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Die Gartenlaube (1857)/Heft 7

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[89]

No. 7. 1857.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0 Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Spekulation und Freundschaft.
Novelle von August Schrader
(Fortsetzung.)

„Was würden alle diese Leute sagen,“ dachte Bergt, „wenn man mir das Haus und die Möbel verkaufte, oder wenn man mich in das Schuldgefängniß brächte?“

Er ging rascher. Mit Schweiß bedeckter Stirn erreichte er die Thür des Juden, der ein freundliches Haus an der Promenade bewohnte. Bebend zog er die Glocke. Ein junges Mädchen, die Tochter des Hofkommissärs, öffnete.

„Fräulein Lydia, kann ich Ihren Herrn Vater sprechen?“

„Ja, Herr Sekretair, er ist zu Hause!“ war die freundlich ertheilte Antwort. „Bemühen Sie sich in sein Zimmer, das Sie kennen, und Sie werden ihn antreffen.“

Lydia, ein Mädchen von neunzehn Jahren, war eine jener pikanten Erscheinungen, wie man sie nicht selten in vornehmen Judenfamilien antrifft. Als einzige Tochter des reichen Kommissärs hatte sie eine Erziehung genossen, die sie weit über die jungen Mädchen ihres Standes erhob. Lydia war nicht nur von besonderer Schönheit, sie war auch im hohen Grade geistreich. Wir werden sie später kennen und schätzen lernen.

Der Sekretair stieg die Treppe hinan, und klopfte an eine der Thüren auf dem Korridor des ersten Stockes. Eine tiefe Baßstimme forderte zum Eintreten auf. Bergt öffnete – er stand vor dem Hofkommissär. Der Jude war ein langer, korpulenter Mann mit einem ernsten, fast strengen Gesichte; die große, wie der Schnabel eines Geiers gebogene Nase und die scharfen Blicke seiner großen, runden Augen, die wie Kohlen unter ergrauten buschigen Brauen glüheten, dazu das fast haarlose Haupt mit einem spärlichen Kranze grauer Locken im Nacken verliehen ihm ein gebieterisches, imponirendes Ansehen. Er befand sich noch in Schlafrock und Pantoffeln. Als Bergt eintrat, legte er die Feder nieder und drehete sich auf seinem kreischenden Schreibsessel halb zur Seite, indem er den Besuch ruhig ansah.

„Sie haben mir diesen Morgen einen Brief gesandt,“ begann Bergt, nachdem er seinen Hut abgelegt.

„Ja, Herr Sekretair,“ antwortete ernst der Jude.

„In der Angelegenheit, die der Brief berührt, erlaube ich mir, Ihnen einen Besuch abzustatten.“

Der Jude fragte, indem er einen Stuhl heranschob: „Bringen Sie Geld, Herr Sekretair?“

„Nein, mein Herr!“ antwortete Bergt mit einem schmerzlich demüthigen Lächeln.

„Nehmen Sie Platz, mein Herr!“ Bergt ließ sich nieder.

„Sie haben mir eine so kurze Frist gestellt, Herr Hofkommissär, daß ich Sie bitten muß, den Zahlungstermin um vier Wochen hinauszuschieben.“

„Ich bedauere, mein lieber Herr, Sie auf Ihre Bitte abschläglich bescheiden zu müssen.“

„Bedenken Sie, woher ich in so kurzer Zeit viertausend Thaler nehmen soll?“

Der Jude zuckte seine breiten Achseln.

„Sie wissen seit drei Monaten,“ murmelte er, „daß Ihr Wechsel abgelaufen ist. Warum haben Sie sich nicht bemüht, das Geld zu schaffen?“

„Ich habe nicht minder auf den Geschäftsmann, als auf den mir freundlich gesinnten Kapitalisten gerechnet. Sie allein kannten bis jetzt meine Lage – ich bin fürstlicher Beamteter – sollte ich mich noch einem Dritten entdecken?“

„Dies zu vermeiden wird Ihnen unmöglich sein, Herr Sekretair, wenn Sie nicht eigene Hülfsquellen besitzen. Ob das Unvermeidliche nun vier Wochen früher oder später eintritt – was kann Ihnen darauf ankommen? Aber mir liegt Alles daran, mein Geld so bald als möglich zurückzuerhalten. Das gerichtliche Verfahren gegen Sie nimmt seine bestimmte Zeit in Anspruch – –“

„Herr Hofkommissär, wollten Sie wirklich Ihre Rechte so streng geltend machen?“ fragte Bergt mit bebender Stimme.

„Es sollte mir leid thun, wenn es bis zum Aeußersten kommen muß.“

„Sie werden mich ruiniren!“ stammelte der Sekretair.

„Lieber Herr, auch ich gehe zu Grunde, wenn mir das Kapital länger entzogen bleibt. Man hält mich für reich, und diesen Glauben muß ich erhalten, wenn ich als Geschäftsmann nicht meinen Kredit verlieren will. Ich agire mit fremden Kapitalien – auch Ihnen, mein Herr, habe ich Gelder geliehen, die mir anvertraut waren. Ist von meiner Seite nicht genug geschehen, indem ich die Wechselfrist um drei Monate verlängerte? Ich bitte, dringen Sie nicht weiter in mich, meine Disposition ist getroffen, und eine Aenderung derselben ein Ding der Unmöglichkeit.“

„So bin ich ruinirt, verloren!“ rief Bergt, indem er aufsprang und hastig durch das Zimmer ging. „Die Wechselhaft bringt mich um meinen Posten – der neue Präsident ist ein strenger Mann – großer Gott, was soll ich thun, was soll ich beginnen? Wissen Sie kein Auskunftsmittel, Herr Hofkommissär?“

Der Jude ergriff seine Feder wieder.

„Wenn ich mir zu helfen wüßte, lieber Herr, würde ich Ihnen Nachsicht geben,“ antwortete er ruhig.

[90] „Ich will statt acht Prozent zwölf zahlen.“

„Herr Sekretair, ich bin kein Wucherer!“

„Sie nehmen ja nur, was ich Ihnen biete. Kein Mensch in der Welt soll ein Wort von unserem neuen Abschlusse erfahren, das schwöre ich Ihnen!“

„Ich bitte, Herr Sekretair!“ sagte der Jude, den Kopf wendend. „Sie sind so aufgeregt, daß Sie mich beleidigen. Ein gemeiner Wucherer nimmt Ihre Vorschläge an, nicht aber ein reeller Geschäftsmann.“

„Der reelle Geschäftsmann ruinirt mich mit kaltem Blute, er sieht, wie mich die Verzweiflung ergreift, er zuckt höhnend die Achseln, während ich mich vor ihm demüthige. Aus Mitleiden, Herr Hofkommissär, seien Sie Wucherer, nehmen Sie meine Zinsen, und geben Sie Frist. Ihnen stehen mehr Wege offen, Geld zu erlangen, als mir. Ich bin rathlos, der Verzweiflung nahe.“

„Kann nicht, kann nicht!“ murmelte Spanier, „Ueberlegen Sie mit Ihrer Frau Gemahlin – acht Tage haben Sie noch Zeit“

„Mit meiner Frau, mit meiner Frau soll ich überlegen?“ rief Bergt, der wie angewurzelt stehen blieb.

„Madame Bergt ist die Freundin des reichen Fräuleins von Hoym. Verzeihen Sie, Herr Sekretair; ich will damit weiter nichts gesagt haben, es ist nur so meine Ansicht, ein augenblicklicher Einfall. Also spätestens in acht Tagen werde ich mir erlauben, Ihnen den Wechsel zu präsentiren.“

Der Jude verneigte sich. Bergt begriff, daß ihm nichts mehr übrig blieb, als zu gehen, und er ging, bestürzter noch, als er gekommen war. Der Rath des Israeliten, durch Henrietten mit Cäcilien zu verhandeln, hatte schwer sein Herz getroffen. Ihm war, als ob das heiligste Geheimniß seines Lebens verrathen, als ob er seiner Frau nicht mehr derselbe sei. Der Sonntag verfloß, und noch hatte der Bedrängte keinen Ausweg gefunden. Am Montag Morgen begab er sich mit bekümmertem Herzen auf sein Bureau. Der Kanzleirath Bronner, der sonst so freundliche Chef dieses Bureau’s, übertrug ihm kalt eine wahre Fluth von Arbeiten. Der Leser kennt den Grund, der den Kanzleirath mit Groll gegen den Sekretair erfüllte: Bergt aber war der Ansicht, seine zerrütteten häuslichen Verhältnisse erregten das Mißfallen des Chefs, und vielleicht auch Henriettens Umgang mit Cäcilien, der durch den Ball zur allgemeinen Kenntniß gekommen war.

Gegen Abend desselben Tages führte ihn ein Geschäft in das Kassenzimmer Ernesti’s. Der Rendant arbeitete allein. Eine große, mit Geld gefüllte Kassette stand geöffnet neben dem Schreibepulte des Greises. Bergt zitterte bei dem Anblicke des Mammons, dessen zehnter Theil hinreichte, um ihn vom Verderben zu retten.

„Sind Sie krank?“ fragte Ernesti, indem er den jungen Mann besorgt ansah.

„Ich fühle mich ein wenig unwohl, es ist wahr; aber ich hoffe, es wird bald vorübergehen. Die auf dem Balle durchwachte Nacht hat mich ein wenig angegriffen.“

„Sie sehen wirklich sehr bleich aus und zittern am ganzen Körper!“ fuhr der Greis fort. „Bleiben Sie zu Hause und ziehen Sie einen Arzt zu Rathe. Es wäre freilich sehr schlimm, wenn gerade jetzt die beste Arbeitskraft unserer Kanzlei entzogen würde.“

„Es wird vorübergehen!“ rief Bergt, auf dessen bleicher Stirn sich große Schweißtropfen zeigten.

Dann ergriff er ein Glas Wasser, das auf dem Tische stand, und trank es hastig aus. Ernesti hatte den jungen Mann, den er seit langer Zeit lieb gewonnen, besorgt betrachtet; er glaubte sich nicht zu irren, wenn er die gewaltige Aufregung des Sekretairs einer äußern Veranlassung zuschrieb.

„Bergt,“ sagte er theilnehmend, „Sie suchen mir umsonst einen Zustand zu verbergen, den ein moralisches Leiden zu erzeugen scheint. Bin ich nicht stets Ihr Freund gewesen? Vertrauen Sie sich mir an, und kann ich mit Rath und That helfen, so seien Sie meiner Hülfe gewiß.“

Erschüttert warf sich Bergt an die Brust des greisen Rendanten, dessen herzliche Worte ihm tief in die Seele gedrungen waren. Außer ihm gab es ja keinen Menschen, dem er sein Vertrauen schenken konnte. Er erleichterte seine Brust durch das Geständniß dessen, was wir wissen.

„Das ist eine große, eine schwere Verlegenheit!“ flüsterte der Greis. „Ich kenne Spanier, er ist unbeugsam wie der große Riegel an meinem Kassenzimmer. Armer Freund, diese Judenseele richtet Sie vollständig zu Grunde. Er zieht jetzt alle seine Kapitalien ein, um sich an einem Kredit-Mobilier zu betheiligen, einem neuen Unternehmen, von dem er sich in kurzer Zeit große Vortheile verspricht.“

„Glauben Sie, daß dieser Grund allein ihn treibt?“ fragte Bergt.

„Setzen Sie einen feindlichen Handstreich voraus?“

„Aus einer Andeutung des Juden muß ich fast darauf schließen.“

„Was deutete er an?“

„Er rieth mir, mich an Fräulein von Hoym zu wenden, und zwar durch meine Frau; sie sei die einzige, meinte er, die soviel baares Geld besäße.“

„Meinte er das?“ fragte der Rendant, bitter lächelnd.

„Ehe ich meiner Frau einen solchen Schritt zumuthe – –“

„Nein, nein, Bergt; weder Ihre Frau, noch Cäcilie von Hoym dürfen Sie um Vermittelung der Sache angehen. Es ist nur zu klar, daß der Jude diese Aeußerung in einer gewissen Intention ausgesprochen hat. Sie müssen den Händen des Hofkommissärs entrissen werden –“

„Aber wie? Ich sehe keinen Ausweg. O helfen Sie, helfen Sie mir, mein väterlicher Freund!“

Der greife Rendant ging nachdenkend durch das Zimmer, während der Sekretair am Fenster lehnte.

„Bergt,“ sagte Ernesti nach langer Pause, „es ist jetzt nicht mehr an der Zeit, Ihnen den Leichtsinn vorzuwerfen, mit dem Sie die fragliche Anleihe kontrahirt haben; es kann sich nur darum handeln, die wirklich gräßliche Verlegenheit zu beseitigen. Für den Augenblick kenne ich kein Mittel, denn die Summe ist zu groß, sie übersteigt meine Kräfte. Verlassen Sie sich darauf, ich schaffe Rath. Ihr Besitzthum ist viertausend Thaler werth, ich glaube, wir werden einen Mann finden, der auf diese Kaution die nöthige Summe leiht. Fassen Sie Muth, besorgen Sie ruhig Ihre Geschäfte, damit Niemand etwas ahnt, und vertrauen Sie Gott und Ihrem alten Freunde!“

Bergt wollte sich an die Brust des Greises werfen, aber ein eintretender Kassendiener hinderte ihn daran. Ernesti gab ihm ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten.

„Es ist gut,“ sagte er im trockenen Geschäftstone; „ich werde Ihnen das Aktenstück zusenden.“

Der Sekretair ging in sein Bureau zurück, und arbeitete mit erleichtertem Herzen.

„Der Schlag ist gegen die beiden Frauen gerichtet,“ dachte der Rendant. „Nur Geduld, wir werden ihn abzuwenden wissen! Der Jude ist das Mittel zum Zwecke; bald werde ich auch den Urheber der Machination kennen lernen, und ich muß ihn kennen lernen, um ihn an betreffender Stelle zu bezeichnen. O, wäre ich ein reicher Mann!“




Ⅲ.

Am folgenden Morgen stattete Henriette der Freundin den gewöhnlichen Besuch ab. Cäcilie empfing sie mit allen Zeichen der zärtlichsten Zuneigung. Der trübe Himmel drohete mit Regen, die beiden Freundinnen blieben in dem reizenden Boudoir, dessen Fenster nach dem Garten hinausgingen. Nachdem sie eine Zeit lang über gleichgültige Dinge geplaudert, zog Cäcilie die junge Frau auf das Sopha.

„Henriette,“ begann sie, „ich komme heute noch einmal auf den Ball zurück; dann werde ich seiner nie mehr erwähnen, das verspreche ich Ihnen!“

„Mein Gott, können Sie denn den unglücklichen Ball gar nicht vergessen? Ich denke schon längst nicht mehr daran.“

„Sie und ich!“ flüsterte Cäcilie. „Welch ein himmelweiter Unterschied liegt zwischen uns. Sie besitzen den Mann, den Sie lieben, und ich darf Albert Ernesti nur verstohlen sehen, und außer mit Ihnen kann ich mit keinem Menschen von ihm sprechen.“

„Arme, liebe Freundin,“ sagte lächelnd Henriette, „wenn Sie nur deshalb von dem Balle gern sprechen, weil Sie Albert Ernesti dort gesehen haben, so gehe ich mit Vergnügen auf das Gespräch ein. Also was haben Sie mir zu sagen?“

[91] „Sie kennen das Gerücht, das die Medisance unserer Residenz über mich in Umlauf gesetzt hat.“

„Leider kenne ich es, und muß es fast täglich hören. Ich lächele darüber, und die Sache ist gut.“

„Sie lächeln darüber, meine liebe Henriette, aber Albert nimmt es sehr ernst.“

„Dann verdient er nicht, von Ihnen geliebt zu werden!“ rief eifrig die junge Frau.

„Die Eifersucht plagt ihn!“

„Gleichviel; wenn er von wahrer Liebe beseelt ist, muß er Ihnen aufs Wort glauben. Ich will annehmen, man verleumdete mich bei meinem Manne – er würde den schön ansehen, der es wagte, meine Ehre zu verunglimpfen.“

„Ach, Henriette,“ sagte Cäcilie seufzend, „kann man einem Liebhaber das Mißtrauen verargen, wenn das verleumderische Gerücht so viel Wahrscheinlichkeit für sich hat, als in dem mich betreffenden Falle? Legen Sie die Hand auf das Herz und antworten Sie mir!“ fügte sie feierlich hinzu.

„Fragen Sie!“ rief Henriette, indem sie ihre kleine Hand auf das Herz legte.

„Denken Sie sich, wir säßen plaudernd auf diesem Sopha.“

„Wie jetzt; gut, dazu gehört aber keine starke Einbildungskraft.“

„Ich hätte Ihnen mit einem feierlichen Eide geschworen: meine Ehre ist unverletzt, man verleumdet mich unschuldig, ich habe, ehe ich Albert kennen lernte, nie geliebt –“

„Wozu diese Umschweife, liebe Cäcilie?“ unterbrach sie lachend die Freundin. „Würde ich mich an Ihrer Seite gezeigt haben, wenn ich nicht die Ueberzeugung hätte, daß Sie der Neid verleumdet? Verlieren Sie kein Wort mehr über diesen Gegenstand!“

„Jetzt kommt der Hauptpunkt, liebe Freundin. Was würden Sie sagen, wenn unser Geplauder durch die Ankunft eines Mannes unterbrochen würde, der sich, in einen Mantel gehüllt, durch den Garten schliche, und wenn dieser Mann der Fürst wäre? Nun, antworten Sie mir mit der Hand auf dem Herzen.“

Henriette starrte die reizende Cäcilie unschlüssig an.

„Der Fürst selbst?“ fragte sie nach einer Pause.

„Der Fürst, den Sie kennen.“

„Dieser Fall kann und wird nicht eintreten. Der Fürst ist ein braver Mann, der durch einen solchen Schritt Sie nicht kompromittiren wird.“

„Aber nehmen wir an, Henriette, daß ein solcher Besuch wirklich stattfände, und daß Sie sich mit Ihren eigenen Augen davon überzeugten. Wie würden Sie über mich urtheilen?“

„Ich würde zunächst mein Urtheil über den Fürsten ändern und dann erwarten, daß Sie ihn dringend bitten, er möge seinen Besuch nie wiederholen.“

„Wenn mir dies nun unmöglich wäre? Wenn ich aus gewichtigen Rücksichten – –“

„Es gibt keine Rücksicht, der Sie Ihre Ehre opfern könnten. Ich an Ihrer Stelle würde im äußersten Falle den Wohnort verändern, um den Leuten zu zeigen, wie ich mit dem Fürsten stehe.“

„Henriette,“ fuhr Cäcilie beharrlich fort, „wenn mir aber auch dies nicht möglich wäre? Wenn meine Existenz davon abhinge, daß ich hier bliebe? Wenn ich trotz dieses kompromittirenden Anscheines Ihnen schwöre – –“

„Schwören Sie nicht, Cäcilie!“ rief die junge Frau, indem sie beide Hände der Freundin ergriff. „Schwören Sie nicht, ich würde Ihnen glauben, aber Sie auch bedauern.“

Cäcilie schüttelte lächelnd ihr liebliches Köpfchen.

„Bedauern Sie mich nicht, liebe Freundin, denn meine Lage ist durchaus nicht so schlimm. Aber ich würde sie unerträglich finden, wenn mir Ihre Freundschaft und Albert’s Liebe geraubt würden. Henriette, mich umgibt ein Geheimniß, es ist wahr; gehörte dieses Geheimniß mir allein an, ich würde nicht einen Augenblick zögern, Sie zur Mitwisserin desselben zu machen, denn die Mittheilung würde mein Herz erleichtern, das durch Albert’s Mißtrauen sehr bekümmert ist.“

„Das Mißtrauen eines Liebhabers ist noch nicht so kränkend, als das eines Ehemannes.“

„Sprechen Sie aus Erfahrung, Henriette?“

„Vielleicht wird sich mir die Erfahrung bald aufdrängen.“

„O, wie bedauere ich Sie!“

„Hören Sie mich an, liebe Freundin, und rathen Sie mir, was ich in dem Falle, daß meine Befürchtungen eintreffen, beginnen soll. Sie haben den neuen Kammerpräsidenten auf dem Balle gesehen?“

„Ja; ich habe auch gesehen, daß seine glühenden Blicke Sie überall verfolgten.“

„Der Mann ist mir verhaßt, und deshalb vermied ich, von dem Balle zu sprechen.“

„Wie kann der Präsident Befürchtungen in Ihnen erwecken?“

„Urtheilen Sie: ehe ich Bergt in K. kennen lernte, lebte ich mit meiner Mutter, die eine kleine Pension bezog, still und abgeschieden von der Welt. Mein seliger Vater hatte mir eine fast glänzende Erziehung geben lassen, hatte mich in Zirkel eingeführt, in denen ich die sogenannte bessere Gesellschaft kennen lernte; wir statteten Besuche ab, und empfingen mitunter Besuche in unserem Hause. Zu den Freunden meines Vaters gehörte auch der damalige Regierungsrath von Seldorf, der, wie man erzählte, sich von seiner Frau hatte scheiden lassen, angeblich, weil er mit ihr eine unglückliche Ehe führte. Mein Vater hielt den Regierungsrath für einen aufrichtigen Freund, und so konnte es nicht auffallen, daß er mehr als jeder Andere bei uns erschien. Mich würdigte er seiner besondern Aufmerksamkeit, und so oft es mit Anstand geschehen konnte, so oft näherte er sich mir. Ach, Cäcilie, die Freundlichkeit dieses Mannes war mir fürchterlich; ein kalter Schauder durchrieselte meinen Körper, wenn er meine Hand ergriff, und sie an seine Lippen zog. Aus Rücksicht für meinen Vater, und weil es die Artigkeit erforderte, mußte ich diese Berührungen dulden. Da wurde mein Vater plötzlich krank.

„Während sich andere Freunde aus Furcht vor dem Nervenfieber zurückzogen, stattete Seldorf unermüdlich seine Krankenbesuche ab, die er oft bis in die Nacht ausdehnte. Ich kannte den Grund dieser besondern Aufmerksamkeiten, aber ich durfte ihn nicht aussprechen, um dem Kranken die Aufregung zu ersparen, der den Regierungsrath für seinen aufrichtigsten Freund hielt. Wenig Stunden vor seinem Tode ließ mein Vater die Mutter und mich an das Bett kommen; er sprach davon, daß er sein Ende nahen fühle, daß er kein Vermögen hinterlasse, daß Seldorf sich um mich beworben habe, und daß ich ihm, aus Rücksicht für seine Freundschaft und für die Zukunft der kränklichen Mutter meine Hand reichen möge – er verlasse getröstet diese Welt, wenn er wisse, daß unser Loos an das eines befähigten und wackern Mannes geknüpft sei. Thränen raubten mir die Sprache, ich konnte dem Sterbenden nicht antworten. Aber auch ihm blieb keine Zeit, ein Versprechen von mir zu fordern, denn der Kampf begann, der eine Stunde später mit dem Tode endigte. Mein armer Vater hatte wahr gesprochen, meiner Mutter blieb nichts, als eine geringe Wittwenpension. Wir mietheten uns eine kleine Wohnung, und richteten uns sehr bescheiden ein. Das Geld, das wir aus dem Verkaufe der Möbel lösten, reichte kaum hin, um einige Schulden meines verstorbenen Vaters zu bezahlen. Kurze Zeit nach dem Begräbnisse erschien Seldorf. Bestürzt sah er sich in unserm armseligen Stübcken um. Seine Tröstungen schlossen mit der Bewerbung um meine Hand und mit der Versicherung, daß er den Willen und die Kraft habe, uns ein glückliches Loos zu bereiten.

„Hätte ich Millionen durch seine Hand erhalten können, ich würde sie nicht angenommen haben. Ein seltsames Grauen befiel mich, wenn ich den Regierungsrath sah, mir war, als ob dieser Mann einen gefährlichen Einfluß auf mein Leben ausüben müsse. Um diese Zeit lernte ich Bergt kennen und lieben, der eine verheirathete Schwester in K. besuchte. Wir setzten die persönlich begonnene Bekanntschaft durch einen regen Briefwechsel fort. Seldorf, der keine Ahnung von meiner Liebe hatte, ließ in seinen Bemühungen nicht nach, und als ich ihm eine entscheidende Antwort gab, sprach er die Drohung aus, daß meine Mutter durch seinen Einfluß die Pension verlieren würde, denn er habe bis jetzt ein Vergehen meines verstorbenen Vaters verschwiegen, das ihn sehr strafbar mache. Ich übergehe die Scene, die nach dieser Erklärung stattfand, und theile nur mit, daß Seldorf Versprechungen und Drohungen anwandte, daß er kein Mittel unversucht ließ, mich einzuschüchtern oder zu rühren; er sprach sogar davon, sich eine Kugel durch den Kopf jagen zu wollen.“

„Der Mensch muß bis zum Wahnsinn verliebt gewesen sein!“ rief Cäcilie.

„Aus seinem Benehmen läßt sich allerdings der Schluß ziehen. Der Herr Regierungsrath jagte sich nun zwar keine Kugel durch [92] den Kopf, aber er wußte es dahin zu bringen, daß meiner Mutter wirklich die Pension entzogen wurde.“

„Infam! Sollte Seldorf einen so schlechten Charakter besitzen?“

„Hatte er nicht mit dieser Heldenthat gedroht?“ rief Henriette. „Wem anders als ihm konnten wir es zuschreiben, daß wir unsere einzige Hülfsquelle versiegen sahen? Meine arme Mutter hatte mit dem Jammer des Lebens nicht lange zu kämpfen – ein sanfter Tod führte sie zu meinem Vater. Als ich von dem Gottesacker zurückkehrte, fand ich Bergt vor, der mich zu besuchen gekommen war; er zeigte mir an, daß er in seinem Vaterlande eine einträgliche Stelle erhalten habe, und bat mich um meine Hand. Ich war dem braven jungen Manne längst mit ganzer Seele zugethan – nachdem das Trauerjahr vorüber war, folgte ich ihm in seine Heimath, wo uns die Hand des Priesters für ewig verband. Ach, Cäcilie, ich habe es nie zu bereuen gehabt, denn Bergt ist der bravste Mann, der zärtlichste Gatte. Ein Jahr verfloß in ungetrübtem Glücke. Da hörte ich plötzlich, daß der neuangestellte Kammerpräsident Seldorf heiße, und daß er von K. herübergekommen sei. Der böse Mensch war also der Vorgesetzte meines Mannes geworden! Bergt kannte sein Verhältniß zu meiner Familie nicht, und um ihn nicht besorgt zu machen, verschwieg ich ihm, daß Seldorf mir einst nachgestellt hatte. Auf dem Balle nun sah mich der Präsident, und wie ich aus seinen Blicken schließen muß, hat er einen fürchterlichen Groll auf mich geworfen. Ach, wenn mein Mann nur nicht darunter zu leiden hat!“

„Verbannen Sie jede Sorge, Henriette, und vergessen Sie nicht, daß ich Ihre Freundin bin!“ rief Cäcilie eifrig.

„An Ihrer Freundschaft, liebe Cäcilie, zweifle ich nicht; aber was können Sie einem so gefährlichen Menschen gegenüber thun, um mich zu schützen?“

„Dies gehört wieder zu dem Geheimnisse, das ich Ihnen jetzt noch nicht anvertrauen kann. Ich wiederhole Ihnen, daß jeder feindliche Plan, den der Präsident gegen Ihren Mann schmiedet, scheitern soll.“

„Cäcilie, wie soll ich Ihnen danken?“

„Dadurch, daß Sie meine Freundin bleiben, und daß sich unsere Freundschaft nicht ändert, wie auch die Lästerzungen über mich reden mögen. Der Ruhe Ihres Mannes wegen beobachten Sie über Alles ein tiefes Schweigen. Es ist ja möglich, daß Seldorf vernünftig geworden und Nichts unternimmt – warum wollen Sie dem guten Bergt Besorgnisse einflößen?“

„Wer kommt da?“ rief plötzlich Henrielte, die durch das Fenster gesehen hatte.

Cäcilie wandte ruhig ihr Köpfchen.

„Kennen Sie ihn nicht?“ fragte sie lächelnd.

„Es ist der Fürst!“ stammelte verwirrt die junge Frau.

„Beargwöhnen Sie mich immer noch? Soll ich meine Bitte zum dritte Male wiederholen?“

„Nein, nein! Aber gestatten Sie mir, daß ich mich zurückziehe!“

„Nachdem ich Sie Sr. Durchlaucht vorgestellt habe.“

Henriette nahm Hut und Shawl. Ihr Gesicht glühete wie Purpur, denn sie konnte sich eines leisen Schamgefühls nicht erwehren, trotzdem sie sich vorgenommen hatte, in die Freundin volles Vertrauen zu setzen. Nach zwei Minuten trat der Fürst unangemeldet ein. Sein ergrautes Haupt und die milde Freundlichkeit, die sich in seinen großen Augen ausdrückte, gaben der jungen Frau so viel Fassung zurück, daß sie artig und ehrerbietig grüßen konnte. Cäcilie stellte die Freundin dem hohen Gaste vor, der sich lächelnd verneigte, ohne zu reden. Henriette drückte Fräulein von Hoym die Hand und verließ das Zimmer. Mancherlei Betrachtungen drängten sich ihr auf, als sie langsam über die Promenade ihrer Wohnung zu ging.

„Ich werde schweigen und ausharren,“ flüsterte sie vor sich hin; „es ist ja möglich, daß ich des Schutzes Cäciliens nicht bedarf.“




Ⅳ.

Dem Kanzleirathe Bronner war der Sekretair Bergt ein gefürchteter Mann geworden; die Voraussetzungen des Präsidenten, dessen Protektion durch Fräulein von Hoym kraftlos gemacht wurde, wie er wähnte, hatten ihn aus der Ruhe emporgeschreckt, in die das freundschaftliche Verhältniß zu dem Chef ihn eingewiegt hatte. Menschen, die das überwiegende Talent eines Andern zu fürchten haben, sind dann am gefährlichsten, wenn sie ihr eigenes Unvermögen zu begreifen beginnen; sie verzweifeln an sich selbst, und gehen bis zum Aeußersten, um den Feind zu vernichten. Bergt war seit jenem Ballabende der ärgste Feind Bronner’s. Sehen wir, wie er seine Netze ausspannt, um die Beute zu fangen.

Eines Abends erschien der Kassendiener Peters in seiner Wohnung.

„Gut, daß Sie kommen, Peters. Ich kann Ihnen einen vorläufigen Bescheid auf den Antrag geben, den ich befürworten soll.“

Peters war lange Soldat gewesen, und hatte den Posten des Kassendieners als Versorgung erhalten.

„Ach, Herr Rath,“ sagte er, „das ist mir lieb, denn die Zeiten sind gar zu drückend, ich weiß nicht mehr, wie ich meine starke Familie erhalten soll. Mir wird grau vor den Augen, wenn ich an den nächsten Winter denke. Meine Frau ist stets krank –“

„Es thut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß ich Ihnen nicht nützlich sein kann, so gern ich möchte. Für dieses Jahr ist an eine Gehaltserhöhung nicht zu denken.“

„Mein Gott, mein Gott!“ murmelte Peters, indem er seine rauhen Hände faltete. „Wenige Thaler monatlich würden genügen, um mich glücklich zu machen. Der Herr Rendant Ernesti sagte mir, daß es nur von Ihnen abhinge.“

„Von mir?“ unterbrach ihn lächelnd der Rath. „Und das sagte Ihnen der Rendant?“

„Gestern noch.“

„Dem Rendanten, mein Freund, liegt das ganze Kassenwesen ob. Noch mehr: wenn er bestätigt, daß Ihre Dienste nicht hinreichend belohnt werden, so berichte ich dem Präsidenten, und die Sache ist abgemacht. Auf meine Anfrage, die ich unter der Hand machte, ward mir die Antwort: man kann der Kasse neue Ausgaben nicht aufbürden, sie ist bereits zu stark in Anspruch genommen.“

„Das sagte der Rendant?“ fragte Peters mit zornigen Blicken.

„Ernesti ist für die ihm anvertrauete Regierungskasse besorgt.“

„Für die Kasse und für seine Freunde!“ murmelte mit verbissener Wuth der Alte.

„Wie meinen Sie das?“ fragte ruhig der Rath.

„Für mich ist die Kasse nicht da, aber für den Sekretair Bergt, der um viertausend Thaler in Verlegenheit war – o, ich will nichts gesagt haben – aber es thut weh, wenn man hartherzig behandelt wird.“

Der Rath verbarg sein Erstaunen, indem er fragte: „Bergt hat Geld erhalten?“

„Nun ja, einen Vorschuß von viertausend Thalern auf acht Tage. Ich hörte das Gespräch der beiden Herren in meinem Arbeitszimmer, dessen Thür angelehnt war.“

„So, und was sprachen sie?“

„In acht Tagen erhalte ich die Summe von einem Freunde auf dem Lande, sagte der Rendant; er ist ein sicherer Mann, ich kann mich auf ihn verlassen; ich gebe Ihnen das Geld bis dahin aus meiner Kasse – gehen Sie, und lösen Sie Ihren Wechsel ein. Da hörte ich, daß der Sekretair vor Freude weinte. Gleich darauf sah ich ihn durch mein Fenster über den Platz laufen, wahrscheinlich, um seinen Wechsel zu holen. Ich wollte neulich zwanzig Thaler Vorschuß haben – mir hat sie der Herr Rendant verweigert, mir armen Manne, der einen Haufen Kinder und eine kranke Frau hat.“

„Still, Peters, still, die Aufregung reißt Sie zu weit hin.“

„Die Aufregung? Sagen Sie die Verzweiflung, Herr Rath.“

„Also zwanzig Thaler können Ihnen helfen?“

„Ja!“ murmelte Peters.

„Hier sind sie!“ sagte der Rath, indem er das Geld aus seinem Sekretair holte. „Ich schenke sie Ihnen unter der Bedingung, daß Sie keiner Seele erzählen, was Sie mir so eben mitgetheilt haben. Der neue Präsident, Sie wissen es ja, ist ein sehr strenger Mann. Wenn er erführe, daß fürstliche Kassengelder zu solchen Zwecken verwendet würden – –“

(Fortsetzung folgt.) 

[93]
Aus der guten alten Zeit.
Nr. 2.
Fürstliche Sonderlinge.

Herzog August von Gotha als Griechin.

Ein Mann von Geist, Witz, aber auch von vielen Seltsamkeiten war der Herzog August von Sachsen-Gotha, der vorletzte seines jetzt ausgestorbenen Stammes. Er lebte zu Anfang dieses Jahrhunderts. Er war ein braver, rechtschaffener Mensch, ein guter Regent, der besonders in der Wahl seiner Staatsdiener sehr vorsichtig und glücklich war, aber voller Wunderlichkeiten, und man erzählt sich viele Züge von Bizarrerie und Sonderbarkeit. Der Dichter Jean Paul befand sich öfters in seiner Nähe, wohnte sogar einige Zeit in Gotha, allein er fühlte sich dort nicht behaglich, sowie sich denn Niemand bei diesem Fürsten behaglich fühlte, dessen Geist eine scharfe und verletzende Bitterkeit hatte. Ein fürstlicher Satiriker und Persifleur ist doppelt gefährlich, weil er die Waffen allein in Händen hat, und der Gegner ihm keine entgegensetzen kann. Es gibt einen Geist, der, wie der Spieß des Telephos zugleich verwundet und heilt, es gibt aber auch einen, der nur verwundet und die Heilung Andern überläßt. Der erstere bessert und erhebt, der zweite beleidigt und macht verhaßt. Dies sollten sich die Spötter merken.

Der Herzog war groß, lang, ohne dabei schön gewachsen zu sein; seine Gestalt entbehrte des Ebenmaßes, so wie sein Gesicht der natürlichen frischen Farbe. Er zeigte jenes krankhafte Weiß, das mit röthlichem Haar verbunden zu sein pflegt; dabei waren seine Augen ausdruckslos, mit hellblonden Wimpern und Brauen umgeben. Da er Roth auflegte, sowohl auf Lippen als auf Wangen, ja sogar Schönpflästerchen nicht verschmähte, bekam er das Ansehen eines Weibes. Dazu trug die bald blonde, bald braune Lockenperrücke das ihrige bei, denn er wechselte mit seinen Haaren wie mit seinen Launen. Oft sah der Hof zum größten Erstaunen ihn in einem Lockenkopf erscheinen, der zur Hälfte blond, zur andern schwarz war. Welch’ einen Eindruck dies machte, läßt sich kaum beschreiben. Ueberhaupt schien ihn das gewöhnliche Leben anzuwidern, und die Kleidertrachten, die die Mode mit sich brachten, waren ihm lange nicht abwechselnd und originell genug, daß er sich nicht hätte bemühen sollen, Variationen hineinzubringen. Wenn lange genug seine Lockenperrücke gerade auf dem Kopfe gesessen, zog er sie über das Gesicht herab und blickte so durch eine der in der Perrücke angebrachten Oeffnungen sich die Gesellschaft an, die ihrerseits diesen gnädigen Spaß belachte. Wenn er dazu genöthigt war, trug er die Uniform, wie sie damals getragen wurde; wenn aber keine äußern Verhältnisse ihm Zwang anlegten, wählte er sich irgend ein Gewand, von denen er in seiner phantastischen Garderobe eine große Auswahl hatte. Manchmal ging er als indischer Priester herum, dann als jüdischer Rabbi, dann als Grieche, öfters aber auch warf er sich in das Gewand einer Frau, bekleidete seine Arme mit Schmuck [94] legte einen Schleier über’s Haupt und lag so wie eine Schöne, die sich von ihren Anbetern umringt sieht, auf dem Sopha.[1] So sah ihn einmal Jean Paul, der, erstaunt über die fremde Fürstin, die angelangt war, ohne daß er etwas davon wußte, sich nicht dem Ruhebette zu nähern wagte, auf dem der Fürst lag. Dieser, ohne sich zu erkennen zu geben, winkte den Dichter huldvoll heran und reichte ihm die Hand zum Kusse. Dieser Scherz gefiel dem guten, ehrlichen Bayreuther Poeten so wenig, daß er mit ein Grund war, weshalb er sich rascher vom Hofe beurlaubte, als es sonst stattgefunden hätte.

Goethe mochte diesen Fürsten durchaus nicht, und wenn er wußte, daß er am Hofe zu Weimar zum Besuche war, erschien er nicht bei der Tafel. Der Herzog August, dem es Vergnügen machte, wenn er sah, daß man ihn nicht mochte, versäumte keine Gelegenheit, sich mit Goethe zusammenzufinden, und ihm gerade die Art von Späßen und Neckereien vorzumachen, von denen er wußte, daß Jener sie nicht ertragen konnte. Schon seine französischen Wortspiele und Bonmonts, die er rasch hintereinander vorbrachte, und selbst mit einem kurzen kleinen Gelächter begleitete, waren Goethe’s ruhiger und besonnener Weise, die Unterhaltung zu führen, äußerst zuwider. Auch Karl August, der Herzog von Weimar, machte sich aus diesem Vetter wenig.

August konnte auch sehr traurig sein, ja es gab besonders in seinem letzten Lebensjahre bei ihm Stunden, in denen eine wahrhaft dämonische, mit den schwärzesten Gebilden gefüllte Hypochondrie bei ihm die Oberhand gewann. Alsdann war der französische Stutzer und Spötter gar nicht mehr wieder zu erkennen. Er trieb sich dann Nachts herum, durchirrte mit fliegendem Nachtgewande, eine Kerze in der Hand, die Säle seines Palastes, und schien irgend etwas Geheimnißvolles zu suchen, das er nicht fand. Er stieß namenlos rührende und erschütternde Klagen aus, die in der Stille und Einsamkeit der Nacht die Seele jedes lebenden Wesens, das sich in seiner Nähe befand, tief bewegten. Hatte er seinen nächtlichen Lauf vollendet, so warf er sich auf die Teppiche seines Schlafgemaches und wimmerte, indem er sich unter Schmerzen wand. In der Seele dieses Mannes mußte in diesen Augenblicken etwas vorgehen, was nicht Schein und nicht Lüge war. Diese Stunden söhnten mit seinen Bizarrerien und Lächerlichkeiten aus, denn unwillkürlich empfand der Beobachter der menschlichen Natur, daß ein Wesen, das so zu leiden im Stande war, die Tiefen und Geheimnisse der Sterblichen zu ahnen verstand, und daß sein irregehender Geist nach einer Größe suchte, die er nicht zu erfassen und festzuhalten verstand. Seine Widersacher erfuhren von diesen Stunden nichts, sonst hätten sie ihn milder beurtheilt.

Eben so wie in der Kleidung, liebte der wunderliche Mann auch in seiner Umgebung, in Möbeln und Geräth, ja besonders in Bildern das Absonderliche. Eine Uhr, die auf gewöhnliche Weise ihm die Stunden anzeigte, wäre für ihn eine lästige Maschine gewesen. Er erfand sich selbst eine Uhr, und zwar zeigte das Uhrgehäuse die Form eines Todtenschädels auf das Täuschendste, selbst in den Farben nachgeahmt, und das Zifferblatt war an der rechten Augenhöhle angebracht und der Zeiger, ein grünlicher, gekrümmter Wurm, der aus der Augenhöhle hervorkommend, die Stunden zeigte. Kann man wohl ein sprechenderes Memento mori haben? Ein Klavier erfand er, das, so wie man die Tasten berührte, Wasserstrahlen dem Spielenden ins Gesicht schoß. In der That eine artige Erfindung, um die Modethorheit des ewigen Tastengeklimpers heut zu Tage zu züchtigen. Aber der berühmte Abt Vogler kam einmal unwissend an dieses Klavier, erhielt seine Portion Wasser in’s Gesicht, und kam nie wieder zum Herzog und nie wieder nach Gotha. Das größte Wunder der Erfindungsgabe des Herzogs, der das Unglück hatte, daß alle seine Erfindungen mißfielen, war jedoch eine Reisekutsche, die er hatte nach eigner Angabe bauen lassen und die ebenfalls wieder einen kolossalen Todtenschädel darstellte, wo die Augenhöhlen die Fenster bildeten. Diese Kutsche hatte er die Kühnheit, Napoleon, der nach seinen siegreichen Schlachten sich der kleinen Stadt Gotha näherte, entgegenzuschicken. Auch Napoleon war auf diesen Spaß nicht eingerichtet, und wies den Wagen zurück.

Der Herzog liebte die Sterne sehr, und hatte sich ein Gemach im Schlosse ausmalen lassen mit goldenem Sternengefunkel an der Decke. Der wirkliche Himmel interessirte ihn weniger; er ging nicht aus, fürchtend, sich zu erkälten; aber im geschlossenen Raum schwelgte er im Anblick der gemalten Sterne. In einem solchen Zimmer starb er. Man mußte ihm ein Bette eilig hinüberrollen, als er den Tod nahen fühlte. Außer den Sternen hatte er eine Schwachheit für Alles, was antike Poesie heißt. Alles mußte bei ihm einen griechischen Zuschnitt haben. Mit großen Kosten ließ er sich Möbel und Draperieen aus Paris kommen, die nach dieser Mode geformt waren. Er selbst schrieb griechische Romane, und der Schreiber dieses besitzt einen, der völlig geschmacklos und unlesbar ist, weil jedes Ding, das im gewöhnlichen Leben vorkommt, hier mit einem griechischen Namen genannt wird. Auch der Liebeshandel, der den Kern des Romans bildet, ist vor lauter Ziererei und Schwulst bitter langweilig. Jean Paul sollte diese Romane korrigiren, ähnlich wie Voltaire Friedrich’s Verse; aber er machte sich wie dieser aus dem Staube, und ließ sich nicht wieder sehen. Brieflich gab er dem Herzog gute Lehren, die aber nichts fruchteten.

Auf seine Umgebung stichelte der Herzog beständig, es gab kein Mitglied derselben, auf das er nicht ein boshaftes Epigramm zu Tage förderte. Einst rief er einem verdienten, alten Militair, einem Ehrenmanne, der aber nicht gerade der belustigendste Gesellschafter war, die Räthselfrage zu:

„Lieber General, sagen Sie mir, was ist das für ein Ding, die erste Silbe zeigt eine Flüssigkeit an, die zweite ebenfalls, und dennoch ist das Ganze der Inbegriff alles Trocknen ?“

„Hoheit meinen mich,“ sagte der Trockne, der Seebach hieß, und verließ entrüstet die Tafel.

Empfindlich oder gar böse durfte man jedoch nicht sein, dann war der Spötter unerbittlich und unerschöpflich. Wenn man lachte, kam man noch am besten weg. Mit den Damen seines Hofes trieb er einen muthwilligen und nicht zu rechtfertigenden Spaß, der stets auf eine arge Frivolität hinauslief.

Da er in seiner Jugend nicht viel gelernt hatte, war ihm alles Erlernte zuwider, und er glaubte in Allem Pedanterie zu sehen. Goethe war ihm ein Pedant. Unter den Künsten war die Skulptur ihm am zugänglichsten, da er Formensinn hatte und die Schönheit herauszufinden wußte. Bei den Gemälden machte nur das Seltsame bei ihm Wirkung, und er stellte den Maler Grassi förmlich auf einige Zeit an seinem Hofe an, um „wunderliche“ Bilder für ihn zu malen.

So entstanden denn Figuren mit grünem Haar und manches andere Absonderliche, was man noch in einer Gallerie des Schlosses zu Gotha sehen kann; wenigstens sah sie noch vor einigen zwanzig Jahren der Schreiber dieser Zeilen. Es plagte ihn, eine gewisse mystische noch nie dagewesene menschliche Gestalt zu erfinden, die, wie er behauptete, im Paradiese herumgezogen sei, dann aber von der Erde sich auf immer verloren habe. Er beschrieb dem Hofmaler die Züge dieser Gestalt, ihre Bewegungen, ihren phantastischen Anputz – aber es entstand kein Bild. Man konnte nicht malen, was nicht zu malen war. So viel stand fest, daß diese mysteriöse Figur einen Stern auf der Brust und einen Stern auf dem Haupte hatte, und daß der aufgehobene Johanniterorden in seiner Kapelle zu Jerusalem eine Abbildung dieses Wesens besessen. Der arme Grassi hatte seine Noth mit dem Herzog, und aus lauter Furcht noch mehr grüne Haare malen zu müssen, als er bereits zu Stande gebracht, verließ er eines Tages Gotha mit der Extrapost, indem er dem Herzog sechs Blasen mit grüner Farbe zu beliebigem Gebrauche zurückließ.

Was die Küche betraf, war der Herzog gar nicht zu befriedigen, durch keine Leckerei der Welt, denn sein Gaumen hatte Alles schon durchgekostet und fand Alles schaal. Zu wahrhaft ekelhaften Dingen, wie man erzählt, griff er, um an dieser unnatürlichen Kost sich zu ergötzen. Auch liebte er, kölnisches Wasser zu jeder Speise zuzugießen, ebenfalls eine sehr wenig zu empfehlende gastronomische Zuthat. Sein stets verdorbener Magen zwang ihn übrigens zu großer Mäßigkeit – er liebte weder die Flasche, noch la bonne mère.

Wir bleiben dabei, seine Natur konnte einen mächtigen Schwung nehmen, aber es war etwas, das sie niederhielt. Sein Leben war ein verfehltes, wie schon seine Erziehung eine verfehlte war. Ohne Glauben und Zuversicht an sich selbst, empfand er auch keine nach außen hin. Den Muth, völlig mit der Welt zu brechen, hatte er nicht, er empfand aber wohl, daß es eine Größe gäbe und daß er dazu bestimmt war, diese nie zu erreichen. Darum spottete er [95] und darum – in seinen einsamen Nächten – klagte er. Und bei allen diesen Sonderbarkeiten fand er doch Zeit, für Kunst und Wissenschaft Mancherlei zu thun, und sein kleines Ländchen befand sich unter seiner Regierung materiell wohl.

Auch seine Art, sich bestatten zu lassen, war eigenthümlich. Ohne Sarg, befahl er, solle man ihn, in seinen Mantel gehüllt, auf eine Ruhebank in einem eigens dazu bestimmten Gewölbe niederlegen, das er auf einer Insel nahe beim Schlosse hatte erbauen lassen. Es geschah indeß nicht, doch ist er, so viel ich weiß, ohne Sarg auf der Insel seines Parks eingesenkt. Friedrich der Große hatte auch auf ähnliche Weise bestattet sein wollen, allein man erfüllte seinen Willen nicht.
v. Stg. 


Naturbetrachtungen im Zimmer.
Von Berth. Sigismund.
Am Fenster.
II.
Warum schwitzen die Fenster nicht im Sommer, sondern gerade dann, wenn es kalt ist? – Worin das Schwitzen der Fenster besteht. – Warum bethaut gewöhnlich nur das Glas, nicht auch der Fensterrahmen? – Warum fängt der Niederschlag stets an den untersten Scheiben an? – Warum ist eine bethaute Glastafel nicht durchsichtig? – Warum spiegelt sich an einer bethauten Glastafel die Lampe nicht deutlich ab? – Warum sitzen am Fenster nicht kugelrunde, sondern abgeflachte Tropfen? – Ein Spiel am bethauten Fenster und seine Erklärung.


„Warum schwitzen die Fenster nicht im Sommer, sondern gerade dann, wenn es kalt ist?“ fragte mich ein Wißbegieriger. Man sieht aus dieser Aeußerung, wie ein metaphorischer Ausdruck leicht zum Irrthum führt. Der Mensch ist nur zu geneigt, ein Gleichniß so weit zu verfolgen, bis es hinkt, was zuletzt ein Jedes thut, und bei diesem Verfolgen des Gleichnißwortes verläuft sich der Mensch auch bei philosophischen Fragen gar zu leicht. Deshalb ist die Benennung eines Naturdinges nicht bedeutungslos, und wäre die Wissenschaft einmal dahin gekommen, die Wesen und Vorgänge der Natur nach einem logischen Plane mit Ausdrücken zu bezeichnen, die ebenso folgerichtig als handlich wären, so wäre man um einen sehr bedeutenden Schritt vorwärts gelangt.

Für den Vorgang nun, welchen wir jetzt betrachten wollen, nämlich für das, von den die Blankheit liebenden Hausfrauen beklagte, Schwitzen oder Anlaufen der Fenster gibt es eine Bezeichnung, die nicht nur den sinnlichen Eindruck, sondern auch den Ursprung desselben mit einem anderen ganz entsprechenden in Verbindung setzt; die Bezeichnung ist: das Bethauen. Die feinen Wassertröpfchen am Fenster gleichen in der That in ihrer Entstehungsweise vollkommen den Thauperlen, welche Morgens an Grashalmen und Blättern hängen.

Die Luft innerhalb der bewohnten Räume trägt stets eine gewisse Menge Wasser in luftförmiger Gestalt, als Dampf. Auch Zimmer, in denen kein Kochgeschirr und keine Ofenblase als Dampfkessel wirkt, sind nicht arm an Wassergehalt der Luft. Der Physiolog Valentin fand durch genaue Wägungen, daß er selbst in einer Stunde durchschnittlich 29 Gramm Wasser durch die Haut und 15 Gramm durch die Lunge im Athem ausscheidet. Die dampfartigen Ausscheidungen eines erwachsenen Menschen belaufen sich also in 12 Stunden auf etwa 1 Pfund Wasser. Jede im Zimmer vorgehende Verbrennung (auch das Athmen ist im Grunde eine solche) gibt eine gewisse Menge Wasserdampf an die Luft ab, wie man leicht sieht, wenn man einen kalten Gegenstand kurze Zeit über eine Flamme hält. Jedes brennende Licht, jede dampfende Cigarre wirkt wie ein kleiner Dampfkessel. Auch die, das Winterzimmer theilenden, Pflanzen tragen zur Dampfbildung bei. Hales fand durch Wägungen, daß eine Sonnenblumenstaude täglich 1¼ Pfund Wasser an die Atmosphäre abgibt; ein großer Epheustock oder ein Ficusbaum wird kaum weniger Wasserdampf ausathmen. Aus diesen Thatsachen erhellt, daß es der Luft in Wohnzimmern nie an Feuchtigkeit fehlen könne, und das Hygrometer, mit welchem man den Wassergehalt der Luft bestimmt, bestätigt die reichliche Beladung der Zimmerluft mit Wasser.

Je wärmer die Luft ist, desto mehr Wasser nimmt sie auf, und trägt dasselbe als unsichtbaren Dampf, weshalb nasse Schrift oder feuchtes Linnen am Ofen rasch trocknen. Erkaltet aber eine mit Wasserdampf gesättigte Luft, so muß sie einen Theil der Feuchtigkeit, die sie an sich gerissen, wieder abgeben. Oeffnet man bei großer Kälte das Fenster in einer warmen Stube, so erkennt man an den zitternden und flimmernden Luftwellen den dichter werdenden Dampf; athmet man in frostkalter Luft, so bildet das im Athem enthaltene Wasser sogleich Nebel; steigt die Ausdünstung des warmen Thees an den kühlen Deckel der Kanne, so gerinnt er zu Tropfen; bringt man ein Trinkglas oder einen Leuchter aus der kalten Küche in’s warme Zimmer, so setzen sich an diesen Gegenständen sogleich Wasserkügelchen an. Jene Nebel und Tropfen entstehen aus der Beute, welche die warme Luft sich angeignet hatte, aber, sobald sie in der Nähe eines kalten Gegenstandes abgekühlt wird, herausgeben muß.

Die durch die äußere Luft erkaltete Fensterscheibe gleicht in ihrer Wirkung auf die dunstige Zimmerluft vollkommen dem Deckel der Theekanne oder dem kalten Leuchter. Hauchen wir eine kalte Fenstertafel in der kühlen Jahreszeit an, so bedeckt sie sich mit feinen Tröpfchen, weil der unmittelbar an das Glas grenzenden Luft mehr Dampf beiwohnt, als sie nunmehr zu ertragen im Stande ist. Aber diese Glasscheibe gleicht nicht blos so kleinen Dingen, sie darf sich stolz neben Größeres hinstellen, nicht blos neben den Condensator einer Dampfmaschine, in welchem der thatkräftige Dampf, nachdem er seine Dienste gethan, zu Wasser wird, sondern auch neben die höchsten Berge, an welchen sich nach denselben Gesetzen so häufig und rasch Wolken bilden. Haucht Aeolus vom mittelländischen Meere her die Alpen an, welche mit ihrem Eispanzer eine Mauer zwischen Süd und Nord bilden, so verwandelt sich der warme Athem des Luftgottes sogleich in Nebeldampf und Gewölk, und fällt im günstigen Falle, wenn nicht Luftströmungen ihn weiter tragen, als Regen zu Boden. Wenn sich in klaren Nächten die Luft abkühlt, so läßt dieselbe den Ueberschuß ihres Dampfgehaltes als zierliche Thautropen absitzen. Wir haben also an der anlaufenden Fensterscheibe einen physikalischen Apparat, der die Entstehung des Nebels, Thaues und Regens veranschaulicht, und der Winter, der sich auch sonst als Kinderfreund bewährt, zeigt sich hier als lehrreicher Kunststückmacher. Was der Sommer nach Taschenspielerart während der Nacht oder hoch in den Lüften treibt, so daß wir nur den Erfolg, nicht das Verfahren des Kunststückes sehen, das zeigt der treuherzige Winter den Menschen im Spiele innerhalb des Zimmers.

Aber zugleich stellt der nordische Geselligkeitsfreund, der die Familien so gern traulich zusammengeschaart sieht, einige Räthselfragen an die forschlustige Gesellschaft, wohlwissend, daß Räthsel und Charaden eine unentbehrliche Würze der geselligen Kreise sind.

Zuerst stellt er das Räthsel auf: „Warum bethaut gewöhnlich nur das Glas, nicht auch der Fensterrahmen?“ Der freundliche Leser, der sich des im ersten Abschnitte unserer Hausphysik erwähnten Versuches über die Wärmeleitung erinnert, wird die Auflösung sogleich haben. Das Glas gibt von der vom Ofen erborgten Wärme mehr an die Straßenluft ab, als der Holzrahmen, und darum erkältet die kühlere Glasscheibe die benachbarte Luft stärker, so daß diese einen Theil des Dampfes niederschlägt. Doch hat die Glasscheibe keineswegs das Alleinrecht zu bethauen, bei großer Kälte bedecken sich auch die Fensterrahmen mit Tropfen.

Das zweite Räthsel des Winters heißt: „Warum fängt der Niederschlag stets an den untersten Scheiben des Fensters an, und warum bethauen diese stärker als die oberen?“ Da die Auflösung nicht rasch erfolgt, gibt er lächelnd zum Stichworte: „kalte Füße, kalter Fußboden.“ Das führt auf die Lösung. Die Luft am Boden des Zimmers ist immer kühler, als die in der Nähe der Decke befindliche. Die Stubenfliege weiß das recht gut, in der kühlen Zeit setzt sie sich stets an die Zimmerdecke zur Ruhe. Diese Temperaturverschiedenheit [96] rührt daher, daß die kältere Luft, welche schwerer ist, sich herabsenkt, während die wärmere nach Art des Luftballons, der eigentlich nichts ist, als eine warme Luftblase, emporsteigt. Demzufolge muß die Luft in der Nähe der unteren Fenstertafeln kühler sein als die vor den oberen schwebende. Das läßt sich leicht sichtbar machen. Hänge ich eben jetzt mein Thermometer vor die unterste Fensterscheibe, so zeigt es 10°, vor der oberen dagegen 16° Wärme. Durch die kühleren unteren Scheiben wird deshalb die Luft leichter auf den Thaupunkt gebracht, wo sie wie ein mit Salz bestreuter Blutegel ihren Raub herausgeben muß. Aus diesen Thatsachen erklärt sich unmittelbar, warum jede einzelne Fensterscheibe am unteren Ende zu beschlagen anfängt und hier sich mit größeren Tropfen bedeckt. Bei diesem letzteren Vorgange trägt übrigens auch die durch Gerinnung frei werdende latente Wärme etwas bei. So oft nämlich ein dampfförmiger Körper zu Tropfen gerinnt oder so oft eine Flüssigkeit zum festen Körper erstarrt, wird die Wärme, welche dem Dampfe oder der Flüssigkeit zu ihrem lockeren Zustande verhalf und von ihnen gebunden war, in’s Freie gegeben und läßt sich nun durch ihre Einwirkung auf das Thermometer nachweisen.

Drittes Räthsel. „Warum ist eine bethaute Glastafel nicht durchsichtig, sondern nur durchscheinend?“ Da der Winter an Laien in der Optik keine zu hohen Ansprüche macht, läßt er folgende Lösung, die freilich mehr eine bloße Erläuterung durch ähnliche Vorgänge als eine Theorie ist, gelten. Die Luftwellen werden sehr geschwächt, wenn sie sich durch die Poren netzartiger Körper durchdrängen müssen; deshalb bewirkt eine mit Tuch überspannte Oeffnung eine so bedeutende Dämpfung der Töne, welche im Zimmer erschallen, für die außen Horchenden. Aehnlich verhält es sich mit dem Lichte, besonders wenn es mehrere verschiedene Körper nach einander durchdringen muß. Das klare Wasser ist undurchsichtig, wenn es beim Herabstürzen am Wasserfalle sich in Schaum verwandelt; Glas oder Kolophon liefert, wenn es gepulvert wird, undurchsichtigen Staub. Am schäumenden Wasserfalle muß sich das Licht bald durch Wassertröpfchen, bald durch Luftbläschen, im letztgenannten Falle bald durch Glas- und Harztheilchen und Luft hindurchkämpfen, und wird dadurch sehr entkräftet. – „Gut,“ meint der Räthselmann; „aber, wenn ich einmal durch Analogien abgefunden werden soll, warum gibt ihr nicht die näher liegende von den Wolken? Ist nicht eine aus klaren Wassertropfen bestehende Wolkenschicht so undurchsichtig, daß selbst die Sonne nicht durchblicken kann?“

Viertes Räthsel. „Warum spiegelt sich an einer bethauten Glastafel die Lampe nicht deutlich ab und gibt nur einen unbestimmten matten Wiederschein?“ – Ein vom Winde bewegter Teichspiegel gibt kein deutliches Spiegelbild der Uferlandschaft, weil die wellig gekräuselte Oberfläche die anprallenden Lichtwellen unregelmäßig zurückwirft und verwirrt. Die bethaute Fensterscheibe ist durch die Wassertröpfchen höckerig geworden, und die an den kleinen Höckern abprallenden Lichtwellen verwirren sich mit den aus den Vertiefungen zurückgeworfenen, so daß keine regelmäßige Strömung der Lichtwellen zum Auge gelangt und darum im letzteren kein Bild entsteht.

Fünftes Räthsel. „Warum sitzen am Fenster nicht kugelrunde Tropfen, wie am bethauten Blatte, sondern nur abgeflachte, unregelmäßig umrandete Wassertröpfchen?“ – Auch die Lösung dieser Frage finden wir nach einigem Sinnen. Wasser, welches auf den breternen Fußboden verschüttet wird, läuft sogleich breit; auf der gebohnten Diele dagegen oder auf der gefirnißten Tischplatte bleibt es in Form einzelner Tropfen haften. Aehnliche Unterschiede in der Benetzung treffen wir durch Besprengung einer reinen und einer fettigen oder staubigen Schiefertafel mit Wasser. Die einzelnen feinsten Wassertheilchen haben offenbar den Trieb, sich um einen Kameraden, der sich zuerst gelagert, eng zusammenzuschaaren, sowie die Schafe um den lagernden Leithammel oder die jungen Gänschen und schwärmenden Bienen sich in einen Klumpen gruppiren. Diesen Gruppirungstrieb (Cohäsion genannt), durch welchen sie Kugeln (Tropfen) bilden, befriedigen die Wassertheilchen stets, wenn kein Hemmniß sie daran hindert. Ein solches Hinderniß tritt aber ein, wenn der Körper, auf dessen Oberfläche sie sich niederlassen, sie stark anzieht, so daß jedes Theilchen des festen Körpers sich mit Kraft bestrebt, ein Theilchen Wasser an sich zu ziehen. Man hat die Ursache dieser Erscheinung Adhäsion (Anhaftekraft) genannt. Macht sich diese Kraft geltend, so mußte das kleinste Wassertheilchen seinem Geselligkeitstriebe entsagen, und kann sich höchstens zu kleinen Truppen mit den Nachbarn associiren. Staub und Fett haben keine Adhäsion zum Wasser, so wenig als der wachsartige Ueberzug der Pflanzenblätter, darum bildet das Wasser auf staubigen und fetten Unterlagen kleine Kugeln, weil hier blos der sociale Trieb der Wassertheilchen waltet. Reines Holz und blanker Schiefer dagegen übt starke Anhaftungskraft aus, jedes Theilchen Holz oder Schiefer bannt ein Theilchen Wasser an sich, so daß es mit der Bildung großer Gruppen vorbei ist. Am Glase haftet das Wasser gern, denn von dem über den Rand des Trinkglases übergelaufenen Wasser bleiben an der Außenseite des Glases Tröpfchen hängen und an einem Glasstabe, der in’s Wasser getaucht wurde, blieb ein Wasserüberzug festgebannt.

Je mehr aber das Glas unrein, mit Fett oder Staub bedeckt ist, desto weniger haftet das Wasser an ihm, und bildet statt eines gleichmäßigen Ueberzuges größere Tropfen. Unsere, nie ganz von Staub und Fett freien Fensterscheiben üben eine beschränkte Adhäsion aus, sie lassen Wasser an sich ankleben, aber nicht in einer gleichmäßigen Schicht, sondern in einzelnen kleinen Tröpfchen, die an ihren Rändern sich zum Theil mit den benachbarten Tröpfchen vermischen und dadurch abplatten. Je reiner eine Glastafel ist, mit desto feineren Tröpfchen beschlägt sie. Haben sich größere Tropfen an das Fensterglas angesetzt, so rollen sie, kleine geschlängelte Strömchen bildend und die untern Tropfen lavinenartig mit sich fortreißend, abwärts, weil nun der Zug die Erde, der gern Alles an sich reißt, die Oberhand bekommt, also die Schwere über die Adhäsion Herr wird.

„Die Lösung mag passiren,“ meint der Räthselmann, „da ihr Menschen nun einmal mit eurem Erklären nicht weiter kommt, als zu sagen: das Wasser haftet, weil es Anhaftungskraft hat. Lassen doch die Examinatoren, fast wie in Molière’s eingebildeten Kranken, den Kandidaten auch passiren, wenn er das Purgiren der Sonne durch die Purgirkraft derselben erklärt!“ Aber genug der Räthsel und zur Abwechselung ein Spiel am bethauten Fenster!

Wir wischen eine Scheibe sorgfältig rein, und schreiben nun mit dem Finger einen Namen darauf. Dieser bleibt natürlich, wie ein mit trockener Feder geschriebener Buchstabe, unsichtbar. Jetzt behauchen wir die Scheibe, und siehe da, der Name ist deutlich zu lesen. Wenn durch die Stubenwärme der Beschlag verdampft, verschwindet der Name. Nach abermaligem Behauchen kehrt er wieder, und läßt sich oft mich mehreren Stunden auf’s Neue sichtbar machen.

Damit nicht Tischrücker, wenn solche unter den geneigten Lesern sein sollten, auch hier den Fingerspitzen eine geheime magnetisch-elektrische Kraft zuschreiben, nehmen wir ein anderes Schreibwerkzeug, einen Holzspan, eine Federspule, ein Stück Speckstein, einen Eiszapfen. Immer erscheint nach dem Behauchen die sympathetische Schrift wieder. Am längsten scheint sich die Nachwirkung des Eisgriffels zu erhalten; in allen Fällen aber zeigt sich bei der Behauchung ein Unterschied im Bethauen an den Schriftzügen und dem Grunde. Die Schriftzüge bekommen stets einen geringeren Wasserbeschlag, als der Glasgrund.

Da die Stärke der Bethauung bei gleichartigen und gleich glatten Körpern von dem Grade der Adhäsion abhängt, welchen die Oberfläche des festen Körpers auf den Wasserdampf ausübt, so müssen die vom Schriftzüge getroffenen Glastheilchen eine Aenderung ihrer Adhäsionskraft erlitten haben. Wie mag diese bewirkt sein?

Der Schlüssel des Geheimnisses scheint in Folgendem zu liegen. Taucht man einen Glasstab in siedendes Wasser, so sieht man von ihm sogleich Luftblasen aufsteigen. Das Glas hatte also Lufttheilchen durch Adhäsion an sich gebannt, die jetzt durch die Hitze fortgetrieben werden. Die Wärme ist nun einmal kein Freund des dichten Beisammenseins. So wie sie die Wassertheilchen im Kochtopfe auseinander jagt, daß sie überlaufen, so scheucht sie auch die Menschen, die im Winter gern eng beisammen sitzen, auseinander; im Sommer rücken die Passagiere der Post so fern von-, im Winter so nahe wie möglich aneinander.

So gut wie jener Glasstab hat auch die Fenstertafel eine Schicht Luft an sich gezogen und hält sie als eine Art Sonder-Atmosphäre an sich fest. Tritt nun in diese adhärirende Luftschicht Wasserdampf, so sucht die habgierige Glasscheibe auch davon soviel an sich zu ziehen, als es ihre Adhäsionskraft erlaubt. Je mehr sie aber schon Kraft anwenden muß, um die Luftschicht [97] zu halten, desto weniger Dampf oder Wassertröpfchen wird sie gleichzeitig festhalten können.

Denkt man sich nun, daß durch den Druck des zum Schreiben gebrauchten Körpers die am Glase haftende Atmosphäre an den beschriebenen Stellen zusammengedrückt und verdichtet werde, so begreift sich leicht, daß jene mit der Anziehung dichterer, schwererer Lufttheilchen beschäftigten Glastheilchen weniger Wasser an sich ziehen, also auch weniger bethauen können. Daraus ergibt sich auch, warum die mit Eis geschriebenen Züge beim Behauchen ganz besonders deutlich werden, da hier außer dem Drucke der Eisspitze auch die Kälte zur Verdichtung der adhärirenden Luft beiträgt.

Ein ähnlicher, durch gleiche Ursachen bedingter Versuch ist folgender. Läßt man auf einer blanken, aber nicht frisch geputzten Metallplatte einen Siegelstempel eine Zeit lang stehen, und behaucht, nachdem man ihn abgehoben, die Platte, so wird durch die Bethauung ein Abdruck des Stempels sichtbar. Deutlicher und schöner als durch das Behauchen wird das Bild, wenn man die Platte, auf welcher der Stempel gestanden, mit Quecksilberdampf beräuchert, was aber wegen der Giftigkeit dieser Dämpfe nur von Sachverständigen geschehen darf.

Zum Schlusse der Betrachtung des beschlagenen Fensters sei noch die Vegetation erwähnt, mit welcher sich im Winter die nasse Fensterscheibe an ihrer untern Einfalzung in den Rahmen bedeckt. Man bemerkt an und auf dem Rahmen eine rothbräunliche Gallert, welche unter dem Vergrößerungsglase außer den vom Zimmer angeflogenen Staubtheilchen, einzelne Schmetterlingsschuppen, Härchen und den vom Abwischen sitzen gebliebenen Fasern ein zierliches Pflänzchen zeigt. Es ist freilich so klein, daß erst die vierhundertmalige Vergrößerung ein deutliches Bild gewährt. Es besteht aus einem einer Perlenschnur ähnlichen Stiele, von dem am Ende ähnliche Aeste abgehen, und sieht blaß bräunlich. Die perlenähnlichen Glieder sind die einzelnen Zellen, aus denen das Individuum besteht, und durch deren Theilung es wächst. Merkwürdig ist, daß dieses zarte Gewächs durch das Einfrieren, dem es so häufig ausgesetzt ist, nicht leidet.

Eine viel reichere Flora entwickelt sich an den selten abgewischten Fenstern dunstiger Räume, z. B. an den Fenstern der Gewächshäuser, an denen ein grüner Anflug von Algen und jungen Mooskeimen lustig vegetirt und nicht selten winzigen Thierchen zum Aufenthalte dient.




Erinnerungen von der deutschen Flotte.
II.

Das Leben auf dem Schulschiffe war in Vergleich mit dem, welches wir bisher geführt hatten, keineswegs eine Verbesserung. Jeder Seejunker war bis dahin als Offizier behandelt worden; nun waren wir mit einem Male wieder – Schüler. Der Kapitain unseres Schulschiffes „Deutschland,“ in welchem die halbe untere Batterie zu einem Wohn- und Schlafzimmer für die Junker umgewandelt worden war und das auf dem Deck nur noch acht Kanonen hatte, machte einen etwas komischen Eindruck, wenn man ihn das erste Mal sah, besonders wenn dies nach dem Mittagessen geschah, zu welcher Zeit er sich mit einer Manillacigarre im Munde auf das Verdeck zu begeben pflegte, um die Verdauung durch einen Spaziergang zu befördern. Er hieß T. und, wie schon erwähnt, war von Geburt ein Belgier, von mittlerer Größe und etwas buckelig. Er trug eine Mütze mit sehr großem Schirme, die er über die Stirn hereinzuziehen pflegte, so daß man von seinem Gesicht fast nichts sah als die gewaltige Habichtsnase, die ihm eine auffallende Aehnlichkeit mit einem Papagei gab.

Einige der Junker trugen Röcke, andere Jacken; das mißfiel ihm und gleich als wir ihm das erste Mal vorgestellt wurden, sagte er in seinem gebrochenen Deutsch: „ich will, daß Sie Alle Jacke trage und nicht, daß Einer so, der Andere so angetakelt sei.“ Er ließ die Namen Derer aufschreiben, die Röcke hatten und fuhr dann fort: „was hier aufgeschriebe sei, ist consigneret bis Sie Jacke habbe.“ Zu mir als dem Aeltesten setzte er hinzu: „Erre, Sie sein der Aelteste von die Jonkers, un Sie werde Ihre Kamerade mit die gute Beispiel vorgehe. Wenn Sie etwas sehe, was sich nicht gehoort, so werde Sie es ihne verbiete, un wenn sie nicht gehoorch, werde Sie sie anzeige.“

Wir hatten des Morgens um fünf Uhr aufzustehen und unsere Hängematten selbst aufzuschnüren. Um sieben Uhr folgte das Frühstück. Von halb acht bis zehn Uhr gab es Unterricht in der Mathematik, welchen der Kommandant selbst ertheilte, und bis zwölf Uhr Segel- und Kanonenexercitien. Diesen folgten nach dem Essen Ruderexercitien, zur Verdauung, bis zwei Uhr, dann bis sechs Uhr Unterricht in Sprachen, Navigation, Artillerie, Taktik etc. Nach dem Zapfenstreich mußten alle in den Hängematten sein.

So lebten wir bis die „Deutschland“ zu einer Uebungstour in See gehen sollte. Segel wurden angeschlagen, Boote eingesetzt und endlich war Alles zur Abfahrt bereit, als der wachthabende Seejunker meldete, daß ein Boot den Admiral Brommy bringe. An Bord ließ er alle Seejunker auf dem Hinterdeck versammeln und redete uns an: „Sie werden jetzt in See gehen, um kleine Uebungstouren vorzunehmen. Fast keiner von Ihnen war in seinem Leben mit einem Schiffe unter Segel, obgleich viele schon zwei Jahre im Dienste sind. Hieran sind unsere traurigen Verhältnisse Schuld. Wenden Sie alle Ihre Aufmerksamkeit auf die Manöver. Der Herr Kommandant beklagt sich, daß Sie Schulden am Lande haben. Glauben Sie nicht mit dem Vormarssegel zahlen und sich die Quittungen mit dem Kielwasser schreiben lassen zu können. Auch klagt der Herr Kommandant, daß Schlägereien unter Ihnen vorkommen. Schämen Sie sich; wozu tragen Sie Säbel?“

Dann wünschte der Admiral uns eine glückliche Reise und begab sich wieder mit seinem Boote an’s Land. Ein Ziel hatte unsere Reise nicht, denn der Zweck war nur, uns die See kennen zu lehren, was man auf keinen Fahrten so gut kann, wie auf langen. Wenn die „Deutschland“ eine Zeit lang in der Nordsee gekreuzt hatte, lief sie immer wieder in die Weser ein und ging bei der Mündung derselben zu Anker. Hier befinden sich viele Sandbänke, welche während der Flut mit Wasser bedeckt sind, bei der Ebbe aber hervorragen.

Auf eine dieser Sandbänke pflegte T. uns zum Baden zu führen. Er selbst fuhr in seinem Gig voran; wir ruderten in den Booten der Fregatte hinter ihm her. Bei den Sandbänken mußten wir auf ein Zeichen des Tambours, den er mit sich in’s Gig nahm, uns ausziehen und auf ein zweites Zeichen alle zu gleicher Zeit in’s Wasser springen. Ich erinnere mich, daß er Einem, der früher in’s Wasser gesprungen als das Zeichen gegeben war, mit vierzehn Tagen Schiffsarrest bestrafte. Dieses Baden nach Trommelzeichen war einer der vielen seltsamen Einfälle, die T. hatte und die eine Menge Karrikaturen über ihn veranlaßten, an welchen er aber große Freude zu haben schien. Er sammelte sie, holte gelegentlich ein ganzes Packet aus seiner Rocktasche hervor und erklärte Freunden und selbst Damen ihre Bedeutung.

Nachdem die „Deutschland“ bis zum Herbste auf der Kreuzung geblieben war, ging sie wieder nach B. zu. Als wir uns der Rhede näherten, mußten wir auf T.’s Befehl unsere Kleider auf das Deck bringen und an Leinen wie zum Trocknen festmachen, damit es das Aussehen habe, als hätten die „Junkers“ große Stürme erlebt.

Von der Rede, welche der Admiral bei der Abreise an uns gehalten, hatte besonders der letzte Theil, die Hindeutung auf die Säbel, gewirkt. Es waren, wie dies bei jungen Leuten oft der Fall ist, Streitigkeiten vorgekommen, und ein Duell sollte gleich nach der Ankunft in B. stattfinden. Da beide Duellanten nicht eben große Fechter waren, so wollten sie sich schießen, und weil der Admiral nur von Säbeln, nicht aber von Pistolen gesprochen hatte, hielten wir es für das Beste, die Sache wo möglich im Geheimen abzumachen.

Ich war zum Unparteiischen erwählt und bat den Kommandanten eines Sonntags Nachmittags um die Erlaubniß, mit einigen Kameraden in einem Boote rudern zu dürfen. T., der nichts Böses ahnte, gab leicht die Erlaubniß unter der Bedingung, uns nicht weit vom Schiffe zu entfernen.

Die Gesellschaft, die beiden Duellanten, zwei Sekundanten [98] und ich, begab sich, mit Pistolen und Munition versehen, in’s Boot und ruderte erst einige Male um das Schiff herum, um jeden Argwohn zu beseitigen, dann aber mit aller Kraft dem Lande zu.

Nachdem das Boot festgebunden war, suchten wir eine zu unserem Zwecke passende Stelle auf, die leicht gefunden war, denn die Gegend besteht fast nur aus Wiesen und Feldern, und ist in der Nähe der Dämme einsam. Die Entfernung von fünfzehn Schritten wurde abgemessen und nachdem die Pistolen geladen waren, stellten sich die Kämpfer einander gegenüber.

Vier Schüsse wurden gewechselt, ohne daß Einer eine Verletzung erhielt. Der Geforderte bot seinem Gegner Versöhnung an, dieser aber, aufgeregt durch das Schießen, wollte nichts davon wissen. Beim nächsten Schuß stürzte er. Die Kugel war ihm durch den Leib gegangen, auf der einen Seite hinein und auf der andern wieder heraus.

Als ich den armen Teufel fallen sah, forderte ich die beiden Sekundanten auf, bei ihm zu bleiben, und lief dem nächsten Dorfe zu, um einen Arzt zu holen. Unterdessen kam der Verwundete, der nach seinem Falle die Besinnung verloren hatte, wieder zu sich, fing an sich am Boden umherzuwalzen und zu schreien: „Ma Bauch! Ma Bauch! Druckt mir doch den Bauch!“ Die beiden Sekundanten thaten, wie er wünschte, warfen sich über ihn und drückten mit beiden Händen auf die Wunde. Dies linderte ihm seine Schmerzen, und als ich mit dem Arzte ankam, schien er sich im Ganzen nicht so schlimm zu befinden, wie ich befürchtet hatte. Eine Bahre hatten wir mit aus dem Dorfe gebracht; darauf legten wir den Verwundeten, nachdem der Arzt ihn untersucht, und die Wunde für gefahrlos, auch sich bereit erklärt hatte, unseren Freund in sein Haus aufzunehmen. Wir aber begaben uns zu unserem Boote und ruderten der „Deutschland“ zu.

Am Bord wurde uns vom Wachoffizier bedeutet, so lange auf Deck zu bleiben, bis er den Kommandanten von unserer Ankunft benachrichtigt haben würde.

„Wo sein Sie gewest?“ redete uns T. an, der aus seiner Kajüte herausgekommen war und die Mütze noch tiefer als gewöhnlich in’s Gesicht gezogen hatte, als Zeichen seiner bösen Laune. „Habe Sie nicht die Signal gesehe en die Schuß gehoort? Erre, antworten Sie mir.“

Wir hatten wohl gesehen, daß man durch ein Signal uns zurück rief; wir halten auch den Schuß gehört. Wir glaubten aber nicht darauf achten zu dürfen bis die Sache abgemacht sei und ich antwortete: „Herr Kommandant, es war eine Ehrensache unter uns auszumachen; wir fürchteten, Ihre Erlaubniß nicht zu erhalten und sind deshalb mit dem Boote an’s Land gerudert. G… liegt in G. und hat einen Schuß durch den Leib bekommen; es ist aber glücklicherweise nicht gefährlich.“

„Was? Sie habe sich geschoosse? Err Braun!“ rief er dem Wachoffizier zu, „hooren Sie es well, die Jonkers habe sich duellirt en dorch die Bauch geschoosse! Abber ich werde des an die Admiral anseige. Jetzt gehe Sie runder; Sie seien consigneret bis auf weitere Ordre.“

„Daß es ohne sein „consignere“ nicht abgehen würde, dachte ich mir wohl,“ brummte einer im Herabgehen.

„Was?“ rief T., der dies gehört hatte, „brummele Sie noch? Ich soll Sie, Gott verdamm mi, gleich in die Bramsalinge schicken, bis Middernacht, wenn ich Sie noch hoore.“

T. war, das wußten wir schon, durchaus nicht so schlimm, wie er gern erscheinen wollte. Er ließ uns ruhig in unsere Kajüte gehen. Anzeigen freilich mußte er die Sache, aber er bat zugleich um Nachsicht für die „Jonkers“ und so kamen wir ohne Strafe davon. Der sittsame Mann hielt immer viel auf uns, und in Gesellschaften war es sein Steckenpferd, von uns und unseren Streichen zu erzählen. Auch wurde kein Ball gegeben, ohne daß er mit Einigen von uns da erschien, die gerade nicht „consigneret“ waren. Nicht wohl war mit ihm zu sprechen, wenn er seine Launen hatte. Man erzählte sogar von ihm, daß er einst bei einer Beobachtung des Mondes, als dieser sich hinter eine Wolke versteckt, ausgerufen habe: „Ich werd Sie, Gott verdamm mi, consignere for Ihre Ewigkeit, wenn Sie sich noch einmal achter die Wolke verstecke.“ Von diesem seinem „consignere“ halte ich am meisten zu leiden. Wenn Unfug geschehen war und die Thäter nicht entdeckt werden konnten, verlangte er von mir als Aeltestem, ich solle sie nennen. Dies that ich natürlicherweise nie, und so war ich fast beständig in Schiffsarrest. Meine Kameraden boten mir zwar an, sich freiwillig zu melden, aber ich konnte es nicht zugeben, da Schiffsarrest mich wenig quälte, sie aber mit einer schwereren Strafe belegt worden wären.

Im Winter gingen die Offiziere und Mannschaften größtentheils auf Urlaub und so sah es auf dem Schiffe der armen deutschen Marine traurig und öde aus. Für uns Seejunker hatte man ein großes Lokal gemiethet und zu einer Schule eingerichtet. Der Admiral gab sich alle erdenkliche Mühe, damit seine „Söhne“ etwas Ordentliches lernten und trotz der geringen Mittel, die ihm zu Gebote standen, hatte er für Lehrer und Unterricht auf’s Trefflichste gesorgt. Im Frühjahr sollte die erste große Prüfung gehalten werden. Je näher die Zeit derselben rückte, desto eifriger studirten wir. Endlich kam der verhängnißvolle Tag und wir erwarteten, in voller Parade mit Hut und Säbel, die Ankunft der Prüfungkommission, welche aus fünf Kapitainen bestehen sollte, deren Aeltester den Vorsitz führte. T., der auf Deck kam, sprach uns Muth ein und sagte:

„Ich werd immer dabei sein, wenn Sie geexaminiret werde, en darauf achte, daß man Sie nur in die vorgeschriebene Sachen prüft.“

Die Kapitaine kamen an Bord der „Deutschland,“ auf der dies alles vorging, und in den ersten drei Tagen waren schriftliche Arbeiten zu machen. Das mündliche Examen wurde in der Kapitainskajüte abgehalten. Einer nach dem andern wurden wir hereingerufen. Als ich die Herren mit den großen goldenen Epauletten und den ernsten Gesichtern sah, verlor ich allen Muth. Ich kannte keinen der Examinatoren, und von T. konnte man nie recht wissen, ob er Einem wohlwolle oder nicht.

„Machen Sie es sich so bequem, wie Sie wollen,“ redete mich der Präsident an; „legen Sie Hut und Säbel ab, und krämpen Sie sich den Rockärmel in die Höhe, damit Sie sich nicht mit der Kreide beschmutzen.“

Ich that, wie er mir gesagt hatte, und als ich die Waffe, ein großes Stück Kreide, in die Hand genommen hatte, sah ich die Leute, von denen mein Schicksal entschieden werden sollte, wohl mit etwas dummem Gesichte an, denn sie fingen an zu lächeln und einander allerhand, wie es schien, spaßige Sachen zuzuflüstern. Dem für mich drückenden Auftritte machte T. ein Ende, indem er sagte: „Err R., seien Sie nicht bange, Sie seien ja immer eine gude Schule gewest.“

Es ging auch gut, und wir waren bis zur Manövrirkunde gekommen, da sagte einer der examinirenden Offiziere zu mir:

„Sie sind Kapitain einer Fregatte, und befinden sich in der Nähe des Feindes in einem sehr engen Fahrwasser. Plötzlich werden Sie durch eine versteckte Batterie vom Lande aus angegriffen, von deren Vorhandensein Sie nichts wußten. Ihre Masten werden Ihnen weggeschossen, und Sie sind genöthigt sich zurückzuziehen; wie werden Sie das machen?“

„Ich werde einen Wurfanker ausbringen und so das Schiff dem Feuer zu entziehen suchen,“ antwortete ich.

„Und wenn das nicht mehr geht? Ihr großes Boot ist schon zerschossen.“

„So werde ich die andern Böte aussetzen, und mit ihrer Hülfe das Schiff fortzuziehen suchen.“

„Ihre Böte sind alle von Schüssen durchlöchert, der Feind schießt mit glühenden Kugeln und das Schiff fängt an zu brennen.“

Jetzt sah ich, daß der Offizier mir alle diese Fragen nur vorlegte, um mich in Verlegenheit zu bringen. Deshalb hielt ich es für das Beste, ihnen durch eine kühne Antwort ein Ende zu machen und sagte:

„Herr Kapitain, ich fahre mit meinem Schiffe in keinen Graben, wo ich mir ohne Weiteres die Masten abschießen lassen muß von einer Batterie, deren Vorhandensein mir nicht einmal bekannt ist.“

Die Kapitaine sahen einander erstaunt an, und eben wollte Einer mir eine scharfe Zurechtweisung geben, als der alte T. von seinem Sitze aufsprang und sagte: „Das ist sehr well gesagt; man fährt mit seine Schiff in keine – wie haben Sie gesagt, Err R.?“

„Graben, Herr Kommandant.“

„Well, man fährt nicht in die Grab. Der Jonker hat ganz Recht.“

Zum Glück war damit die Prüfung zu Ende. Ich wurde [99] vom Präsidenten mit einem gnädigen Kopfnicken entlassen, nahm Hut und Säbel unter den Arm und betrat das Deck mit der Siegermiene eines nicht Durchgefallenen.

Nur bei Wenigen ging es schlecht. Diese mußten ihre Entlassungen nehmen und gingen mit Kauffahrern zur See.

Was bei uns weiter geschah, das nächste Mal.




Hauptmomente aus der Geschichte der Architektur.
(Fortsetzung.)
II. Klassische Baukunst (etruskische und römische).

Die Architektur, weil sie vorzugsweise allgemeinen Zwecken und Ideen dient, spiegelt ziemlich treu den Geist und das Wesen einer Zeit ab; sie gibt ein klares Gesammtbild der religiösen und staatlichen Einrichtungen, des gesellschaftlichen, privaten und öffentlichen Lebens, der Kulturstufe und Geschmacksbildung eines Volkes. Am deutlichsten ist dies in einer, jeden Gebildeten empfehlenswerthen populären Darstellung der Baukunst dargethan, die den Titel führt:

„Geschichte der Architektur von Wilhelm Lübke. (Mit 174 Holzschnitt-Illustrationen). Leipzig. Graul. 1855.“

Wir haben schon in zwei Aufsätzen (Gartenlaube 1855. Nr. 45. und 1856. Nr. 13.) diese Geschichte benutzt, um in unsern Lesern ein Interesse an der Architektur und an dem genannten Buche zu erwecken, und reihen jetzt nun an die griechische Baukunst (s. Gartenlaube 1856. Nr. 13.) die etruskische und römische, welche drei zusammen die sogenannte klassische Architektur ausmachen.

B. Etruskische Architektur.

Als die Griechen vom Schauplatze geschichtlichen Lebens abgetreten und im römischen Weltreiche aufgegangen waren, blieb doch die Kultur derselben, zumal in der Baukunst, bestehen und trug sich auf die Römer über, die eine Menge architektonischer Kunstwerke als Kriegsbeute heimgeschleppt hatten, um ihre Tempel und Paläste damit zu schmücken. Unter den damaligen Völkern Italiens waren es vorzugsweise die Etrusker, welche die griechische Baukunst in die ihrige mit aufnahmen und so einen Uebergang zu der römischen bildeten. In ästhetischer Beziehung steht die etruskische Architektur aber jedenfalls der griechischen nach, denn es fehlt ihr der feurige, ideale Aufschwung, jedoch wurde sie durch Erfindung des Bogenbaues von großer praktischer Nützlichkeit, durch eine Erfindung, die eine scharfsinnige Kombination voraussetzt und nur aus einem praktischen, verständigen Volke hervorgehen konnte, die aber freilich erst vom christlichen Mittelalter in glanzvoller Weise ausgebeutet wurde.

Was den Charakter des etruskischen Volkes betrifft, der sich auch in ihrer Architektur wiedererkennen läßt, so fehlte ihm die ideale Begeisterung des griechischen und zeigte dagegen eine nüchtern verständige Richtung, die in deutlich vorgezeichneten Satzungen und scharf ausgeprägten Rechtsbegriffen die Richtschnur des Lebens erblickte. Macht und Herrschaft waren bei ihnen in den Händen einzelner bevorzugter Geschlechter, die auch die priesterliche Würde ausschließlich bekleideten. Die Religion der Etrusker, die übrigens die Familie und Frauen zuerst zur Würdigung brachten, war eine vorwiegend moralische, praktische und der poetisch-mythologischen der Griechen ganz entgegengesetzte. Sie nahm ein gutes und ein böses Princip, sowie Belohnung und Bestrafung in einem andern Leben an, und gab dadurch dem Wesen des Volkes etwas Gedrücktes und Aengstliches, Befangenes, Unfreies, Abergläubisches. Man sieht auf den bildlichen Darstellungen etruskischer Grabmäler stets einen weißen und einen schwarzen Genius, die sich um die Person des Gestorbenen zu streiten scheinen. Was die Etrusker von göttlichen Wesen verehrten, war nichts als eine dürftige Umhüllung natürlicher Zustände und Vorgänge oder eine umgestaltete Übertragung griechischer Sagen, sowie sich auch in ihrer Architektur eine gewisse, wenn gleich umgestaltete Aufnahme griechischer Elemente erkennen läßt.

Thor von Volterra.

Zu den alterthümlichsten Werken etruskischer Architektur gehören einige Städtemauern, welche in der frühesten Zeit (bei der Stadt Cossa) aus großen unregelmäßig bearbeiteten polygonen Steinblöcken ohne eine Verbindung von Mörtel errichtet sind, später dagegen (zu Volterra, Cortona, Papulonia) horizontale Lagerung der Steine, jedoch keinen regelmäßig wechselnden Fugenschnitt zeigen. Die wichtigsten architektonischen Leistungen der Etrusker sind die gewölbten Bauten und wegen dieser sind die Etrusker als Erfinder des eigentlichen Bogen- oder Gewölbebaues, des durch keilförmige Steine gebildeten Bogens, zu betrachten.

Mehrere gewölbte etruskische Bauten sind auf uns gekommen, wie: einige alte Stadtthore (zu Volterra, Perugia) und die großartigen unterirdischen Abzugskanäle zu Rom (unter der Herrschaft der Tarquinischen Könige gegen Anfang des 6. Jahrh. v. Chr. aufgeführt), die sich in einen Hauptkanal, die Cloaca maxima, vereinigen, welcher mit einer Breite von 20 Fuß in die Tiber einmündet. – Merkwürdig ist, daß die Etrusker beim Tempelbau die Wölbung noch unberücksichtigt ließen. Ihre Tempel haben Aehnlichkeit mit den griechischen, denn sie bestanden aus einer säulengetragenen Vorhalle, einer Cella für das Götterbild und einem giebelförmigen Dache.

Etruskische Säule.

Sie unterscheiden sich aber dadurch, daß sie mehr ein Quadrat bildeten, nur an der Vorderseite eine, aber eine sehr tiefe Säulenhalle (Anticum) hatten, daß ihnen die hypäthrale Anlage fehlte, und daß sie ein von Holzbalken gebildetes Vordach von beträchtlicher Tiefe besaßen. Uebrigens hatte das ganze Bauwerk einen nüchternen, unlebendigen Ausdruck, der durch das hohe weitvorspringende Dach noch verstärkt wurde. Die weit von einander abtretenden Säulen, welche entfernt an die dorischen erinnerten, hatten eine Basis von ungeschickter Gestalt, deren Hauptglied aus einem schwerfälligen Wulst bestand, auf welchem eine schmale Platte lag. Am Kapitäl finden sich alle Elemente des dorischen, die Platte war aber hoch, der schwächliche Echinus breit ausladend, die den Schaft der viel zu schlanken Säule umgebenden Ringe stumpf profilirt. Vitruv’s Ausspruch: „daß der etruskische Tempel niedrig, breit, gespreizt und schwerköpfig“, ist deshalb nicht unpassend. – Unter den erhaltenen etruskischen Denkmälern nehmen die Grabmäler einen vorzüglichen Platz ein, welche theils ausgedehnte unterirdische, in dem Gesteine des Gebirges ausgehöhlte Grabkammern darstellten, theils zu Tage tretend mit einer, dem schräg aufsteigenden Felsen aufgemeiselten Tempelfaçade geschmückt sind, theils ohne unterirdische Anlage thurmähnliche Werke waren (wie die Cucumella bei Volci, das sogen. Grab der Horatier und Kuriatier bei Albano).

C. Römische Architektur.

Die Römer, ein Volk von vorwiegend praktischer, verständiger Richtung und herrschbegierigem Sinne, zeigten in ihrem Charakter, und ebenso in ihrer Architektur, das Wesen der Etrusker in konsequenterer, höherer Ausprägung. Hier wie dort ein Sinn, der sich vorzugsweise den äußern Zwecken des Lebens, der Herrschaft und des Besitzes hingibt, der aber in der Architektur der Römer noch weniger ein selbstständiges, originales künstlerisches Genie zeigt und diese deshalb anfangs zu Schülern der Etrusker, später zu Nachahmern der Griechen macht. Während aber die griechische Baukunst eine ideale Höhe einnahm und uns aus den Bedürfnissen und Schranken des alltäglichen Lebens hinausführt [100] in das freie, heitere Gebiet, wo die ewigen Götter thronten, verließ die römische Architektur jene ideale Stellung, um sich unter die Bedingungen und Anforderungen des praktischen Lebens zu begeben. Dies that sie aber, indem sie allen ihren Werken einen Abglanz griechischer Schönheit lieh, der veredelnd das Erzeugniß gemeiner Nützlichkeit in die Sphäre künstlerischen Daseins enthob. Ohne jene geniale Schöpferkraft, die allein das Höchste hervorzubringen fähig ist, wußten die Römer in ihrem vorwiegend verständigen Sinne zwar keine eigentlich neuen Formen zu schaffen, aber indem sie die alten Formen in neuer Weise verbanden, erzeugten sie ein neues System der Architektur, das, sich zur Wissenschaft emporschwingend, in großartigster Weise auf jede Gattung von Gebäuden anzuwenden ist; und in dieser Anwendung sind die Römer groß. Allerdings erzeugte die mehr dem praktischen Bedürfnisse als dem ästhetischen Sinne angepaßte und mehr kombinirende Art der römischen Architektur eine gewisse Zwiespältigkeit ihrer Schöpfungen, die, sich besonders in der Verbindung des Säulenbaues mit dem Gewölbebaue zeigend, eigentlich dem streng architektonischen Gesetze organischer Entfaltung widerstrebt und den römischen Gebäuden, wenn auch einen malerischen Charakter, doch eine gewisse nüchterne Kälte der Empfindung verleiht. Kurz es ist die römische Architektur ein Produkt des wählenden Geistes, aber nicht mehr des Bodens und ohne jene Wärme, welche durch das besondere nationale und religiöse Bewußtsein erzeugt wird. Dafür ist aber auch diese Architektur der engbegränzten Sphäre nationalen Daseins entrückt und auf der ganzen Erde zu Hause; sie ist die Vorläuferin der christlich-mittelalterlichen Architektur, der sie ebenso den Weg bahnen mußte, wie die Weltherrschaft der Römer dem Christenthume den Weg bahnte.

Römisches Kapitäl.

Der Grundzug der römischen Architektur besteht darin, daß der griechische Säulenbau mit dem etruskischen Gewölbebaue in großartiger Weise verbunden ist. Der Styl des Säulenbaues schließt sich dem spätgriechischen, besonders dem korinthischen an und ist nur noch gefüllter. Das Kapitäl ist entweder ein dorisch-toskanisches (mit einem Eierstabschmuck) oder ein korinthisch-jonisches (sogen. Composit- oder römisches Kapitäl). – Durch die umfassendere Handhabung des Gewölbebaues wurde zunächst die Entfaltung einer großartigen Massen-Architektur begünstigt, denn vermöge seiner bedeutenden Widerstandskraft gestattet der Bogen die Anordnung vieler Stockwerke selbst an den kolossalsten Gebäuden.

Tonnengewölbe.

Zugleich war dadurch aber auch die Innen-Architektur, welche bei den Griechen eine sehr untergeordnete Stufe einnahm, gestattet, denn mit Hülfe der Wölbung ließen sich die ausgedehntesten Räumlichkeiten überdecken. Die einfachere Wölbungsform ist das Tonnengewölbe, die vollkommenere und ästhetischere das Kreuzgewölbe und die Kuppel (eine halbirte hohle Kugel, welche einen kreisrunden Raum überdeckt). – Eine Rückwirkung des Gewölbebaues auf den Säulenbau war die, daß die Säule, nun nicht mehr ein so unentbehrliches architektonisches Glied wie bei den griechischen Gebäuden, manchfache Veränderungen und Einschränkungen erlitt.

Kreuzgewölbe.

Es traten die Gesetze über die Abstände der Säulen außer Kraft, das strenge architektonische Gesetz der Reihe wird aufgelöst und das mehr malerische der Gruppe tritt an seine Stelle. Sodann erhält die Säule, da sie, vom gemeinsamen Unterbau der Tempelstufen losgerissen, einen Ersatz heischt, gewöhnlich einen viereckigen Würfel als Unterlage (Postament). Sie wird ferner sehr oft nur noch eine Dekoration der Wandfläche, als Halbsäule oder als Pilaster (rechtwinklig vortretender Mauerstreifen). Was den Schaft der Säule betrifft, so ist derselbe oft nur ein Cylinder ohne Kanellirungen, oder nur von oben zu zwei Dritteln seiner Länge kanellirt. – Am wenigstm gelang den Römern eine ästhetisch-schöne Verbindung der Säule mit dem Bogen. Gewöhnlich tritt das Gebälk über den Säulen vor und springt neben ihnen im rechten Winkel zurück, so daß dadurch würfelartige Mauerecken (Verkröpfungen) entstehen, welche, obschon sie streng architektonischen Gesetzen widerstreben, doch den malerischen Charakter dieser Bauwerke verstärken. Eine dem römischen Baue eigenthümliche Säulenordnung ist die Attika. Dies ist eine Ordnung kürzerer Säulen oder Pilaster, welche auf das Gebälk einer vollständigen Säulenreihe gestellt sind, um einen übrig bleibenden Wandtheil zu dekoriren, der für eine volle Säulenordnung zu niedrig ist.

(Fortsetzung in nächster Nummer.)




Blätter und Blüthen.


Verbrechen und Wissenschaft. In Nr. 4. der Gartenlaube 1857 wurde die Thatsache besprochen, daß in dem Prozesse wider Palmer den englischen Chemikern nicht gelungen ist, durch chemische Prozesse den Beweis zu liefern, daß Cook in Folge des ihm beigebrachten Strychnins gestorben sei. Es wird deshalb für die Leser der Gartenlaube nicht ohne Interesse sein, zu hören, daß gleichwohl die Chemie nicht blos in Deutschland, sondern auch namentlich in London auf dem Standpunkte sich befindet, um das Strychnin, wenn es mit andern Substanzen vermischt ist, genügend nachweisen zu können.

Nach der Methode des Professor Dr. Otto wird die zu untersuchende Substanz bei auf einander folgender Behandlung mit einigen Tropfen concentrirter Schwefelsäure und einem kleinen Krystall von rothem chromsaurem Kali intensiv violett gefärbt, wenn sich Strychnin darin befindet. Diese Färbung konnte von den zur Untersuchung von Cook’s Leichnam beigezogenen Chemikern nicht hervorgebracht werden und die Ursache hiervon glaubte man darin suchen zu müssen, daß Palmer seinem Opfer Antimon hatte zu sich nehmen lassen und daß hierdurch die obige Probe paralysirt worden sei. Allein der zur Untersuchung wider Palmer nicht beigezogene Chemiker von Sicherer in London hat durch seine, im Interesse der Wissenschaft gemachten Untersuchungen constatirt, daß es ein Irrthum sei, wenn behauptet werde, Antimon könne die Erzeugung der violetten Farbe verhindern, eine solche Wirkung komme lediglich der Weinsteinsäure zu, welche sich in dem mit Antimon vermengten Brechweinstein, den Cook genommen hatte, befand. Von Sicherer machte diese Untersuchungen öffentlich bekannt und gab sein Verfahren genau an, mittelst dessen er das Strychnin, selbst wenn es mit Weinsteinsäure vermengt wurde, unfehlbar entdecke. Er behandelt nämlich die zu untersuchende Substanz eine halbe Stunde lang mit concentrirter Schwefelsäure gelinde erwärmt, neutralisirt dieselbe hierauf mit kohlensaurem Kali und verdampft die Lösung bis zur Trockne. Durch Behandlung des trocknen Pulvers mit Chloroform wird nun eine Lösung erhalten, in welcher sich blos Strychnin befindet, weil die Weinsteinsäure durch die Schwefelsäure zerstört worden ist. Nach dem Verdunsten des Chloroforms kann aber mittelst Schwefelsäure und chromsaurem Kali die violette Farbe erzeugt, und somit das Strychnin entdeckt werden.

Professor Dr. Otto hat in seinem kürzlich erschienenen Werke über das Auffinden der Gifte nicht blos die vorberührte Methode des von Sicherer, sondern auch eine von dem Chemiker Staß erfundene Methode, das Strychnin mittelst Aetherlösung zu entdecken, angeführt. Daraus ergibt sich zur Genüge, daß es nicht dem Standpunkte, auf dem sich die Chemie befindet, zugemessen werden dürfe, wenn im Palmer’schen Prozesse die obengedachte Nachweisung nicht hergestellt wurde.




Literarisches. Ein Strauß aus Norwegens Wäldern. Von Bernh. Herre. Aus dem Norwegischen übersetzt von Bertha Theile. Schilderungen und Bilder aus Norwegens eben so großartiger als lieblicher Natur, die in das Gebiet des Volkslebens wie auch in das des Mährchens und der Sage, die, wie fast bei allen Gebirgsvölkern, auch noch in ursprünglicher Frische im norwegischen Volke lebt – hinüberspielen. Sie erinnern sowohl durch die entsprechende Einfachheit ihrer Erzählung, als auch durch die Treue der lebensfrischen Gemälde an Andersens „Bilderbuch ohne Bilder,“ das auch in Deutschland so grossen Anklang gefunden hat; nur daß, dem Charakter des Landes angemessen, dem dieser „Strauß“ entsprossen, neben der zartesten Lieblichkeit sich doch eine kräftigere, kühnere Natur darin spiegelt, als in jenen lieblichen Schilderungen aus Dänemarks lächelnden Gefilden. Die Uebertragung ist eben so gewandt wie gewissenhaft und zeigt, daß die talentvolle Uebersetzerin mit Verständniß des Ganzen gearbeitet hat.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. In Gotha befindet sich noch ein Gemälde, worauf er in dieser Situation abgebildet ist.