Die Gartenlaube (1857)/Heft 50
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No. 50. | 1857. |
Der verhängnißvolle Schatten.
Während Cesar die Weinende in seine Arme schloß und sie durch leisen Zuspruch zu beruhigen suchte, unterzog der Arzt die Leiche nochmals einer genauen Besichtigung. Seine Miene ward dabei immer bedenklicher und ernster. Endlich deckte er das Laken über das bleiche schöne Antlitz des Verstorbenen, erfaßte Cesar’s Hand und bat diesen, ihm eine Unterredung unter vier Augen zu schenken. Cesar erklärte sich sogleich dazu bereit.
„Verschließen Sie sorgfältig die Thür des Zimmers,“ sagte der Arzt zu dem Schloßherrn, „und verwahren Sie den Schlüssel gut, damit kein Dritter Zutritt zu demselben erhalten kann.“
„Weshalb?“ fragte Cesar, den Arzt mit offenen Augen ansehend.
„Sie sollen es erfahren, wenn wir allein sind.“
Cesar führte die ganz von ihrem Schmerz beherrschte Cornelie in die Zimmer, welche sie früher bewohnt hatte, und kehrte dann zu dem Arzte zurück, der in einem elegant meublirten Gemache des Schloßherrn wartete.
„Nun, Herr Doctor, was haben Sie mir mitzutheilen?“ redete er diesen unbefangen an. „Wir sind jetzt völlig ungestört. Niemand kann uns hören oder beobachten.“
„Wann glauben Sie, daß Ihr Bruder gestorben ist?“ fragte der Arzt.
„Ich habe darüber gar keine bestimmte Meinung,“ versetzte Cesar. „Als ich heute früh am Tage das Schloß in nöthigen Geschäften verließ, lag mein armer Bruder noch in ruhigem Schlafe –“
„Sie sahen ihn selbst?“ warf der Doctor ein.
„Ich nicht, meine Haushälterin.“
„Ist das dieselbe Person, die Sie gewöhnlich zu mir schickten, wenn Sie meiner bedurften?“
„Zuverlässig.“
„Und wer bereitete Ihrem Bruder den Trank?“
„Ebenfalls meine Haushälterin.“
„Sie hat also alle Vorräthe, welche zur Haushaltung gehören, unter ihrem Verschluß?“
„Sie ganz allein.“
„Wenn dem so ist, Herr Hornburg, so muß ich Sie bitten, ein Auge auf dies Mädchen wie auf alle diejenigen zu haben, mit denen sie verkehrt oder verkehrte.“
„Aber warum das, Herr Doctor?“
„Weil ich Grund habe zu vermuthen, daß Ihr Herr Bruder nicht eines natürlichen Todes gestorben ist.“
„Sie erschrecken mich! – Wie wäre dies möglich, bester Doctor! Bedenken Sie, daß Ottwald seit Wochen bei mir lebt, daß wir bis gestern Abend gegen zehn Uhr noch heiter zusammen gesprochen haben; daß alle meine Leute erprobte Diener sind, die sich weder über mich noch viel weniger aber über meinen Bruder beschweren konnten. Und nun sollte plötzlich eine frevelnde Hand sich finden, die ihm nach dem Leben trachtete? – Unmöglich, unmöglich!“
„Sie mißverstehen mich, Herr Hornburg,“ versetzte der vorsichtige, kalt beobachtende Arzt. „Ich habe nicht gesagt, daß irgend Jemand Ihrem verstorbenen Bruder nach dem Leben getrachtet habe, ich glaubte nur Spuren an dem Todten zu entdecken, wie an dem Glase, aus dem derselbe Ihrer Angabe nach den letzten Labetrunk schlürfte, daß er eine der Gesundheit und dem Leben gefährliche Substanz zugleich damit genoß. Diese lebensgefährliche Substanz kann ihm in Folge unverantwortlicher Fahrlässigkeit gereicht worden sein. Dies, Herr Hornburg, ist vorläufig meine unmaßgebliche Ansicht. Als gewissenhafter Arzt ist es meine Pflicht, Anzeige von diesem auffälligen Todesfälle zu machen, damit der Leichnam secirt und den Ursachen des Todes nachgespürt werde. Stellt sich dann etwas Verdächtiges heraus, so wird eine Durchforschung aller Räumlichkeiten des ganzen Schlosses und ein scharfes Verhör aller Bewohner desselben die nicht abzuwendende Folge davon sein.“
Diese Eröffnung des Arztes machte einen sehr niederschlagenden Eindruck auf Cesar. Er wollte und konnte es nicht fassen, daß Ottwald in Folge einer Vergiftung gestorben sei, und eben so wenig vermochte er, wie sehr er sich auch abmühte, die Möglichkeit einer so groben Fahrlässigkeit sich zu erklären.
So unangenehm ihm die Sache war, den Verdacht des Arztes mußte er respectiren. Noch vor Abend ward ein reitender Bote abgefertigt, der ein Schreiben des Arztes der Gerichtsbehörde überbrachte. Der Arzt selbst blieb im Schlosse, dessen Bewohner gewissermaßen die Gefangenen seines Argwohnes waren. Cornelie ward von Cesar unterrichtet, gegen alle übrigen Schloßbewohner beobachtete man vollkommenes Stillschweigen.
Zwei volle Tage verweilte die gerichtliche Untersuchungscommission auf dem Schlosse. Was sie daselbst trieb, erfuhren die [682] nächsten Umwohner zwar nicht, sie konnten aber doch ahnen, daß sich innerhalb der Schloßmauern etwas Ungewöhnliches zugetragen haben müsse. Erst nach der Abreise der Gerichtspersonen und des Gerichtsarztes, der sofort die Verhaftung der jungen Haushälterin folgte, drang die Kunde des Geschehenen in die Umgegend. Die Section Ottwald’s hatte ergeben, daß der kranke junge Herr an den Folgen einer starken Vergiftung gestorben sei. Der vorhandene Ueberrest des Trankes im Glase, das ziemlich geleert auf dem Tische stand, enthielt Arsenik. Diese Entdeckung führte zu weiteren Nachforschungen. Man drang in Küche und Speisekammer und fand hier eine angebrochene Kruke Himbeergelée, das ebenfalls mit einer bedeutenden Dosis Gift versetzt war. Wie dasselbe in diese Kruke gekommen sein konnte, blieb völlig unbegreiflich. Niemand als Anna hatte sie unter Verschluß, das junge Mädchen hatte sogar den Saft selbst bereitet, und sie war erst angebrochen worden, als Ottwald kühlendes Getränk verlangte.
Die Fragen, welche man an das Mädchen richtete, brachten eine solche Verstörung in ihr hervor, daß es die verworrensten Antworten gab und sich in hohem Grade verdächtig machte. Zuletzt antwortete sie nur durch Thränen, und als man ihr ankündigte, daß sie unter solchen Umständen ins Gefängniß wandern müsse und einer peinlichen Untersuchung entgegengehe, ergriff sie ein Zittern, das mehr als einer der Anwesenden für ein Zeichen ihres Schuldbewußtseins hielt.
„Was hältst Du von diesem entsetzlichen Unglücke?“ sagte Cesar zu Cornelie, als die Verdächtige abgeführt worden war und die beiden Stiefgeschwister sich allein sahen. „Die Zerstörung dieser schönen Besitzung oder ein Unfall, der mich Monate lang unfähig zu jeglicher Beschäftigung gemacht hätte, würde mich nicht halb so schwer treffen. Armer, armer Ottwald!“
Cornelie wußte sich kaum zu fassen. Der Tod des Bruders, mehr noch die Ursache dieses Todes beraubten sie fast der Besinnung. Sie irrte wie eine Wahnsinnige durch die Zimmer des weitläufigen Schloßbaues und kehrte dann wieder zu der entseelten Hülle des geliebten Bruders zurück, auf dessen bleiche Züge sie so fest ihre Augen heftete, als könnten diese fragenden Blicke den Schleier lüften, welcher diese geheimnißvolle That verhüllte.
„O daß Licht in diese Nacht dränge!“ rief sie wiederholt aus. „Daß ich ermitteln könnte, ob nur ein unseliger Zufall oder eine frevelnde Hand dem Bruder Gift in den Labetrank träufelte!“
Ueber ihre etwaigen Vermuthungen äußerte sich Cornelie gegen Niemand, selbst Cesar’s Fragen beantwortete sie nur durch Blicke oder ausweichend. Daß Anna mit Absicht ihrem Bruder Gift gereicht habe, glaubte sie nicht. Sie kannte das Mädchen als eine gute Person, ja sie wußte sogar, daß sie Ottwald mehr als andern Männern gewogen war und dies mehr wie einmal deutlich hatte merken lassen.
Von den Umwohnenden ward durch die schnell sich verbreitende Schreckensnachricht von dem Tode des jüngeren Hornburg namentlich der Mühlenpachter Caspar tief ergriffen. Dieser in seinem Fache sehr tüchtige Mann fühlte sich von jeher hingezogen zu Ottwald, den er ebenso seiner Herzensgüte wie seiner gediegenen Kenntnisse wegen hochachtete. Aber auch ihn überraschte die Nachricht von Anna’s Verhaftung und von dem Verdachte, der auf dem jungen Mädchen ruhte.
Begreiflicherweise sprach Jedermann nur von dieser geheimnißvollen Geschichte und so kam sie denn auch dem schon erwähnten Knappen Caspar’s zu Ohren, der im Auftrage seines Herrn einige Tage lang im Gebirge gewesen war, um einen Holzkauf für denselben abzuschließen. Es war am Tage der feierlichen Bestattung Ottwald’s, die unter großem Volkszulaufe stattfand; denn während die Mehrzahl an der Ansicht festhielt, es sei ein unglücklicher Zufall Schuld an dem Tode des jungen Mannes, glaubten Einzelne an ein vorliegendes Verbrechen und nahmen keinen Anstand, diese Vermuthung auch offen auszusprechen.
Von seinem Herrn erfuhr der Knappe auch die Verhaftung Anna’s. Er wankte, als er diesen Namen hörte, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Caspar fragte erschrocken, was ihm fehle.
„Anna ist meine Braut,“ stammelte der erschrockene Knappe. „Sie ist unschuldig, ich weiß es – ich kann es beweisen!“
Caspar wußte nichts von dem Verhältnisse seines Gehülfen mit der hübschen Haushälterin des Schloßherrn, es überraschte ihn aber nicht, da beide junge Leute unter Umständen eine passende Partie machen konnten. Ihm war nur die mit fester Stimme hingeworfene Behauptung des Knappen von Wichtigkeit und diese griff er sofort auf.
„Du kannst es beweisen?“ erwiderte der Pachter, die Worte seines Gehülfen wiederholend. „Dann ist es Deine Pflicht, unverweilt Anzeige zu machen von dem, was Du weißt.“
„Das will ich auch, und ich werde noch mehr sagen, damit, wenn eine Teufelei dahinter steckt, sie mit Gottes Hülfe an’s Tageslicht gebracht wird. Ich war in jener Nacht im Schlosse und habe etwas gesehen, ich, was mich erschreckte.“
Caspar gedachte bei diesen Worten des wandelnden Lichtes, der plötzlichen Erleuchtung jenes Zimmers, wo Ottwald Hornburg krank lag, des ihm schon damals auffallenden Schattens und dessen Verschwinden, als das Licht sich wieder entfernte.
„Aus dem Schlosse also kamst Du in jener Nacht?“ fragte Caspar nachdenkend und den Knappen scharf fixirend. „Was hattest Du so spät im Schlosse zu thun?“
Der Gehülfe wollte mit der Sprache nicht recht heraus und begann eine sehr ungeschickte Lüge zu erzählen. Der Mühlenpachter ließ ihn aber nicht damit durchschlüpfen und trieb ihn mit wenigen Worten in die Enge.
„Die Wahrheit will ich von Dir wissen,“ redete er ihn streng an, „denn sie allein ist es, die Licht in dies schauerliche Dunkel zu bringen vermag. Einer schlechten Handlung halte ich Dich nicht für fähig, wenn Du auch eines dummen Streiches Dich zu schämen hast. Sprich also, was Dich so lange im Schlosse festhielt?“
Der Knappe gestand mit niedergeschlagenen Augen, daß Anna ihm in jener Nacht ein Stelldichein zugesagt und gewährt habe, weil sie in Folge der Krankheit des jungen Herrn, dessen Pflege der ältere Bruder Niemand überlassen wollte, ungestört zu bleiben hoffen durften.
Durch einige rasche Kreuz- und Querfragen erfuhr Caspar ferner, daß Anna dem Geliebten die Thür geöffnet, ihn in die Küche versteckt und daselbst so lange ohne Licht gelassen habe, bis der Schloßherr in sein eigenes Zimmer gegangen sei. Was inzwischen sich ereignet, wisse er nicht, denn er habe in lebhafter Unterhaltung mit Anna Alles vergessen und auf nichts geachtet. Ein plötzliches Poltern erst und das Knarren einer Thür habe ihn wieder für die Eindrücke der Außenwelt empfänglich gemacht. Gleich darauf hätte man vernehmbar gehen hören und ein blitzender Strahl, der sich an der Küchenwand abgespiegelt, habe erkennen lassen, daß Jemand mit Licht über den Corridor schreite. Er sei aufgesprungen, um sich nach diesem nächtlichen Wanderer umzusehen, denn er habe vermuthet, es möge der Kutscher des Herrn sein, der ihm mehrmals aufgepaßt und ihn wahrscheinlich mit Anna, die ihn nicht leiden könne, habe überraschen wollen. Seine Braut aber sei ihm zuvorgekommen und habe durch das Schlüsselloch gesehen, worauf sie ihm zitternd die Hand gereicht und ihn dringend gebeten, er solle sich doch um Gottes Willen ruhig verhalten. Diesem Wunsche seiner Verlobten sei er nun zwar nachgekommen, des Lauschens habe er sich aber doch nicht enthalten können. Erstaunt habe er darauf mit Anna Blicke gewechselt, die ihn durch Gesten wiederholt zum Schweigen aufgefordert.
Caspar schüttelte den Kopf zu dieser Aussage seines Gehülfen. Es wollte ihm nicht einleuchten, daß sie irgend etwas zur Erhellung des Dunkels beitragen könne, das über den Begebenheiten jener Nacht ruhte. Möglicherweise konnte die ganze Angelegenheit durch diese Aussagen des Knappen nur noch verwickelter werden, denn über die Zeit, wann wohl der erwähnte Lichtschimmer die Liebenden störte, wußte der Gehülfe wenigstens nichts Bestimmtes zu sagen.
Der Mühlenpachter überlegte im Stillen, was wohl zu thun sei. Er beobachtete den Knappen, der äußerst niedergeschlagen seine Arbeit that und dessen Gedanken offenbar bei der eingekerkerten Geliebten waren. Endlich beschloß Caspar, sich die Ehre einer Unterredung mit Cornelie Hornburg, der jüngeren Schwester des Verstorbenen, zu erbitten. Es konnte dies nichts Auffälliges haben, da beide Geschwister von jeher keine Geheimnisse vor einander hatten und Cornelie daher auch in die Geschäftsverhältnisse Ottwald’s viel besser eingeweiht war, als ihr älterer Stiefbruder Cesar.
Cornelie nahm den Besuch des Pachters gern an. Caspar [683] sprach erst nur geschäftliche Dinge mit der tief Trauernden durch, die jetzt das Sterbegemach Ottwald’s bezogen hatte, um gleichsam der Seele des Geschiedenen näher zu sein. Dieser Zufall gab dem jungen Pachter eine erwünschte Gelegenheit, später das Gespräch auf das traurige Ereigniß hinüber zu spielen. Er musterte dabei das Zimmer sehr genau, trat an’s Fenster und sah hinaus in das romantische Bergthal, in dessen Tiefe der Fluß rauschte. Die Wände des Zimmers bestanden aus altem Holzgetäfel, das fast schwarz war. Ein paar sehr verwitterte Portraits der früheren Schloßbesitzer hingen an der einen, dem alten Bibliothekzimmer zugekehrten Wand. Sie sahen recht ernst herab auf die zarte Gestalt des Mädchens, das hier den Tod ihres auf so eigenthümliche Weise umgekommenen Bruders beweinte.
„Merkwürdig,“ hob Caspar an, die Bilder mit scheinbarer Aufmerksamkeit betrachtend, „ich komme fast auf den Gedanken, Ihr verewigter Bruder habe mir ein Anzeichen geben wollen, daß ihm etwas passiren werde! Glauben Sie an Anzeichen, Fräulein Hornburg?“
Cornelie blickte bei dieser Frage den Mühlenpachter etwas verwundert an.
„Ist Ihnen etwas Auffälliges begegnet, das Sie auf einen solchen Gedanken bringt?“ gegenfragte sie dann.
„Gewissermaßen darf ich dies bejahen,“ versetzte Caspar.
„Und worin bestand dies Begegniß?“ fragte aufgeregter Cornelie.
„Es war in jener Nacht nicht ganz ruhig im Schlosse,“ fuhr der Mühlenpachter fort. „Es sind Leute auf- und abgegangen in allen Zimmern, und auch in dieses Zimmer habe ich kurz vor Mitternacht Jemand mit Licht treten sehen.“
„Wissen Sie das auch genau?“
„Ich kann es beschwören!“
„Aber Sie waren ja doch nicht im Schlosse?“
„Nein, ich war drüben in der Mühle, wo ich mich mit der Ausarbeitung eines Risses beschäftigte, an dem Lichte aber oder vielmehr an dem Schatten, den das Licht gegen das Fenster dieses Zimmers warf, sah ich ganz deutlich, daß irgend Jemand in das Zimmer trat.“
Cornelie ließ ihre Blicke von der Thür nach dem Fenster und von diesem wieder zurück an die Thür gleiten, dann lächelte sie und sagte freundlich:
„Sie irren sich doch wohl, lieber Caspar! Betrachten Sie gefälligst die Lage des Fensters und der Thür und haben Sie die Gefälligkeit, mir anzugeben, wie ein Mensch, der durch diese Thür tritt mit einem Lichte in der Hand, einen solchen gegen das Fenster werfen kann. Es ist dies völlig unmöglich oder alle Naturgesetze müssen sich verkehrt haben in jener Unglücksnacht!“
Caspar unterließ nicht, der Aufforderung des Fräulein zu folgen, und sein gesunder Menschenverstand ließ ihn sogleich die Richtigkeit der Bemerkung Corneliens einsehen. Er legte sinnend die Hand an die Stirn, er ging nach der Thür, er öffnete und schloß dieselbe zwei, drei Mal und trat unbefriedigter denn je wieder an’s Fenster, um auf die klappernde Sägemühle auf der gegenüberliegenden Thalwand hinabzusehen und sich die Erscheinung jener Nacht recht genau abermals in’s Gedächtniß zu rufen.
„Nun, habe ich Recht?“ fragte Cornelie nach einer Weile.
„Sie haben Recht, Fräulein Hornburg,“ versetzte Caspar, „und eben weil Sie Recht haben, erscheint mir der Besuch dieses Zimmers in der Nacht vor Ihres Herrn Bruders Tode noch viel bedeutungsvoller.“
„Sie werden sich in den Fenstern geirrt haben.“
„Gewiß nicht, Fräulein Hornburg! Es war dies Zimmer, das plötzlich durch Lichtgeflimmer erhellt und sodann durch einen vor das Fenster tretenden Schatten verdunkelt wurde.“
„Vielleicht wünschte mein Bruder Hülfe, entzündete ein Licht und die Stellung jenes Lichtes warf den Schatten, den Sie beobachteten, gegen das Fenster.“
„Dieser Annahme steht zweierlei entgegen,“ fuhr Caspar fort. „Die Lage des Verstorbenen im Bett am nächsten Tage und die Entfernung des Lichtes durch die ganze Flucht sämmtlicher Zimmer im Neubau.“
Cornelie erwiderte auf diese letzte Bemerkung des Pachters nichts. Sie saß in sich gekehrt da und sah unverwandt die Thür an, deren Schatten Caspar vor das Fenster hatte treten sehen.
„Schweigen wir über das, was Sie beobachteten,“ sprach sie nach längerem Sinnen. „Es darf Niemand außer uns Beiden etwas davon erfahren. Vielleicht wird der von Ihnen gesehene Schatten dann zu einem Licht, bei dessen Glanz wir die ganze Wahrheit erkennen. –“
Es vergingen nun Wochen und der Tod Ottwald’s war so ziemlich in Vergessenheit gerathen. Anna befand sich noch immer in Untersuchungshaft. Die mit ihr angestellten Verhöre führten insofern zu keinem befriedigenden Resultate, als sie fortwährend ihre Unschuld betheuerte. Den auf ihr ruhenden Verdacht aber vermochte sie durch nichts zu entkräften. Weder konnte sie angeben, auf welche Weise das Gift in die ihr allein überwiesene und anvertraute Kruke gekommen war, noch, weshalb sie das Zimmer des ihrer Pflege doch empfohlenen Mannes stundenlang hatte liegen lassen, ohne auch nur nach ihm zu sehen. So oft der Untersuchungsrichter diese Fragen an die Gefangene richtete, ward sie unruhig und in hohem Grade befangen. Sie verwirrte sich in ihren Antworten, widersprach sich und mehrte auf solche Weise nur den Verdacht, daß sie um den Tod Ottwald Hornburg’s wisse, wenn sie auch selbst nicht geradezu die Hand dazu geboten habe. Die Meinung, es liege ein berechneter Mord vor, gestaltete sich bei dem Untersuchungsrichter mehr und mehr zur Ueberzeugung. Er glaubte in der Gefangenen nicht die eigentliche Anstifterin des Mordes, wohl aber eine Mitwisserin, vielleicht sogar ein Instrument zu erblicken. Wer aber war der wirkliche Urheber des Verbrechens? Darüber ließen sich nicht einmal Vermuthungen aufstellen.
Im Laufe der Voruntersuchung fanden wiederholt Besichtigungen des Schauplatzes statt, wo Ottwald Hornburg seinen Tod gefunden hatte. Gleichzeitig wurden die nächsten Anwohner des Schlosses, sowie alle diejenigen, welche in Verbindung mit der Familie Hornburg gestanden hatten oder noch standen, vorgeladen und über ihr Wissen befragt. Auch Caspar mit sammt seinem Knappen erhielt eine Citation. Da Jeder allein vernommen ward, blieb Beiden die Aussage des Andern ein Geheimniß.
Nach den Vorkehrungen zu schließen, die von jetzt an das Gericht traf, mußte dasselbe auf die Aussagen der beiden letztgenannten Personen sehr großes Gewicht legen. Es erschienen nicht allein Abgeordnete desselben in der Sägemühle, welche Caspar gepachtet hatte, um sich hier die Stelle zeigen zu lassen, wo derselbe bis nach Mitternacht arbeitend zugebracht, und dabei das wandelnde Licht im gegenüberliegenden Schlosse, und was sonst damit zusammenhing, beobachtet; auch das Schloß selbst ward abermals von Gerichtspersonen heimgesucht und im Beisein Cesar’s, der bereitwilligst jede Auskunft ertheilte, besichtigt. Da man diesmal mit minutiöser Genauigkeit verfuhr und alle Winkel vermaß, besonders aber von dem Sterbezimmer Ottwald’s einen Riß aufnahm, erlaubte sich Cesar nach dem Zweck dieser Maßnahmen zu fragen. Der leitende Beamte erwiderte darauf mit geschäftlicher Trockenheit, man würde eines Planes, vielleicht eines Modelles aller Räumlichkeiten des Schlosses bei der öffentlichen Verhandlung des Processes bedürfen, da es nicht unmöglich sei, daß mittelst desselben sich manche noch immer sehr dunkle Punkte in der seltsamen Angelegenheit aufklären könnten.
Cesar Hornburg schien von diesen Aeußerungen des Beamten sehr unangenehm berührt zu werden. Er schritt schweigend neben ihm und seinen Begleitern durch die ganze Flucht der Zimmer, die sie ausdrücklich zu sehen wünschten. Nur auf direct an ihn gerichtete Fragen gab er kurze, bisweilen auch mürrische Antworten. Der Beamte achtete im Eifer seiner Pflichterfüllung nicht darauf. Als die Besichtigungscommission zuletzt Cesar’s Privatzimmer betrat, widmete der Beamte auch diesem eine Aufmerksamkeit, welche den Schloßherrn beinahe verletzte. Es waren dies die letzten Zimmer in dem neuen Anbau. Nur das Wohngemach Cesar’s hatte zwei Thüren, von denen die eine auf den Corridor mündete, die andere nach der zusammenhängenden Zimmerreihe führte, die an dem Sterbegemache Ottwald’s endigte. Hier ging abermals eine Thür nach dem Corridor, denn das Sterbezimmer hing nur durch letzteren mit dem neuen Schlosse zusammen. Gegenüber dieser Thür lag Anna’s Wohnung, am äußersten Ende des Corridors befand [684] sich rechts die Bibliothek, ein Erker- und Eckzimmer, links öffnete eine hohe Pforte den Eingang zum alten, jetzt unbewohnten Schloßflügel.
Die Commission besah sich alle diese Localitäten sehr genau, bemerkte sich die Zahl der Thüren, ihre Lage, wie sie mit einander zusammenhingen, und was sie etwa sonst für wichtig halten mochten. Auch das Bibliothekzimmer mußte Cesar den Herren öffnen. Es verging indeß einige Zeit, ehe sich der Schlüssel dazu finden wollte, denn es ward nur äußerst selten betreten. Nach Cesar’s Aussage hatte er selbst seit Jahr und Tag keinen Fuß in den ihn persönlich nicht sehr anziehenden Raum gesetzt.
Dieser Angabe entsprach das stark verrostete Schloß, das erst nach wiederholten Versuchen Hornburg’s nachgab. Die Thür knarrte und ließ sich schwer wieder schließen.
In diesem Zimmer war eigentlich nur die Aussicht interessant. Da Cesar kein Verehrer von Büchern war, hatte er seit dem Tode seines Vaters Alles ganz so gelassen, wie er es damals vorfand. Auf einem großen, in der Mitte des Gemaches stehenden Tische lagen eine Menge Bücher und Karten aufgestapelt, die sich jetzt mit einer dicken Lage Staub bedeckt zeigten. Spinnengewebe hingen an den beiden Fenstern, von denen eins nach der Thalschlucht und den Sägemühlen hinabsah. Dintenflecke und eine Menge Wachstropfen am Boden, namentlich in der einen Ecke unfern der Thür, wo ein hohes Bücherbort bis fast zur verräucherten Decke reichte, deuteten an, daß in früheren Tagen hier auch zu nächtlicher Stunde ein wißbegieriger Mann nach geistiger Nahrung sich umgesehen haben mußte.
Auch dies Zimmer ward sorgfältig vermessen, ein Plan davon aufgenommen, die Richtung der Fenster, endlich die Zahl und Stellung der Repositorien verzeichnet.
Diese Besichtigung dauerte mehrere Stunden. Es war schon dunkel, als die Commission das Schloß verließ. Cesar forderte sie aus Höflichkeitsrücksichten auf, mit ihm und seiner Schwester, die sich diesmal absichtlich verborgen gehalten hatte, zu diniren. Die Herren jedoch dankten kühl, und reisten unverweilt ab.
„Endlich!“ rief Cesar Hornburg, erleichterter aufathmend. „Es ist doch unausstehlich, was man sich in seinem eigenen Hause von stockfremden Menschen Alles gefallen lassen muß!“
In sein Zimmer zurückkehrend, fand er hier Cornelien, seiner harrend. Die Stiefschwester war bleich, und sah ihn noch ernster an, als gewöhnlich.
„Was Du für Augen hast!“ sprach Cesar. „Man könnte sich fürchten! Ich glaube, das Grübeln über Dinge, die sich nun einmal nicht so leicht ergründen lassen, gibt Deinen Augen einen so unangenehmen Ausdruck. Du wirst schwerlich damit Eroberungen machen.“
„Meinst Du?“ erwiderte schmerzlich lächelnd die Trauernde. „Ich will mich nicht beklagen, wenn es mir nur gelingt, mit meinen unangenehmen Augen Entdeckungen zu machen.“
Cesar antwortete nicht. Die Stiefgeschwister setzten sich zu Tische, wortkarger aber und deshalb unerquicklicher war das gemeinsame Mahl der so nahen Blutsverwandten kaum je verflossen.
Cornelie aß fast gar nichts, Cesar verschlang die Speisen mit unruhiger Hast, als wolle er nur einen quälenden Heißhunger stillen. Als er aufstand, fragte die Schwester, ob es ihm vielleicht genehm sei, ihr die längst verheißenen Mittheilungen in Bezug auf die Erbschaft zu machen, die sie nach dem Tode des Bruders unter einander zu theilen hätten.
„Ein andermal,“ erwiderte Cesar barsch. „Der Besuch dieser Quälgeister hat mich verstimmt. Ich bin verdrießlich und in solcher Stimmung, Du weißt es, kann ich leicht heftig werden, wenn Jemand anderer Meinung ist, als ich. Ich will mich mit Dir in Frieden, nicht unter Zank und Streit auseinander setzen.“
Die Geschwister trennten sich, und jedes verbrachte den noch übrigen Rest des Tages auf seinem Zimmer.
Zwischen Cesar und Cornelie war eine traurige Spannung eingetreten. Dem wiederholten Drängen der Halbschwester mußte Cesar Hornburg doch endlich nachgeben, und so legte er ihr denn eines Tages die Papiere vor, welche die den Halbgeschwistern zugefallene Erbschaftstheilung enthielten. Cesar brachte gleichzeitig verschiedene mit der Unterschrift Ottwald’s versehene Documente bei, aus denen hervorging, daß mehr als drei Viertheile der Liegenschaften, welche dem Verstorbenen in Folge der früheren Aussöhnung der Geschwister zugefallen waren, jetzt in des überlebenden älteren Bruders Besitz übergingen. Cornelie ging fast ganz leer aus. Nur eine wenig einträgliche Milcherei im Gebirge verblieb ihr, außerdem sämmtliche Schmucksachen, welche die beiden rechten Geschwister beim Tode ihrer Mutter auf deren besonderen Wunsch geerbt hatten.
Cornelie äußerte offen ihr Befremden über diese ihr völlig unbegreifliche Auseinandersetzung, und ließ dabei nicht undeutlich merken, daß sie sich für übervorteilt halte. Darüber ergrimmte Cesar; es gab eine sehr heftige Scene zwischen den Geschwistern, wobei von beiden Seiten harte, ja schwer beleidigende Worte fielen, und als sie endlich auseinander gingen, geschah es mit verbissener Groll im Herzen.
Von dieser Zeit an lebten die Halbgeschwister in vollständiger Trennung unter einem Dache. Die Wirthschaft war eine getheilte. Sie sahen sich nie, es sei denn, daß der Zufall eine flüchtige Begegnung herbeiführte. Einmal nur fand noch ein schriftlicher Verkehr zwischen Beiden statt. Cornelie vermißte nämlich einen Ring ihrer Mutter, der aus einem höchst einfachen Goldreifen mit einem einzigen Brillanten bestand. Sie wußte, daß Ottwald diesen Ring sehr hochschätzte und deshalb nie ablegte. Sie erinnerte sich auch, daß er ihn am Tage ihrer Abreise noch getragen hatte. Wie er als Leiche im Sarge lag, fehlte er an seiner Hand. Dies konnte ihr indeß nicht auffallen, weshalb sie auch kein Wort darüber äußerte. Sie nahm stillschweigend an, Cesar möge das ihr theure, wenn auch nicht gerade sehr kostbare Kleinod mit noch vielen andern dem Bruder zugehörigen Dingen an sich genommen haben, um es ihr später unaufgefordert zu überantworten.
Auf die schriftliche Anfrage der Schwester antwortete Cesar Hornburg, daß er nicht wisse, wo der fragliche Ring geblieben sei; er selbst habe ihn während der letzten Lebenstage des Bruders nicht mehr an seinem Finger bemerkt. Deshalb nehme er an, daß Ottwald ihn wahrscheinlich auf einer der Jagdpartieen, wobei man durch Dick und Dünn gegangen sei, verloren haben möge.
Cornelie glaubte nun zwar daran nicht, sie vermuthete vielmehr, Cesar wollte den Ring des schönen Steines halber und weil ihm kein anderes Juwel von seiner Stiefmutter zugefallen sei, nicht herausgeben, es fiel ihr aber nicht ein, weiter in ihn zu dringen. Uebervortheilt war sie ja doch auf alle Weise – das wußte sie – es fehlten ihr nur leider die genügenden Anhaltspunkte, um den habsüchtigen Halbbruder anzugreifen, und ihn mit Erfolg seiner Ungerechtigkeiten zu überführen. Durch einen langwierigen Proceß hätte sich dies vielleicht erreichen lassen. Dazu jedoch konnte sich Cornelie nicht entschließen, denn was gewann sie für sich und ihr ganzes Leben, wenn sie einen gegen den Bruder geführten Proceß mit der Ueberzeugung erkaufen mußte, Cesar sei ein unredlicher, der gemeinsten Handlungen fähiger Mensch? Das wollte sie nicht, und darum schwieg sie. Mit dem Bruder fernerhin auf freundschaftlichem Fuße zu leben, war ihr aber auch nicht möglich.
Es vergingen nun Wochen und Monate, ohne daß in dem Verhältniß der beiden Halbgeschwister eine Aenderung eintrat. Cesar war sehr thätig, aber auch sehr unstät. Es litt ihn nicht in seiner Behausung, und wenn er nicht mußte, blieb er gewiß nicht im Schlosse. Die ernste Gestalt der Schwester, die stets in tiefer Trauer einherging und durch nichts zu bewegen war, das Sterbezimmer Ottwald’s zu verlassen, mochte ihm unheimlich sein. Er hätte sie gern aus dem Schlosse vertrieben, wäre dies ohne großen Eclat und ohne daß er in den Ruf der unnatürlichsten Härte kam, zu bewerkstelligen gewesen. Stören übrigens oder belästigen konnte Cornelie den Eigenthümer des Schlosses nicht, denn sie lebte still und eingezogen für sich, machte keinerlei Ansprüche und ließ sich kaum hören.
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Unter allen Burgen und Schlössern des romantischen Böhmerlandes gehört das Schloß Friedland zu den vornehmsten, theils wegen des berühmten Wallenstein, der es besaß, theils wegen seines colossalen und eigenthümlichen Baues. Auf dem nördlichen Ufer des rauschenden Wüthigflusses, gewöhnlich „die Wütche“ genannt, erhebt sich ein hoher, nur von der Nordseite zugänglicher Basaltkegel, auf dessen abgebrochener Spitze sich des Friedländers Burg erhebt, hineinschauend nach Böhmen, nach Schlesien und Sachsen. Aller liebenswürdige Apparat des gebenedeiten Faustrechts florirt hier oben in wohlerhaltener Weise – Ketten. Zugbrücken, Rüstungen, alte Waffen, Thürme, Mauern und Burgverließe starren den civilisirten Menschen an, und lassen ihn bedenken, wie viel glücklicher wir doch in jetziger Zeit sind, wo die mittelalterlichen Tyranneien einen sanfteren Anstrich und raffinirtere Cultur erfahren haben. Das Friedländer Schloß hat daneben auch eine sehr kriegerische Geschichte. Der Thurm und die ersten Anfänge datiren bereits bis zum wilden Ritter Berkowecz, der das damals urwäldliche Gebiet von dem heutigen Kreise Jungbunzlau erhielt, und 1014 sich eine feste Burg erbaute. Später ward diese Burg erobert, und ihr von einem Herrn Berka von Dub der Name „Fried im Land“ oder Friedland gegeben.
Die Taboriten hatten große Lust, sich die stolze Burg 1433 anzueignen; aber es gelang ihnen nicht; die Schweden waren [686] später schon glücklicher und meinten, Eigenthum sei Diebstahl, plünderten hier recht wohlgefällig und rückten auch wieder aus, wenn die „Kaiserlichen“ kamen.
1551 wurde der Bau, wie er jetzt ist, vom Freiherrn von Biberstein vollendet. Während die Ritter hieran bauten, suchten andere ritterliche Elemente den Bau zu zerstören; es ist die alte Geschichte vom junkerlichen Fehdethum, das einige pommersche hochadelige Sprossen so gern wieder einführen möchten.
Der ehrwürdige ritterliche Coloß „da hoch oben“ besteht aus dem niederen und dem oberen Schloß; letzteres, die eigentliche Ritterburg, steht ganz auf Basaltfelsen, dessen lange, eckige Säulen an der Nordseite künstlich angelehnt scheinen, jedoch natürlich so gestaltet sind.
Im Schlosse selbst ist wenig Hochinteressantes, mit Ausnahme der alten Bilder im Saale, welche alle die edlen Besitzer darstellen, denen dies Schloß gehört hat. Der wichtigste, interessanteste und häßlichste von allen ist der Graf Wallenstein, vor Schiller nur als Waldstein bekannt. Der fromme Schwedenfresser muß in der That eine imponirende Gestalt der Häßlichkeit gewesen sein und irgend einen kleinen Satan zum Großvater gehabt haben, was aus seinen rothen Haaren zu schließen ist. Waldstein, der sich gern General des baltischen und oceanischen Meeres nannte, ward 1582 geboren und 1634 zu Eger etwas weniger romantisch umgebracht, als es Schiller geschehen ließ. Der Herr war bekanntlich sehr grob, sehr gefährlich, sehr boshaft, sehr ehrgierig und sehr reich; wegen letzterer, sehr angenehmer Eigenschaft kaufte Waldstein im Jahre 1622 die Burg Friedland für 150,000 Gulden, die er Gott weiß wo gebrandschatzt haben mochte. 1625 ernannte ihn der Kaiser officiell zum Herzog von Friedland, und 1626 ließ er sich so malen, wie er in dem Burgsaale aufgehängt ist. Es muß ein sehr angenehmer Herr für seine Unterthanen gewesen sein, denn seine Befehle, besonders bezüglich der Steuer, waren gemeinhin mit folgenden Zusätzen versehen: „Solches befehl’ ich ernstlich und endlich, daß es in continenti erfolgt, so lieb euch euer Leben ist,“ oder: „schickt mir die ganze Contribution, wofern ihr nicht wollt, daß ich zuforderist den Hauptleuten und hernach euch (seinen Kammerräthen) den Kopf abschlagen lasse.“
Der Herzogstitel von Friedland sollte übrigens kein leerer Schall bleiben. Waldstein ging damit um, das Schloß Friedland zum Hauptorte eines weitläufigen Besitzcomplexes zu machen, und entwarf eine „gewisse Landesordnung“, wie er sie in seinem Herzogthum Friedland „sowohl in politicis als judicialibus“ gehalten haben wollte. In dem Verfassungsentwurf war sogar ein Friedland’scher Landtag mit drei Ständen festgesetzt, welcher nach zweimaliger Ausschreibung im Sitze der Regierung, zu Jicin, in einem eigenen Ständehause „gehorsamlich erscheinen, die Landtags-Propositionen anhören, berathschlagen und votiren“ sollte. Diesem und andern weit ausgreifenden Plänen machte die Partisane des Hauptmanns Devereaux, welche in der blutigen Nacht des 25. Februar 1634 zu Eger des Friedländers Herz durchbohrte, ein plötzliches Ende.
Außer dieser stolzen Friedlandburg mahnt noch das Waldsteinhaus in Prag an den großen Feldherrn. Mehr als anderswo sind hier die Andenken an ihn gepflegt worden; der Banketsaal, die Kapelle, das astrologische Cabinet und der wahrhaft kostbare Garten sind noch ganz so, wie zu Lebzeiten des Friedländers, nur aus dem Garten haben die Schweden die kostbaren Statuen geraubt, die Waldstein dort errichtet. Vor mehreren Jahren war Wallenstein’s Garten für die Prager Haute volée auch noch eine sehr beliebte Promenade, indessen ist er jetzt dem öffentlichen Besuche geschlossen und der neugierige Fremde, der ihn oder die Gemächer des Schlosses besehen will, erhält von dem grimmen Portier ganz einfach den Bescheid:
„O ja, aber da müssen Sie zu Johanni wiederkommen.“
Die Friedländischen Besitzungen sowohl, wie die meisten der andern Herrschaften, die einst der General Waldstein besaß, gehören der gräflich Clam-Gallas’schen Familie oder Nebenlinien der „Wallensteiner.“ Die Burg Friedland und mehrere dazu gehörige Besitzungen waren nämlich nach des „confiscirten“ Waldstein Tode dessen Feind, Grafen Mathias Gallas, geschenkt worden, der sich durch seine kriegerischen Thaten, besonders durch die gewonnene Schlacht bei Nördlingen 1634, die Gunst seines Kaisers erworben hatte.
Gift ist für den Menschen jeder Stoff (mit Ausnahme von Kugeln, Schwertern u. s. w.), der schon in geringer Menge schädlich und hemmend auf das Leben des menschlichen Organismus einwirkt und so lebensgefährliche Veränderungen in demselben hervorbringt. Solcher Stoffe, von gasförmiger, flüssiger oder fester Beschaffenheit, gibt es aber eine Menge, ebensowohl im Thier- und Pflanzenreiche, wie im Mineralreiche. Sie können durch den Verdauungs- und Athmungsapparat, sowie auch durch die Haut und durch Wunden in das Innere des Körpers gelangen und hier entweder zunächst örtliche Zerstörungen veranlassen oder sofort vom Blute aus eine allgemeine Störung verursachen. Die Beibringung eines giftigen Stoffes nennen die Juristen eine Vergiftung, während die Mediciner die durch eine solche Einverleibung hervorgebrachten krankhaften Störungen mit diesem Namen bezeichnen.
Zu den örtlich wirkenden Giften gehören vorzugsweise die sogenannten chemisch wirkenden, welche die Gewebe zerstören und zerätzen, die Form und den Zusammenhang der Theile verletzen, heftig reizen und schnell Entzündung und Brand erzeugen. Solche ätzende und reizende Gifte, die übrigens nachträglich auch noch eine allgemeine Störung im Organismus hervorrufen können, finden sich in allen drei Reichen der Natur vor. Im Mineralreiche sind es hauptsächlich Metallsalze, ätzende Alkalien und starke Säuren; im Pflanzenreiche die scharfstoffigen Substanzen und starken Pflanzensäuren; im Thierreiche die spanischen Fliegen (Canthariden).
Wenn giftige Stoffe dagegen eine allgemeine Störung auf den gesammten Körper ausüben, so wird diese Wirkung ohne Zweifel durch das Blut und die Nerven vermittelt, bisweilen aber erst dann, wenn vorher örtliche Vergiftungserscheinungen auftraten; nicht selten jedoch auch ohne solche. In der Regel bleiben uns diese Veränderungen, welche derartige Gifte im Blute und Nervensystem veranlassen, ganz unbekannt und in vielen Fällen ist das Gift weder im Blute noch überhaupt im vergifteten Körper wieder zu finden. – Auch von diesen allgemein wirkenden Giften finden sich in den drei Naturreichen eine Menge vor. Vorzüglich sind es die thierischen Gifte, welche hierher gehören, zumal wenn diese durch Wunden direct in den Blutstrom gebracht werden.
Sämmtliche thierische Gifte sind bis jetzt ihrer chemischen Natur nach unbekannt; denn sie sind nicht darstellbar und nicht von den Stoffen, an welchen sie haften, zu trennen. Eben darum weiß man aber auch von ihrer Natur wenig mehr, als eben ihre giftigen Wirkungen. Man kennt weder die Bedingungen ihrer Entstehung, noch die physikalischen und chemischen Eigenthümlichkeiten, die ihnen etwa zukommen. Das Gift ist als solches weder durch Formen, noch durch Reactionen erkennbar, sondern einzig und allein durch seine Wirkungen auf den Organismus. Interessant ist, daß manche dieser Gifte, in das Blut gebracht, tödtlich wirken, während sie ohne Nachtheil in den Verdauungsapparat aufgenommen werden können, wie z. B. das Schlangen- und Hundswuthgift.
Ja in dem homöopathischen Arzneischatze figurirt sogar das von Homöopathen aus Südamerika den Herren Collegen in Europa gesendete Schlangengift (Lachesis) aus den Giftzähnen des Trigonocephalos Lachesis, als wichtiges Heilmittel und zwar: bei Beschwerden, besonders linkseitigen, die in jedem Frühjahre wiederkehren; bei bösen Folgen von langem Gram und unglücklicher Liebe; bei Gefühl von etwas Lebendigem im Bauche: bei religiöser Geisteszerrüttung. mit dem Wahn nach göttlicher Vorherbestimmung ewig verdammt zu werden; bei Rose, Gelbsucht und Blausucht; bei Krätze und Scharlach; bei Epilepsie und [687] übelriechenden Unterschenkelgeschwüren, die mit kleineren Geschwürchen rings herum beseht sind; bei Wechsel- und Nervenfieber; bei Mißmuth, Lebensüberdruß und Wortkargheit; bei Leber- und Lungenentzündung; bei syphilitischen Kopfschmerzen, bei trockenem und bei zu wenig Ohrenschmalz, bei Gehörleiden nach Ohrfluß, bei Grindern am Ohr mit Brummen und Zwitschern vor den Ohren; bei argem Schnupfen, wo Wasser in Menge ausfließt, Nase und Lippen sehr wund und geschwollen sind; bei Lähmung und Wundheit der Zunge, bei metallischem Geschmacke und Halsentzündung; bei Wurmbeschwerden und zu leisem Schlafe. Kurz was wäre die Homöopathie ohne Schlangengift? Warum mag aber die Homöopathie dieses Schlangengift nicht beim Schlangenbiß empfehlen? Sie (oder wenigstens die homöopathische Apotheke in Leipzig) besitzt doch eine Menge Arzneimittel (sogenannte isopathische Medikamente), welche von einer bestimmten Krankheit Eines genommen diese bestimmte Krankheit auch bei Andern zu heilen im Stande sein soll. So: Wasserscheustoff (Hydrophobin) gegen Wasserscheu; Cholerastuhlstoff gegen Cholera; Fußschweißstoff gegen und für Fußschweiß; verschiedene Wurmstoffe (Ascardin, Lumbricin, Taenia) gegen die verschiedenen Würmer; Gonorrhin, Metrorrhagin, Nephrolithin etc. Ist das zum Lachen oder Weinen?
Da es unsere Absicht ist, dem Leser jetzt für solche Fälle guten Rath zu ertheilen, wo er von einem giftigen Thiere verletzt wird, so muß zuvörderst besprochen werden, auf welche Weise bei solchen Verletzungen das Gift in den Blutstrom, von wo aus seine feindlichen Wirkungen auf den Körper geschehen, gelangen kann. – Der schnellste Weg ist der durch die Blutgefäße selbst, der längere dagegen durch die Saugadern (Lymphgefäße). Beim ersteren kann das Gift unmittelbar in ein Blutgefäß und so in den Blutstrom eintreten (eingeimpft werden), sobald nämlich das Gefäß, wie dies bei Bissen und Stichen der Fall ist, verletzt und dadurch offen ist. Mittelbar dagegen tritt das Gift in das Gefäß und Blut ein, indem es von außen durch die unverletzten Gefäßwände der Haarröhrchen, die ja so ziemlich alle Theile des menschlichen Körpers durchziehen und besonders zahlreich in der äußern Haut sind, hindurch in den Blutstrom dringt (aufgesogen wird) und in diesem durch die Blutadern zum Herzen fortgeführt wird. Hierbei muß aber das Gift, wenn es aufgesogen werden soll, auch unmittelbar die Gefäßwand berühren können und deshalb z. B. bei der Haut die hornige Oberhaut (wie bei wunden Stellen, Nissen, Schrunden) fehlen. – Auf beide Arten kann das Wuthgift toller Hunde in den menschlichen Körper gelangen: unmittelbar durch den Biß und mittelbar durch mit Wuthspeichel benetzte Kleidungsstücke, Geschirre, durch Belecken des kranken Thieres von Hautwunden und Schrunden. – Der unmittelbare Eintritt des Giftes wird sehr oft dadurch verhindert, daß das in Folge der Verletzung ausfließende Blut das Gift mit herausschwemmt. Deshalb ist auch das Pockeneinimpfen gewöhnlich fruchtlos, wenn die Impfwunde stärker blutet und durch das Blut die Pockenlymphe weggespült wird. Deshalb tritt selten nach starkblutenden Bissen toller Hunde die Hundswuth ein, wohl aber nach geringen Verletzungen durch dieselben. – Bei der Aufnahme des Giftes durch die Saugadern, welche in den meisten Fällen wohl nur erst dann vor sich zu gehen scheint, wenn die feinsten Blutgefäßchen das Gift nicht aufnehmen, kommt dasselbe langsamer und auf einem Umwege in den Blutstrom, und zwar deshalb, weil es noch viele Lymphgefäße und Drüsen zu passiren hat, ehe es kurz vor dem Herzen mit der Lymphe in das Blut einströmt. Es ist nicht unmöglich, daß auf diesem Wege das Gift allmählich zersetzt wird und nicht bis in den Blutstrom gelangt. – Bei vielen von wirklich tollen Hunden Gebissenen bricht die Hundswuth, selbst wenn keine vorbauende Behandlung stattfindet, doch nicht aus.
Mag nun das Gift auf die eine oder die andere Art in den Blutstrom eintreten können, immer ist es unsere Aufgabe, diesen Eintritt zu verhindern oder, ist derselbe schon erfolgt, das Fortfließen des Giftes in den Blut- oder Lymphröhren aufzuhalten, und so den Uebergang des Giftes in den gesammten Blutstrom zu verzögern. – Zur Verhinderung des Eintrittes des Giftes wäre es freilich am besten, wenn man das Gift in der Wunde sofort zerstörte, was durch Aetzkali, Scheidewasser, Schwefelsäure, Salmiakgeist oder brennende Hitze (Glüheisen oder Ausbrennen mit Schießpulver) geschieht. Da man aber derartige Zerstörungsmittel selten gleich bei der Hand hat, so bleibt es immer das Beste und Schnellste, so bald als nur möglich nach der Verletzung und Einverleibung des Giftes, dieses durch länger fortgesetztes Aussaugen der Wunde mit dem Munde oder mittelst Schröpfköpfe, zu entfernen zu suchen. Dieses Aussaugen mit dem Munde ist ganz ungefährlich (zumal wenn das Ausgesogene mit der Mundflüssigkeit sofort ausgespuckt und der Mund zwischendurch öfters ausgespült wird); es kann auch noch durch Auswaschen der Wunde (mit Salzwasser, Essig, Seifenwasser und sogar mit Urin, wenn keine andere Flüssigkeit gleich vorhanden ist), sowie durch Ausschneiden der Wunde unterstützt werden. Das etwaige Bluten der Wunde muß man so lange als nur möglich durch Einschnitte, Schröpfköpfe, warme Ueberschläge zu unterhalten suchen. – Um den Uebergang des Giftes in den Blutstrom zu verzögern, müssen die Adern des verletzten Gliedes durch festes Zusammendrücken oder Zusammenschnüren desselben geschlossen werden und zwar so nahe als möglich an der Verletzung an einer Stelle, die dem Herzen näher liegt, als die Wunde. – Nach dem Aussaugen und dem Auswaschen der Wunde, sowie nach dem Zusammenschnüren des Gliedes, muß die Wunde tüchtig ausgeätzt oder ausgebrannt, sodann aber längere Zeit in Eiterung erhalten werden (durch Einstreuen von spanischem Fliegenpulver).
Außer den eben angeführten, im Momente nach der Verletzung vorzunehmenden Hülfsleistungen sind alle von dem Thiere besudelten Kleidungsstücke sogleich zu entfernen. Man darf ferner nicht versäumen nach den ersten Hülfen, die man an den sichtbar verletzten Stellen angewendet hat, den ganzen Körper auf weitere Verletzungen genau zu untersuchen. Man thut wohl, zu dem Ende die Haare abzuscheeren und jedes auch noch so kleine und zweifelhafte Wundsein (jede Hautwunde) wie eine große Wunde und sichere Bißstelle zu behandeln. Auch ist es zweckmäßig, den ganzen Körper zu waschen oder in ein warmes Laugenbad zu setzen.
Sobald ein Mensch von einem wuthverdächtigen Thiere gebissen wurde, so ist dieses nicht zu tödten, sondern lebendig einzufangen und in sicherem Gewahrsam weiter zu beobachten, damit in dem Falle des Nichtausbruchs der Krankheit bei dem Thiere der Gebissene nicht unnöthiger Weise einer langdauernden und angreifenden Cur unterworfen und geängstigt werde. Denn Gemüthsberuhigung des Gebissenen ist unendlich wichtiger und heilbringender als alles Arzneigeben. (Ueber die Hundswuth und Wasserscheu beim Menschen und Thiere im nächsten Aufsatze.)
Einer der interessantesten Plätze, welche der Reisende in Nordamerika besuchen kann, ist die Colonie freier Neger zu Buxton in Canada. Etwa vor neun Jahren brachte Rev. William King, ein Irländer und presbyterianischer Geistlicher, der früher in Louisiana wohnte und mehrere Sclaven zur Verrichtung häuslicher Dienste besaß, nachdem sich deren Zahl durch die Heirath seiner Frau auf fünfzehn vermehrt hatte, sie alle nach Canada, wo er sie emancipirte. Nicht zufrieden damit und von dem Wunsch beseelt, im Großen den Versuch zu wagen, ob der freigelassene Neger im Stande wäre, sich als Landbauer zu erhalten und seine moralische und sociale Lage zu verbessern, machte sich Herr King zum Haupt und leitenden Führer einer Association, welche zu sehr günstigen Bedingungen einen beträchtlichen Strich Landes übernahm, der ursprünglich zu den von der Regierung den Geistlichen vorbehaltenen Ländereien gehörte. Die sechs englische Meilen lange und drei Meilen breite Strecke wurde vermessen, in einander kreuzende rechtwinkelige Avenuen eingetheilt und zu Ansiedelungsplätzen von fünfzig Acres ausgelegt, von denen jeder die Front einer Avenue berührte. Mit den Auslagen für Vermessung belief sich der Kostenpreis auf 2 Dollar per Acre. Die Gegend war eben, dicht von Eichen, Buchen, Ulmen, Ahorn und weißem Wallnußbaum bedeckt, mit einem Substrat von tiefem, schwarzen [688] Lehmboden. Auf diesem Spielraume sollten die Neger das große Experiment in Angriff nehmen. Jeder Einzelne erhielt eine Farm, nicht als Geschenk, sondern als ihm käuflich übertragenes Eigenthum, wofür er den Kostenpreis in zehnjährigen Raten sammt Interessen schuldig war. Zugleich verpflichtete er sich, innerhalb einer bestimmten Zeit auf seinem Grund und Boden ein Wohnhaus nach einem vorgeschriebenen Modell zu errichten, und mußte sich die nöthigen Ackerbau- und Hausgeräthschaften anschaffen, ohne in dem Unterhalt seiner Familie unterstützt zu werden. Erst nachdem er diese Bedingungen erfüllt und seinen Grund bezahlt hatte, trat er in den rechtmäßigen Besitz seines Antheils ein. Ein Schulgebäude, Lehrer und Unterricht wurden der Colonie unentgeltlich gegeben, eine Kirche von Holz, in welcher Hr. King den Dienst versah und zu der Jedermann der Eintritt offen stand, wurde erbaut und eine Sonntagsschule eingeführt. Das war der Grundriß des Ansiedelungsplanes der Elgin-Association zu Buxton, welche nach Verlauf von sieben Jahren zweihundert Familien von etwa achthundert Seelen zählt.
Buxton liegt etwa dreißig Meilen südwestlich von Chatham und ist drei Meilen von dem Eriesee entfernt. Der Kutscher, der uns dahin führte, war der Sohn eines warmblütigen Irländers, dessen Quäkererziehung seinem impulsiven und gemüthlichen Temperament eine sehr unterhaltende Richtung gab. Während der ersten sieben Meilen bot die Straße einen prächtigen Anblick dar; sie war zum größten Theil von Urwäldern eingezäunt, welche in breiten Tracts zu Landspeculationen angekauft waren. Als wir die Chaussee verließen, um nach Buxton abzubiegen, wurde der Weg schlechter, voll großer Löcher, die bei schlechtem Wetter ihn unfahrbar machen mußten. Zu beiden Seiten aber standen wohlgehaltene Farmhäuser. Während der Fahrt begegneten mir die schwarzen Ansiedler, theils in langen Wagen mit Männern und Weibern bepackt, theils in einzelnen Zwei- und Einspännern und einmal eine reitende Negerfrau, hinter der ein Knabe von 11–12 Jahren saß. Alle begaben sich, wie es scheint, zu einer Methodistengemeinde, für welche die Versammlung einberufen war. Indem wir uns der Colonie näherten, wurde die Einwohnerschaft zahlreicher und wir sahen eine Menge Häuschen, die sich als Mittelpunkt des Ortes darstellten. Nach der Wohnung des Reverend fragend, wies man uns den Weg nach der kleinen Kirche, die in der Nähe stand.
Das Haus des Herrn King ist ein langes Blockhaus, mit einem hohen, steilen Dache und äußeren Fensterläden; ein bedeckter Gang nimmt die ganze äußere Front ein. Im Innern ist es in eine Anzahl durcheinandergehender Räume abgetheilt, die dem Besitzer als Geschäfts-, Sitz-, Speisezimmer etc. dienen. Das Ganze ist einfach, aber sauber und solid. Nicht weit von dem Hause steht das schon erwähnte Kirchlein, Schulgebäude und Posthaus der Ansiedlung, alle von rohem Holz gebaut, während in einiger Entfernung davon sich eine Dampfsägemühle, ein Ziegelofen, eine Eschentischlerei mit Grobschmied, Zimmermann und Schuhladen, nebst dem Krämermagazin des Ortes befinden. Glücklicherweise fanden wir Rev. King, einen Mann von mittlerer Größe und starkem Körperbau, mit einem klugen und freundlichen Gesichtsausdruck, zu Hause und ohne Beschäftigung. Wir erfuhren von ihm, daß es jetzt in der Colonie 200 Familien, deren jede ihr eigenes Haus besitzt, gäbe. Von dem Lande waren 1025 Acres gelichtet und eingezäunt und 200 andere so weit urbar gemacht, daß sie im nächsten Frühjahr bebaut werden sollten. Von den eingezäunten Aeckern waren 354 mit Korn besät, welche einen mehr als gewöhnlichen Ertrag versprachen, 200 Acres mit Weizen, 70 mit Hafer, 80 mit Kartoffeln und 120 mit anderen Gemüsen, wie Bohnen, Erbsen, Rüben. Die Ansiedelung besaß 200 Kühe, 80 Ochsen, 300 Schweine und 52 Pferde; die Zucht der Schafe, deren es wenige gab, gedeiht nicht gut.
Buxton zählt gegenwärtig zwei Schulen, eine für Knaben und eine für Mädchen; die letztere hat nicht nur den unteren Unterricht in Kenntnissen und Handarbeiten zum Zweck, sondern auch eine höhere Ausbildung. Die Zahl der eingeschriebenen Kinder beider Schulen betrug 140. Um die Colonie ganz auf eigene Füße zu stellen, soll der Unterricht, der bis jetzt unentgeltlich war, künftig bezahlt werden. Die Samstagsclasse, die Allen offen steht, wird von 112 Schülern besucht.
Herr King ist einer der Directoren der Elgin-Association und führt als solcher die allgemeine Oberaufsicht über die weltlichen Angelegenheiten derselben; aber seine Thätigkeit ist eine rein berathende, da die Colonisten, so lange sie den bestehenden Regeln über ihre Häuser und Einzäunungen nachkommen, ganz sich selbst überlassen werden. Er ist zugleich ein Missionär der presbyterianischen Kirche von Canada, in welcher Eigenschaft er den Gottesdienst in der Missionskirche des Ortes versieht. Die Neger gehören der Mehrzahl nach der Secte der Baptisten und Methodisten an; viele von ihnen hören aber seine Predigten an, welche immer einen großen Kreis von Zuhörern heranziehen. Ein Viertel der Schwarzen geht überhaupt in keine Kirche und es wird kein Zwang gegen sie ausgeübt. Berauschende Getränke werden in der Ansiedelung weder fabricirt noch verkauft, Trunkenheit ist unbekannt und seit dem Bestehen der Niederlassung wurde nur ein Mensch wegen Verletzung der Gesetze bestraft. Ein Fall unehelicher Geburt ist bis jetzt nicht vorgekommen und die allgemeine Moralität und sociale Verbesserung der Gemeinde im Wachsthum begriffen.
Die Ansiedler sind zum größten Theile flüchtige Sclaven, und ein Drittel davon rein afrikanischer Abstammung. Wenn die Aussage Herrn Kings richtig ist, so ist das Verhältniß der Schwarzen hier viel größer, als in der Provinz im Allgemeinen. Diejenigen unter ihnen, die an den Ackerbau gewöhnt waren und einiges Capital besaßen, um anzufangen, kamen außerordentlich gut fort; sie haben in derselben Zeit und unter gleichen Umständen mehr Land urbar gemacht und größere Verbesserungen angebracht, als die große Mehrzahl der weißen Ansiedler. Denjenigen, die weder über Geschicklichkeit noch Geld verfügen konnten, ging es schwieriger; aber selbst diese haben ihre fälligen Raten regelmäßig bezahlt oder, wenn sie ihnen nachgesehen wurden, das Geld so auf Grund und Boden ausgelegt, daß die spätere Rückzahlung dadurch erleichtert wird. Viele haben ihre Schulden bereits völlig bezahlt und ihre Besitztitel empfangen, andere sind daran, es nächstes Jahr zu thun, und Herr King versichert, daß nach Ablauf der zehn Jahre Alle in den Besitz ihrer Grundstücke treten werden.
In Canada waren durch Hülfe der Regierung zwei europäische Colonien gegründet worden, die eine aus Hochländern zu Notowasaga, nördlich von Toronto, die andere aus irischen, englischen und schottischen Auswanderern zu Ramsey, in der Nähe von Brookville; die Ansiedler in beiden erhielten für eine gewisse Zeit Unterstützungen an Vorräthen, Geräthschaften u. s. w., aber beide gingen zu Grunde. In der Colonie der Hochländer sind 20 bis 30 Männer mit ihren Familien zurückgeblieben, während die Andern davonzogen. Die Ersteren reussirten von dem Augenblick, wo die Regierungshülfe aufhörte. Herr King schreibt den größeren Erfolg der Ansiedlung von Buxton zum Theil dem Umstände zu, daß vorerst einmal die Neger bessere Axtkundige als die Europäer und daher besser befähigt wären, mit den Schwierigkeiten, welche die Lichtung eines starkbewaldeten Landes bietet, zu kämpfen, und sodann, weil die Colonie von Buxton von Anfang an auf sich selbst angewiesen war. Die Neger begriffen vollkommen, daß sie allein von sich selber abhingen, daß sie keine Vorschüsse in Geld, Nahrung oder Kleidern empfangen würden. Ihr Stolz und ihr Selbstvertrauen wurde dadurch wachgerufen, und sie arbeiteten in Folge dessen mit einer Energie, die sonst bei ihnen nicht erwartet wird.
Von den funfzehn Sclaven, welche Herr King mit sich gebracht hat, sind drei gestorben; ihren Platz haben ihre in Canada gebornen Kinder eingenommen. Neun leben noch in Buxton, einer ist in Chatham verheirathet; zwei, Mutter und Tochter, sind in Detroit, aber im Begriff, nach Buxton zurückzukehren. Einer, ein Greis von 65 Jahren, erhielt in Betracht seines Alters einige Unterstützung bei dem Bau seiner Hütte und der Lichtung des Gehölzes. Er ehelichte eine Frau von gleichem Alter und hat sich und sie ohne Beistand erhalten. Wir sahen sein Haus, seinen Garten und sein Kornfeld, die alle gut und blühend waren.
In Gesellschaft von Herrn King und unseres Begleiters von Chatham, machten wir einen Spaziergang durch die Ansiedlung. Der Ort war natürlich kein realisirtes Utopien, noch glichen die Hütten saubern, weißgefärbten Häusern eines Dorfes von Neu-England. Alles war neu, roh und ungeschlacht. Man sah an dem Wege noch himmelhohe, zwei bis vier Fuß dicke Urwaldsbäume stehen, die an dem untern Stamme halb eingehauen und, so weit man kommen konnte, ihrer Aeste beraubt waren. Die Straße war eine bloße breite Linie, die gerade durch den Wald ging, und auf der überall die Wurzeln der Bäume zum Vorschein [689] kamen. Zu beiden Seiten lagen hier und da zerstreut die Wohnungen und Lichtungsplätze der Ansiedler – jene aus unzugehauenen Bohlen bestehend, in der vorgeschriebenen Entfernung von dem Wege, und mit dem zugehörigen Gemüsegarten. Doch fehlte nicht jede Spur von Verzierung. Ueber dem äußern Portale waren oft Ausschnitte angebracht, die mit frischen Hopfenranken versehen waren. Einige der Gärten strotzten von Blumenbeeten, auf denen hochrothe Mohnblumen mit dem Dunkel des Urwalds contrastirten. Wir traten in die Hütte eines Sclaven, der erst vor zwei Jahren Kentucky verlassen, und nach seiner Ankunft hier geheirathet hatte. Die Hütte war kleiner, als das Modell vorschrieb, aber so angelegt, daß sie sich mit der Zeit vergrößern ließ. Innen befand sich eine Frau mit einem Rudel Kindern, die ihren Verwandten gehörten, und welche das Ehepaar bei sich aufgenommen hatte. Mehrere Stühle, ein Tisch, eine große Kiste und der Kochofen nebst Zubehör bildeten das Hausgeräth. Das Familienmahl, Schweinefleisch und Kartoffeln, stand noch auf dem Ofen, während in einem andern Gefäß voll frischen Fettes grünes Korn in den Aehren schmorte. Der Mann war auf der Arbeit im Ziegelofen abwesend.
Ein anderes Haus, das wir besuchten, gehörte einem Manne, der vor vierzehn Jahren aus Missouri entflohen war. Er lebte seit sechs Jahren in der Ansiedlung, und hatte vierundzwanzig Acres Land eingezäunt und im Anbau und sechs andere, die gelichtet waren. Er hatte vier Raten gezahlt und besaß einen Wagen, ein paar Ochsen, eine Stute und zwei Füllen. Er war Vater von vier Kindern und sein ältester Knabe, der vierzehn Jahre zählte, las im Virgil (wahrscheinlich ohne Nutzen). Der Tag war warm und die kleineren Kinder, hier wie überall, waren leicht gekleidet, Beine, Fuß und Arme nackt, mit Oeffnungen in den Kleidern, die der Schneider nicht gemacht hatte. Im Hause fanden wir außer dem gewöhnlichen Bett und Bettzeug, Stühlen, Tisch u. s. w. einen Schaukelstuhl und ein breites neues Sopha. Ein verlangtes Glas Wasser wurde in einem reinen Becher auf einer Tasse gebracht.
Noch reicher war ein drittes Haus, das einer der frühesten Ansiedler bewohnte. Es war geräumiger, mit einem laubumkränzten Portale, hatte ein Vorhaus in der Mitte und ein Zimmer an beiden Seiten. An den Wänden hingen verschiedene hervorstechende Bilder, ein Sopha stand da, ein Teppich lag auf der Erde. Eine allgemeine Erscheinung in allen diesen Hütten war der ungeheure Feuerplatz aus Ziegeln, welcher die beste Stelle an der einen Seite der Stube einnimmt und, wie der Kamin, deutliche Spuren von der Gluth der Flammen aufweist, welche im Winter darin spielen.
Wir sahen nur einen kleinen, und wie man uns sagte, den neuesten Theil der Ansiedlung, der nicht cultivirt war. Unser Aufenthalt konnte trotz der herzlichsten Einladung des Herrn King nicht verlängert werden, und wir verließen Buxton in der Ueberzeugung, daß die Colonie eine glänzende Widerlegung der Behauptungen wäre, welche von den Freunden der Sclaverei gegen die Bildungsfähigkeit der schwarzen Race angeführt werden.
Nach dem Wiener Frieden im October 1809 lagerte sich eine entsetzliche Stille auf alle Länder deutscher Zunge; sie wurde im Laufe des folgenden Jahres nur dann und wann auf Augenblicke unterbrochen, erst durch den Schuß, der den Sandwirth „zu Mantua auf der Schanze“ in den blutigen Staub legte, gleich darauf durch den gräßlichen Hochzeitsjubel, als der Corse mit eiserner Faust die Erzherzogin auf den kalten Torus drückte, und ein paar Monate später durch den dumpfen Wehschrei, der durch alle deutschen Herzen schrillte, als Deutschlands sichtbarer guter Genius, die Königin Louise von Preußen, hinweggenommen war aus diesem Leben voll Schande und Schmach, die ein schlauer ehrgeiziger Soldat ohne sittliche Größe und Würde über die Welt gebracht, eine „Strafruthe“, die, obgleich sie als scharfer Besen Haufen von Unrath hinwegfegte, deshalb selbst noch kein Kometenschweif war.
Nach dem Tode des „Schutzgeistes“ wurde die Stille um so peinigender, als dann und wann das Hohn- und Lustgelächter über deutsche Dummheit und Niederträchtigkeit von Cassel her ertönte, wo ein junger lustiger Baumwollenkrämer, aus Amerika frisch verschrieben, daß er den neuerbauten Königsthron von Westphalen einnehme, seine tollen Orgien hielt. Wir Thüringer hatten’s nah; uns trug jeder Westwind den grausigen Jubel und die Düfte der Hekatomben zu, die deutsche Unterthänigkeit dem lustigen charmanten Könige aus Corsika schlachtete. Es klang und duftete alles so gespensterhaft und wenn die Schüsse dazwischen knatterten, die vor der guten Stadt Cassel Männer zum ewigen Schweigen brachten, die unvorsichtig für die alte legitime Hessendynastie geschwärmt hatten, so erhöhten sie nur den prächtigen Eindruck und Niemand muckste weit und breit.
Auch in meinem Vaterhause in Ruhla war eine qualvolle Stille. Im März war mein Vater gestorben, gleichsam mit den schmerzlichen Worten auf den Lippen: Wenn doch diese Franzosen einmal wieder aus unserm Lande fort wären! Ueber dem Hause lag es schwer und trüb, wie ein böses Geheimniß. Wie Gifttropfen waren Schrecken in meine Kinderseele geträufelt, die ich nicht verstand. Die Zeit schauerlicher Wirrsale war für mich angebrochen, aus deren Schlangenwindungen ich mich nie wieder habe befreien können.
Dieses seelenerkältende Dämmer- oder Nachtleben draußen in der weiten Welt und innen im engen Hause durchzuckte plötzlich ein durch das seit der Jenaer Schlacht schwer gedrangsalte und gedemüthigte Thüringerland weithin leuchtender Blitzstrahl; ein Alles aufschreckender Donnerschlag, als hätte die unsichtbare dämonische Macht, die da in Lebenstiefen auf- und abfluthet, die kleinmüthigen Menschen erinnern wollen: ich bin noch da, ich walte noch trotz aller Corsenwirthschaft.
Eines Abends – es war der 1. September – saß ich mit der Mutter in der Wohnstube, still, verdrossen. Ein mattes Oellicht stand auf dem Tische. Plötzlich gegen 9 Uhr zuckte ein Blitz durch die Nacht und bald darauf zitterte das Haus von einem seltsamen Schlage und ein dumpfes Donnern rollte durch das Thal. Die Mutter öffnete ein Fenster und schaute auf die dunkle Gasse. Der Nachbar Stumpff, der Claviermacher gegenüber, rief ihr zu:
„Das ist der jüngste Tag! Es geht los.“
Bald darauf hörten wir drüben einen Choral intoniren. Andere weniger bibelgläubige Nachbarn liefen auf die Straße, ich unter ihnen. Der schwarze westliche Himmel über den Bergen röthete sich. Die Leute liefen schaarenweis auf die hohen Berge, von deren Gipfeln man die anderen Höhen überschauen konnte. Ein fürchterlicher Anblick bot sich uns: an der Stelle der Stadt Eisenach wogte ein Feuermeer. Schauerlich schön nahm sich die von dem Gluthheerd angestrahlte Wartburg aus, von welcher fort und fort Blitze durch die Nacht schossen und Donner auf Donner durch unsere Berge rasten. Es waren die Nothrufe der dort stehenden Lärmkanonen. Der Moment war über allen Ausdruck schauerlich erhaben und hat sich meiner noch mit aller Weichheit des Kindergemüths begabten Seele tief eingeprägt.
„Ganz Eisenach steht in Flammen!“ schallte es von Berg zu Berg und durch den ganzen Ort. Die Spritzen rasseln über das Pflaster, viele Menschen brechen auf. Gern wär’ auch ich gleich mit fort, aber das gab die Mutter nicht zu. Sie versprach mir, am folgenden Morgen selbst mit zu gehen. Ich konnte wenig schlafen; meine Phantasie war zu heftig aufgeregt. Kaum war es Tag, so trieb ich zum Aufbruch. Schreckensnachricht auf Schreckensnachricht langt an. Hunderte von Menschen sind auf den Beinen nach Eisenach zu. Der ganze Weg durch die Thäler und über die Berge – ein Menschenzug. Wir hatten eine Menge Bekannte, Freunde und Verwandte in Eisenach. Während meines Vaters Lebenszeit war unser Haus oft voll Besuch [690] aus der Stadt. Eisenach war das Eldorado meiner Kindheit, die Wartburg das Zauberschloß der Fee Poesie für mich.
Immerfort kamen uns Botschaften entgegen, eine schlimmer als die andere. Ein schrecklicher Weg! Endlich erreichten wir die unglückliche Stadt gegen neun Uhr früh. Welch’ ein schauderhafter Anblick! Der ganze Markt voll Feuerspritzen, die daran stoßende Messerschmiedergasse in brennenden Ruinen, weiter nach Westen brennt die Georgengasse. Todte Pferde liegen da umher; Menschen arbeiten mit unglaublicher Energie. Alles, was Hände hat, schleppt Wasser herbei, Spritzen werfen diese Wassermassen in die gräßliche Gluth. Die ganze Luft zittert weit und breit von dieser Hitze. Hier und da werden scheußlich verstümmelte Leichen aus dem glühenden Schutt gezogen; die Arbeiter müssen sich vorsehen, sich nicht die Hände zu verbrennen. Als ein neugieriger Knabe kroch ich überall umher; meine Seele war ganz Auge und Ohr; ich sah und hörte alle die Schrecken, deren jeder einzelne ein gefühlvolles Herz mit Grausen erfüllte. Und schon nach einigen Tagen war ich wieder in der unseligen Stadt; sie brannte immer noch. Das Feuer wüthete über eine Woche. Dann lagen die Straßen wie ein großes Grab. Und wieder eine unheimliche Stille darüber. Es war das symbolische Grab Deutschlands unter dem verheerenden Fußtritte des Siegers von Jena und Wagram. Nach und nach hatte ich das ganze Unglück mit allen Einzelnheiten erfahren.
Wie immer bei solchen außerordentlichen Gelegenheiten war vieles von dem Erzählten fabelhaft; die Volksphantasie, schauerlich aufgeregt, dichtete Märchen. Das Wahre an dem grausigen Unglücksfalle war ungefähr Folgendes.
Seit dem Juni gingen starke französische Evacuationstransporte, alle fünf Tage dreißig bis vierzig Munitionswagen mit Pulver, Patronen, gefüllten Bomben, Granaten und Kartätschen beladen, aus der Festung Magdeburg über Halle, Erfurt, Gotha, Eisenach, Frankfurt nach Frankreich zurück, und zwar auf Kosten derjenigen Länder des Rheinbundes, durch welche diese Heerstraße führte. Ein solcher Transport von vielleicht 13 Pulverwagen kam am 1. September Abends in Eisenach an, als es schon zu dunkeln begann, und sollte durch die Stadt geführt werden, um jenseits derselben vor dem Georgenthore eine abgesonderte Aufstellung zu finden. Die Wagen wurden von Oekonomen und deren Knechten aus Gotha gefahren. Um 8¾ Uhr bewegte sich dieser Zug langsam aus der ehemaligen Jüdengasse, jetzigen Karlsstraße, über den schönen Markt in die Messerschmiedergasse. Ein Zufall, eine Unbedeutendheit – und o wie schwer wog sie im Geschicke der Stadt Eisenach! – veranlaßte einen Führer, vielleicht den des vierten, fünften oder sechsten Wagens, auf dem Markte etwas still zu halten. Dadurch wurde auch die nachfolgende Reihe zum Stehen gebracht. Ehe sie sich wieder in Bewegung setzte, waren die ersten drei oder wie viel Wagen voraus. Als diese an die Stelle kamen, wo die Messerschmiedergasse sich an ihre Fortsetzung, die St. Georgengasse, anschließt, explodirte einer dieser Wagen und entzündete die andern. Es ist wahrscheinlich, daß es nur drei Wagen waren, welche in die Luft flogen, doch festgestellt hat es niemals werden können, eben so wenig die Art ihrer Ladung. In Eisenach konnte natürlich Niemand etwas darüber wissen und die französischen Angaben waren ungenau und nicht zu verbürgen. Daß es nur drei Wagen waren, hat man daraus schließen wollen, daß Einige bei der Explosion drei verschiedene schnell hintereinander erfolgte Schläge vernommen haben wollten, welche in der Entfernung zu einem großen Schlage zusammengeschmolzen seien. So schloß man daraus, daß sich nirgend zerplatzte Granaten und Bomben vorfanden, daß die Wagen mit Pulver und Kanonenpatronen beladen gewesen seien. Es fanden sich nämlich im Schutt der Häuser gegen den Markt zu Kanonenkugeln von verschiedenem Kaliber, doch nicht einmal in solcher Anzahl, daß man annehmen durfte, ein ganzer Wagen sei mit Kanonenpatronen beladen gewesen.
Die Entzündung wurde am einfachsten dadurch erklärt, daß, wie man an den zurückgebliebenen Wagen nachher wahrnahm, loses Pulver durch die Spalten der von der Sonnenhitze eingetrockneten Faßdauben hindurchgerieselt und von einem durch den Hufschlag eines Pferdes einem Pflastersteine entlockten Funken in Flamme gesetzt worden sei.
Die Wirkung der Explosion war über alle Vorstellung entsetzlich. Ein greller, grausiger Blitz, den man meilenweit im Umkreise sah, erhellte für einen Augenblick die Nacht, eine schwarze Dampfwolke folgte dem Schreckenslichte, dann verschlang die Nacht wieder Alles und nun ertönte der gräßliche Donnerschlag und rollte von der Wartburg, deren Grundfelsen erzitterte, mit fürchterlichem Wiederhall über die Berge und durch die Thäler des nahen Thüringerwaldes hin. Die nächsten neun Häuser zu beiden Seiten der Straße, meist ansehnliche Gebäude, stürzten im nächsten Augenblick zusammen und zwar in die Straße herein, und begruben in ihren Trümmern Alles, was darin lebte und webte. Alle Menschen in der Nähe auf der Straße waren im Nu eine Beute des Todes. Von entferntern Häusern wurden die Dächer abgerissen, in einem noch weitern Kreise alle Fenster und Schornsteine zertrümmert, Fenster und Thüren zerschmettert, die Bekleidungen abgerissen, Oefen und Kamine übereinander geworfen, Spiegel und Bilder von den Wänden gerissen und zerschlagen. In weit entfernten Häusern vor der Stadt wankten Tische und Stühle und anderes Geräthe, sogar auf dem zwei Stunden von Eisenach entfernten hochgelegenen Schlosse in Kreuzburg sprangen die Thüren der Zimmer auf und drei, vier Stunden weit im Gebirge bemerkte man ein Wanken des Bodens. Ein mehrere Centner schwerer Schrittstein wurde von der Thüre eines der dem Verderben geweihten Häuser weit hinweggeschleudert.
Dies waren die Schrecken der ersten Augenblicke. Die ganze Bevölkerung der Stadt war wie betäubt. In Vielen erwachte derselbe finstere Gedanke, wie in Meister Stumpff, die Stunde des göttlichen Weltgerichts sei gekommen. Grauenvolle Jammerscenen wurden erzählt, aber es fehlte auch nicht an komischen Ereignissen.
Als die schreckengefesselten Glieder wieder zu Dienst waren und die von so unerhörtem Grausen aufgescheuchten Menschen dem Schauplatze des Unglücks zustürzten, kam der zweite Schrecken über sie. Außer den eingestürzten Häusern standen 24 andere Häuser der benachbarten Straßen in Flammen. Da galt es Menschenleben zu retten. Viele Bewohner dieser brennenden Häuser waren ja starr und besinnungslos vor Schrecken. Plötzlich ward man inne, welch’ ein unaussprechliches Verderben der ganzen Stadt und allen Einwohnern drohe. Ueber den ganzen Markt bis die Messerschmiedergasse und nur wenige Schritte von den brennenden Häusern stand die Colonne der noch übrigen Pulverwagen. Jeden Augenblick konnten sie sich entzünden. Dann war Eisenach ein todter dampfender Steinhaufen. – Die Menge stiebt wie in Wahnsinn aufschreiend auseinander. Muthige Männer stürzen, ohne an sich oder etwas Anderes zu denken, auf die Wagen los, um sie wegzufahren, aber der Schrecken hat die meisten Pferde so betäubt, daß sie nicht von der Stelle zu bringen sind und die Fuhrleute schneiden in Todesangst ab, um die Pferde und sich zu retten. Die gräßliche Gefahr steigt von Augenblick zu Augenblick, da wirft sich ein Häuflein wackerer Bürger auf die Wagen, spannt sich selbst an und fährt sie in rasender Eile aus der Stadt. Der Kutscher eines Hausbesitzers ist schnell mit seinen Pferden bei der Hand und holt einen Pulverwagen aus der brennenden Straße heraus. Nun rennt Alles, was Mensch heißt, zum Löschen herbei, was durch Wassermangel sehr erschwert ist, weil kein Fluß durch die Stadt geht und die Brunnen bald erschöpft sind. Da zeigen sich vorzüglich die Frauen hülfreich. Eine Menge derselben schleppt das Wasser in Butten und Eimern weit her. Während dem rufen die Kanonen mit Donnerstimme die weite Umgegend um Hülfe an (Eine zerspringt und zerreißt den Mann, der ihr zuviel zugetraut). Und wahrlich nicht vergebens! Von allen Seiten rasseln die Spritzen herbei. Mit ihnen und auf Feuerwagen Tausende von Menschenarmen. Alle Straßen und Wege, die nach Eisenach führen, sind die ganze Nacht meilenweit mit Hülfe bringenden Menschen bedeckt. Die Spritzen der Stadt Gotha legen den sieben Stunden langen Weg in zwei Stunden zurück und eine davon, die Rathsspritze Nr. 2., mit 12 Mann besetzt, unter Anführung des bei Feuersbrünsten durch Muth und Geschicklichkeit ausgezeichneten Schlossermeisters Silber, wurde von dem Sohne des Bürgers und Oekonomen Habermann mit dessen eigenen Pferden in 1¾ Stunden an den Unglücksplatz gefahren und that treffliche Dienste.
Eine große Windstille kommt der menschlichen Thätigkeit zu Hülfe, so daß das Feuer auf den entzündeten Häuserkreis beschränkt werden kann. Von den einmal brennenden Gebäuden konnte freilich nichts gerettet werden.
[691] An Menschenleben gingen allein 54 aus der Stadt zu Grunde, wie viel fremde, hat nie genau ermittelt werden können. Unter den Letztern waren Franzosen und Fuhrleute aus Gotha, ein Bürgerssohn und drei Knechte. Drei Handwerksbursche waren eine Stunde vorher in einem Gasthofe am Georgenthore eingekehrt, hatten gegessen und ihre Felleisen dem Wirthe übergeben, weil sie sich an dem schönen Abend in der Stadt umsehen wollten. Sie sind nie wiedergekehrt. Draußen in der Vorhalle der Gottesackerkirche lagen die gräßlich verstümmelten aus dem Schutt gegrabenen Leichen zur Recognoscirung ausgestellt, für mich, den weichherzigen Knaben, ein schrecklicher Anblick. Noch ist mir eine Leiche erinnerlich, an welcher ein Stück seiner seidener Hosenträger erhalten war. Sie konnte nicht erkannt werden; wahrscheinlich war es die eines französischen Beamten. Außer einem Bekannten, dem jungen Helmert, schmerzte mich am meisten der Untergang einer jungen Dame von wunderbarer Schönheit aus einer der ersten Familien der Stadt. Bekannt ist der eigenthümliche Eindruck, welchen hohe Frauenschöne auf empfängliche Knabenherzen hervorzubringen pflegen. Ich hatte dieses Mädchen einmal gesehen und war von ihrer ernsten erhabenen Schönheit wie berauscht. Man erzählte, sie habe wenige Minuten vor der Katastrophe einer Freundin, mit welcher sie zusammen bei der Tochter einer vornehmen Familie zum Besuch war, eine merkwürdige Todesahnung ausgesprochen. Die Freundin hatte noch eine Fremde, ein junges Mädchen, das bei ihr zum Besuch war, mitgebracht. Plötzlich empfand sie einen unwiderstehlichen Trieb, mit ihrem Besuch die Gesellschaft, in welcher es ihr wohl gefiel, zu verlassen. Als Ursache gab sie eine allgemeine Beängstigung an. Da soll die Schöne, deren Reize einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, geäußert haben: auch ihr sei es, als müsse sie gleich in den Tod gehen.
Kaum hatte die Freundin mit ihrer Begleiterin ihre Wohnung erreicht, als die Explosion geschah. Die Zurückgebliebenen, die Hausfrau mit ihrer Tochter und eben der holden Schönen, waren die Beute des schrecklichsten Todes. Die liebenswürdige junge Dame war die zärtlich geliebte Tochter eines wegen seiner Verdienste allgemein verehrten Mannes. In der Parterrewohnung wurden der Hausbesitzer, dessen Ehefrau, ein Kind und eine Magd getödtet. In diesem Hause hatte der Tod allein acht Menschenleben als Opfer gefordert, und welch ein herrliches war darunter! Ich stand tief ergriffen dabei, als man aus dem Schutte dieses Hauses einige Häuflein weißgeglühter feiner Menschenknochen hervorholte. Die zartesten davon wurden als die der so hochgefeierten und nun so tief betrauerten Schönen erklärt. Viele Jahre habe ich eins dieser Knöchlein, das ich mir angeeignet, und das hell wie eine Glasröhre klang, aufbewahrt. Wahrlich, früh schon sah ich in die schauerlichen Tiefen des Lebens!
Bei weitem die Mehrzahl der der Stadt angehörigen Todten waren aus der vornehmern Classe und aus den angesehenern Bürgerfamilien. So wurde in einem andern Hause die ganze aus sieben Köpfen bestehende Familie, Vater, Mutter, vier Kinder und eine Magd, in das schwarze Verhängniß gerissen. In einem dritten wurde ein Brautpaar mit der Mutter und der Schwester der Braut durch den Einsturz getödtet. Eine Wittwe erfuhr dasselbe Schicksal mit ihrem Sohne und ihrer Magd; die eben abwesende Tochter blieb allein von der Familie am Leben. Ein junger Mensch, der in der Nähe der Explosion durch die Straße ging, wurde zerstückt weit fort geschleudert. Einem Kaufmannsdiener, der in einem der nächsten Häuser ausräumen half, raubte eine später entzündete scharfe Patrone noch das Leben.
Die Zahl der schwer Verwundeten und zum Theil schrecklich Verstümmelten betrug über 20; die der leicht Verwundeten wohl dreimal mehr. Einem jungen Manne, der sich in dem der Schreckensscene nahen Kaffeehause befand, wurden durch eine Kugel die linke Wange und beide Augen weggerissen; der furchtbare Blitz war das letzte Licht, das er sah. Eine der sonderbarsten und gewaltsamsten Beschädigungen war die, welche ein vor der Thüre seiner Herrschaft wenigstens hundert Schritte von der Explosion stehender Diener erfuhr, indem ihm der abgerissene Fuß eines Pferdes mit dem Hufeisen in den Unterleib geschlagen wurde.
Aber auch Beispiele merkwürdiger und schier wunderbarer Rettung kamen vor. In dem oben zuerst erwähnten Hause, in welchem die junge Schöne das Ziel ihres Lebens fand, war im Seitengebäude eine Magd beschäftigt. Beim Blitz und Donnerschlag der Explosion und dem entsetzlichen Krachen der einstürzenden Häuser schlug sie vor Schrecken die Hände über dem Kopfe zusammen, und hielt dadurch einen herabstürzenden Balken davon ab, der ihn wahrscheinlich zerschmettert haben würde. Zur Thüre herausgesprungen, hörte sie in einer nahen, bereits brennenden Kammer das Geschrei zweier schon zu Bette liegenden Kinder. Sie eilt hinein, nimmt auf jeden Arm eins, und erreicht glücklich die Straße. Aus demselben Gebäude wurde auch die schon lange krank darnieder liegende Mutter des Hausbesitzers gerettet.
In dem uns befreundeten Hause des Glasermeisters Helmert ereignete sich Folgendes: der Mann war ausgegangen; die Frau war im Begriff, mit drei Kindern zu Bette zu gehen. In einem andern Zimmer wohnte ein Gymnasiast, bei welchem eben eine arme Frau war, um sich einen Brief von ihm schreiben zu lassen. Alle kamen um bis auf Frau Helmert, die in den Keller hinabstürzte, und zwischen zwei im Fallen angelehnte Balken zu liegen kam, die sie vor dem Erschlagen schützten. Durch eine Lücke sah sie das aufglühende Feuer und arbeitete sich hervor, mit der Sorge, wie sie nun aus dem zweiten Stock, wo sie noch zu sein wähnte, auf die Straße kommen möchte. Allein im Fortkriechen kam sie auf ein todtes Pferd, und wurde nun inne, daß sie sich schon im Freien befand. Sie raffte sich auf und sah sich von Menschen umringt, die ihr eine Hülle überwarfen, denn das Hemd war ihr bis auf einen Fetzen vom Leibe gebrannt. Man führte die Unglückliche in ein Haus am Markt. Hier traf sie auf ihren nach Hause eilenden Mann, dem sie zurief, die Kinder zu retten. Er fliegt an die Stätte seiner Wohnung, und findet sie von Flammen überloht. Da ist jede Rettung unmöglich. Der Mann zerdrückt die Thränen im Auge und spricht: „Gott hat mir meine Lieben genommen. Wohlan, so will ich für meine Mitbürger thun, was ich vermag!“ Und so eilt er an seinen Posten als Spritzenmeister und arbeitet die ganze Nacht unermüdlich, wodurch er nicht wenig zur Dämpfung des Feuers beiträgt. Ich sah später die Brust dieses edlen Mannes mit einem Ehrenzeichen Karl August’s, seines Fürsten, geschmückt. Wahrlich, hier war’s an der rechten Stelle, wie selten!
Ein Greis, der auf die löbliche Hausvatersitte hielt, jeden Abend seine Hausthür selbst zu verschließen, hatte dieses Geschäft eben vollbracht, als die Gewalt des entzündeten Pulvers das schwere Hausthor über ihn herwirft. In demselben Augenblicke stürzt aber auch von der Decke der Hausflur ein dicker Querbalken herab, auf welchen der obere Theil des Thores zu liegen kommt, so daß der in die Höhlung gedrängte Greis gerettet ist.
Ein junges Ehepaar sitzt kosend auf dem Sopha, als der fürchterliche Schlag geschieht, und der Boden unter den Füßen weicht, die Decke herabbricht. Die Gatten erfassen sich entsetzt, und sind plötzlich unter krachenden Trümmern unten auf der Straße, sie wissen nicht wie. Sie fahren empor, und finden sich vor der Thüre des gegenüberliegenden Hauses, dessen Bewohner eben mit blutenden Köpfen herausstürmen; denn Dach und Decke sind über ihnen zusammengefallen. Das junge Ehepaar erreicht, nur leicht verletzt, das Elternhaus des Mannes am Markt. Dort stand die Leiche des Tags zuvor verstorbenen Vaters auf der Bahre. Die Wittwe unterhielt sich mit ihrer Schwester daneben. Da zuckt der Blitzstrahl, der Schlag fällt, die Fenster zersplittern, Flammen schießen auf, Gekrach und Geschrei. Die Wittwe ruft der Leiche zu: „So werde ich heute noch mit Dir vor Gott stehen, der da kommt zu richten die Lebendigen und die Todten!“ – Als die Explosion endlich natürlich erklärt wird, schreit die arme Frau nach ihrem Sohne und dessen junger Gattin auf. Sieh, da öffnet sich die Thür, und beide treten herein.
Wären die Wagen in der Jüdengasse oder nur einige Schritte früher, vor dem Gasthofe zum halben Monde, explodirt, so wäre die Zahl der Todten weit stärker gewesen. In dem genannten Gasthofe waren nämlich über 30 der angesehensten Männer zu einem geselligen Mahle versammelt, und das ganze Haus voller Menschen.
Der Schaden, in Geld angeschlagen, war sehr groß; man schätzte ihn über 200,000 Thaler. Die zertrümmerten Fenster konnten allein nicht unter 10,000 Thaler wieder hergestellt werden. Die schöne Stadt war erst schon durch widrige Conjuncturen verarmt. Der entsetzliche Schlag traf sie sehr hart.
[692] Drei Jahre später stand ich in derselben Straße vor den neuerbauten, stattlichen Häusern, als die ersten flüchtigen Franzosen aus der Leipziger Schlacht elend und jämmerlich vorüber zogen. Aus den Fenstern der neuen Häuser sahen ihnen fröhliche Gesichter nach. Siehe da ein bedeutungsvolles Stück Weltgeschichte im Kleinen!
Das arabische Pferd. Das arabische Pferd zeichnet sich durch einen zierlichen Kopf mit spitzen Ohren, musculöse, aber fein geformte Glieder, eine schlanke, nicht große Gestalt und breite lebhafte Augen aus, die, wie beim Hunde, jene Intelligenz verrathen, welche aus dem fortwährenden Zusammenleben mit seines Herrn Familie hervorgeht; in der That theilt es auch gewöhnlich die Mahlzeit mit ihr. Man gestattet ihm, wie einem Hunde, im Freien herumzuspringen; ein andermal stellt man es als Wache vor das Zelt. Es wird zu jeder Zeit dem Wetter ausgesetzt und im Vergleich zu seinen europäischen Stammgenossen spärlich gefüttert. Nach Sonnenuntergang erhält es in einigen Gegenden Gerste, in anderen Kameelmilch oder einen Brei von Datteln und Wasser, der mit trockenem Klee oder anderen Kräutern gemischt wird. Steht aber eine besondere Strapaze bevor, so gibt man ihm Fleisch, rohes und gekochtes.
Die Beduinen zählen fünf edle Racen, die aber ursprünglich aus Nedschd stammen, nämlich die Taneyse, Manekeye, Koheyl oder Koklani, Saklawye und Julfa, von denen die letzteren und die Koklani am meisten geschätzt werden. Das Julfa-Pferd, ein kleines lebhaftes Thier, das große Anstrengungen ertragen kann, gehört der Provinz El Ahsa, das andere, ein wenig größer, der Provinz Yemen oder eigentlich Nedschd an. Nun gibt es mehrere Seitenäste dieser vornehmsten Race und auch andere zweiten Ranges, ja, jede Stute von edlem Blut, wenn sie besonders schnell und schön ist, kann einen neuen Stamm begründen. Die Liste dieser verschiedenen Stämme ist wahrhaft endlos, denn die Abkunft jedes einzelnen Pferdes wird durch Certificate bezeugt, die vom Vater auf den Sohn übergehen und sehr sorgfältig aufbewahrt werden. Nicht selten gehören sie mehr als einer Familie, denn die Partnerschaft im Besitz von Stuten ist häufig. Daher wird es so schwierig, dergleichen an sich zu bringen. Es steht indessen fest, daß die arabischen Pferde verlieren, sobald man sie in andere Länder bringt, selbst wenn Vater und Mutter zur vorzüglichsten Race gehören. Die Araber bestimmen die Race nach der Mutter. Die Zahl der Pferde ist in Arabien verhältnißmäßig gering; für Reisezwecke vertritt überall das Kameel ihre Stelle.
Ueber die Schnelligkeit und Ausdauer der arabischen Pferde ist schon viel erzählt worden. Wir fügen hier ein paar Anekdoten bei, welche weniger allgemein bekannt sind.
Ein schlecht gekleideter, ein mageres Pferd reitender Araber kam zu Isset Pascha, der ein großer Pferdeliebhaber ist.
„Ich weiß,“ sagte der Araber, „daß Du für Deinen Marstall schöne und gute Thiere suchst. Betrachte dasjenige, welches ich reite; ich stelle es Dir zum Kauf und fordere dafür 45,000 Piaster (circa 2700 Thlr.)“
Ungeachtet seines natürlichen Ernstes lachte Isset laut und erwiderte:
„Du bist ein Narr, Kerl; Dein Pferd ist eine Schindmähre, für welche ich nicht mehr als 500 Piaster gebe.“
„Du wirst mir 45,000 geben, wenn Du es erst kennen lernst,“ erwiderte ruhig der Araber. „Befiehl, daß Deine besten Pferde gegen das meinige eine Strecke von zwei Wegstunden laufen; ich wette, daß es allen eine halbe Stunde vorauseilt.“
Der Wettlauf wurde veranstaltet und des Arabers Pferd zeigte sich so überlegen, daß der Pascha nicht anstand, den Preis zu bewilligen und die 45,000 Piaster auszahlte.
„Das ist noch nicht Alles,“ sagte der Araber, indem er seinen Renner wieder bestieg. „Befiehl Deinen Soldaten, mich wie einen Feind zu verfolgen und auf mich zu schießen; Du wirst sehen, wozu mein Thier fähig ist.“
Es geschah, wie er verlangte. Man verfolgte ihn mit Flintenschüssen, jedoch ohne ihn zu treffen. Plötzlich schien er zu schwanken, der Zügel entfiel seinen Händen, er fiel auf die Erde, wo er, sich todt stellend, liegen blieb. Das Pferd stand alsbald still, es betrachtete und beroch seinen Herrn; darauf begann es, ihn zu vertheidigen, indem es ausschlug und die Soldaten beißen wollte, sobald sie sich näherten. Nachdem es die Angreifer vertrieben hatte, beroch es seinen Herrn von Neuem, wendete den Körper mit der Schnauze und schien zuletzt das Ohr dem Munde der Reiters zu nähern, als erwarte es einen Befehl. Plötzlich richtete es sich auf, stieß ein triumphirendes Wiehern aus, ergriff den Körper vorsichtig am Halse und schleppte ihn so einige hundert Schritte fort.
Der Pascha war beim Anblick des ganzen Vorganges entzückt über seinen Kauf; ja, sein Gewissen machte ihm sogar Vorwürfe, daß der gezahlte Preis im Verhältniß zu dem Werthe desselben zu gering sei. Allein die Scene änderte sich plötzlich. Der Araber stand auf, sprang leicht in den Sattel, streichelte sein Thier mit der Hand und stieß einen kurzen Schrei aus. Dies war ein Commandowort, in Folge dessen das Pferd, obgleich mit der Geldsumme beladen, wie ein Pfeil der Wüste zuflog, indem es seinen Lauf durch ein Thal nahm, wo es allen Blicken entzogen war.
Der Türke verräth seine innere Bewegung kaum, aber er ist rachsüchtig. Man kann sich leicht die Wuth Issets denken, der hier zugleich sein Pferd und sein Geld verlor, ja der sich gefoppt und geprellt sah. Er sandte in aller Eile Reiter zur Verfolgung der Flüchtigen ab. Acht Tage vergingen ohne allen Erfolg. Isset fing schon an, zu vergeben, indem er die Sache vergaß, als ganz unerwartet der Araber mit seinem Mitschuldigen und einem Kameele vor ihm erschien.
Der Araber grüßte ihn ehrfurchtsvoll und sprach: „Du hast mich für unehrlich gehalten; ich muß Dir mein Benehmen erklären. Die Wüste liegt zwischen hier und meinem Stamme. Zudem ich mich mit dem von Dir gezahlten Gelde dahin begab, lief ich Gefahr, beraubt, vielleicht ermordet zu werden, ein Schlachtopfer umherstreifender Räuberbanden. Dieser Gefahr konnte mich allein mein Pferd durch seine Schnelligkeit entziehen. So bin ich nach Hause geeilt, um meine Piaster in Sicherheit zu bringen. Jetzt kehre ich zurück, um Dir ein von Dir erworbenes Eigenthum, woran ich kein Anrecht mehr habe, zuzustellen.“ Dabei trat eine Thräne in das Auge des Arabers. „Verzeihe meine Schwäche, Pascha!“ sagte er, „ich verliere heute einen Freund; dieses Kameel ist in meinen Augen nur ein Diener, der mich zu meinem Zelte zurückbringen wird.“
Bekanntlich bilden sich die Engländer – und auch vielfach mit Recht – nicht wenig auf ihre Pferde ein; dennoch können diese mit der echt-arabischen Zucht in gar keine Vergleichung kommen, wie sich aus folgender Anekdote ergibt: Während Kurschid Pascha Gouverneur des Nedschd war, machten einige Engländer, die Vollblutpferde bei sich hatten, den Arabern den Vorschlag, mit ihnen zu rennen. Diese willigten auch ein, und die Engländer verlangten nun einen Aufschub von 40 Tagen, um ihre Pferde in Bereitschaft zu setzen. Die Araber, deren Renner stets bereit sind, begreifen nicht, was das heißen soll, gestehen aber den Termin zu, und am bestimmten Tage kommt man zusammen. Die Beduinen lassen die Engländer unter ihren Pferden wählen, welche rennen sollen, und fragen, wie viel Tage das Rennen dauern solle. Jetzt war es an den Engländern, zu staunen und sie erwiderten: „Wir rennen nur eine Stunde.“
Darüber brachen die Beduinen in ein Gelächter aus und meinten, es verlohne sich schlecht der Mühe, die Pferde erst 40 Tage lang vorzubereiten, und dann nur eine Stunde lang zu rennen. Die Engländer erklärten aber, das sei einmal bei ihnen Sitte, und nach einer solchen Vorbereitung von 40 Tagen würden die englischen Pferde selbst die arabischen besiegen, wie sie alle europäischen besiegten. Die Beduinen lachten; als aber zwei Thiere, vom Kopf bis zu den Füßen ganz in Filz gehüllt, von zwei schmächtigen, kaum menschlichen Wesen, den englischen Grooms, herbeigeführt wurden, lachten sie noch weit mehr über die hochbeinigen hageren Thiere, glaubten, man wolle sie foppen, und es bedurfte aller Zureden des Kurschid Pascha, um sie zu vermögen, in ein Rennen zu willigen. Während der hagere Groom sein fast eben so hageres Pferd besteigt, schwingt sich ein stämmiger Beduine mit der Lanze in der Hand auf ein Pferd gewöhnlicher Größe. Man bestimmt, daß das Rennen drei Stunden dauern solle, und auf ein gegebenes Zeichen beginnt es. In der ersten halben Stunde sind die Engländer ihren Gegnern vor, bald aber holen die Nedschids sie ein, kommen ihnen endlich zuvor, und die Engländer langen erst lange Zeit nach den Arabern am Ziele an. Die englischen Pferde sind athemlos und bleiben stockstill stehen, während die Nedschids munter und ungeduldig sind, den Boden stampfen und ihre Gegner zu neuem Kampfe herauszufordern scheinen. Die Araber selbst zuckten die Achseln über Pferde, welche ein Ritt von drei Stunden dienstunfähig machte.
K. in Rbg. – Jbkg. in Kd. – Mtk. in Gl. – Mchbch. in Sol. – Der Verfasser des in Nr. 43 unserer Zeitschrift abgedruckten Artikels: „Die plastische Kohle“ theilt uns auf die vielen deshalb an ihn gerichteten Anfragen vorläufig mit, daß der Erfinder, Herr Bühring in London, das Weitere über Bezug, Preis etc. der Wasserfiltrirapparate in der Gartenlaube bekannt machen wird, sobald die von ihm für Deutschland erbetene Patentirung in seinen Händen sei.
J. F. 2. Wie oft sollen wir noch wiederholen, daß wir Gedicht-Manuscripte niemals zurückgeben. Wir bitten dringend, dies endlich zu beachten.
G. in W. Der deutsche Grenadier. Gedanke und Tendenz sehr schön und lobenswerth, aber die Form mehr als nachlässig. Alter Freund, das ist keine Poesie.
A. in Frankfurt. Aus der Katastrophe in Mainz bringen wir zwei größere, mit Genehmigung des dortigen Gouverneurs photographisch aufgenommene Abbildungen. Für den Text haben wir die Feder eines Schriftstellers gewonnen, der Augenzeuge der Explosion war und selbst davon betroffen wurde.
M. in Dresden. Die Charakteristik Cavaignac’s kömmt zu spät und durfte jetzt wenig Interesse mehr haben. Auch stimmen wir durchaus nicht mehr mit Ihren Ansichten überein. Cavaignac’s Rolle war ausgespielt; nach beiden Seiten hin unmöglich geworden, blieb ihm nichts als der Ruhm eines ehrlichen uneigennützigen Mannes. Vielleicht wäre dieser Ruhm zur Standarte geworden, um die sich bei einer neuen Erhebung die Massen geschaart hätten und deshalb kann der Neffe des Onkels jetzt ruhig schlafen, denn auf dem Grabe der uneigennützigen Tugend steht das schwankende Gebäude seines Kaiserthums sicherer als zuvor.
Avis für Oesterreich. Die Gartenlaube bringt keine Anzeigen, und wird deshalb steuerfrei bleiben.
- ↑ Die Abbildung des Schlosses Friedland entnahmen wir mit Genehmigung des Herrn Verlegers dem in Olmütz bei Ed. Hölzel erscheinenden Prachtwerke: „Malerisch-historisches Album des Königreichs Böhmen,“ eine Sammlung nach der Natur aufgenommener und künstlerisch ausgeführter Ansichten der historisch-wichtigsten und landschaftlich schönsten Schlösser, Burgen und Städte Böhmens, auf die wir hiermit alle unsere Leser aufmerksam machen. Kunst und Geschmack haben sich in diesem Prachtwerke in einer Weise geeinigt, wie bei wenigen Unternehmungen ähnlicher Art, die, was künstlerische Auffassung und Ausführung anlangt, sich kaum mit diesem Album werden messen können. Wenigstens kennen wir augenblicklich im deutschen Buchhandel kein Unternehmen ähnlicher Art, das sich dem böhmischen Album ebenbürtig zur Seite stellen könnte. Die beiden Landschafter Haun aus Berlin und Kaliwoda aus Wien haben eigens zu diesem Zwecke das böhmische Land bereist, und sämmtliche Aufnahmen nach der Natur gezeichnet. Geistreiche Auffassung und Behandlung bei gewissenhafter Detailzeichnung sind Vorzüge, die fast ohne Ausnahme allen diesen Kunstblättern nachzurühmen sind. Um Charakter und Stimmungen der verschiedenen landschaftlichen Bilder möglichst getreu wieder zu geben und dabei die schönsten, aber immer künstlerischen Effecte zu erzielen, haben die beiden Künstler zur Vervielfältigung ihrer Aufnahmen die Lithographie und zwar die weiche Kreidemanier gewählt, mit welcher sie vermittelst des doppelten Tondrucks die mannigfaltigsten Abwechselungen in Effect und Stimmung erreichten. Einzelne dieser Blätter, u. A. die reizend ausgeführte Winterlandschaft: Bösig, dann der Schreckenstein, der Burghof von Klingenberg sind wahrhafte Kunstwerke, die einen der Aquarelle ähnlichen Eindruck machen.
Die schönen Abbildungen werden von einem Text begleitet, der mit Gewissenhaftigkeit und Fleiß gearbeitet alles historische Material bietet, was zur nähern Kenntniß der aufgenommenen Burgen, Schlösser und Ortschaften von Interesse ist. Bereits sind 7 Hefte (das Heft mit 3 Abbildungen kostet 2 Gulden) erschienen, welche zusammen folgende Abbildungen bringen:
Schloß Friedland. – Barbarakirch in Kuttenberg. – Burghof von Klingenberg. – Burg Karlstein. – Schloß Reichstadt. – Neuhaus. – Schloß Blatna. – Schloß Tetschen. – Reichenberg. – Schloß Eisenberg. – Hohenfurth. – Burgruine Bönig. – Schloß Raudnitz. – Toenik und Zebrak. – Burgruine Schreckenstein. – Burg Bürglitz. – Burg Sternberg. – Burg Rosenberg. – Hradschin in Prag. – Burg Klingenberg (Totalansicht). – Schloß Zleb. – D. Red.
- ↑ Das Mainzer Unglück veranlaßt uns, diesen Artikel aus L. Storch’s Denkwürdigkeiten abzudrucken. D. Red.