeiter in der Regel auch etwas Landbau treibt. Der physische Muth des Schweizers wird von keinem Volke übertroffen, und schwerlich auch der moralische; denn der Schweizer ist sein eigener Herr und kämpft für Freiheit und Vaterland. Da das Volksschulwesen in Breite und Tiefe den ersten Rang der Welt einnimmt, da deshalb die durchschnittliche Massenbildung größer ist als irgendwo, da überdies die republikanische Verfassung geistige Selbstständigkeit erzeugt, so kommt diese doppelte Erziehung durch Schule und Leben auch dem Krieger in vorzüglichem Grade zu Statten.

In der Schweiz kann jeder Wehrmann sich als Aspirant zum Unterofficier oder Officier melden, und wird nach Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften ernannt und befördert. An Candidaten ist kein Mangel. Die Unterofficiere werden in der Regel von den Compagniechefs ernannt, die Officiere durch die Militärdirection der Cantonalregierung. Die Officiere der Specialwaffen müssen jedoch in der eidgenössischen Militärschule den vorgängigen Unterricht erhalten haben. Der eidgenössische Stab, in welchem die Führerschaft gipfelt, zählt gegenwärtig 532 Mitglieder, nämlich 250 Officiere und 282 Nichtcombattanten. Zu den Ersteren gehören 87 Obersten und Oberstlieutenants, und unter den übrigen Graden auch eine beträchtliche Anzahl Subalternofficiere, aus denen sich die eidgenössischen Obersten ihre Adjutanten wählen. An der Spitze des Generalstabs stehen 40, des Geniestabs 2, des Artilleriestabs 4 Obersten. Der Justizstab besteht aus 43, der Commissariatsstab aus 80, der Gesundheitsstab (mit einer Abtheilung für Veterinärwesen), aus 112 Personen; außerdem gibt es 47 Stabssecretaire.

Die eidgenössischen Stabsofficiere werden vom Bundesrath (Militärdepartement) bis zum Hauptmann nach dem Dienstalter ernannt, die höheren nach freier Wahl aus denen, die wenigstens zwei Jahre im nächstunteren Grade gedient haben. Ausnahmen hiervon sind bei vorzüglicher Befähigung oder für ausgezeichnete Dienste gestattet. Die Cantonsregierungen, der Oberbefehlshaber, die Inspectoren der verschiedenen Waffen und die Stabsabtheilungschefs sind berechtigt, für alle Grade Vorschläge zu machen. Bei Aufstellung eines Bundesheeres werden der Oberbefehlshaber (General) und sein Stellvertreter, der Chef des Generalstabs, von der Bundesversammlung in der Regel aus der Zahl der eidgenössischen Obersten ernannt. Das Gesetz hat dem General eine sehr ausgedehnte, fast dictatorische Machtvollkommenheit gewährt.

Entsprechend den Eigenthümlichkeiten eines Volksheeres, vornehmlich in der Schweiz, wo wegen des durchschnittenen Bodens und aus andern Gründen die taktischen Einheiten klein sind, ist die Zahl der Officiere größer, als in stehenden Heeren, etwa das englische ausgenommen, und es steht daher auch eine beträchtliche Officierreserve zu Gebote. Weil aber die Anlässe zur Einübung des militärischen Befehlens und Anordnens nur zeitweise und nicht häufig wiederkehren, so ist verhältnißmäßig die Führung im eidgenössischen Heere derjenige Punkt, wo noch am meisten Verbesserung noth thut, hauptsächlich bei den Bataillons- und Compagnieführern, denen nur spärliche Gelegenheit zur Uebung geboten wird. In der Schweiz selbst hat man hiervon ein sehr klares Bewußtsein und sucht auf alle Weise den Mängeln möglichst abzuhelfen. Officiere und Unterofficiere sind redlich bemüht, sich einzeln und in Vereinen militärisch weiterzubilden. Von Bundeswegen wird der Besuch ausländischer Manöver und Kriege aufgemuntert und durch Geldmittel unterstützt. Eine ziemliche Zahl von Officieren ist amtlich mit allerlei Berathungen und Berichterstattungen über militärische Gegenstände beschäftigt. Während der guten Jahreszeit sind alle Cantone mit einem Netze von Rekruten- und Wiederholungscursen aller Waffen überzogen; an der Spitze steht dis große Centralschule zu Thun. Seit einiger Zeit werden auch die Uebungslager und größeren Truppenzusammenzüge jährlich abgehalten; die sparsamen Finanzleute haben sich endlich in die von den Militärs beharrlich gepredigte Nothwendigkeit häufigerer Uebungen fügen müssen. Schließlich darf man nicht vergessen, daß die besten Führer erst im Kriege selbst hervortreten. „Nur der Krieg lehrt den Krieg.“

Begreiflicher Weise läßt sich das schweizerische, wie jedes Milizheer, zu einem auswärtigen Eroberungskrieg nicht gebrauchen, oder vielmehr mißbrauchen. Das Milizheer ist keine gedanken- und willenlose Heerde. Beim Ausrücken im Winter 1856/57 hielt Regierungsrath Schenk an die Berner Mannschaft folgende Ansprache: „Ich bin beauftragt, Euch, die Ihr für die Eidgenossenschaft in’s Feld ziehen sollt, zunächst mit dem Zwecke der Truppenaufstellung bekannt zu machen und sodann den Kriegseid Euch abzunehmen. Es ist das Vorrecht des freien Schweizers, zu wissen, warum und wofür er in’s Feld zieht. Fürstenmilitär wird ausgehoben, mobilisirt und fort in fernen Kampf geschickt, und es vernimmt nur das Eine, daß der Fürst es so haben will. Dem freien Manne sagt man zu allererst, welche Sache es ist, die ihn unter die Waffen ruft.“ (Folgte dann eine Auseinandersetzung der Sachlage.)

So wenig auch das Milizheer zum Erobern geschickt ist, eignet es sich doch vollkommen zur Vertheidigung. Durch seine eigenthümlichen Vorzüge hält es gegen die handwerksmäßige Ueberlegenheit des stehenden Heeres sehr wohl Stand. Allerdings wird es am sichersten gehen, wenn es den von Schulz-Bodmer aufgestellten Grundsatz befolgt: „Soll ein Milizheer im Kampfe mit stehenden Armeen einige Wahrscheinlichkeit des Siegs für sich haben, so muß es unter übrigens gleichen Umständen dem Feinde an Zahl überlegen sein.“ Aus dieser Ueberzeugung entwickelt der genannte Militärschriftsteller die Nothwendigkeit, das schweizerische Operationsheer zu verstärken, hauptsächlich durch Fußvolk, und verlangt für die Schlacht möglichste Dichtigkeit und Tiefe der Aufstellung, sowie Bereithaltung einer starken Reserve. Er spricht sich für Verstärkung der Compagnien mit einem dritten Gliede aus und glaubt, daß sich dazu schon von Freiwilligen eine genügende Anzahl finden würde. Nach seinem eigenthümlichen Vorschlage würde das dritte Glied aus Pikenieren (mit Pike, kurzem Schwert und Pistole) und Pionieren bestehen, welche letztern für die Verschanzung, zum Wegtragen der Verwundeten und zur Auffüllung der vorn entstehenden Lücken verwendet würden. An Waffen für die Verstärkung des schweizerischen Operationsheeres würde es nicht fehlen; alle Cantone haben in ihren Zeughäusern eine bedeutende Menge überzähliger Handfeuerwaffen und Geschütze, und außerdem befinden sich viele Waffen im Privatbesitz. Kein Land kommt in Hinsicht auf Waffenvorrath der Schweiz gleich.

Die Schweiz würde sehr schwach sein, wenn sie die europäische Soldatenthorheit mitmachte. Was sollte sie wohl mit einem stehenden Heere von 35 bis 40,000 Mann ausrichten? Aber Dank dem Milizsystem kann sie ein Operationsheer von 180,000 Mann in’s Feld stellen und im Nothfall über eine Wehrkraft (ohne Landsturm) von 270,000 Mann verfügen.

Mit leichter Mühe läßt sich ermessen, was Deutschland an innerer Wohlfahrt und äußerer Kraft gewinnen könnte, wenn es dem Vorbilde des freien Schweizervolkes nachstreben wollte.

Nach den Vergleichungen, die Kolb zwischen der Schweiz und einigen deutschen Staaten anstellt, gibt Baiern für das Militärwesen über 10 Mill. Gulden aus, würde aber im Verhältnisse zur Schweiz mit dem dritten Theil dieser Summe auskommen und dafür eine weit größere Waffenmacht besitzen. Würtemberg und Großherzogthum Hessen, welche zusammen etwa 2,600,000 Einwohner zählen, also 200,000 mehr als die Schweiz, machen mit 3 Mill. Thlr. Militärkosten kaum 40,000 Mann marschfertig, während die Schweiz mit 11/2 Mill. Thlr. 180,000 Mann erzielt. Mit derselben Summe, wofür Würtemberg nebst Hessen einen Mann aufstellt, nämlich 75 Thlr., läßt die Schweiz zehn Mann marschiren. Baden gibt noch einige hunderttausend Thaler mehr aus, als die Schweiz, um im Ganzen kaum 20,000 Mann zu halten. Hannover, Braunschweig und Oldenburg, zusammen mit gleicher Seelenzahl wie die Schweiz, liefern für 4 Mill. Thlr. 40,000 Mann.

[586] Gegenwärtig tragen die Staaten des deutschen Bundes (mit Einschluß von ganz Preußen) in Friedenszeiten jährlich eine militärische Abgabenlast von wenigstens 90 Mill. Thlr., und haben dafür ein stehendes Heer von 700,000 Mann, etwa 11/2 Procent der Bevölkerung von 48 Mill. Dagegen würden sie auf schweizerischem Fuß jährlich 20 bis 24 Mill. Thlr. verwenden, und dafür über eine schlagfertige Wehrkraft von 3,600,000 Mann oder 71/2 Procent der Bevölkerung verfügen. Wollte man immerhin eine Uebergangsstufe, vielleicht mit halbjähriger Dienstzeit, gestatten, so würde die Ausgabe schon dadurch ungefähr auf den dritten Theil ermäßigt werden. Sehr bald würde man auf drei Monate herabgehen und sich schließlich überzeugen, daß man im Frieden gar kein stehendes Heer braucht. Mit solcher Durchführung der allgemeinen Wehrhaft!gkeit würde Deutschland zugleich die andern großen Militärstaaten zur Nachfolge nöthigen und sich das unsterbliche Verdienst erwerben, durch Beseitigung der Militärherrschaft dem Frieden und allen seinen Segnungen eine feste Wohnstätte in Europa zu bereiten.

Geböte Deutschland über eine Heeresmacht von mehr als viertehalb Millionen Mann, so könnten wir ruhig erwarten, daß die Hölle mit allen ihren Teufeln auf uns losgelassen würde, Laßt uns also mit ganzem Ernst dahin wirken, daß das gebundestagte und schwache Deutschland seine rechte Einheit und volle Kraft gewinne, um allen Begehrlichkeiten eines feindseligen Auslandes die Stirn bieten zu können!

Die militärische Centralisation Deutschlands ist eine so einleuchtende Nothwendigkeit, daß jedes andere Centralorgan, als der mit Unfruchtbarkeit geschlagene Bundestag, sie längst durchgeführt hätte. Die beiden großen Militärdespotien des Westens und Ostens, zwischen denen wir uns eingeklemmt finden, werden durch die straffste Centralisation zusammengehalten. Ihre Heere, vornehmlich das französische, können eine furchtbare Stoßkraft entwickeln und sind im Besitz einer ausgezeichneten Kriegserfahrung. Und solchen Mächten gegenüber läßt der deutsche Bund nach wie vor seine drei Dutzend ungleichartigen Bundescontingente abgesondert bestehen! Den einheitlich geballten feindlichen Massen glaubt er mit einem Sortiment von fachwidrig zerfahrenen kleinen Friedensheeren widerstehen zu können! Billiger und verständiger Weise müßte Deutschland längst ein einziges gleichgebildetes und gleichbewaffnetes Heer besitzen und die Nummern seiner Regimenter vom ersten bis zum letzten durch alle Gauen hindurchzählen.

Außer der Einheit und Gleichförmigkeit bedarf aber unsere Wehrkraft noch der Ausdehnung bis zu jener Vollständigkeit, welche jedem Eroberer von vornherein die Lust benimmt, auf unsere Kosten ungerechte Begierden zu stillen. Alle Wehrfähigen müssen auch wirklich wehrfähig gemacht werden. Nach kurzer Einübung müssen Alle, die in den vorhandenen Militärrahmen nicht gebraucht werden, in die Heimath entlassen werden. Zugleich muß das Vaterland allen seinen waffentragenden Söhnen die volle und gerechte Vergütung ihrer Opfer gewähren und endlich einmal auch die Rohheit beseitigen, daß dem Soldaten die Officierwürde verschlossen bleibt. Bei den klügeren Franzosen trägt seit 70 Jahren jeder Soldat den Marschallstab im Tornister; warum fehlt bei uns noch immer dies mächtige Element des Sieges?

Unter den angeführten Bedingungen würden wir jedem Feinde gewachsen sein. Tritt die Gefahr ein, ist ein Angriff abzuweisen, so steht dann in Wahrheit das bewehrte Volk in Masse auf und geht in’s Feld mit der Sicherheit, in kurzem Kriege das Vaterland zu schützen, zu retten.

Sicherlich ist es die größte Schande, von einem geknechteten Volke geknechtet zu werden. Will Deutschland diesem entehrenden Schicksal entgehen, so muß es bereit und gerüstet sein, gegen den abgefeimten, gewissenlosen, räuberischen Cäsarismus und Prätorianismus im Vordertreffen zu stehen und außer seiner eigenen Unabhängigkeit auch diejenige der kleinen benachbarten Vorländer mit ganzer Kraft zu vertheidigen. „Noth bricht Eisen, und Eisen bricht die Noth.“ Zu diesem Zwecke muß Deutschland das rechte Mittel ergreifen, nämlich im Staate die allgemeine Wehrhaftigkeit durchsetzen und privatim mittelst Wehrvereinen und freiwilliger Schützencompagnien die Volksbewaffnung zur Wahrheit machen. Aber nur das Land, welches von einem freien, selbstbewußten Volke bewohnt wird, schreckt fremde Eroberer zurück. Bändigt Deutschland nicht seine einheimischen Feinde, so wird es eine Beute der auswärtigen. Innere Unfreiheit führt zu äußerer, so gut wie jede Ursache ihre Wirkung hat. Freiheit allein ist Stärke. Hören wir auf Forster’s Wort: „Gegen die Löwenkräfte des freien Menschen, der seine Freiheit über Alles liebt, sind alle Höllenkünste der Tyrannei unwirksam.“ Dem gerechten Volkskriege, der zur Vertheidigung gegen frechen Einbruch mit Begeisterung geführt wird, wird der Siegeslorbeer nimmer entgehen.

Darum arbeite Jeder in seinem Kreise, daß Deutschland frei, einig und stark werde. Das ist die einzige Bürgschaft des glücklichen Widerstandes gegen westliche oder gar vereinigte westöstliche Eroberungsanfälle, alsdann aber auch der schließlichen Wiedererwerbung unserer alten „natürlichen Grenzen.“ Lassen wir dagegen die Dinge gehen, wie sie wollen, d. h. wie unsere Feinde wollen, dann stehen uns wermuthreiche Tage bevor. Zwar auch im schlimmsten Falle würde die Auferstehung des lebenskräftigen deutschen Volkes nicht ausbleiben, und auf neuen Grundlagen im Innern und nach außen würde Neudeutschland als die schiedsrichterliche Centralgroßmacht Europa’s sich erheben. Allein wenn wir uns durch rechtzeitige Thätigkeit dies Fegefeuer ersparen, so ist es unendlich ehrenhafter für uns, und wir erringen mit weit mäßigern Opfern das lang ersehnte und erstrebte einige, freie, große Vaterland.




Jagddaguerreotypen.[2]

Von Ludwig Beckmann.
II.
Das Schwarzwild und seine Jagd in alter und neuester Zeit.

Die Vervollkommnung des Feuergewehres und die Einführung der französischen Parforcejagd gaben dem deutschen Jagdwesen eine gegen früher ganz veränderte Richtung, die spätern Zeitereignisse und vor Allem die zunehmende Umwandlung des Waldbodens in Ackerland vollendeten das Uebrige, sodaß heutzutage die Jagd in den stärker bevölkerten Districten Deutschlands nur noch als „Schießvergnügen“ zu betrachten ist. Am meisten erinnern noch die „Saujagden“ an die alte gute Zeit der deutschen Waidmannslust. Da das Abschießen des Schwarzwildes auf dem Anstand an den Wechseln und Suhlen, auf dem Treibjagen, beim Einkreisen nach frischem Spürschnee (bei guter „Neue“) und beim Pürschgange, von dem bei andern Wildarten üblichen Verfahren so wenig abweicht, daß ein näheres Eingehen überflüssig sein dürfte, so beschränken wir uns auf die Streifhatze, die Parforcejagd, das eingestellte Jagen und das Einfangen.



1. Die Streifhatze.

 „Auf dem Schnee und auf dem Eber
 Wird mir mein Sach wäger!“
 (Alter Waidspruch.)

Dieses ist unstreitig eine der ältesten und interessantesten Jagdarten und besteht wesentlich darin, daß man einen Walddistrict mit mehreren Hatzen umlegt [3], welche die durch Treiber oder Hunde aufgejagten Sauen behetzen und fangen, sobald sie auf der Blöße angelangt sind.

In der Blüthezeit des Jagdwesens wurde auch diese Jagdart praktisch und ceremoniell vervollkommnet. – Sobald die Jäger, welche die schweren Fanghunde führten, ihre Plätze hinter den aus Tannenzweigen hergestellten „Hatzschirmen“ eingenommen hatten, zog der „Rüdemann“ mit mehreren guten „Findern“ [4] auch [587] wohl mit einer Anzahl Treiber zu Holz und eröffnete unter solennem Anblasen die Jagd. – Die flüchtigen Sauen wurden auf der Waldblöße von den gelöseten Fanghunden gepackt und „gedeckt“ (gehalten), worauf der Jäger hinzueilte, die gefangene Sau bei den Hinterläufen und mit Beihülfe des Hatzmanns „aushob“, d. h. mit dem Hintertheil vom Boden hob, wodurch ihre Kraft gebrochen und weitere Beschädigungen der Hunde vermieden wurden. – In dieser Stellung wurde die Sau so lange gehalten, bis auf das mit Hifthorn oder halbem Mond gegebene Signal (der „Fürstenruf“) der Jagdherr herankam, welcher die Sau dann mit dem Hirschfänger hinter dem rechten Blatte abfing. Die Jägerei lüftete während dieses Actes die Hirschfänger mit entblößter Rechten und stieß den dreimal wiederholten Ruf: „Wallo!“ (an einigen Orten „Hillo!“) aus. Nach dem Abfangen steckte der Jägermeister dem Jagdherrn, wie auch dem Jäger, dessen Hunde die Sau gefangen hatten, ein grünes Tannenreis („Bruch“) auf. Außer dem Rüdemann und den die Hatzen führenden Personen war die ganze Jägerei zu Pferde, um die oft weiten Distanzen rasch zurücklegen zu können. An einigen Höfen war es Sitte, die gefangene Sau zu knebeln und dem Fürsten entgegen zu tragen, welches Experiment allerdings seine Schwierigkeiten gehabt haben mag.

Diese Jagdart erfordert natürlich ein reichlich mit Sauen besetztes Revier und kann daher heutzutage nur noch im Park Anwendung finden, wodurch der eigentliche Charakter der freien Hatze verloren geht. Man hat daher im nördlichen Deutschland schon seit langer Zeit die Streifjagd in einer Weise abgeändert, welche nicht allein im Park, sondern auch bei den unergiebigern Jagden im Freien sich vortheilhaft bewährt hat. Es werden hier nämlich gar keine Hatzen außerhalb des abzujagenden Districtes postirt, sondern man stellt statt deren eine Schützenlinie auf. Der Rüdemann, nur mit Horn, Peitsche und dem kurzen „Couteau“ ausgerüstet, zieht von der entgegengesetzten Seite zu Holz. Ihm folgen unter Aufsicht eines Gehülfsjägers etwa 12–15 Hatzleute, deren jeder 2 rasche, scharfe Hunde, die Saufänger, am Hatzriemen führt. Sobald die Finder laut werden, löset man die Saufänger nach und nach, welche die Sau entweder einholen und decken, oder bis an die Schützenlinie treiben. Im erstern Fall wird die Sau sofort vom Rüdemann abgefangen, andererseits wird sie beim Passiren der Schützenlinie todt oder fehlgeschossen, wo der betreffende Schütze dann suchen muß, die nachjagenden Hunde mit Hülfe der Peitsche zu „stoppen“ oder anzuhalten.

1. und 2. Hirschfänger aus dem 16. und 17. Jahrhundert.     3. Der moderne
Hirschfänger oder das „Couteau“.     4. Fangeisen oder die „Saufeder“.
5. Dasselbe von der Schneidseite.     6. Lederscheide für das Fangeisen.
7. und 8. Hifthorn und Zinken aus dem 16. Jahrhundert.
9. Der „halbe Mond“.     10. Das Signal- oder C-Horn.

Für einen rüstigen Jagdfreund in jüngern Jahren ist es gewiß interessant, zur Abwechslung einmal den Schützenstand zu verlassen und den Rüdemann auf seinem Zuge zu begleiten. Während man an der Schützenlinie oft auf einem verlornen Posten stundenlang vergebens ausharren muß, ohne etwas von der Jagd zu hören oder zu sehen, bleibt man hier in fortwährender Spannung und Bewegung. Ernste und komische Scenen wechseln oft ebenso rasch, wie die Scenerie der Landschaft, denn ist die Jagd einmal im Gange, so geht’s unaufhaltsam, oft in raschester Gangart, vorwärts.

Da stehen wir am frühen Wintermorgen mitten im weiten, stillen Bergwald, am Rande einer eingeschneiten, unabsehbaren Kieferndickung und harren mit Ungeduld der Minute, in welcher, der Verabredung gemäß, die Suche beginnen soll. In einiger Entfernung vom Rüdemann hält der bunte Haufen der Hatzleute, meist Bauernbursche aus der Umgegend, im drolligsten Costüm. In langen blauen oder weißen Leinwandröcken mit einer oben im Nacken beginnenden Taille, hohen Stiefeln, mit Zipfelmützen, Filzhüten und Capuzen angethan, stehen sie da und trampeln mit den Füßen im hohen Schnee oder schlagen zur Erwärmung die in ein Paar riesige Fausthandschuhe auslaufenden Arme um die Rippen. Jeder trägt über der linken Schulter den vollgestopften, weißleinenen Proviantbeutel, über der Rechten den breiten Hatzriemen und die kurze Peitsche. Eine wahre Aesopsfigur ist in der Regel der „Brodträger“, welcher an jeder Seite einen Pack Hausbackenbrode als Hundefutter für den heutigen Tag aufgeschnallt hat. Fünfundzwanzig bis dreißig Hatzhunde mit wahren Galgenphysiognomien und in allen möglichen Farbennüancen vollenden das Pittoreske dieser Gruppe. Sie stehen zitternd vor Kälte und Ungeduld mit eingeklemmter Ruthe und gekrümmtem Rücken und nagen sich die Schneeballen aus den zottigen Pfoten.

Endlich zieht der Rüdemann seine große Taschenuhr und steckt sie langsam wieder ein. Doch nein, es geht wirklich los, denn er hantiert bereits mit dem kupfernen Signalhorn und gibt seinem Gehülfen einen Wink, die beiden Finder zu lösen. Eilfertig rennen die kleinen struppigen Köter dahin und verschwinden lautlos in der Dickung. Nun schmettert und jubelt das Horn die lustige Anjagdfanfare durch den schweigenden Wald; weithin erschallen die vollen, runden Klänge, und dem letzten wirbelnden Triller folgt, in höchster Tonart ausgestoßen, der altwaidmännische Jagdruf: „Ho, Ridoh! Juch Suh!“ – Die Jagd ist eröffnet.

Langsam folgen wir den Findern in’s Dickicht, vorauf der Rüdemann, hinter uns in langer Reihe die Hatzleute mit den Hunden, einer hinter dem andern, wie die Enten. – Der Zugführer steht und horcht, und Alles steht unbeweglich, nur die Hunde winseln vor Ungeduld und Erwartung. Da hört man weit in der Ferne den Laut des Finders, und um ihn zu ermuthigen, läßt der Rüdemann sein: „Wallo! mein Hund, Juch Suh!“ erschallen. Da wird auch der andere Finder laut, und wir setzen uns in Trab, um näher zu kommen.

Es ist wieder still, die Hunde haben augenscheinlich die Fährte verloren, und wir machen einen Augenblick Halt auf einer kleinen Blöße, wo zahlreiche Saufährten den blendend weißen Schnee durchkreuzen. Weiterhin hat eine Sau über Nacht „gebrochen“, jedenfalls ein starker Keiler, denn die Fährte ist breit, und in dem [588] aufgewühlten schwarzen Erdreich hängen große Flocken gefrornen Schaums. „Na,“ meint der Rüdemann, „gebt mal Acht, der ist kurrig!

In diesem Augenblick werden die Finder in der Ferne wieder laut, und unser Zug setzt sich wieder in Trab. – Der Laut wird stärker und bleibt fortwährend an einer Stelle (Standlaut). „Die rothe Koppel los! Die Stumpfschwänze los!“[5] ruft der Rüdemann, und während wir vorwärts eilen, gleiten die raschen Saufänger in weiten Sätzen uns links und rechts vorbei. – Bei ihrer Ankunft wird’s unten im Thalgrunde lebendig, allein der Lärm bleibt an demselben Platz, und wir hören sogar bald darauf einen Hund „klagen“. Es ist also ohne Zweifel eine wehrhafte Sau, welche sich den Hunden widersetzt. „Los! alle Hunde los!“ heißt es jetzt, alle Hände schnallen und zerren an den Halsungen der vor Kampfbegier laut aufheulenden Hunde, und im nächsten Moment schnaubt die entfesselte Rotte den steilen Berghang hinab, den weichen Schnee hoch hinter sich aufstäubend.

Wir hinterdrein, die Hatzjungen rutschen und purzeln Hals über Kopf den Berg hinunter, um sich die Sache in der Nähe anzusehen, allein sie werden unten von einem erfahrenern Alten mit derben Püffen in Empfang genommen und mit den Worten zurückgewiesen: „Wer kein Geschirre hat, dei bliewe hier wege!“ (Wer keine Waffen hat, bleibe hier fort.)

Das Abfangen einer wehrhaften Sau unter den Hunden.

In einem alten eingefrorenen Wasserlauf zwischen hohen Felsblöcken und weit überhangenden Tannenzweigen hat sich der wüthendste Kampf bereits entsponnen. Ein wirrer Knäuel wälzt sich im rasendsten Durcheinander, es ist unmöglich, die Kämpfenden zu unterscheiden, die in eine Wolke aufstäubenden Schnees gehüllt sind. Ganze Stücken Lehm und gefrornes Erdreich spritzen und fliegen nach allen Seiten umher, und durch den betäubenden Lärm der Hunde hindurch hört man nur das schrille Jucken und Hetzen des Rüdemanns und das dumpfe Brummen des tobenden Keilers.

Untersuchung eines von der Sau geschlagenen Hundes.

Endlich haben die Hunde die Sau „gedeckt“, und im nächsten Moment sitzt der Rüdemann rittlings drauf, packt sie mit der Linken in dem borstigen Nacken und treibt ihr die breite Stahlklinge hinter dem Blatte in die Herzkammer. – Der Keiler klappt noch einmal in ohnmächtiger Wuth das schäumende Gebräch zusammen und sinkt dann langsam, verendet zu Boden. Die Hunde zerren noch an dem Todten, um ihre Wuth zu kühlen, und werden nach und nach mit Hülfe der Peitsche zurückgezogen und aufgekoppelt. – Diejenigen, welche Blessuren erhalten haben, werden sofort genau untersucht, zu welchem Zwecke der Rüdemann oder sein Begleiter jederzeit eine Verbandtasche bei sich führt. Bei den Verwundungen unterscheidet man offene „Schläge“, welche, wenn sie eben keine Arterien durchschnitten haben, meist ungefährlich sind – und die bösartigern „Stiche“ mit kleiner, dreieckiger Oeffnung, welche fast gar nicht schweißen, obwohl sie mitunter tief hinein gehen. – Bei rauhhaarigen Hunden entdeckt man Stiche in der Regel erst dann, wenn sich hier eine dicke Balggeschwulst bildet, welche sofort aufgeschnitten und fortwährend mit Schnee gekühlt werden muß. Auch Quetschungen der Zehen kommen häufig vor. Ist ein Hund unglücklicherweise so verletzt, daß er nicht mehr Theil am Jagen nehmen kann, so wird er durch den Hatzjungen in’s Quartier geschafft, wo er bei guter Pflege und durch das beständige Lecken mit der Zunge sich rasch erholt und curirt. In der Regel sind die Hunde, welche nach einer solchen Attaque am meisten mit Schweiß bedeckt sind, am wenigsten oder gar nicht beschädigt. Wahrhaft komisch aber sieht oft ein weißer Hund aus, wenn er während des Abfangens unter dem Couteau gestanden hat; er ist oft ganz mit dem Schweiße der Sau übergossen, und da dieser in der Kälte sofort gefriert und dann eine merkwürdig intensive Färbung erhält, so erscheint der Hund oft zur Hälfte weiß, zur Hälfte im brennendsten Scharlachroth.

Die todte Sau wird in einer originellen Weise transportirt. Man knüpft ihr einen Strick dicht hinter den obern Gewehren um das Gebräch, das vordere Ende des Strickes wird um zwei „Saufedern“ geschlungen[6], und vier Mann schleifen nun den mächtigen Keiler mühsam bergan. Der Rüdemann ist längst wieder auf und davon, den übrigen Hunden nach. Ein gellendes Quieken verkündet bald darauf, daß eine Bache gefangen ist (der Keiler schreit nicht), und sie verendet eben so rasch unter dem Couteau. Inzwischen belehrt uns das wiederholte Krachen der Büchsen, daß die übrigen Sauen, wahrscheinlich ein ganzes Rudel, die Schützenlinie passirt haben, und es ertönt daher der Ruf zum „Koppeln“ und das Signal: „Hunde zurück!“ Langsam [589] kommen die Hunde anö allen Himmelsgegenden zurück, sie werden gezählt, ausgekoppelt, und der Rüdemann zieht weiter, die zweite Suche zu beginnen.

Die Schützen haben ihre Stände bereits verlassen, allein die todten Sauen, welche am Rande des breiten Fahrweges „gestreckt“ sind, beweisen, wie thätig man hier gewesen. Jetzt wird auch unser Keiler herangeschleppt, und wir bemerken mit Vergnügen, daß er nicht zu den Geringern unter der borstigen Gesellschaft zählt. – Der leicht herunterprickelnde Schnee hat die schwarzbraunen Ungethüme bereits weiß eingepudert – ein reizendes Farbenspiel! Unten im Hohlweg erscheint der „Wildschlitten“, die dampfenden Gäule kommen näher und spitzen schnaubend die Ohren beim Anblick der todten Sauen, welche jetzt von den Knechten herbeigeschleppt und aufgeladen werden. Zum großen Ergötzen der Mannschaft findet sich unter dem todten Schwarzwild auch ein Langschwanz: Meister Reinecke! – welchem nun oben auf dem beladenen Schlitten ein Ehrenplatz reservirt wird.

Transport der todten Sau.

Die übrig gebliebenen, noch lebenden Sauen des Rudels streichen in der Regel weit fort, bleiben den ganzen Tag rege und werden beim geringsten Geräusch „schallflüchtig“. Ist der Jäger daher allein auf diese angewiesen, so erfordert es oft ungewöhnliche Anstrengungen, ihnen wieder beizukommen. – Man weiß allerdings immer ziemlich genau, nach welcher Richtung die flüchtigen Sauen „wechseln“, und in welcher Dickung sie sich möglicherweise „stecken“ werden, allein bis dahin sind oft stundenweite Wege bergauf und ab zurückzulegen. Sind die Sauen endlich eingekreist, so muß die Suche oder das Treiben, um sie nicht zu beunruhigen, so weitläufig genommen werden, daß die vorhandene Zahl der Schützen selten ausreicht, das gegebene Terrain gehörig zu besetzen. Da ereignet es sich denn gar oft, daß die listigen und argwöhnischen Sauen, noch ehe die Suche beginnt, sich zwischen den weitläufig gestellten Schützen unbemerkt hindurchstehlen, oder seitwärts ausbrechen. – Sehr störend ist es auch, wenn eine Sau, an welcher die Hunde jagen, fehlgeschossen wird, und der betreffende Schütze muß in diesem Falle die Hunde mit Hülfe der Peitsche „stoppen“ und anzuhalten oder zurückzuschicken suchen.

Der Wildschlitten.

Werden derartige Streifjagden in größern Parks oder geschlossenen Gehegen abgehalten, so pflegt man wohl, um die Resultate noch glänzender zu machen, sich zugleich des Jagdzeuges oder der Saunetze zu bedienen, welche das Ausbrechen der Sauen an den Seiten des abzujagenden Districtes verhindern. Der eigentliche Charakter der „freien Hatze“ geht hierdurch allerdings verloren, allein der Erfolg ist ein ganz anderer, als bei den heutigen Streifjagden im Freien. – In manchem Park werden noch jetzt bei einer solchen Jagd, welche in der Regel drei Tage währt und nur einmal jährlich stattfindet, an 100 bis 150 Sauen geschossen und abgefangen.

Der Posten des Rüdemanns ist bei der Streifjagd eben nicht der bequemste und erfordert den „ganzen Mann mit allen seinen Kräften“. Eine dauerhafte Constitution, Ausdauer und Schnelligkeit, scharfes Gehör und Gesicht, ein helles, weithin schallendes Organ, sind durchaus erforderlich. Er muß ferner befähigt sein, die jedesmalige Lage der Verhältnisse rasch und richtig beurtheilen zu können, und in kritischen Momenten ebenso vorsichtig, wie herzhaft und kurz entschlossen sein.

Die zur Streifjagd nöthigen Hunde bestehen in 2–3 Saufindern, 20–30 Hatzhunden und einem oder zwei Schweißhunden. – In Betreff der eigentlichen Hatzhunde oder Saufänger ist man in den meisten Gegenden, wo noch Schwarzwild vorhanden, längst davon zurückgekommen, eine eigene, constante Race für diesen Zweck zu züchten. Das Sprüchwort sagt: „Wer Schweinsköpfe haben will muß Hundsköpfe spendiren,“ und die Beschädigung oder gar der Verlust eines mit Sorgfalt und verhältnißmäßigen Kosten erzogenen Hundes bleibt immer eine verdrießliche Sache. – Die ganze Thätigkeit der Hatzhunde auf der Streifjagd ist überdem so auf den angebornen Naturtrieb des Hundes basirt, daß jeder rasche, scharfe Hund, welcher die Sauen von Natur haßt, dazu brauchbar ist. Aus diesem Grunde wählt man jetzt am liebsten Hunde, welche von Wildhirten, Metzgern, Schäfern etc. aufgezogen und für ihre frühere Bestimmung sich zu scharf oder unbändig erweisen. Das einmalige „Einhetzen“ eines Neulings mit dem ältern Stamm der Hatze genügt in der Regel, um ihn vollkommen brauchbar zu machen. – Mit den kleinen Findern oder Saubellern ist es schon difficiler, da diese den Ton angeben müssen. Die Hatzhunde laufen nur nach dem Laut des Finders, gebrauchen die Nase selten und haben die Sau leicht verloren, sobald sie ihnen aus dem Gesicht kommt. Daher muß der Finder durchaus zuverlässig sein und vor allen Dingen nicht vor Rothwild oder auf dessen Fährte laut werden. Man hielt daher in frühern Zeiten sehr viel auf eine gute [590] Saufinderrace; – doch findet man unter den Bastarden vom Bauernspitz mitunter Exemplare, die eine besondere Malice auf zahme Schweine haben, und derartige Hunde übertreffen bei guter Anführung oft die Saufinder reiner Race.

Der Schweißhund findet erst dann Anwendung, wenn eine Sau durch Anschuß verwundet und fortgestrichen ist. In diesem Fall wird der Schweißhund am Riemen zur Fährte geführt und „arbeitet“ nun mit der Nase am Boden fortwährend der Fährte der „kranken“ Sau nach, unbekümmert um die oft zahlreich darüber kreuzenden Fährten anderer Sauen. – Schweißt die angeschossene Sau stark, so ist der „weiße Schweißhund“ – der Schnee – ausreichend, ihren Aufenthalt zu ermitteln, wo sie dann entweder auf’s Blatt geschossen oder, wenn sie nochmals fortstreicht, von einigen Hunden behetzt und gestellt wird.

Die erlegten Sauen werden noch an demselben Abend „aufgebrochen“, d. i. geöffnet und vom Eingeweide (Gescheide) befreit. Am Schluß der Jagden wird das sämmtliche Schwarzwildpret nach den betreffenden Jägerhöfen oder „Zerwirkhäusern“ geschafft, wo die geringern Sauen „mit Haut und Haar“ im Ganzen verkauft – die stärkern aber „zerwirkt“ und „zerlegt“ werden. In letzterm Falle wird zunächst der Kopf (an welchem die Schwarte bleibt) dicht vor den Schultern abgeschlagen. Dann folgt das Abstreifen der Schwarte vom Rumpf, welches vorsichtig Schnitt für Schnitt geschehen muß, besonders in der Feistzeit, wo die Sauen viel Feist oder „Weißes“ haben. Nun wird die Sau aus der unterliegenden Schwarte zerlegt, indem man zunächst den rechten und linken Vorderlauf nebst ihrem „Blatt“ (Schulter) ablöst. Die Rippenstücke oder „Federn“ werden mit Hülfe eines untergehaltenen Holzstückes mit Beil oder Zerwirkmesser so abgeschlagen, daß eine Hand breit davon am Rückstrang bleibt. Nun werden die Keulen im obern Hüftgelenke ausgelöst oder unter demselben abgeschlagen. Das übrig bleibende Rückenstück heißt, wie bei allem Hochwild, der „Ziemer“ und wird bei gröbern Sauen in Blatt- und Pürzelziemer abgetheilt.




Die Soldaten Garibaldi’s in Genua. [7]
Von G. R.
Livorno, den 26. August. 

Die Agitation für ein einiges und freies Italien ist im Lande täglich im Wachsen begriffen, und Garibaldi ist der bewaffnete Repräsentant dieses einigen und freien Italiens, sein Schwert und sein Schild, „il dittatore“, wie er kurzweg genannt wird, und wie unter seinen Bildern steht, die man in allen Gestalten und in allen erdenklichen Stellungen vor den Schaufenstern der Bilderläden und der Buchhandlungen sieht. Wo man steht und geht, hört man von Garibaldi sprechen, von den Kindern auf der Straße, im Café, an den Wirthstafeln der Gasthöfe, Nachts auf dem mittelländischen Meer am Steuerruder und auf dem Verdeck; ich glaube, wenn die sardinische Regierung nicht in diesen Tagen ein Circular erlassen hätte, wonach die conscriptionspflichtige Jugend bis zum zweiundzwanzigsten Jahre im Lande bleiben soll, ganz Sardinien, die ganze Lombardei und ganz Toscana führe über das Meer und ginge zu Garibaldi, um unter der dreifarbigen Fahne für Italien zu kämpfen. Die Einheitsidee Italiens hat lange geschlummert; sie ist erst vor Kurzem erwacht, sie ist kaum zwölf Jahre alt, aber sie ist in diesen zwölf Jahren zu einem mächtigen Riesen geworden, den weder die Diplomatie Europa’s, noch die Armeen Oesterreichs mehr erwürgen werden. Bereits sind ihr der Großherzog von Toscana, der Herzog von Modena und die Herzogin von Parma zum Opfer gefallen. Allen waren wenig oder gar keine Vorwürfe zu machen, als nur der eine, daß ihr österreichisches oder bourbonisches Blut und das einige neue Italien sich nicht untereinander vereinbaren konnten, und dieser Vorwurf stürzte ihre Throne im Wege friedlichster Manifestation, ohne Kanonenschuß, ohne Barrikaden und ohne Gewehrfeuer. Nur als bewaffneter Repräsentant dieser Idee eroberte Garibaldi binnen wenigen Wochen Sicilien, und noch einige Wochen oder Monate, dann wird der Thron Franz des Zweiten und der Stuhl St. Peter’s in Rom ihr, diesem täglich wachsenden Riesen, erlegen sein.

Ich kam von Turin nach Genua. In der ersten Straße, welche mich vom Eisenbahnhof nach meinem Hotel führte, begegnete ich den Soldaten Garibaldi’s. Ich fuhr von Genua nach Livorno. Zu gleicher Zeit mit dem italienischen Dampfer, der mich hinüberführte, lief ein englisches Schiff aus dem Hafen; das ganze Verdeck war mit Garibaldi’schen Freiwilligen gefüllt, welche nach Messina fuhren, und als ich in Livorno an’s Land trat, begegneten mir Trupps von jungen Leuten in rothen Blousen und rothen Waffenröcken – es waren die Streiter Garibaldi’s, welche sich nach der Abfahrt des nächsten Schiffes nach Messina erkundigen wollten. Auf der Straße, im Café, im Omnibus, im Hotel, überall Soldaten Garibaldi’s. – Zieht denn ganz Italien aus in den Streit, wie einst die Kreuzfahrer in das gelobte Land, um das heilige Grab den Händen der Ungläubigen zu entreißen? Ja, dies ist ein Kampf, wo es mehr und Größeres gilt, als tausendjährige Erinnerungen; es ist ein Kampf um ein freies, einiges und großes Land, welches Europa im Sarge und lange begraben wähnte, dessen geschichtlichen Tod einige einfältige und hochmüthige Gelehrten und Professoren seit fünfzig Jahren prophezeiten, und welches aufsteht, sich hoch emporrichtet, das Schwert zieht und ruft: Ich bin nicht todt, ich lebe, und ich will ein großes und freies Leben führen unter den Völkern Europa’s!

Man sehe sich diese jungen Männer an, die in Genua und Livorno auf die Schiffe warten, welche sie hinüberfahren sollen zu den sonnigen Gestaden Siciliens, wo ihre Brüder sich so eben bei Milazzo schlugen, und man muß sich sagen: Das ist kein Lumpengesindel, welches zusammenläuft, um sich zu schlagen, weil es zu Hause nichts zu thun und nichts zu essen hat! Nein, das ist die Blüthe der Jugend Italiens, das sind die Söhne aus den ersten, reichsten und besten Familien des Landes. „Mein Gott,“ sagte zu mir vor einigen Tagen ein junger Mann in Genua auf der Straße, „wenn man uns hier Schwierigkeiten mit der Einschiffung macht, nun, dann miethe ich mir ein englisches Schiff, das im Hafen liegt, und fahre die fünfhundert Mann hinüber, welche gerade hier sind.“ Der junge Mann war der Sohn eines der reichsten Grundbesitzer auf der Insel Sardinien, der eine Rente von mehreren hunderttausend Francs hat. Mit ihm ließ sich ein junger Genueser anwerben, dessen jährliches Einkommen, wie mir ein in Genua ansässiger deutscher Kaufmann erzählte, vierzigtausend Francs beträgt. Er trat als gemeiner Soldat bei der Infanterie ein. Und dann setzten wir uns zusammen, er und der Marchese von der Insel Sardinien und einige Venetianer, welche noch nicht zwanzig Jahre waren und heimlich über die Grenze kamen, und einige süddeutsche Officiere, welche ihren Abschied genommen hatten, und tranken Cyperwein, den der Vater des Marchese von seiner Insel geschickt hatte für die Soldaten Garibaldi’s, und tranken auf das einige und freie Italien, auf seine Größe und auf seinen Ruhm, und brachten einen stillen Toast aus auf die gefallenen Brüder bei Milazzo.

Bei mir war der deutsche Dichter Bernhard Endrulat, den ich in Alessandria getroffen hatte, und als die funkelnden Sterne am blauen Nachthimmel aufzogen, da tönte Endrulat’s Lied durch die still gewordene strada nuova:

„Glückauf, ihr Sarden und Lombarden,
Glückauf, Italien einig, frei!“

Von ihnen hörte ich auch, daß der ehemalige preußische Officier und jetzige Chef des Geniewesens in der Schweiz, der durch seine kriegswissenschaftlichen Schriften berühmt gewordene Wilhelm Rüstow bereits in Sicilien eingetroffen sei und eine Stellung als Oberst in der Garibaldi’schen Armee einnehme. Sie Alle, erzählen sie mir, würden in dem Regiment Rüstow’s dienen. Auch einen preußischen Artillerieofficier traf ich, der hier einige Monate Urlaub genommen hatte, um nach Sicilien zu gehen, und dann, wie sich eigentlich von selbst versteht, auch einen Berliner. Er saß [591] im Café de la Concorde unter den Orangenbäumen und Acazien, trank Kaffee mit Milch und forderte sich die Augsburger Allgemeine. Nachdem er einige Minuten hineingesehen hatte, warf er sie fort und rief: „Nein, diese ewigen Lügen über Italien werden ordentlich ekelhaft, und man ärgert sich doch darüber!“ Da redete ich ihn an und hörte, daß er aus der nüchternen Stadt an der Spree komme, um sich für Garibaldi zu schlagen und statt des Berliner Weißbiers Syracuser zu trinken. Und am Abend ging ich mit ihm in ein Haus in der Nähe der Promenade del acqua sola, wo er Abschied nehmen wollte von einigen Cameraden, welche noch in der Nacht mit einem französischen Schiff nach Messina fuhren. Da lagen sie auf Stroh nebeneinander, einige zwanzig, und die Meisten schliefen fest. Und neben dem Einen, einem schönen jungen Mann mit einem prächtigen, schwarzen Schnurrbart, saß eine alte Frau mit grauem Haar, hielt seine Hand in der ihrigen und sah ihn unverwandt an. Er schlief fest. Und als ich die alte Frau fragte, sagte sie mir, sie sei seine Mutter und wolle ihren Sohn, den sie als einen Streiter Italiens dem Garibaldi sende, noch die letzten Stunden sehen und seine brave und tapfere Hand in der ihrigen halten, und dann mit ihm an den Hafen gehen und ihm ihren Segen geben.

Die meisten Einschiffungen der Garibaldi’schen Freiwilligen finden in Genua und Livorno statt. In Genua sind in den letzten vier Wochen durchschnittlich täglich dreihundert eingeschifft worden. Die Zahl derer, welche von Livorno abgegangen sind, habe ich dort nicht erfahren können. Doch finden auch in Marseille, Constantinopel und in englischen Häfen Einschiffungen statt. Aus Constantinopel sind kürzlich sechshundert Ungarn in Messina angekommen. Aus England und Frankreich treffen viele Matrosen in Genua ein, welche in der Garibaldi’schen Armee Dienste nehmen. Die bei weitem größere Zahl besteht, wie sich von selbst versteht, aus Italienern, aus Lombarden, Venetianern, Piemontesen und Toscanern, besonders aus Lombarden. Sie haben selbst zu lange unter dem Drucke fremder Despotie gelebt, um jetzt nicht ihren Brüdern in Neapel und Sicilien zu Hülfe zu eilen. Meist alle kommen als Reisende nach Sardinien, sind mit Pässen und Legitimationspapieren als solche vollständig versehen und reisen als Passagiere auf englischen und französischen Schiffen, welche im Hafen zu dem Zwecke bereit liegen und von ihnen selbst oder von Bevollmächtigten Garibaldi’s gemiethet werden, nach Sicilien hinüber. Equipirt und bewaffnet wird Niemand, weder in Genua, noch in Livorno. Es steht sonach selbstredend der sardinischen Regierung gar kein Recht zu, selbst wenn sie von auswärtigen Cabineten dazu gedrängt würde und einem solchen Ansinnen nachgäbe, gegen derartige Einschiffungen hindernd einzuschreiten. Es steht ja Jedem frei, als Passagier in einem italienischen, französischen oder englischen Schiffe nach Sicilien zu reisen und dort unter Garibaldi Kriegsdienste zu nehmen. In den Straßen Genua’s sieht man die Freiwilligen nicht mit Waffen umhergehen. Viele tragen die rothe Mütze, welche in der Garibaldi’schen Armee als Kopfbedeckung eingeführt ist, Manche den rothen, kurzen Waffenrock, Manche die rothe Blouse, viele, und die meisten, den einfachen Anzug von ungebleichtem Leinen, kurzen Rock und Hosen mit kurzen Ledergamaschen, der für die Infanterie bestimmt ist. Den bangen und ängstlichen Seelen will ich übrigens sagen, daß die rothe Farbe der Mützen, der Waffenröcke und der Blousen nicht die rothe Republik bedeutet. Die Mützen haben einen weißen und grünen Streif, die Röcke und die Blousen kleine Kragen und kleine Aufschläge von grünem Tuch, und das Lederzeug und die Degenkoppel ist weiß. Röcke, Blousen und Mützen repräsentiren also in ihrer Zusammenstellung die drei Farben Italiens. Die ganze Uniform, sogar der einfache Anzug der Infanterie, ist sehr kleidend, und hebt die jugendlichen und kräftigen Formen ihrer Träger recht hervor. Der größte Theil der Freiwilligen hat sich ihre Uniformirung auf eigene Kosten anfertigen lassen und schon selbst dafür gesorgt, daß sie kleidend und zierlich gemacht ist.

In Massen müssen die Soldaten in diesen Unisormen einen imposanten und prächtigen Eindruck machen. Die Schützen, die Bersaglieri, sollen grüne Uniformen tragen; von ihnen habe ich keine gesehen. Alle schwärmen im Voraus für ihren künftigen General, ohne ihn bis jetzt gesehen zu haben, und erzählen sich Wunderdinge von seiner heroischen Tapferkeit und von seiner Herzensgüte, mit der er für seine Armee sorge. Ueber die Stärke dieser Armee gehen die verschiedensten Gerüchte und kommen die sonderbarsten Nachrichten. Das Richtige ist wohl, daß sie zwischen dreißig- und vierzigtausend Mann beträgt. Jedenfalls ist sie eine tapfere Armee und eine Armee, die sich dessen bewußt ist, wofür sie sich schlägt, steht also schon deshalb, und weil sie nur aus Freiwilligen besteht, hoch über dem Söldnerheere des Königs von Neapel.

Am Abend, als ich aus dem Hafen von Genua nach Livorno abfuhr, verließ auch der englische Dampfer Orwell, ein Schiff von ungefähr dreihundert Pferdekraft, den Hafen. Das ganze Verdeck war mit den Streitern Garibaldi’s angefüllt. Ihre rothen Blousen, die rothen Mützen und die weißen und grünen Federn leuchteten in den Strahlen der untergehenden Abendsonne, welche die Berge und die Forts und die aufsteigenden weißen Häusermassen Genua’s, welches sich „la Superba“ nennt, in einen violettfarbenen Duft hüllte. Am Spiegel des Dampfers flatterte die italienische Tricolore, über ihr die rothe englische Fahne. Und weithin über die ultramarinblauen Wogen tönten die begeisterten Rufe aller der Hunderte, welche hingingen, um für das einige und freie Italien zu kämpfen: „Evviva l’Italia! Evviva Garibaldi!“




Blätter und Blüthen.

Ein Besuch in der Sylter Vogelkoje. Es ist nicht leicht, sich eine klare Vorstellung von der Einrichtung jener eigenthümlichen Vogelheerde zu machen, die man Vogelkojen nennt. Gewöhnlich lassen sich Reisende, denen es an hinreichender Zeit gebricht, mit einer oberflächlichen Beschreibung dieser Fanganstalten genügen und gehen in der Meinung von dannen, es sei kaum der Mühe werth, einer so unwichtigen Vorrichtung wegen sich einer nutzlosen Strapatze auszusetzen. Häufig schon hatte ich ähnliche Aeußerungen vernommen und war deshalb gar nicht gewillt, eine solche Vorrichtung in Augenschein zu nehmen, als sich mir vor einiger Zeit während eines längeren Aufenthaltes in Nordfriesland wieder Gelegenheit dazu darbot. Erst nachdem ein mir wohlwollender Mann mit der Bemerkung mir entgegentrat, die Besichtigung einer Vogelkoje gewähre vielfaches Interesse und werde mich gewiß befriedigen, entschloß ich mich, dem Rathe desselben zu folgen.

So viel ich weiß, gibt es nur auf den nordfriesischen Inseln Föhr und Sylt Vogelkojen. Bekanntlich dienen sie zum Fang wilder Enten, die Anfang August in großen Schwärmen über diese Inseln ziehen. Die größte aller Vogelkojen befindet sich auf Sylt und zwar im Norden der Insel, fern von jeder menschlichen Wohnung, von hohen, seltsam geformten Dünenkegeln im Westen begrenzt, während auf der Ostseite die Brandung der See an die sie umhegenden Deiche schlägt. Schon diese wilde Umgebung, in der man außer dem Meeresrauschen und dem oft entsetzlichen Geschrei zahlloser Mövenschwärme nichts vernimmt, als das Säuseln, Pfeifen und Stöhnen des Windes, verleiht der Vogelkoje auf Sylt einen höchst seltsamen Charakter. Es sind mancherlei Formalitäten zu erfüllen, ehe man die Erlaubniß zum Eintritt in das Gehege erhält. Erst die Einlösung eines schriftlichen Scheines, den man von einem der Mitbesitzer der Koje erhält, erschließt uns dasselbe. Daß möglichst schweigsames Verhalten sowohl in unmittelbarer Nähe der Koje, wie im Innern derselben streng vorgeschrieben ist, als beträte man einen geweihten Ort, erhöht noch die Erwartung und versetzt uns, wenn nicht in eine feierliche, so doch in eine ernste Stimmung, die ganz zu dem Charakter der wüsten, aber unbeschreiblich malerischen Dünenlandschaft paßt.

Ein breternes Thor führt durch die Umwallung, über welche verwitterte, vom Nordweststurm gespaltene Weiden, Erlen und Lärchenbaume, von silbergrauem Moos bis in die dünnsten Aestchen hinauf übersponnen, herübersehen. Ein Hund schlug an, der Kiebitz rief, Möven kreischten und eine Schaar langbeiniger Wassertreter ließ ununterbrochen ihre langgezogenen Klagetöne erschallen. Sonst war es so still, daß man seinen elgenen Tritt hörte. Kein Wärter oder Aufseher ließ sich blicken.

„Wissen Sie,“ flüsterte mir einer meiner Begleiter, Capitain D., leise zu, „von unsern Landsleuten behaupten Viele, es sei hier nicht geheuer. Ich selber habe einen Wächter gekannt, der es nur wenige Nächte in der Vogelkoje aushielt, und dann so bestimmt um seine Entlassung bat, daß man sie ihm geben mußte. Er ward tiefsinnig seitdem oder doch menschenscheu, und einige Jahre später fand man ihn eines Tages todt in den Lister Dünen. Er mochte in der traurigen Einöde jener Sandthäler in die Irre gerathen und verhungert sein. Wie er eigentlich zu Tode gekommen ist, hat Niemand erfahren.“

An der Fortsetzung unserer Unterhaltung verhinderte uns der jetzt sichtbar werdende Wächter. Es war eine gedrungene Gestalt, deren Gesichtszüge Gleichgültigkeit ausdrückten. Unsern Gruß erwiderte er ziemlich mürrisch, ließ sich den Schein zeigen und zählte nach, ob auch die auf demselben verzeichnete Personenzahl richtig sei. Als er sich davon überzeugt hatte, bedeutete er uns, daß wir uns nach Belieben umsehen dürften.

Der Leser denke sich in der Mitte eines dichten, nur von sehr schmalen [592] Gängen durchschnittenen Gebüsches, in dessen Gezweig wahrscheinlich kein Vogel nistet, einen viereckigen, bedeutend großen und tiefen Teich. Von den vier Ecken dieses Teiches laufen nach allen vier Himmelsgegenden vier Canäle, die sich leicht krümmen und langsam verengern, bis sie in einer ganz schmalen Rinne endigen. Zur rechten Seite jedes dieser Canäle befinden sich fächerartig ausgestellte Wände aus Stroh oder Schilfgeflecht, von denen jede einzelne Wand die andere deckt. Die linke Seite des Canals umgibt ein Erdwall von ungefähr gleicher Höhe wie die schräg gestellten Schilfwände. Ueber beide spannt sich nach der ganzen Länge des Canals das Fangnetz, welches, je enger der Canal wird, desto niedriger zieht, bis es die zum bloßen schmalen Graben einschrumpfende Wasserrinne berührt. Hier bildet das Netz einen Sack aus Maschen, der in der Erde befestigt ist.

Auf dem rings von dichtem Gebüsch umgebenen Teiche werden eine nur geringe Anzahl gezähmter Kriekenten gehalten. Tritt nun die Zeit ein, wo die wilden Enten ihre Züge beginnen, so dienen die ruhig auf dem stillen Gewässer schwimmenden zahmen Thiere als Lockvögel, kaum nämlich gewahrt der heranrauschende Schwarm den Weiher mit den darauf befindlichen Enten, so fällt er darauf nieder. Sein Instinct hat ihn nicht irre geleitet, denn nahe den Eingängen in die Canäle schwimmen Gerstenkörner, die sich im Canale selbst in größerer Menge vorfinden. Der Reiz des Futters aber und selbst der Hunger würde die scheuen, mißtrauischen, vor jedem ungewohnten Laut aufflatternden Thiere doch nicht verleiten, das offene, breite Wasser des Teiches, auf dem nur wenige Gerstenkörner treiben, zu verlassen, wenn nicht die Dreistigkeit der gezähmten Enten sie das Wagniß unternehmen lehrte. Vertraut mit der Einrichtung der Canäle und zum Verführen abgerichtet, schwimmen die zahmen Enten ihren wilden Schwestern voran, gierig nach den schimmernden Körnern schnappend. Bald folgen die Verlockten in Menge, der Gefahr vergessend. Der Trieb, Nahrung zu suchen, macht sie ungestüm und unvorsichtig und läßt sie die Grenze überschreiten, welche die Lockvögel stets einhalten. Die gezähmten Enten gehen nämlich nur bis an die erste schräg stehende Schilfwand, wo das Netz beginnt. Hier kehren sie regelmäßig um. Die wilden Enten dagegen gerathen in ihrem Ungestüm über diese Wand hinaus und erblicken, sowie sie Kehrt machen, die regungslose Gestalt des hier lauernden Wächters. Aus Furcht vor diesem zieht die in den Canal eingedrungene Menge weiter vorwärts, um den unheimlichen Blicken des Lauernden nicht wieder zu begegnen. Allein der Wächter schlüpft ebenso schnell von Wand zu Wand, sodaß er immer dicht hinter dem Zuge bleibt. So stürzen sich die Bethörten ahnungslos in’s Verderben. Der Canal wird enger und immer enger, und die bannenden Blicke des Wächters begegnen immer auf’s Neue den geängstigten Thieren, die nun auch wohl das verhängnißvolle Netz über sich gewahren. Endlich erreichen sie das Ende der gekrümmten Wasserrinne, das Netz fällt, und die erbarmungslose Hand des Wächters erwürgt die in den Maschen zappelnden Zugvögel.

Das ist der sich stets in derselben Weise wiederholende Vorgang beim Fange der Kriekenten. Die Zahl der auf einmal in jedem der vier Canäle gefangenen Vögel beträgt durchschnittlich dreißig Stück; die jedesmalige Beute eines Jahres, wobei zu beherzigen ist, daß die Fangzeit schwerlich über sieben Wochen lang dauert, läßt sich in der Sylter Vogelkoje auf 22 bis 24.000 veranschlagen. Während der Fangzeit ist jedes lärmende Geräusch in der Umgegend der Vogelkoje streng und bei beträchtlicher Strafe untersagt. Es mag dies wohl nöthig sein, da die Nähe der Dünen, die sich gerade auf diesem Punkt der Insel höchst malerisch gestalten und in ein zerrissenes Dünengebirge mit zahllosen trichterförmigen Vertiefungen, Quer- und Längenthälern übergehen, der vielen Sandhasen wegen eine große Anziehungskraft für Liebhaber der Jagd haben, die hier, wenn nicht frei ist, doch geduldet wird. Die immerwährende Ruhe in der Vogelkoje und rund umher in der unwirthbaren Dünen-Einöde macht für Menschen von regem Gefühl einen längeren Aufenthalt in derselben gewiß nicht zum Genuß. Schon der Anblick dieser verkrüppelten Bäume, die, von der Gewalt der Stürme niedergedrückt, mehr in die Breite als in die Höhe wachsen, erzeugt unheimliche Gedanken und muß namentlich des Nachts diese leblose Welt mit phantastischen Gebilden bevölkern. Selbst am hellen Tage, bei Sonnenschein zeigte sich das mit bartartigem grauen Moos überwucherte Gebüsch in so schauerlicher Beleuchtung, daß mir das ganze Gehege wie ein gespenstischer oder verzauberter Wald vorkam, und ich wußte mir die Worte des Capitains, der mir später noch eine Menge beglaubigter Vorgänge erzählte, wohl zu erklären. Das Wächteramt in dieser Vogelkoje verlangt, soll der Mann seine Pflicht thun, einen Menschen, der sich von Nichts aufregen läßt. Mich dünkt, nur entweder gänzliche Gefühlsstumpfheit oder ein unter allerhand schweren Gefahren und Schrecknissen aller Art zugebrachtes, für alle Eindrücke von außen unempfängliches Leben kann diesem Posten dauernd vorstehen.

Unter den vielen Punkten, welche die Insel Sylt in Bezug auf charakteristische landschaftliche Scenerien darbietet, nimmt die Umgebung der Vogelkoje einen hervorragenden Rang ein. Erklimmt man den Seedeich im Osten der Koje, so hat man ein Landschaftsbild vor sich, wie man es so leicht nicht wieder findet. Ost- und nordwärts überblickt man die blau-grüne Binnensee mit den weißen Segeln der Küstenfahrer und Wattenschiffer. Weiter südlich steigt schroff aus dem Meere der hohe Rücken der Insel, welcher die größeren Ortschaften Keitum, Morsum, Archsum etc. trägt. Ueber diesen in weiter Ferne schimmert die silberne Mauer der Dünen von Hörnum. Den westlichen Horizont begrenzt die zu kühnen Gipfeln sich aufthürmende Dünenwelt des Listlandes, über welcher ganze Wolken schwärmender Möven auf- und niederschweben. Unter uns, dicht vor unsern Füßen, liegt der stille Teich, die mit Netzen überzogenen curvenartig gekrümmten Canäle und das graue Gebüsch mit dem gespenstischen Moosbehänge, den vielen blätterlosen, phantastisch gekrümmten und durcheinander geschlungenen Aesten, um die wie ein Todtengewand dieselbe Moosbekleidung flattert. Bläuliche Rauchwolken, aus der Hütte der Wächter aufsteigend, ziehen, in dünne Streifen sich auflösend, gegen den Wall der Dünen, hinter denen die Brandung der Nordsee braust. Hat erst die Landschaftsmalerei das ferne Sylt entdeckt, dann werden wir hoffentlich auf unsern Kunstausstellungen nicht mehr lange gelungene Bilder aus jenem ultima Thule vermissen, wo es noch mancherlei Schätze zu heben gibt.
E. W.


Ein fürstlicher Mäßigkeitsverein im sechzehnten Jahrhundert. Als in unserer Zeit die Stiftung von Mäßigkeitsvereinen Mode wurde, und sogar Fürsten an die Spitze derselben traten, vernahm man oft im Volke die zwar nur halbwahre Behauptung: „Die Großen können leicht das Versprechen ablegen, sich des Branntweins zu enthalten, so lange ihnen Portwein, Madeira und Champagner bleiben.“ Allein es hat auch Zeiten gegeben, wo Fürsten Deutschlands aus freiem Antriebe, bewogen vom Ernste der Zeit, zusammentraten, um ein sittigeres und mäßigeres Leben bei sich und bei ihrer Umgebung einzuführen. Als nämlich im Jahre 1524 die Fürsten Richard, Erzbischof von Trier, Pfalzgraf Ludwig vom Rhein, Herzog von Baiern, Pfalzgraf Friedrich, Herzog von Baiern, Pfalzgraf Wilhelm, Herzog in Ober- und Niederbaiern, die Bischöfe Konrad von Würzburg, Wilhelm von Straßburg, Philipp von Freisingen, Georg von Speier, Markgraf Kasimir von Brandenburg, Otto Heinrich, Pfalzgraf und Herzog von Baiern, Philipp, Landgraf von Hessen, u. A. sich zu Heidelberg zu einem sogenannten Gesellenschießen mit der Armbrust versammelt hatten, und manche Stimme über die sittlichen Gebrechen und Mängel der Zeit unter ihnen laut wurde, vereinigten sie sich zur Besserung der Sitten an den fürstlichen Höfen und unter den höheren Ständen in folgenden Bestimmungen: Jeder von ihnen, Kurfürst oder Fürst, geistlich oder weltlich, solle in eigner Person sich alles Gotteslästern und alles Zutrinkens zu ganz oder halb völlig enthalten, Jeder es auch seinen Amtleuten, Hofgesinde, Dienern und Unterthanen bei namhafter Strafe, desgleichen auch der Ritterschaft und den Landgesessenen in jedem Fürstenthum verbieten; wer von jenen sich diesem Gebote nicht füge, solle mit Ausrichtung seines Lohnes vom Amte entlassen und vom Hofe entfernt werden, und kein Fürst solle ihn je wieder zu Amt und Hof zulassen. Den Adel und die Landgesessenen in einem Fürstenthume solle man auf alle Weise und Wege an dieses Verbot zu weisen suchen.

Wenn aber einer der Fürsten in die Niederlande, nach Sachsen, in die Mark, nach Mecklenburg, Pommern oder andere Lande käme, wo zu trinken Gewohnheit ist, und sich dort bei aller Weigerung des Trinkens nicht erwehren möchte, so solle er dann mit seinem Hofgesinde und seinen Dienern an diese Ordnung nicht gebunden sein. Da ferner bisher, wenn ein Fürst in eigener Person zu dem andern an seinen Hof oder anderswo zum Besuche kam, oder seine Botschafter und Räthe sandte, durch Gastauslösung mit Prassen und Auftischen viele Kosten aufgingen, da man desgleichen an den fürstlichen Höfen von den Trompetern, Boten, Schalksnarren, Sängern und andern Spielleuten häufig mit Bitten um Gaben und Geschenke angelaufen wurde, so hat man sich dahin vereint und durch diesen Beschluß vertragen, daß kein Fürst den andern oder des andern Botschafter und Räthe, wenn sie an fremde Höfe kommen, forthin mehr aus der Herberge lösen oder etwas weiter als Futter und Mahl geben solle; es soll auch kein Kurfürst oder Fürst beim geselligen und freundlichen Zusammenkommen dem andern über acht Essen zu einer Mahlzeit geben, es wäre denn bei einer Hochzeit oder dergleichen, wo sich jeder nach Gebühr zu verhalten weiß. Man solle auch keinem Trompeter, Boten, Schalksnarren, Sänger oder dergleichen Spielleuten fernerhin mehr Schildgeld oder etwas anderes geben, sondern sie abweisen. Bei Kurfürsten und Fürsten, welche Frauenzimmer am Hofe haben, solle man nicht mehr, wie bisher geschehen, Ringe an sie vergeben. Jeder Fürst solle seine Trompeter, Boten, Schalksnarren mit so viel Besoldung versorgen, daß sie sich daran genügen lassen müssen. So beschlossen zu Heidelberg am Sonntag Erasmi des Jahres 1524.




Auerbach’s Volkskalender ist soeben von der Verlagshandlung von Ernst Keil ausgegeben worden. Wir machen unsere Leser nochmals auf dieses vortreffliche Volksbuch aufmerksam.



Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:

Ferdinand Stolle’s Ausgewählte Schriften.
Volks- und Familien-Ausgabe.
Zweite Auflage. Preis 71/2 Ngr. 24 Bände und Supplemente 3 Bände.

Inhalt der Bände: 1. Camelien I. – 2–4. Napoleon in Egypten. – 5. Moosrosen I. – 6-8. Deutsche Pickwickier. – 9. Je länger je lieber I. – 10–12. 1813. – 13–15. Elba und Waterloo. – 16. Moosrosen. II. – 17. 18. Erbschaft in Kabul. – 19. Camelien II. – 20–22. Der Neue Cäsar. – 23. Je länger je lieber II. – 24. Lieder, Gedichte und Biographie. – Supplemente: 1–3 Der Weltbürger. –


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. den Aufsatz über das schweizerische Cadettenwesen in Nr. 44 des vorigen Jahrgangs.
  2. Siehe Nr. 23 und 24.
  3. d. h. am Rande des Waldes in gewissen Entfernungen Jäger oder „Hatzleute“ mit mehreren großen Fanghunden postiren.
  4. Finder oder Saubeller: kleine, rauhhaarige Hunde, welche nur an Sauen suchen, jagen und „verbellen“.
  5. Je zwei Hunde bilden eine Koppel. Man koppelt gern möglichst gleiche Hunde zusammen und benennt sie dann nach der Farbe, Größe oder sonstigen Kennzeichen. – Der mit einem eisernen Wirbel versehene Riemen, welcher die Halsungen oder Halsbänder der beiden Hunde vereinigt, wird ebenfalls „die Koppel“ genannt.
  6. Saufeder, eine Art Jagdspieß, welcher früher allgemein, jetzt nur noch für etwaige Nothfälle bei den Saujagden geführt wurde.
  7. Mit diesem Artikel beginnen die versprochenen Originalmittheilungen aus Italien, deren Erscheinen durch verspätete Abreise unsers Mitarbeiters leider um einige Wochen verhindert ward.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Geschäfsbericht