Die Gartenlaube (1857)/Heft 49
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No. 49. | 1857. |
Der verhängnißvolle Schatten.
Die Familie Hornburg war reich begütert. Außer dem alten Schlosse, das aus der Feudalzeit herstammte, und früher einem jetzt ausgestorbenen Grafengeschlecht gehört hatte, besaß sie noch verschiedene einträgliche Meiereien, große, gut bestandene Waldungen, Eisen- und Kohlenwerke, und endlich eine Reihe von Bretschneidemühlen, deren Anlage der starke Gebirgsfluß mit seinem natürlichen Gefälle überaus begünstigte. Der ältere Hornburg, der in hohem Alter verstarb, hinterließ drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Diese und den jüngeren Sohn, Ottwald, hatte ihm seine zweite Frau, eine Dame von altem, aber verarmten Adel, geboren. Der ältere Sohn, Cesar, war der Sprößling seiner ersten Frau, einer Bürgerlichen von großem Vermögen.
Beim Tode des alten Herrn fand sich leider kein Testament vor, und obwohl die Halbgeschwister sich immer, so viel man wußte, gut vertragen hatten bei Lebzeiten des etwas wunderlichen Vaters, trat doch jetzt alsbald eine Spannung ein, die sich mehr und mehr verschlimmerte. Die Geschwister konnten sich über die ihnen zugefallene Erbschaft nicht einigen. Cesar war herrsch- und habsüchtig, und da ihm von seiner früh verstorbenen Mutter ein bedeutendes Vermögen zugefallen, er also an sich schon der Bevorzugtere war, so ließ er jetzt den weniger besitzenden Halbgeschwistern diese seine Überlegenheit in recht unangenehmer Weise fühlen.
Den Besitz des Schlosses, dem der verstorbene Hornburg einen modernen Anbau schon vor seiner zweiten Verheirathung angefügt hatte, machten die jüngeren Geschwister dem Bruder nicht streitig, wohl aber beanspruchten sie, wozu sie jedenfalls berechtigt waren, ein paar der einträglichen Meiereien mit den dazu gehörigen fruchtbaren Feldern, Wiesen und Waldungen. Cesar jedoch behauptete, ihm als dem ältesten Bruder gehörten von Rechtswegen alle Besitzungen des verstorbenen Vaters ohne Ausnahme, und er wäre schon sehr generös und freigebig, wenn er jedem seiner Halbgeschwister außer einer Baarsumme noch eine der am Bergflusse gelegenen Schneidemühlen nebst einigem schlecht cultivirten Ackerland gäbe. Auch dazu könne ihn Niemand zwingen, er wolle es jedoch thun aus geschwisterlicher Liebe und damit man keine Veranlassung habe, ihn habsüchtig zu schelten.
Die jüngeren Geschwister konnten begreiflicher Weise auf diesen Vorschlag nicht eingehen, wenn sie sich nicht selbst enterben wollten. Bitten und Vorstellungen fruchteten indeß bei dem hartnäckigen Cesar eben so wenig, als Drohungen, und so kam es denn schon wenige Monate nach dem Tode des Vaters zwischen den Geschwistern zum unheilbaren Bruch. Ottwald und seine Schwester Cornelie verließen grollend das Schloß, zogen in die nur eine Stunde entfernte Stadt, und übergaben hier ihre Angelegenheiten einem gewandten und anerkannt gewissenhaften Rechtsanwalt.
Es begann nun ein Proceß, der große Summen verschlang und die streitenden Geschwister gewaltig gegen einander erbitterte. Cesar gerieth jedoch bald in Nachtheil, denn obwohl sein Rechtsbeistand ein Mann von seltenem Scharfsinn war, fiel doch schon das erste richterliche Erkenntniß gegen ihn aus. Cesar aber ließ sich dadurch nicht irre machen. Er appellirte und der Proceß erneuerte sich vor der zweiten Instanz. Die jüngeren Geschwister befanden sich in keiner beneidenswerthen Lage. Sie konnten, wenn das Gericht anderer Ansicht war, gänzlich verarmen, und mußten sich noch bedanken, wenn dann der hartherzige und siegreiche Halbbruder ihnen aus Gnade einen dürftigen Jahrgehalt aussetzte.
Es kam indeß anders. Cesar verlor auch in zweiter Instanz den Proceß, ward in sämmtliche Kosten verurtheilt, und angehalten, gewisse liegende Gründe, Waldungen, Feldmarken etc., die genau bezeichnet wurden, seinen jüngeren Geschwistern herauszugeben.
Nach diesem Spruch rieth dem höchlichst ergrimmten Cesar sein Rechtsbeistand, die Streitsache fallen zu lassen, sich zu fügen, und mit den Geschwistern sich zu versöhnen. Er erklärte dem Streitsüchtigen, daß eine abermalige Appellation kein glücklicheres Ende nehmen könne und daß er deshalb auch gar nicht geneigt sei, ihn fernerhin zu vertreten. Cesar Hornburg nahm diese Erklärung sehr mißmuthig auf. Er bat sich Bedenkzeit aus, wandte sich während derselben an verschiedene Rechtsgelehrte, um deren Ansicht zu hören, erhielt aber von Allen fast dieselbe Antwort.
Da beschloß Cesar, sich mit den Geschwistern zu vergleichen, um doch nicht streng dem Ausspruche des Gerichts nachkommen zu müssen. Er schrieb in versöhnendem Tone an Bruder und Schwester, lud sie ein, zu ihm zu kommen, und schloß mit der Versicherung, daß er fortan wieder als Bruder in Freundschaft mit ihnen leben und alles Vorgefallene vergessen wolle.
Ottwald und Cornelie antworteten in gleichem Tone. Sie waren längst des Streites herzlich überdrüssig, und hatten während des Processes genug leiden müssen. Mit freundlichen Worten zeigten sie dem Bruder an, daß sie seiner Einladung ungesäumt folgen würden.
Dieser glücklichen Wendung und unerwarteten Sinnesänderung freuten sich auch die verschiedenen Pachter der Mühlen- und Kohlenwerke, die oft von dem stets verdrießlichen Cesar sehr barsch, [666] ja zuweilen sogar hart behandelt worden waren. Sie beglückwünschten Alle den Schloßherrn, als sie Kunde von seinem Entschlusse erhielten. Cesar ließ dies zwar geschehen, er sah aber gar nicht froh dazu. So recht aus dein Herzen mochte der Schritt, den er zu thun Willens war, doch wohl nicht kommen.
„Mir ist’s dennoch lieb, daß der Streit aufhört,“ sprach Caspar, der gegenwärtige Inhaber des schönen Mühlenwesens, das dem alten Schlosse gerade gegenüber lag, nur getrennt von dem hier felsigen Uferbett, zu seiner Frau. Man konnte aus dem Mühlhause bequem in die Fenster des Schlosses sehen, und einander sogar zurufen. „Wir bekommen jetzt einen andern Herrn, mit dem sich’s gewiß viel leichter umgehen läßt. Herr Ottwald Hornburg war immer sehr leutselig und weitaus nicht so interessirt, wie sein älterer Herr Bruder. Er ist mehr nach dem seligen Herrn Vater geschlagen, der seinen Leuten auch eher etwas schenkte, als abknappte. Erhält also Herr Ottwald oder seine Schwester die Mühle, was kaum zu bezweifeln ist, so bekommen wir bessere Tage, und um die Zukunft brauchen wir uns nicht weiter zu sorgen.“
Cesar Hornburg empfing seine Halbgeschwister mit größter Zuvorkommenheit. Er hatte in der alterthümlichen Halle des alten Schlosses, wo der verstorbene Schloßherr vor Aufführung des mit demselben verbundenen Neubaues stets zu speisen pflegte, ein solennes Festmahl anrichten, und die lebensgroßen Portraits sowohl des Vaters, wie beider ihm vorangegangener Frauen mit Immergrünguirlanden umwinden lassen. Da er nicht verheiratet war, überließ er sowohl die Ausschmückung der Halle wie die Einrichtung der Zimmer für die Geschwister seinen Untergebenen, mit denen er auf keinem vertrauten Fuße stand. Daher liebten diese auch den Schloßherrn nicht. Sie nannten ihn hart und geizig, beschwerten sich über seinen Stolz und bezichtigten ihn der Herzlosigkeit. Veranlassung zu letzterer Behauptung gab wohl die nicht selten an wirkliche Unbarmherzigkeit grenzende harte Behandlung seines Viehes. Indeß konnte dies bei dem reizbaren und zum Jähzorn geneigten Manne auch Folge der düsteren Gemüthsstimmung sein, in die er durch die unglückliche Wendung des begonnenen Processes versetzt worden war.
Die Geschwister, froh, mit dem Bruder wieder in Frieden und Eintracht leben zu können, brachten Cesar ein offenes Herz entgegen. Schon vor ihrer Abreise waren sie mit einander übereingekommen, sich in jeder Hinsicht nachgiebig zu zeigen, und dem Bruder deshalb einige Grundstücke und Waldungen, die ihm besonders lieb waren, zu lassen, obwohl sie dieselben als ihnen zugehörig beanspruchen konnten.
Bei Tafel forderte Cesar die Geschwister mehr denn einmal auf, die Vergangenheit zu vergessen, und künftighin einträchtig zu leben. Die ausgebreiteten Risse und Pläne, auf denen das Areal der umfangreichen Herrschaft mit allen Pertinenzien, welche zum Theil der Vater erst durch Kauf erworben hatte, genau verzeichnet waren, wurden wiederholt betrachtet und geprüft, und die schon bereit gehaltenen Urkunden von sämmtlichen Geschwistern unterzeichnet. Noch ehe der Abend heran kam, war alles rein Geschäftliche beendigt. Ottwald sowohl wie Cornelie verzichteten aus freiem Entschlusse auf ein paar hoch im Gebirge gelegene Meiereien, die Cesar ihrer wunderbar schönen Aussicht wegen sehr liebte. Zwar weigerte sich der Bruder anfangs, das Geschenk der Geschwister anzunehmen, nach einigem Zureden aber fügte er sich deren Willen, und man konnte wohl bemerken, daß er es sehr gern that.
Cornelie verweilte nur einen Tag im Schlosse, dann eilte sie wieder nach der Stadt, wo sie mit ihrem rechten Bruder volle zwei Jahre in ziemlich drückenden Verhältnissen gelebt hatte. Es gab jetzt noch mancherlei zu ordnen, auch mußten Einkäufe gemacht werden, um sich wohnlich in den verödeten Häusern einrichten zu können. Bis dies geschehen war, worüber leicht ein paar Monate vergehen konnten, sollten nach Corneliens Rückkehr die beiden jüngeren Geschwister in den besten Zimmern des alten Schlosses als Cesar’s Gäste wohnen, während der neue Bau dem älteren Bruder und dessen Hausgesinde allein verblieb.
Das Leben der beiden Brüder gestaltete sich nunmehr sehr vertraulich. Es war die Zeit der Ernte, wo es alle Hände voll zu thun gab. Um nun rascher die Einheimsung beschaffen und die Arbeiter besser überwachen zu können, theilten sich die Brüder in die zu beaufsichtigenden Fluren. Gewöhnlich verließen sie schon früh am Morgen zu Pferde das Schloß, blieben während des ganzen Tages abwesend, und kehrten erst nach Sonnenuntergang wieder zurück. Dann arbeiteten sie noch eine Stunde zusammen, und trennten sich erst, wenn sie zur Ruhe gehen wollten, in bestem Einvernehmen.
Gegen das Ende der Ernte verwandte Ottwald seine jetzt nicht mehr sehr in Anspruch genommene Zeit auf die ihm und der Schwester zugefallenen Baulichkeiten. Hier gab es mancherlei Anordnungen zu treffen; auch mußte er Rücksprache mit den Pächtern nehmen, um zu erfahren, ob sein Vortheil ein Fortbestehen des Contractes oder eine Abänderung desselben erheische. Oberhalb der dem Schlosse gegenüber gelegenen Schneidemühle, wo sein Vater ein ganz allerliebstes Jagdhaus im schweizerischen Styl hatte erbauen lassen, wollte Ottwald künftig seine Sommerresidenz aufschlagen. Das Haus lag ihm sehr bequem, weil er alle seine Besitzungen und größtentheils auch die seiner Schwester von der rund um das Haus laufenden Gallerie übersehen konnte. Für den Winter aber blieben getroffener Abrede gemäß sämmtliche Geschwister in dem geräumigen Schlosse.
Beide Brüder waren leidenschaftliche Jäger, und da sie in ihren ausgedehnten Waldungen einen beträchtlichen Wildstand besaßen, konnten sie dem Vergnügen des Waidwerks nach Lust und Belieben nachgehen. Kaum war die Ernte gänzlich eingebracht, so geschah dies auch. Es verging selten ein Tag, wo die im vollkommensten Frieden lebenden Brüder nicht die Büchse ergriffen und sich in den Wald verloren. Gewöhnlich jagten sie gemeinschaftlich, manchmal aber zog es Jeder vor, nur sein eigenes Revier zu beschreiten, dann aber nahm sowohl Ottwald wie Cesar einen Jägerburschen aus der Försterei als Begleiter mit.
Auf solchen getrennten Jagden der Brüder ereignete es sich zweimal, daß mitten im dichtesten Walde eine Kugel hart an Ottwald vorüberpfiff. Nur ein glücklicher Zufall rettete ihm das Leben. Ottwald verheimlichte dem Bruder diese Vorfälle nicht, und äußerte darüber sein Bedenken.
„Es muß ein verwegener Wilddieb sein,“ sagte Cesar entrüstet.
„Aber ich habe doch Niemand im Verdacht,“ versetzte Ottwald. „Wenn ich noch Jemand gesehen oder ihm gedroht hätte!“
„Ich habe es gethan, und zwar schon vor Jahresfrist,“ sagte Cesar. „Wir sind von gleicher Größe und tragen gleiches Jagdcostüm. Die Kugeln haben mir, nicht Dir gegolten! Es soll uns aber eine Warnung sein. Von jetzt an wollen wir das vereinzelte Jagen aufgeben. Wenn wir gemeinschaftlich durch die Wälder pirschen, wird Keiner dieser gewissenlosen Gesellen den Muth haben, auf uns anzulegen. Ich glaube den Frechen zu kennen, aber ich habe keine Beweise in der Hand. Beträfe ich ihn ein einziges Mal auf unsern Revieren, so würde ich ihm ohne Gnade die wohlverdiente Strafe angedeihen lassen. Es ist jedenfalls einer der Grubenarbeiter oben von der Gebirgswiese. Er haßt mich, weil ich ihm grober Fahrlässigkeit wegen im vorjährigen Sommer den Lohn kürzte. Seit der Zeit wilddiebt er.“
Diese Auslassungen Cesar’s beruhigten Ottwald. Die Brüder jagten jetzt wieder gemeinschaftlich, und wirklich passirte den Vereinigten nichts wieder.
Inzwischen ward es sehr herbstlich. Cornelie traf wieder auf einige Tage im Schlosse ein und meldete den Brüdern, daß sie in spätestens vierzehn Tagen zu ihnen zurückkehren und sie dann nicht wieder verlassen werde.
„Da wollen wir vorher noch recht junggesellenmäßig leben, und uns noch einmal tüchtig austoben,“ sagte Cesar. „Unser Nachbar, Baron Uhlendorf, hält in nächster Woche eine große Treibjagd. Schon im vorigen Jahre lud er mich ein, einer solchen beizuwohnen und Theil daran zu nehmen. Ich war damals aber leider unwohl, so daß ich der freundlichen Einladung nicht folgen konnte. Diesmal sind wir ihrer Zwei, beide munter, und zwei flinke Jäger mehr bei solchem Treiben sind immer gern gesehene Gäste. Du bist doch mit von der Partie?“
„Gewiß,“ erwiderte Ottwald heiter. „Und wenn es uns gelingt, einen guten Schuß zu thun, soll es die erste Aufgabe unserer Schwester sein, uns eine Probe ihrer Kochkunst abzulegen.“
Das Treiben dauerte zwei volle Tage. Man erlegte eine Menge Wild, und die Jäger befanden sich in der fröhlichsten Stimmung. [667] Nur das Wetter war unangenehm. Es fiel fortwährend ein feiner Regen, der recht empfindlich ward, und sämmtliche Jäger bis auf die Haut durchnäßte.
Ottwald, der unter die eifrigsten Jäger zählte, mochte sich heftig erkältet haben. Schon auf dem Heimwege fühlte er sich nicht ganz wohl und am andern Morgen erwachte er im vollen Fieber.
Cesar wollte zum Arzte schicken, was jedoch Ottwald nicht zugab.
„Ich medicinire nicht gern,“ sagte er, „auch hat es ja gar keine Gefahr. Wenn ich mich ein paar Tage ruhig im Zimmer halte, geht die Erkältung schnell vorüber. Sorge nur für etwas Lectüre, damit ich mir die Zeit vertreiben kann.“
Diesen Wunsch des Bruders erfüllte Cesar mit größter Bereitwilligkeit. Das Wohnzimmer des Kranken stieß an das Bibliothekzimmer. Es waren die letzten zum alten Schlosse gehörenden Räumlichkeiten, hingen aber mit dem Neubau nur durch einen Corridor zusammen. Als Knaben hatten die Brüder ihre Lectionen in dem Bibliothekzimmer gemeinschaftlich gelernt und der Raum, wo Ottwald gegenwärtig wohnte, war ihr Schlafzimmer gewesen. Ein altes großes Himmelbett mit schweren Vorhängen stand noch jetzt in dem Gemache und diente Ottwald als Ruhestatt. Die Wände bestanden aus Tafelwerk und kunstvollen Holzschnitzereien, deren Betrachtung einem Einsamen wohl einige Zeit Unterhaltung gewähren konnte.
Cesar brachte, so oft seine Zeit es erlaubte, einige Stunden bei dem leidenden Bruder zu. Abends las er ihm gewöhnlich vor. Auch speisten die Brüder gemeinschaftlich im Zimmer des Kranken oder vielmehr Cesar genoß Mittag- und Abendbrod bei dem Bruder. Ottwald selbst fastete größtentheils, da er wirklich heftig litt. Nur zu trinken begehrte er häufig und Cesar bereitete ihm nicht selten mit eigener Hand einen kühlenden Trank.
Inzwischen ward das Wetter stürmisch und rauh. Es regnete ununterbrochen und bald schwoll der Gebirgsfluß zu einem tosenden Strome an, der weiter oben im Gebirge beträchtlichen Schaden anrichtete. Weiter unten im Thale hatten die Mühlenwerke von dem zu starken Wasserzuflusse zu leiden. Einige waren genöthigt, ganz zu feiern, um von den heftig stürzenden Fluthen nicht Alles zerstören zu lassen. Nur da, wo der Bach durch Schleußen und Schützen besser geregelt werden konnte, trat keine Unterbrechung ein. Die von Caspar gepachtete Schneidemühle gegenüber dem Schlosse feierte nicht. Man mußte aber sehr vorsichtig sein und Tag und Nacht ein Auge auf den Zustand des treibenden Baches und auf die Schützen haben, damit diese, je nach der Menge des zuströmenden Wassers, bald mehr gehoben, bald tiefer gestellt werden konnten.
Ottwald’s Befinden besserte sich nicht, und Cesar drang abermals in ihn, doch ärztliche Hülfe zu brauchen.
„Nur noch zwei bis drei Tage lasse mir Zeit,“ versetzte der Kranke. „Ich kenne meine Natur und bin fest überzeugt, daß ich mich nach Ablauf von sieben bis acht Tagen in der Besserung befinde. Es ist nichts, als eine starke Erkältung, die sich auf den Unterleib geworfen hat. Daher meine andauernde Appetitlosigkeit und mein immerwährendes Uebelsein.“
Cesar fügte sich dem Wunsche des Bruders, dessen Aussehen Besorgniß erwecken mußte. Seine Gesichtsfarbe ward fahl, das Auge glanzlos. Die Hände zitterten ihm und ein feuchter Schweiß drang aus allen Poren. Die gestellte Frist verstrich, ohne daß Besserung eintrat. Ottwald war vielmehr so schwach geworden, daß er das Bett nicht mehr verlassen konnte. Cesar blieb meistentheils bei dem Kranken oder gab einem seiner Leute Auftrag, sich auf dem Corridor aufzuhalten, wenn Beschäftigungen ihn abriefen. Ohne weiter zu fragen, schickte Cesar nach dem Ärzte.
Die Kunde von der Erkrankung des jungen Herrn war bereits in die nächste Umgebung des Schlosses gedrungen, und diejenigen, welche Ottwald von jeher lieber gehabt hatten, als den barschen, stolzen und meistentheils verschlossenen Cesar, unterließen nicht, sich täglich nach dem Befinden des Kranken zu erkundigen. Caspar namentlich, der hoch erfreut war, nach Aussöhnung der Geschwister künftighin nur mit Ottwald allein zu thun zu haben, erschien jeden Morgen persönlich im Schlosse, um nachzufragen, wie sein Herr die Nacht zugebracht und wie es ihm jetzt ergehe.
Bald nach Entsendung des Boten schien Ottwalds Befinden sich zu bessern. Er lächelte jetzt über des Bruders Aengstlichkeit und berief sich abermals auf die Kenntniß seiner Natur.
„Morgen bin ich ein ganz anderer Mensch, gib Acht,“ sprach er. „Wollte sich nur der Appetit wieder finden und die häßliche Uebelkeit mich verlassen, so fehlte mir gar nichts mehr. Ich gedenke diese Nacht gut zu schlafen, denn ich fühle mich merkwürdig müde. Darum will ich auch Niemand belästigen. Ihr Alle bedürft ebenfalls der Ruhe, Du namentlich, Cesar. Also laßt mich allein! Sollte ich Jemandes Hülfe bedürftig sein, so läute ich; ich weiß aber im Voraus, daß es nicht nöthig sein wird.“
Cesar wollte den Bruder durch Widerspruch nicht aufregen. Deshalb fügte er sich dem Wunsche des Kranken. Gegen zehn Uhr ließ er ihm noch von seiner Haushälterin Anna ein kühlendes Getränk bereiten, wovon Ottwald jedoch nur wenig genoß. Er gestattete indeß, daß ein zweites volles Glas noch neben sein Bett gestellt werde, damit er auch während der Nacht in jeder Hinsicht mit allem Nöthigen versehen sei. Als auch dies zweite Glas von der Haushälterin Anna gebracht und von Cesar versucht worden war, trieb Ottwald den Bruder fast mit Gewalt fort. Dieser verließ den Kranken nur widerstrebend und betrat nach zehn Uhr nochmals dessen Zimmer. Er fand den Bruder ruhig schlafend und befahl Anna, deren Zimmer dem Wohngemach desselben schräg gegenüber lag, sich möglichst ruhig zu verhalten, damit Ottwald in keiner Weise gestört werde.
Am Abende des Tages, wo der bedenkliche Zustand Ottwald’s die Hülfe eines Arztes zur Pflicht machte, hellte der Himmel sich auf und eine stille sternen- und mondhelle Nacht breitete ihre Fittiche aus über Schloß, Bergwald und Fluß, dessen hochgehende Wellen noch immer Vorsicht nöthig machten.
Caspar, der am liebsten selbst überall nachsah, blieb wach. Er vermuthete ein Fallen des Wassers gegen Mitternacht. Geschah dies, so konnte er die fast zu drei Viertheilen geschlossenen Schützen heben und das Werk rascher arbeiten lassen, ohne zu fürchten, daß die stürzende Welle Schaden anrichten werde. Um sich nicht zu langweilen, griff er zu seinem Reißbret und zeichnete den Entwurf eines Grundrisses. Da er die Fensterladen an seinem Zimmer nicht schloß, um stets das vorüberrauschende Wasser im Auge zu behalten, blieb das gerade gegenüber gelegene Schloß ihm in Sicht. Die weißen Mauern des neuen Gebäudes glänzten im klaren Vollmondschein, als wären sie von Schnee. Dagegen stachen die schwarzen Wände des alten Schlosses grell ab. Nur in den beiden Eckzimmern, die gerade nach dem Mühlenthale sahen und die nach beiden Seiten hin Fenster hatten, flimmerte das Mondlicht so hell, daß sie fast illuminirt erschienen.
„Der arme Herr!“ sagte Caspar, hinüberblickend nach den monderleuchteten Fenstern. „Was ihm nur zugestoßen ist! Morgen laß ich mich nicht abweisen! Ich muß wissen, wie es ihm geht, was ihm fehlt! Unser einer hat manchmal auch einen guten Einfall und weiß mit einem Hausmittel oft mehr auszurichten, als die studirten Doctoren mit all’ ihren künstlich zusammengesetzten Getränken!“
Jetzt schlug es drei Viertel auf Mitternacht. Caspar stellte sein Reißbret bei Seite und verließ das Zimmer, um nach dem Stande des Mühlbaches zu sehen. Wie er den Bach entlang schritt, bemerkte er Licht in einem Zimmer des neuen Schlosses. Dieses Licht bewegte sich von einem Zimmer in’s andere, einen dunkeln Schatten hinter sich werfend. Am Ende des Neubaues verschwand es auf kurze Zeit; dann ward es wieder sichtbar in jenem Eckzimmer, wo sich die Bibliothek befand. Bald aber schimmerte es nur noch sehr schwach und zwar so, als ob es auf die Diele gestellt werde. Darauf deutete auch der ungeheuerliche Schatten hin, der sich gespenstisch am Fenster bewegte. Plötzlich war es, als ob eine breite Wandfläche sich vor das mondbeschienene Fenster des Nebenzimmers stelle. Es war ein dunkler Schatten, der das Fenster ganz verdeckte und jetzt mithin völlig verdunkelte. Dieser feste Schatten blieb geraume Zeit stehen. Endlich trat er wieder zurück, machte dem Mondlicht Platz und verschwand. Es war nicht anders, als ob eine breite Thür sich in ihren Angeln drehe oder als ob Jemand einen Schirm deckend vor das Fenster stelle und dann wieder entferne. Gleich darauf flimmerte das Licht abermals in dem Bibliothekzimmer, verschwand hier schnell und tauchte abermals in der Zimmerreihe des neuen Schlosses auf, durch die es so eilig fortglitt, als werde es von Jemand getragen, der laufend die Räume durchschreite.
Caspar mußte wieder an Ottwald denken. „Am Ende ist [668] er kränker geworden,“ sprach er zu sich, „und man trifft Anstalten, noch jetzt in der Nacht einen Eilboten abzuschicken.“
Da indeß Alles ruhig blieb, auch im Schlosse kein Lichtschimmer sich wieder sehen ließ, ging der Mühlenpachter zurück in sein Zimmer. Hier blieb er noch eine Viertelstunde sitzen, bis der Knappe eintrat. Der junge Mensch hatte seinen Herrn um Erlaubniß gebeten, bis Mitternacht ausbleiben zu dürfen, unter dem Vorgeben, daß er einen Freund in der Nachbarschaft besuchen wolle. Das Aussehen dieses Menschen kam dem Bretmüller wunderlich vor. Er zeigte sich erschrocken, verstört, und da Caspar schon früher bemerkt hatte, daß er etwas furchtsam sei, fragte er scherzweise, ob ihm vielleicht unterwegs ein Geist begegnet wäre.
„Es kann wohl sein, Herr,“ versetzte der Knappe zerstreut, und Caspar empfahl ihm lachend, die zweite Hälfte der Nacht wachsam zu sein und nach Verlauf von drei Stunden die Schützen um noch einige Zolle zu heben, damit die Sägen rascher arbeiten möchten.
Um diese Zeit saß Cesar Hornburg wachend auf seinem Zimmer. Das vor ihm stehende Licht war tief herabgebrannt und dunstete. Vor ihm ausgebreitet lagen Rechnungen, Risse und ein Fascikel Acten. Der Tisch war zum Theil mit Zahlen beschrieben, die Cesar jetzt langsam wieder auslöschte. Er sprach kein Wort während dieser Beschäftigung, sie mußte ihn aber sehr interessiren und für ihn bedeutungsvoll sein, sonst hätte sein Auge nicht so hell funkeln können.
Jetzt stand er auf, zerriß die Rechnungen und warf die einzelnen Stücke in den Ofen. Das Actenbündel nebst den Rissen verschloß er in einem Schranke. Dann blickte er aus der Thür und lauschte. Da Alles still blieb, zog er sich wieder zurück, schnäuzte das Licht und stellte sich damit vor den Spiegel. Es ist thöricht, sich des Nachts mit einem brennenden Lichte im Spiegel zu besehen. Der blühendste Mensch sieht dann bleich, geisterhaft oder kränklich aus. Auch Cesars Bild hatte nichts Anziehendes. Der Schloßherr erschrak vor sich selbst und beinahe hätte er das Licht fallen lassen.
Cesar sah aber gar nicht krank aus, er bildete es sich nur ein. Das Licht und das weiße Spiegelglas neckten den blühenden, von Gesundheit strotzenden Mann mit fahler Todtenmaske. Zwei Mal noch sah er aus der Thür und horchte. Endlich ging er zu Bett, ohne jedoch den Schlaf zu finden, den er so heiß ersehnte.
Am nächsten Morgen erhielt Anna von ihrem Herrn den Auftrag, nachzusehen, ob sein Bruder noch schlafe. Die junge Haushälterin war über die Maßen erstaunt, den Schloßherrn so freundlich zu finden. Sie öffnete behutsam das Zimmer des Kranken, warf einen Blick auf das Bett und kehrte mit der Meldung zurück, der junge Herr schlafe so sanft, daß man ihn nicht einmal athmen höre.
„Die Natur hilft sich selbst, er wird genesen,“ versetzte Cesar. „Störe ihn Keiner, bis er die Glocke zieht!“
Cesar ließ sich sein Reitpferd satteln und ritt aus. Er wollte, da sich der Bruder offenbar in der Besserung befand, nöthige Geschäfte besorgen. Erst gegen Mittag durfte man seine Rückkehr erwarten. Die Mittagsstunde war jedoch längst vorüber, als Cesar aus dem waldigen Hohlwege in’s Thal hinabritt. Bei der Biegung der zum Schloß hinaufführenden Straße bemerkte er einen Trupp Menschen vor dem Schlosse, die lebhaft mit einander sprachen. Rasch sprengte er auf dieselben zu, forschende Blicke auf die Gruppe werfend.
„Was gibt es hier?“ fragte er die Nächsten.
„Es ist ein Unglück geschehen, Herr Hornburg,“ erwiderte Einer. „Ihren Herrn Bruder hat diesen Morgen der Schlag gerührt. Vor ein paar Stunden hat ihn die Haushälterin todt im Bette gefunden! Das arme Mädchen weint, daß es einen Stein erbarmen kann! Sie klagt sich unverantwortlicher Nachlässigkeit an und meint, weil sie Stunden lang nicht nach dem kranken Herrn gesehen, Schuld an dessen jähem Tode zu sein.“
Cesar’s Erbleichen sagte den Umstehenden, wie tief diese ganz unvermuthete Nachricht den Schloßherrn erschütterte. Ohne ein Wort zu sprechen, eilte er die Treppe hinan, durchschritt fast laufend den langen Corridor und stürzte in das Zimmer, wo er Abends zuvor den Bruder in anscheinender Besserung verlassen hatte. Er fand Alles, wie damals, als er von ihm ging. Ottwald lag, mit halber Wendung der Wand zugekehrt; seine linke Hand war fest auf’s Herz gedrückt, die Rechte hielt krampfhaft die Laken gefaßt.
Ottwald’s Aussehen hatte nichts Ungewöhnliches. Es war das eines Todten, den ein plötzlicher heftiger Krampf getödtet zu haben schien. Ob dieser Krampf mit Schmerzen verbunden sein mochte oder nicht, blieb jedenfalls problematisch. Die Gesichtszüge des Todten waren ruhig, nur um den Mund zeigte sich ein schmerzhafter Zug, und da er nicht geschlossen war, so schimmerten die weißen Zähne wie helle Perlen zwischen den mattblauen Lippen.
Auf dem Tische des Verstorbenen stand ein fast leeres Glas. Es war dasselbe, das Cesar dem Bruder kurz vor zehn Uhr Abends von der Haushälterin, mit erquickendem Getränk erfüllt, hatte reichen lassen. Der Kranke mußte es während der Nacht geleert haben.
Als sich Cesar einigermaßen ermannt hatte, rief er die junge Haushälterin zu sich, um sie zu examiniren. Er wußte, daß Anna bei vielen guten Eigenschaften doch etwas leichtsinnig war und sich zuweilen arge Nachlässigkeiten zu Schulden kommen ließ.
Anna trat zögernd in das Sterbezimmer, denn hier, neben dem todten Bruder, den der unglückliche Cesar zu verlassen sich weigerte, wollte er an die junge Person einige Fragen richten. Es fiel ihm dabei auf, daß Anna, die sonst Männern gegenüber keineswegs verlegen war, ihn nicht ansehen konnte. Sie zitterte, als schüttele sie heftiger Fieberfrost. Bei jedem Worte, das der Schloßherr an sie richtete, fuhr sie zusammen. Ihre Antworten brachte sie ohne rechten Zusammenhang und stotternd vor.
„Wo warst Du gestern Abend, als ich gegen zehn Uhr Dich rief? In der Küche fand ich kein Licht und doch hörte ich später Tritte auf dem Corridor!“
Anna faltete die Hände und fing an zu weinen.
„Was fehlt Dir? Weshalb weinst Du? Hast Du etwas verbrochen?“
„Vergeben – ach vergeben Sie mir, Herr Hornburg!“ stotterte die Haushälterin.
„Was? – Ich verstehe und begreife Dich nicht!“
„Ich verspreche, mich bessern zu wollen. … Sie wissen – es schickt sich doch nicht für mich –“
„Daß ich Deine braunen Augen hübscher finde, als die blauen meiner rechthaberischen Schwester?“ fiel Cesar ein. „Ist es das, was Dich beängstigt, so beruhige Dich. Du sollst nicht weiter von mir belästigt werden, denn es gehört nicht zu meinen Liebhabereien, spröden Mädchen nachzulaufen. Ich vermuthe jedoch, daß hinter Deiner Kälte etwas Anderes verborgen ist und daß dies zusammenhängt mit Deiner gestrigen Abwesenheit, als ich Dich rief. Soll ich Dir nun verzeihen, so beichte! Du hast einen begünstigten Liebhaber, wie?“
Anna rang die Hände, ohne Antwort zu geben. In den Schloßhof rollte ein Wagen und gleich darauf trat Cesar’s Schwester in großer Aufregung, begleitet von dem aus der Stadt mitgebrachten Arzte, in’s Zimmer. Das Zusammentreffen von Bruder und Schwester am Todtenbette Ottwald’s benutzte Anna, um den ferneren Aushorchungen ihres Gebieters zu entgehen.
Cornelia warf sich schluchzend über den entseelten Bruder und küßte wiederholt die kalten, bleichen Lippen. Und Cesar, der den Schmerz der Halbschwester nicht stören wollte, stand seitwärts in der Fensternische und sein Auge folgte finster den Handbewegungen des Arztes, der zuerst die Leiche sehr genau betrachtete, dann mehrmals das fast leere Glas aufhob und gegen das Licht hielt. Dann führte er es an den Mund, als wolle er daraus trinken. Kopfschüttelnd setzte er es aus der Hand, trat an’s Bett und nöthigte Cornelie mit sanfter Gewalt, das Lager des Todten zu verlassen.
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„Ach Elslein, liebste Tochter mein,
Ich bitt’ Dich, laß Dein Greinen sein,
Thu wie ich auch vor Jahren that,
Da ich noch war eine junge Magd!“
„Ach, Mutter, liebste Mutter, ich
Bin noch zu zart und jungfraulich,
Daß ich so einen großen Mann
Zu nehmen mich sollt’ unterstah’n.“
„Elslein, ach holder Buhle mein,
Weil Du so zart bist und so rein,
So bin ich, ein subtiler Knecht,
Und bin für Dich gar eben recht.“
Eine Stunde in den Katakomben von Paris.
Es war an einem heißen Julitage, als ich die Einladung erhielt, mich um zwei Uhr in dem Hofe des Octroi-Gebäudes an der Barrière d’Enfer einzufinden, um meinen gewünschten Besuch der Katakomben auszuführen. Als ich zur bestimmten Stunde dort anlangte, fand ich bereits eine kleine Gesellschaft versammelt, die gleich mir das unterirdische Paris besuchen wollte. Sie bestand aus etwa zwanzig Personen, unter denen mehrere Engländer. Auch zwei Damen, eine Matrone und ein junges Mädchen, befanden sich unter den Anwesenden. Punkt halb drei Uhr kam der Inspector der Minen, unter dessen Anführung wir die Reise nach der Pariser Unterwelt antraten. Der Eingang zu den Katakomben befindet sich in einem Winkel des eben erwähnten Hofes. Dieser Eingang ist sehr enge und durch eine hölzerne Thüre abgeschlossen, vor welcher wir unsere Einladungsbriefe abgaben. Nachdem wir uns mit brennenden Kerzen versehen, stiegen wir eine sehr schmale, achtzig Fuß lange steinerne Wendeltreppe hinab und befanden uns dann in einem niedern Gange, den wir in allen seinen Windungen verfolgten, bis wir endlich nach zehn Minuten lebhaften Marsches vor den Katakomben anlangten. Sie sind von dem Gange durch ein schwarzes Thor getrennt, über welchem man die Worte liest:
Dieses Thor wurde geöffnet und wir traten in das Reich des Todes. Statt der Steinwände sahen wir jetzt nur Todtengebeine. Der französische Geschmack hat hier einige Millionen Schädel so zu ordnen gewußt, daß sie eine grauenhafte Mosaik bilden. Die Knochen sind nicht sämmtlich von gleicher Farbe. Bei weitem die meisten, den verschiedenen Pariser Kirchhöfen entnommen, haben mehrere Jahrhunderte in den Gräbern gelegen und sind dunkelbraun; andere aber sind jünger und mehr der Sonne ausgesetzt gewesen, so daß sie eine graue oder eine hellweiße Farbe haben. Diese Nuancen hat nun Derjenige, welcher mit der Schichtung der Gebeine beauftragt war, zu benutzen gewußt. Er hat die Ecken der mit dunkelbraunen Schädeln bekleideten Wände mit weißen Schädeln eingefaßt und auf diese Weise ein musivisches Werk ganz eigenthümlicher Art hergestellt.
Wir gingen durch viele dieser Todtenkammern, die gerade durch die Einförmigkeit das Gemüth mit Schauder erfüllen. Von [670] allen Seiten grinst dich hier der Tod mit hohlen Augen an; und die Streiflichter, die von dem Schein der Kerzen auf die Gebeine fallen, lassen das Schreckliche der Umgebung nur noch greller hervortreten. Dann und wann gewahrt man, bald rechts, bald links, mehr oder minder tiefe Aushöhlungen, Senkgruben, unterbrochene und aufgegebene Gänge, deren Finsterniß durch das spärliche Kerzenlicht in den Händen der Besuchenden nicht verscheucht werden kann. In einige dieser Höhlungen hat man ungeheuere Haufen von Gebeinen geworfen, deren morscher Zustand nicht erlaubte, sie symmetrisch zu ordnen. Von Zeit zu Zeit hielten wir einen Augenblick an, um einige Schädel genauer zu betrachten. Unter unserer Gesellschaft befand sich nämlich ein Kranioskop, ein hoch aufgeschossener Engländer, der jeden Augenblick, wenn er gerade sich zu ducken vergessen, mit dem Kopfe an die Decke stieß und dann wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Er suchte die Aufmerksamkeit seiner Landsleute auf sonderbare Schädelbildungen zu lenken, zeigte mit der Spitze seines Stockes bald auf diesen, bald auf jenen Schädel und rief in abgebrochenen Sätzen: „Sehr entwickeltes Wohlwollen! – Entschiedener Ortssinn! – Starkausgesprochener Aneignungstrieb!“ worauf einer oder der andere seiner Landsleute ein „very curious!“ oder „very remarkable!“ entgegnete.
Obgleich man im Interesse der Wissenschaft aus den unzähligen zusammengerafften Schädeln und Knochen die merkwürdigsten herauslas und ein besonderes osteologisches Cabinet damit bildete, so sind unter denselben gar viele, welche eine ganz besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. So z. B. gewahrt man an gar manchem Schädel die Stelle, die von einem Säbelhieb verletzt worden oder das Loch, welches eine Kugel hineingerissen und den Tod herbeigeführt. Diese Schädel rühren aus der Revolutionszeit. Einige andere sind an verschiedenen Stellen trepanirt. Wahrscheinlich hat irgend ein Gelehrter daran herumexperimentirt, um zu erfahren, wie dick das knöcherne Gewölbe sei, unter welchem der Mensch seine Gedanken schmiedet. Man kann sich beim Anblick dieser unzähligen Todtenköpfe gewisser Betrachtungen durchaus nicht erwehren. Wie viele großartige, wie viele riesige Pläne sind in diesen Werkstätten des Geistes entworfen worden! Wie viel Ehrgeiz, wie viel Stolz, wie viel Hochmuth hat in diesen Schädeln einst gewühlt und gearbeitet! Wie manche dieser Köpfe haben einst durch Anmuth und Schönheit geglänzt und süße Sehnsucht und heiße Liebe erweckt! Nun liegen sie hier, in der Rumpelkammer der Vernichtung, und du weißt nicht, ob der Schädel, den du eben betrachtest, einem Dichter oder Gewürzkrämer, einem eroberungssüchtigen Feldherrn oder einem bescheidenen Gelehrten, einem Biedermanne oder einem Schurken angehört.
Nachdem man etwa zehn Minuten durch die Todtengewölbe gegangen, gelangt man an eine Doppeltreppe, die zu einer andern, etwa sechs Fuß tiefer liegenden Abtheilung führt. Zwischen den Wangen dieser Treppe befindet sich ein mit einer hohen halbbogenförmigen Mauer eingefaßter Brunnen, die sogenannte „Fontaine de la Samaritaine“. Man wird, wenn man in diesen Brunnen blickt, unwillkürlich an den Höllentrichter der göttlichen Komödie Dante’s erinnert. Das Wasser, das niemals durch einen Sonnenstrahl beleuchtet wurde und auf welches nur ein oder zwei Mal des Jahres das Dämmerlicht einiger Talgkerzen fällt, hat ein schwarzes Ansehen, so daß man in eine Pechgrube zu blicken glaubt. Man hat versucht, dieses Wasser zu beleben, indem man einige Goldfische hinein that; aber diese anmuthigen Thierchen kamen bald um. Der Tod herrscht hier als unumschränkter Gebieter und duldet nichts Lebendiges. Und dennoch haben auch diese schauerlichen Gemächer ihre komische Seite und es scheint fast, als ob der Mensch nichts berühren könnte, ohne etwas Lächerliches zu thun und Stoff für den Humor zu liefern. Um nämlich die Todtengebeine so vieler Generationen zu ehren, hat man überall, wo es nur irgend thunlich war, Inschriften angebracht, die sich natürlich alle auf den Tod beziehen. Sie sind theils aus der heiligen Schrift und den Kirchenvätern, theils aus den Dichtern und Schriftstellern des Alterthums und der Neuzeit gezogen. Nun haben sich aber auch viele Leute, die sonst die Poesie nur von Hörensagen kennen, von der Localität anregen lassen. Sie haben sich gewaltsam die poetische Ader geöffnet und die Katakomben mit Epitaphen und Aufschriften bereichert, die wahrhaft lächerlich sind. Aufschriften wie:
gehören noch zu den besseren. Die Worte des weisen Königs Salomo: „Eitelkeit der Eitelkeiten! Es ist Alles eitel!“ sind auf einer Tafel in französischer, italienischer, englischer, lateinischer und griechischer Sprache zugleich zu lesen. Mehrere dieser Inschriften sind schon halb verwaschen. Das Wasser sickert hier und dort in dicken Tropfen durch die Decke und fällt dann auf die Denkmäler und auf die Gebeine, deren Verwitterung es beschleunigt.
Die Katakomben von Paris bilden einen Theil der Steinbrüche auf der südlichen Seite der Stadt. Wann die Ausbeutung dieser Steinbrüche begonnen, ist schwer zu bestimmen; gewiß aber reicht sie in ein hohes Alterthum hinauf, da die Thermen des Kaisers Julian von den aus diesen Brüchen gezogenen Steinen gebaut worden. Man weiß, daß zu allen bis zum zwölften Jahrhundert errichteten Palästen, Kirchen, Klöstern und öffentlichen Monumenten der Stadt diese Brüche die Steine geliefert, so wie denn überhaupt das Material, welchem die riesige Lutetia ihr Entstehen verdankt, aus den Pariser Steinbrüchen am nördlichen und südlichen Ende der Stadt gezogen worden sind. Paris steht auf einer Erdkruste, die kaum einem schwachen Erdbeben widerstehen würde. Sie ist an einigen Stellen so dünn, daß sie oft zusammenbrach und eine Menge Häuser in den Abgrund zog. Diese Unglücksfälle rührten besonders daher, daß die Arbeiten in den Brüchen ehedem nicht wissenschaftlich betrieben und keiner Aufsicht unterzogen wurden. Der Erste, Beste grub, wo es ihm beliebte und holte sich die Steine heraus. Man kann sich die Folgen eines solchen Mißbrauches leicht denken. Ein großer Theil der Erträgniß ging verloren; der Boden von Paris wurde unnütz ausgehöhlt, das Leben sehr vieler Arbeiter gefährdet und manche in jenem Stadttheil stehende Häuserreihe fortwährend vom Einsturze bedroht. Nach und nach überließ man diese Brüche ihrem eigenen Schicksal. Die Ausbeutung war unmöglich geworden und man vergaß am linken Seine-Ufer, daß man sich über einem Abgrunde befand. Man wurde indessen 1774 durch häufige Einstürze so sehr daran erinnert, daß die Regierung sich endlich genöthigt sah, die entschiedensten Maßregeln zu ergreifen, damit das Uebel nicht überhand nähme und ein großer Theil der Einwohner im strengsten Sinne von der Erde verschlungen würde. Durch eine 1776 veranstaltete Untersuchung erfuhr man zum allgemeinen Entsetzen, daß, wenn man die Arbeiten nicht sofort begänne, eines Tages halb Paris zusammenstürzen könnte. Der Staatsrath ernannte daher ein Jahr darauf eine besondere Commission, an deren Spitze der Generaldirector der Bauten und der Generallieutenant standen. Unter ihrer Leitung wurden die Arbeiten in Angriff genommen. Um diese Zeit wurde auch die Generalverwaltung der Steinbrüche ernannt. Gerade an dem Tage, als der Director dieser Verwaltung installirt wurde, stürzte ein Haus in der Rue d’Enfer in einen achtundzwanzig Meter tiefen Abgrund, gleichsam als ein schlagender Beweis von der Nothwendigkeit schnell zu ergreifender Maßregeln. In der That machte man sich auch auf’s Lebhafteste an’s Werk. Die ersten Arbeiten waren der genauesten Untersuchung der Brüche gewidmet und man überzeugte sich bald, daß es außer den alten bekannten Brüchen noch viele andere gab, von deren Dasein man bisher nichts gewußt hatte. Man theilte nun die Arbeiter in den Brüchen in zwei Classen ein, von denen die eine mit der Ausbesserung und Stützung der alten bekannten Gänge sich beschäftigte, während die andere unablässig thätig war, Verbindungsgänge mit den entdeckten neuen Brüchen herzustellen und die noch unbekannten aufzusuchen.
Seit jener Zeit, seit achtzig Jahren, sind diese Arbeiten ohne Unterbrechung fortgesetzt worden und werden wohl, bei der wahrhaft ungeheueren Ausdehnung dieser unterirdischen Bauten, niemals ohne Gefahr unterbrochen werden können.
Aus dem eben Gesagten ergibt sich, daß die Katakomben von Paris nicht immer ihre jetzige Bestimmung gehabt. Diese datirt vielmehr erst von 1786 und ist besonders durch den Cimetière des Innocents veranlaßt worden. Dieser im lebhaftesten Theile von Paris gelegene Kirchhof hatte fast während eines Jahrtausends zum Begräbnißplatze gedient und er mußte im Laufe der Zeiten, bei der fortwährend zunehmenden Bevölkerung der Stadt, bedeutend vergrößert werden. Indessen beklagten sich doch schon früh die Bewohner jenes belebten und gewerbtreibenden Viertels über die bösen Ausdünstungen des Friedhofs und die dadurch veranlaßten Krankheiten; und schon in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts drangen zwei berühmte Aerzte der Universität auf die [671] Ernennung einer Commission, die sich mit der Prüfung der von mehreren benachbarten Sprengeln eingereichten Beschwerden beschäftigen sollte. Die damaligen Streitigkeiten zwischen dem Parlament und dem Erzbischof ließen jedoch diese wichtige Angelegenheit bald vergessen und obgleich man in den folgenden Jahrhunderten noch mehrere Male darauf zurückkam, so ließ man doch die wiederholten Klagen jener Sprengel unberücksichtigt und setzte die Stadt einer Menge Seuchen aus. Als man aber im Jahre 1770 auf jenem Kirchhofe eine zweitausend Leichen umfassende Gemeingruft aushöhlte und in mehreren Kellern der benachbarten Häuser Unglücksfälle aller Art entstanden, wurden die Beschwerden so allgemein und so dringend, daß man sich endlich zu einem entscheidenden Schritte entschließen mußte. Es wurde in einer dem Polizeilieutenant eingereichten Beschwerdeschrift nachgewiesen, daß die im genannten Kirchhofe seit undenklichen Zeiten aufgehäuften Leichen den Boden um sechs Fuß über das Niveau der benachbarten Straßen erhöht hatten. Am 9. November 1785 erließ endlich der Staatsrath den Beschluß, daß der erwähnte Gottesacker nach vorhergegangenen, von der Kirche vorgeschriebenen Gebräuchen in einen öffentlichen Marktplatz umgewandelt würde.
Die vorzunehmende Arbeit war ungeheuer. Der zu säubernde Kirchhof, der schon zu Philipp August’s Zeiten bedeutend vergrößert werden mußte, hatte sechs Jahrhunderte hindurch einundzwanzig Sprengeln die Begräbnißstätten geliefert, so daß der letzte dort angestellte Todtengräber in einem Zeitraum von weniger als dreißig Jahren über neunzigtausend Leichen bestattet hatte, und es ist berechnet worden, daß seit langer Zeit die Durchschnittszahl der dort Beerdigten jährlich über dreitausend betrug. Unmittelbar nach dem eben erwähnten Beschluß des Staatsraths wurde ein geeigneter Platz in den südlich von Paris gelegenen Steinbrüchen zur Aufnahme der aus dem Cimetière des Innocents fortzuschaffenden Gebeine aufgesucht, und nachdem die jetzigen Katakomben als der geeigneteste befunden worden, ging man an die Ausgrabungen. Sie fanden Abends bei Fackelbeleuchtung statt. Es herrschte bei dieser Arbeit eine Todtenstille, die nur von Zeit zu Zeit durch das dumpfe Geräusch der Spaten, durch das Klappern der Gebeine, oder durch das Murmeln von Gebeten unterbrochen wurde. Die Arbeiter waren in Gruppen abgetheilt. Die Einen holten die Gebeine aus den Gräbern; die Anderen legten sie auf die bereitstehenden, mit einem Leichentuch bedeckten Wagen, die langsam und feierlich und von einem Priester im Chorhemde begleitet, den Weg nach den Katakomben einschlugen. Wiederum Andere trugen die gefundenen, noch wohlerhaltenen Särge und Katafalke behutsam und vorsichtig aus dem Kirchhofe, während die Uebrigen entweder die Kreuze aus der Erde nahmen, oder die erhaltungswürdigen Monumente sorgfältig auseinander legten. Die Umfriedung des Kirchhofes war mit einem Kranze von Pechpfannen umgeben, und die vom Winde bewegten Flammen und die nach allen Richtungen sich zerstreuenden Rauchwolken gaben der Scene etwas Unheimliches, das manchen Bewohner dieses Stadttheiles mit stillem Grauen erfüllte.
Diese Arbeiten, welche nur in den Sommermonaten unterbrochen wurden, begannen im December 1785 und waren bereits im Januar 1788 beendigt. Im Ganzen hatten sie fünfzehn Monate gedauert. Sie waren in der That riesenhaft, um so riesenhafter, als man Alles, was nur einigermaßen dem Interesse der Kunst, der Naturwissenschaft und der Alterthumsforschung dienen konnte, sorgfältig ausschied und bewahrte. Auch nicht das allerkleinste Monument wurde verletzt; auch nicht die allerunbedeutendste Aufschrift wurde zerstört und jeder merkwürdige Schädel oder sonstige Knochen von auffallender Bildung sogleich der osteologischen Sammlung einverleibt.
Inzwischen hatte die feierliche Einweihung der Katakomben stattgefunden. Man dachte damals nicht daran, daß man am Vorabend einer furchtbaren Umwälzung stehe, und daß die Katakomben bald die Opfer des blutigsten Bürgerkrieges aufnehmen würden. Zuerst wurden die Leichen der am 10. August 1792 im Kampfe in den Tuilerien Gefallenen in die Katakomben gebracht. Dann folgten die Opfer der Septembertage. Unter ihnen befanden sich der Erzbischof von Arles, die Bischöfe von Beauvais und von Saintes, die Prinzessin von Lamballe und eine Menge alter Officiere der königlichen Garde und Magistratspersonen. Man starb damals, ohne erst krank zu sein. Der Tod mähete die Menschen zu Hunderten, und sie wurden in Bausch und Bogen zu Hunderten begraben. Auf der Stelle, wo jene Gefallenen ruhen, befinden sich Monumente mit entsprechenden Inschriften.
In Folge der französischen Revolution wurden nach und nach sämmtliche Kirchhöfe aus der Stadt entfernt, und die ausgegrabenen Ueberreste in die Katakomben gebracht, so daß diese jetzt die Gebeine unzähliger Geschlechter enthalten.
Die Romanschriftsteller haben die Katakomben häufig zum Schauplatz der schauerigsten Begebenheiten gewählt; und in der That mögen in diesen unterirdischen Gängen und Schlupfwinkeln gar manche Gräuelthaten begangen worden sein. Es ist dies um so wahrscheinlicher, als man früher diese Brüche nur zum Theil kannte und der Eintritt zu denselben Jedem frei stand. Jetzt wird die Erlaubniß, sie zu besuchen, von dem Minister der öffentlichen Bauten nur sehr sparsam und nur zu gewissen Perioden des Jahres ertheilt. Das Verbrechen muß andere Schlupfwinkel aufsuchen, wenn es sich vor dem Auge der Justiz verbergen will. Daß früher mancher Unglückliche, der in dieses unterirdische Labyrinth gerathen, sich dort verirrt und vergebens einen Ausgang gesucht, ist ebenfalls gewiß. Jetzt laufen diejenigen, welche in den Katakomben beschäftigt sind, keine Gefahr mehr, sich in den vielen Windungen zu verlieren. Die Gänge in denselben tragen nämlich die Namen der über ihnen hinlaufenden Straßen von Paris. So heißt z. B. der lange Gang, der unter der Rue d’Enfer sich in den Katakomben hinzieht, ebenfalls Rue d’Enfer und ist in Nummern abgetheilt, die mit den Hausnummern der genannten Straße correspondiren. Die Pariser, welche die Rue Tournon, oder die Rue de l’Odéon durchwandern, oder auf der nach Orleans führenden Heerstraße in offener Kalesche hinrollen, denken selten oder niemals daran, daß unter ihnen sich Straßen gleichen Namens befinden, daß zwischen ihnen und dem Abgrund nur eine ein Dutzend Meter dicke Erdrinde sich hinzieht. Wenn nun in einer über den Katakomben sich befindenden Straße ein Haus einstürzte, so würde man in den Katakomben sogleich die Stelle finden, die den Einsturz verursacht. Dieser Fall wird indessen nicht leicht mehr eintreten, da die Bauten in den Gängen sehr solid sind und auf’s Sorgfältigste überwacht werden.
Nachdem wir die Katakomben in allen Richtungen durchwandert hatten, traten wir den Rückweg an. Ich erinnerte mich, einmal gelesen zu haben, daß Jedem, der die Katakomben von Paris besucht, beim Herausgehen aus denselben ein großes Buch mit der Einladung überreicht würde, die Gedanken, Betrachtungen und Empfindungen einzuschreiben, die dieser Besuch bei ihm angeregt. Die Einladung erfolgte indessen glücklicher Weise nicht, und wir hatten nicht nöthig, aus der Sparbüchse unseres Geistes den Zinsgroschen zu holen. Kaum waren wir an dem Ausgang angelangt, als wir zu unserem Schrecken zwei Mitglieder der Gesellschaft vermißten. Rasch eilte der Inspector mit einem Aufseher wieder hinunter, und kehrte nach einer Viertelstunde mit den Verirrten zurück, die da unten keinen geringen Schreck ausgestanden.
Ueber eine Stunde hatten wir in den Katakomben zugebracht und schätzten uns glücklich, das schöne, rosige Sonnenlicht wieder begrüßen zu können. –
Die Herstellung eines Verbindungsweges zwischen England und Frankreich, mit welcher man sich schon seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts beschäftigt, ist neuerdings, wo die Eisenbahnen in den Ländern gewaltige Bewegungen im Verkehre hervorgerufen, wieder ein Gegenstand des Nachdenkens geworden.
Die Schöpfung eines solchen Weges ist kein isolirter Gedanke: sie ist das ergänzende Bruchstück eines großen zwischen den Völkern circulirenden Stromes, der sich wie eine Ader über Europa verbreitet und in’s mittelländische Meer strömt, um seine Richtung nach dem Orient zu nehmen und Englands Besitzungen in Indien zu begrenzen.
[672] Und die Idee, England durch einen unterirdischen Weg mit dem Continente zu vereinen, ist auch nicht neu. Das älteste und zugleich merkwürdigste Project zu einem Wege über den Canal auf festem Grunde rührt von dem Berg-Ingenieur Matthieu her, welcher seiner Zeit im Departement du Nord angestellt war. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts entworfen, wurde der Plan im Jahre 1802 dem neuen Consul vorgelegt und die Profile davon blieben Jahre lang, zuerst im Luxembourg-Palast, dann in der Bergakademie und nachher im Institute ausgestellt.
Es ist zu bedauern, daß der Krieg die Hoffnung vertagte, dieses kühne Project verwirklicht zu sehen. Ist sie nur ein Traum gewesen, so müssen wir anerkennen, daß es der Traum eines genialen Kopfes war, dessen Ideen den geistigen und physischen Kräften seiner Zeit vorausgeeilt waren.
Wenn ein Gedanke so im Keime hervortritt, um vor der Endprüfung gleichsam zur Probe in die erste Phase zu treten, so haben gewiß die Männer, welche darauf eingehen, ein Recht auf unsere Dankbarkeit. Wir erwähnen daher den Vorschlag des Dr. Payerne, welcher darin bestand, den Steingrund des Meeres, behufs der Herstellung eines gewölbten Weges, vermittelst der Taucherglocke zu nivelliren; ferner den der Herren Franchot und Tessié, dahin gehend, einen Weg durch einen auf dem Meeresboden angebrachten gußeisernen Canal zu führen, und endlich den des Herrn Favre, nach welchem ein unterseeischer Tunnel vermittelst Pumpbrunnen aus Eisenblech gegraben werden sollte.
Neuerdings ist nun wieder der Ingenieur Thomé mit einem neuen Plane hervorgetreten. Gestützt auf alle Resultate der geognostischen Wissenschaft, auf die Arbeiten seiner Lehrer, des Geologen L. Cordier, des kürzlich verstorbenen Mineralogen Dufrênoy, des beständigen Secretairs der Akademie der Wissenschaften, Elie de Beaumont, gestützt ferner auf unermüdliche Sondirungen und Terrainbohrungen, schlägt er die Anlage eines Tunnels durch die Juraschichte vor, der sich in der Nähe von Marquise, zwischen Boulogne und Calais in die Erde vertieft, unter dem Cap Gris-Nez weg den Meeresboden unterhöhlt, mitten im Canal seine tiefste Curvenschwingung macht und den englischen Boden beim Cap Eastware, zwischen Dover und Folkestone erreicht. Dieser Tunnel hat eine cylindrische Form, ist in Stein gewölbt, im oberen Bogen 9 Meter breit und 7 hoch; das untere Segment enthält einen Lüftungsconduct unterhalb des doppelten Schienenweges. Zwei Estraden für Fußgänger laufen auf den Seiten her. Das Stück Einfahrt von der Mühle Rouges-Bernes bei Marquise bis zur See hat 8800 Meter Länge; auf der englischen Seite beträgt die Ausfahrt von Eastware nach einer Vorstadt von Dover 5500 Meter. Die Grenzstationen unter Gris-Nez und Eastware befinden sich auf dem Grunde zweier ungeheurer Thürme, von denen der französische 54, der englische 30 Meter unter die Oberfläche des Meeres hinabgeht; in beide Thürme steigt man vermöge einer Treppe hinunter.
Das Kolossalste aber, wenn es nach dem Bisherigen noch einen Superlativ gibt, ist die Zwischenstation mitten im Canal, auf der Sandbank Varne angebracht; hier soll ein Thurm in Form eines Ellipsoid, 92 Meter tief bis zur Eisenbahn hinab, eingemauert werden, ebenfalls mit einer sehr sanft fallenden Treppe. Der innere Raum des Thurmes begreift an der Basis einen Flächenraum von 17 Hektaren Bodens; oben sind vier Quais für Dampf- und Segelschiffe zum Landen angebracht. Ein Sicherheitshafen von 7 Hektaren Raumes, beständig zugänglich, ist zum Mittelpunkte der Seecorrespondenz zwischen England, Holland, Deutschland, der Ostsee und beiden Indien bestimmt. Ein Leuchtthurm erster Classe wird am Haupteingange des Hafens stehen. Vermöge der inneren Treppe wird hier jede Aus- und Einladung jeder beliebigen Quantität Waare möglich sein.
Die Zeit der Ausführung dieses Riesenwerkes berechnet Hr. Thomé auf sechs Jahre; im ersten Jahre werden blos 13 künstliche Inselchen erhoben und Schachte gegraben; im zweiten Jahre die fünf leitenden Sectionen gebrochen; in den vier folgenden Jahren der Tunnel vollendet. Die Kosten sind also veranschlagt: Unterseeischer Weg 1121/2 Mill. Fr., Einfahrten 21,450,000 Fr., Zweiglinien 10,050,000 Fr., Stationen 12 Mill., Material zur Ausbeutung 8 Mill., Verwaltung 6 Mill., Summa 170 Mill. Fr. Indem Herr Thomé die Einnahmen auf den 33 Kilometer unter See auf das Dreifache der gewöhnlichen Eisenbahntarife ansetzt, was noch 65 pCt. hinter den Dampfbootpreisen zurückbliebe, und 800,000 Reisende jährlich annimmt, erhält er
an Personengeld | 9,600,000 Fr. |
an Uebergewicht der Bagage, 12000 Tonnen | 1,200,000 Fr. |
an Frachten, 80,000 Tonnen, große Geschwindigkeit | 6,400,000 Fr. |
an Frachten, 750,000 Tonnen, kleine Geschwindigkeit | 9,000,000 Fr. |
Summa | 26,200,000 Fr. |
20 pCt jährlicher Ausbeutungskosten abgezogen | 5,240,000 Fr. |
bleibt Reingewinn | 20,960,000 Fr. |
Da nun das Gründungscapital durch sechsjährige Arbeitsfrist um 38 Mill. Fr. angeschwollen ist, so wäre der Ertrag von 208 Mill. ein jährlicher Reingewinn von 20,960,000 Fr. oder 10 pCt.
Der Kaiser Napoleon, bei dem Herr Thomé eine längere Audienz im Jahre 1856 hatte, interessirt sich persönlich für den Plan; Herr Rouher, Minister der öffentlichen Arbeiten, hat eine Commission ernannt, welche die Aussetzung von 500,000 Fr. beantragt, die zu Bohrversuchen verwendet werden sollen.
Sehen wir uns also das Project des Herrn Thomé etwas genauer an. Nach seinen bisherigen Mittheilungen besteht dasselbe aus einem gewölbten unterirdischen cylindrischen Tunnel, dessen oberer Bogen einen Durchschnitt von 9 Meter Breite und 7 Meter Höhe hat. Im unteren Segment des Cylinders befindet sich eine in einer Bruchsteinmauerung angebrachte Luftreinigungsröhre, worüber eine doppelte Eisenbahn geht, und zu beiden Seiten des Tunnels gehen zwei erhabene Fußsteige zu Dienstverrichtungen.
Nach der vorliegenden Zeichnung soll der Tunnel vom Cap Gris-Nez nach Eastware, welches zwischen Dover und Folkestone liegt, gehen, und zwar durch die Sandbank Varne, wo die See- und Eisenbahnstation des Tunnels (Etoile du Varne) projectirt ist.
Der Zugang zum Tunnel von englischer Seite ist ein Souterrain von 5500 Meter, welches bei der Vorstadt Saint-Mary in Dover anfängt und nach Eastware geht, wo es unter der Dover-Folkestoner Eisenbahn wegführt, um sich dem unterseeischen Tunnel unter einem oben offenen Thurme, welcher die Grenzstation von Eastware bezeichnet, anzuschließen.
Der Zugang von französischer Seite besteht in einem Souterrain von 8800 Meter, welches von der bei Marquise am Fuße der Hügel von Bazinghen gelegenen Mühle Rouges-Bernes ausgeht und nach dem Cap Gris-Nez führt, wo es sich ebenfalls unter einem oben offenen Thurme, welcher die Grenzstation von Gris-Nez bezeichnet, an den unterseeischen Tunnel anschließt.
Das Souterrain von Bazinghen selbst steht wieder mit der Nordbahn durch zwei Zweigbahnen in Verbindung, wovon unser Bild die Richtung im Allgemeinen angibt. Eine davon geht von Bazinghen über Marquise nach Boulogne, wo sie sich an die Eisenbahn von Boulogne nach Amiens anschließt; das ist der directe Weg von London nach Paris. Die andere geht nach Marquise und nimmt ihre Richtung über Guines auf die Eisenbahn von Calais nach Paris; das ist der Weg von England nach Belgien und Deutschland.
Die unterseeische Linie des Tunnels findet ihre Ausgangspunkte in dem Grunde offener Thürme, welche die Grenzstationen bilden. Der Thurm von Gris-Nez ist 54 Meter und der von Eastware nur 30 Meter tief. Zu diesen Stationen gelangt man von einer breiten spiralförmigen Treppe, welche an der Wand des Thurmes befestigt ist. Der horizontale Durchschnitt dieser Thürme ergibt eine Ellipse, wovon der große Durchmesser 108 Meter und der kleine nur 60 Meter beträgt.
Die Thürme dieser Stationen, welche zuerst zu errichten sind, dienen beim Durchbruch des Tunnels als Zugangswege, ferner zum Fortschaffen des Schuttes und zum Zubringen der Baumaterialien, so wie zur Ausziehung des Wassers und zum Einführen des Luftzuges.
Die bereits oben erwähnte Zwischenstation mit einem ähnlichen Thurme, jedenfalls das großartigste Werk des ganzen Projects, wird auf der im Meere gelegenen Sandbank Varne errichtet und theilt den Canal in zwei gleiche Theile. Der Thurm dieser Station ist ebenfalls elliptisch gebaut und geht 92 Meter bis zum Niveau der Eisenbahn hinab.
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Derselbe steht auf einem vermauerten rautenförmigen Walle, dessen vier diagonale Radien sich in kleinen vorspringenden Außenwerken verlängern und nach den vier Himmelsgegenden vier außerhalb zum Verkehr dienende Quais schützen, wo die Dampf- und Segelschiffe theils zur Einnahme von Erfrischungen, theils zur Annahme und Abgabe der nach allen Welttheilen gehenden Güter und Reisenden einlaufen.
Die Etoile du Varne enthält unter Anderm einen innern Ruhehafen von sieben Hektaren Flächenraum. Die Lage dieses immerwährend zugänglichen Hafens, in der Mitte der frequentesten Seestraße, seine directe Verbindung mit London und dem Continent, so wie der Umstand, daß er für England, Holland, Deutschland und die Ostseeländer auf dem Wege nach Indien gelegen, sprechen zur Genüge für die Wichtigkeit, welche er als Central-Verkehrspunkt haben wird. Der gemauerte Wall und die Quais, welche einen Flächenraum von 10 Hektaren einnehmen, bekommen Decken von Steinkalksteinen oder Granit, und werden mit aus dem Tunnel kommenden Schütte ausgefüllt. Ein Leuchtthurm erster Classe ist auf dem Arme des Walles angebracht, welcher sich am Haupteingange des Hafens befindet.
Um den Eingang des Hafens von innen und außen bei allen Winden zugänglich zu machen, kann ein zweiter Eingang im entgegengesetzten Winkel des Vierecks angebracht werden, ein Vortheil, der für die Schifffahrt unschätzbar ist, und welchen nur die isolirte Lage des Baues bieten kann. Ferner dürfte die Erbauung von Wohnungen und Niederlagen in der Länge der Quais, welche das innere Becken umgeben, diesen Hafen zu einem angenehmen Zufluchtsorte machen.
Die Etoile du Varne soll auf einem Grunde von 8 Meter zur Zeit der Ebbe errichtet werden. Der große Werkplatz zum Aufbau derselben wird vom Meere vermittelst provisorischer Holzdämme abgeschlossen werden, welche mit Hülfe gegossener Schraubenpfeiler von Saunders und Mitchell angebracht, und im Innern durch Thondämme und ein Blendwerk von Bohlen geschützt werden. Auf diese Weise erhält der Werkplatz, sobald er von dem eingeschlossenen Wasser durch Schöpfmaschinen befreit ist, das Aussehen einer großen leeren Insel.
Die Ausdehnung des Tunnels dürfte eine permanente Beleuchtung vermittelst mehrerer an den verschiedenen Zugängen angebrachter Gasometer erheischen. Tausende von Gasflammen würden dann das unendliche Gewölbe erleuchten, sofern man aus Gesundheitsrücksichten nicht vorziehen sollte, den neuerdings mit Erfolg angewendeten photo-elektrischen Reflector in Anwendung zu bringen, und die auf dieselbe Weise beleuchteten Quais erschienen den Schiffern als leuchtende Masse, in welche der große Leuchtthurm seine Strahlen ergösse.
Eine Prüfungscommission von competenten Männern der Wissenschaft ist zusammengetreten, um die Regierung für das Unternehmen zu gewinnen und den zur Ausführung der Arbeiten nöthigen Credit zu erzielen.
Es erweckt ein wehmüthiges Gefühl, in alten Briefschaften zu kramen, die, wie die vorliegenden, einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren umfassen. Aus den oft schon ziemlich vergilbten Schriftzügen tauchen alte Erinnerungen an liebgewordene Personen, an unvergeßliche Stunden hervor. Aber man wandelt dabei nicht nur unter Lebenden, man wandelt auch unter Todten; denn zwanzig Jahre sind eine lange Zeit und wohl geeignet, in die Reihen von Freunden und schriftstellerischen Genossen empfindliche Lücken zu reißen. Ein solcher zwanzigjähriger Briefwechsel ist ein Todtenfeld und Schauer der Vergänglichkeit wehen darüber. Indem ich unter Briefschaften, die ich im Laufe dieser Zeit von schriftstellerischen Genossen empfing, die von bereits Verstorbenen [674] herrührenden von den Briefen noch Lebender sondere, erblicke ich unter jenen kürzere oder längere, mehr oder weniger zahlreiche Zuschriften von Nicolaus Lenau, dem berühmten Nationalökonomen Friedrich List aus seinem letzten Aufenthalte in London, dem „alten“ Jahn, Franz von Gaudy, F. von Sallet, Eduard Ferrand, Heinrich Stieglitz, Max Waldau, Robert Blum, Helmina von Chézy, dem Maler W. Lindenschmitt, dem Meister des bekannten Frescobildes an der Kirche in Obersendlingen, dem in Noth und Trübsal untergegangenen Dichter August Schnezler, C. Mebold, Theodor Hell, C. von Wachsmann, Bacherer und andern minder Bekannten oder seitdem Verschollenen. Auch begegne ich darunter mancher interessanten Reliquie, einer versificirten Uebersetzung eines Spottgedichtes des Punch von dem Nationalökonomen List, einem Sonett von Helmina von Chézy „der Rosenmond“ aus dem Sturmjahr 1848 u. s. w. Vielleicht erweise ich den Lesern wie den Literaturfreunden einen Gefallen, wenn ich das Interessanteste und Charakteristischste aus den Briefen der Bedeutendern unter ihnen mittheile und mit meinen persönlichen Erinnerungen an ihre Verfasser in Verbindung bringe. Schriftstellerische Freuden und Leiden, Künstler- und Poetentreiben, nord- und süddeutsches Leben werden dabei in Einzelbildern vor den Augen der Leser vorbeigeführt werden, auch manche eigenthümliche Persönlichkeit, die sich an dem Conflict mit der äußern wie mit der eigenen innern Welt aufgerieben hat. Ich werde dabei chronologisch verfahren und so Gelegenheit haben, zuvorderst ein kleines Bild aus dem Berliner Dichterleben zu bieten.
Berlin mit seiner von aller Romantik leeren Umgebung, Berlin mit seinen vielen geradlinigen und modern einförmigen Straßen, seinen vielen Geheimräthen, Gardeofficieren, Gensd’armen, Constablern, Banquiers und Epiciers, Berlin und Dichterleben scheinen auf den ersten Blick zwei ganz heterogene Dinge zu sein. Und dennoch verhält oder verhielt es sich wenigstens in der Zeit, von der ich hier spreche, in Wirklichkeit anders. Je weniger die Gegend, der Volkscharakter und die fast allen mittelalterlichen Stoffes und Colorits entkleidete Architektur geeignet sind, praktische Gemüther zu befriedigen und zu befruchten, um so mehr sind diese darauf angewiesen, sich ihre eigene Phantasiewelt zu schaffen, die dann freilich mit der wirklichen oft in einem schneidenden und grellen Contrast steht. So war Berlin recht eigentlich der Hauptsitz der romantischen Poesie. Hier war Tieck, der Schöpfer der Poesie mondbeglänzter Zaubernächte und Waldeinsamkeiten, geboren, hier lebte Heinrich von Kleist, Achim von Arnim, Fouqué und eine Zeitlang auch Clemens Brentano, hier lebten Eichendorff und Bettina, hier schuf sich Callot-Hoffmann eine eigene Welt moderner Dämonen und Kobolde, hier verpflanzte Ludwig Devrient die düstern Schatten und grellen Lichter der Romantik auch auf die Bühne. Die eigenthümlich zersetzende Schärfe und Säure der Berliner Ironie, welche später in Heine ihren entschiedensten und glücklichsten Repräsentanten fand, läßt sich freilich auch in den Schöpfungen der Romantiker nirgends verkennen. Aber man will auch einige Poesie nicht blos in der Einbildung, man will sie auch im Leben haben, und so rückten einige dieser Romantiker, Hoffmann und Ludwig Devrient an der Spitze, in der berühmten Weinstube von Lutter und Wegener zusammen und zechten unter genialen Späßen die liebe lange Nacht hindurch. Sonst sehr prosaische Räthe und höhere Beamte fühlten sich glücklich, an einem Nebentischchen einen Platz zu erhalten, um dann mit einem gewissen Gefühle des Stolzes erzählen zu können, daß sie Hoffmann und Devrient hinter ihren Weingläsern gesehen. Mancher Philister besuchte noch nach dem Tode der genialen Zechbrüder diese geweihte Trinkstube, um seine Erinnerung an sie an Ort und Stelle aufzufrischen. Ueberhaupt ist Pietät gegen Männer berühmten Namens, die gewissermaßen integrirende Bestandtheile des öffentlichen Berliner Lebens geworden sind, ein schöner Charakterzug der Berliner; wenigstens ist sie in Berlin allgemeiner und dauernder als sonst in Deutschland. Freilich gehört ein längerer Aufenthalt in der Stadt dazu, und eine allgemein deutsche Berühmtheit ist darum noch keine Berliner.
In der preußischen Metropole, deren Thore alle vom Mittelpunkte der Stadt sehr weit entfernt sind und deren Naturreize nicht viel Verlockendes haben, ist es für praktisch gestimmte Gemüther ein doppeltes Bedürfniß, sich zusammenzufinden. Zwar bestand schon eine ältere Gesellschaft von Dichtern und Dichtergenossen bekannten Namens, in der es jedoch ziemlich steif und vornehm hergegangen sein soll, aber die strebenden jüngeren Poeten hatten keinen gesellschaftlichen Mittelpunkt. Diesen schuf im Jahre 1835 der liebenswürdige Dichter Eduard Ferrand (E. Schulze aus Landsberg an der Warthe), indem er auf junge Dichter förmlich Jagd machte und sie aus allen Winkeln Berlins aufstöberte. So entstand ein Dichterverein, dem man auswärts zum Gespött den Namen einer märkisch-pommerschen Dichterschule oder der „Spreeschäfer“ beilegte. Außer Eduard Ferrand gehörten ihm F. v. Sallet, A. Rebenstein (Bernstein), seitdem als Verfasser von naturhistorischen Schriften und Redacteur von Volksblättern bekannt, die beiden Brüder Kossarski, Leopold Schweizer, jetzt Redacteur der Wiener Zeitung, ich und mein Bruder Rudolf, jetzt in München, Julius Minding, der sich später als politischer Flüchtling in Newyork vergiftete, F. Brunold (als auswärtiges Mitglied), A. Horwitz, Hugo Hagendorf und noch eine gute Anzahl Anderer an, die theils in der Literatur verschollen sind, theils jetzt in Amt und Brod stehen und das Dichten aufgegeben haben. So viel ich weiß, befand sich unter uns nur ein einziger aus Berlin selbst gebürtiger Dichter, Jäger. Der Verein war einer der harmlosesten Art. Wir versammelten uns wöchentlich einmal Abends in einem öffentlichen Orte, wo es auch allerlei Getränke gab, um die in Augenblicken der Langeweile, die bei solchen Zusammenkünften niemals ausbleiben, sinkenden und ermattenden Lebensgeister aufzufrischen. Wer im Laufe der vorangegangenen Woche eins oder mehrere Gedichte zu Stande gebracht hatte und sie vorlesenswerth hielt, las sie vor und es wurde dann über ihren Werth durch Nr. 1, 2 und 3 abgestimmt. Eduard Ferrand’s lyrischer Geschmack war dabei maßgebend. Weiche, zarte und melancholische Empfindungen, Lust und Leid der Liebe, Wein und Frühling, höchstens Balladenstoffe waren die Gegenstände, die wir in Verse brachten; doch war Heinische Ironie ein sehr beliebtes Element. Aus Gedichten dieser Art bestand der „norddeutsche Frühlingsalmanach“, welchen der Verein herausgab. Didaktische, religiöse und politische Tendenzen durften sich nicht blicken lassen. Zuweilen, namentlich wenn Ehrengäste (Laube, Gaudy u. s. w.) eingeladen waren, beschloß eine tüchtige Bowle, die dann mehrmals aufgelegt wurde, die eigentlichen Vereinsarbeiten, die eben im Vorlesen und Beurtheilen der Gedichte bestanden. Jedenfalls war dieser Verein mitten in dem als gemüthlos verschrieenen Berlin von einem gemüthlichern Geiste beseelt als irgend einer, den ich später in andern Städten Deutschlands kennen zu lernen Gelegenheit hatte.
Eduard Ferrand war die Seele des Vereins und gewiß war es Niemand schmerzlicher als ihm, als der immer und überall umgehende Teufel des Zerwürfnisses auch unter den Weizen dieses Vereins sein Unkraut säete, und diesem bei seiner weiteren Ausdehnung Persönlichkeiten bei- oder näher traten, die ätzende und zersetzende Elemente hinzubrachten. In der That habe ich nicht leicht einen gemüthvolleren, treueren und neidloseren Menschen kennen lernen, als E. Ferrand; er war mild und weich, wie seine Lieder, und jedes herben und verletzenden Wortes unfähig, und nie war er liebenswürdiger und anziehender, als beim Becher. In die goldene Fluth, die den Rheinweinpokal füllte, blickte er dann wie in sich verloren, nippte davon wie im Traume, bis er ihn ausgenippt, und sprach wie im Traume. Es war keine laute Lustigkeit, es war ein Versenken und ein Verdämmern, eine traumhaft glückliche Stimmung, die er auch auf seine Zechgenossen zu verbreiten wußte. Im stillen Weinkeller fand er, wie so manche Dichter und Künstler, Rettung und Schutz vor der Fadheit und Philiströsität des modernen Lebens. „Man sagt,“ äußerte er dann wohl, „daß ich nicht eingezogen genug lebe; wie kann ich irgendwo eingezogener leben, als in diesem stillen dunkeln Keller?“ Es war nur sein Unglück, daß es nicht immer, und namentlich in seinen letzten Lebensjahren, beim bloßen Nippen blieb. Ganz merkwürdig war es, wie er in den einförmigen Straßen Berlins poetische Gegenstände aufzufinden wußte, wo Niemand sie ahnte. So hatte er in einer entlegenen, Abends meist todtstillen Straße einen einzeln stehenden dichtbelaubten Nußbaum entdeckt, und hierher begab er sich zuweilen an schönen Mondscheinabenden beim Nachhausegehen, eine Flasche Wein in der Tasche, lehnte sich gegen den Stamm und leerte die Flasche allmählich aus, ganz in seine poetischen Träume versunken. Als komische Episode diente dann wohl eine Unterhaltung mit dem Nachtwächter, der die sonderbare Laune des Dichters gar nicht mehr so übel fand, nachdem er die [675] Erfahrung gemacht hatte, daß der Dichter in seiner nächtlichen Einsamkeit auch einen Nachtwächter als Zechkumpan nicht verschmähte.
Eduard Ferrand, obschon sein Talent keinen sehr großen Kreis beherrschte, war ein wirklicher ursprünglicher Dichter. Das Wort trat bei ihm, wie das Blatt mit dem aufgesprossenen Pflanzenkeim, mit dem Gedanken unmittelbar hervor; er suchte darnach nicht, es gab sich von selbst. Die Form ist immer in hohem Grade melodiös und musikalisch; gezwungen und gekünstelt ist nichts bei ihm. Seine Gedichte („Gedichte“, 1831; „Gedichte. Neue Sammlung“, 1835; „Lyrisches“, 1839) enthalten des Zarten, Anmuthigen und Tiefgefühlten sehr viel. Manche seiner Balladen, wie „die Jungfrau zu Schildeis“, „König Trojan“ und „das Kind auf der Heide“ sind vortrefflich. Ignaz Hub, der sie in seine Balladensammlung aufgenommen hat, sagt von E. Ferrand mit Recht: „Die Maße fügen sich ihm leicht wie in der Hand des Meisters.“ Rechnet man auch die mancherlei Anklänge an Heine ab, so bleibt doch genug übrig, was ganz sein eigen ist. Dabei sind seine Empfindungen, wenn auch bisweilen zu weich, doch viel reiner und keuscher, als die Empfindungen Heine’s. Witz und Ironie waren fremde Tropfen in seinem Blute. Den politischen Fragen der Zeit gegenüber verhielt er sich gänzlich indifferent; servil aber war er nicht. Ganz eigener Art sind seine Erzählungen („Novellen“, 1835; „Erlebnisse des Herzens. Novelletten“, 1839). Es sind die einfachsten Liebes- und Herzensgeschichten, die es geben kann; aber voll tiefer Empfindung und stillglühender Leidenschaft, die sich auch in der eigenthümlich erregten und vibrirenden, dabei aber klaren und graziösen Sprache ausdrückt. Zuweilen hat die Erfindung etwas französisch Pointirtes. So in der Novelle „die Freunde.“ Adolf liebt ein schlichtes Bürgermädchen, möchte aber von ihr aus irgend einem Grunde loskommen. Er überredet seinen Freund Victor, Leonoren den Hof zu machen. Victor verliebt sich aber wirklich in das schöne Kind, und als Adolf nun einsieht, auf sie verzichten zu müssen, muß er sich gestehen, daß er Leonoren glühender als je liebt. Beide Freunde kommen darin überein, um ihren Besitz zu würfeln; wer die wenigsten Augen wirft, soll eine Phiole Gift austrinken. Das erste Mal warfen Beide acht. Sie werfen noch einmal. „Fünf!“ ruft Adolf, „das ist wenig!“ – Victor wirft „drei.“ Ehe noch der bereuende Adolf hinzuspringen und die Phiole ihm entreißen kann, hat Victor sie geleert. „Adolf, im Tode ist Wahrheit!“ sagt Victor. „Ich mag doch nicht größer vor Dir dastehen, als ich bin. Du erscheinst in diesem Augenblick wie ein Schwächling – ich wie ein Held! Aufrichtig gesprochen; ich spiele den Helden, und mit dem Heldenthum manches Helden mag es nicht anders bestellt sein. Wäre ich jetzt allein gewesen, so würde ich wohl gezittert haben und geweint und gebetet; aber da Du mich siehst, stelle ich mich stärker, als ich bin. Ach, bis zum Tode wollen wir mehr scheinen, als wir sind!“ Victor, das tödliche Gift im Herzen, begleitet seinen nun von Verzweiflung erfaßten Freund mit der Leuchte bis zur Treppe. „Gute Nacht, Adolf!“ ruft er, „Du kommst doch morgen?“ – „Ich komme, ich komme!“ antwortete Adolf, und stürzt hinaus auf die stille Straße. Andern Tages fand man Victor als Leiche auf seinem Zimmer.
Im Jahre 1838 sah ich Ferrand in Begleitung Gaudy’s in Leipzig. Beide zogen dem Süden zu. Aus Mersburg, wo das „sehr gute Bier“ ihn mehrere Tage gefesselt zu haben scheint, erhielt ich denn später, im August, einen Brief, aus dem hier folgende, für Ferrand charakteristische Stellen ihren Platz finden mögen:
„Erst jetzt, am Ufer des Bodensees, in deutschem Lande, kann ich Dir schreiben. Dies Dahinfliegen durch Städte und Länder ließ mir wenig Muße, und in den wenigen Mußestunden forderte gewöhnlich der Durst so mächtig seine Rechte, daß mir zum Briefschreiben keine Zeit blieb. Von der überreichen Gegenwart konnte und mochte ich nicht viele Blicke auf die Vergangenheit werfen. Meine Frau thut mir jetzt allerdings leid, denn auch an sie geht jetzt erst ein Brief, der erste seit dem Leipziger, ab – na, die denkt entweder, eine Lawine habe mich begraben, oder ich hätte mich todtgesoffen. Letzteres wäre jedenfalls das Wahrscheinlichere.“
Diesen Worten läßt Ferrand eine kurze Skizze seiner Reise durch die Schweiz bis in das Berner Oberland folgen, gesteht aber, daß er, „einzelne wunderbare Momente, die man dieser gewaltigen Natur verdankt, ausgenommen, zu keiner recht innigen Freude gekommen sei,“ und zwar hauptsächlich deshalb nicht, weil die Schweizer gewohnt seien, den Reisenden für den Genuß dieser Naturschönheiten zu starke Taxen aufzulegen. Am Schlusse des Briefes benachrichtigt er mich, daß er sich „jetzt still durch Schwaben hindurchbechern“ werde.
Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich meinen alten früh verstorbenen Freund auf seiner Rückreise in Leipzig wiedersah. Das letzte Erinnerungszeichen von seiner Hand war ein Brief aus Berlin, vom 29. März 1839, der aber gerade nicht sehr inhaltreich und charakteristisch ist. Er klagt darin über den Zerfall der alten Kumpanschaft, mit der er so lange gelebt und poetisch geträumt, über langweilige Wochen und schlimme Nächte, die er am Bett eines schwer erkrankten Söhnchens durchwacht. „Es ist ein ander Ding,“ schreibt er, „im Kreise lustiger Freunde das Licht des Morgens zu erwarten, als im Dunst der Krankenstube, von trüben Befürchtungen gequält, todtmüde zwischen Schlaf und Wachen zu ringen. O du fröhliches Leben von sonst!“ Da treibt es ihn hinaus: „Die Sonne scheint so wunderwarm durch’s Fenster, der Himmel ist so blau, so klar – mein alter Reisestock von Stechpalmholz mit dem Gemshorn scheint mir aus der Ecke, wo er bestaubt, ungeduldig zu winken, und gern würfe ich die Feder hin, und nähme den wackern Wandergefährten zur Hand:
Wie strahlst du mir in’s Her; hinein,
O Sonnenschein, o Sonnenschein!
Ich halt’ es in der Stube nicht aus. Hinaus, wenigstens auf die Straße!“
Hiermit brechen meine brieflichen Verbindungen mit Eduard Ferrand ab. Im October 1842 berichteten meine Berliner Freunde über seine letzte Krankheit. Sein ganzes Nervensystem war zerrüttet; er bekam Sturzbäder. Am 16. October früh um 4 Uhr erkannte er zum letzten Mal seine Frau, bat sie um einen Kuß und äußerte: „Der war labend!“ Der Arzt meinte, zwei Stunden Schlaf würden ihm vielleicht Genesung bringen; als aber der Schlaf kam, dauerte er etwas länger als zwei Stunden – es war der Todesschlaf. Mit ihm ging eine gute Seele von hinnen, die wohl geirrt haben mag, aber nur auf eigne Unkosten und keinem Andern zum Schaden, eine Seele ohne Falsch und Tücke, treu und rein, wie Gold.
Eine andere hervorragende Persönlichkeit unseres Dichterkreises war Friedrich v. Sallet, auch eine innerliche Natur wie Eduard Ferrand, aber philosophischer durchgebildet, energischer, weniger naiv und rasch hingebend, doch dem Freunde sich in besonders erregenden Momenten inniger anschließend. Bescheiden und angenehm in seinen Umgangsformen, verständig und sinnig in seinen Gesprächen, heiterem Lebensgenuß nicht abgeneigt, ihn aber als reflectirender Geist mehr beherrschend, war auch Sallet ein liebenswürdiger Gesellschafter. Die Einflüsse aristokratischer Erziehung waren nicht zu verkennen, gaben aber im Bunde mit seiner freimenschlichen Gesinnung eine gute Mischung. Dabei mied er den Umgang mit Standesgenossen. Er liebte es, nach unsern Zusammenkünften an schönen Mondscheinabenden mit irgend einem der Freunde durch die langen Straßen und über die geräumigen Plätze Berlins zu wandeln, und es ist nicht zu leugnen, daß im Mondlicht die ruhig daliegenden großen Massen des Königsschlosses, des Museums, des Zeughauses und der angrenzenden Gebäude und die dazwischen hervortretenden erzenen und marmornen Bildsäulen einen poetischen Eindruck machen. Bei seiner oppositionellen Richtung in politischer und religiöser Hinsicht hatte es etwas Auffallendes, daß er damals wenigstens gegen die Emancipation der Juden war, gegen die er, wie er sagte, nicht aus religiösen, sondern nationalen Gründen eine besondere Antipathie hatte. Ob er sie später überwunden hat, weiß ich nicht. Es war mir bekannt, daß er sich zu der Zeit viel mit Hegel’scher Philosophie beschäftigte, doch hätte ich mir nicht vermuthet, daß er, der sich damals mit Vorliebe und entschiedenem Glück in den Formen des Volksliedes bewegte, je ein so gründlich didaktisches, in seinen Tendenzen edles, aber doch im Grunde wenig poetisches und etwas abstruses Werk, wie das „Laienevangelium“, schreiben würde. Im Ganzen war auch Sallet eine treue, ehrliche und noble Seele, und meinte es ernsthaft mit der Poesie, mit seinem Liberalismus (der ihm, dem jungen Lieutenant, schon früher einen zweimonatlichen Festungsarrest zugezogen hatte) und mit der Ausbildung seines innern Menschen.
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Im Wald, im Wald – in dem wunderbar schönen Wald!
Ihr kennt ihn nur, wenn er in grünem Schmuck dasteht, wenn von allen Zweigen und Blättern helle Klänge und Sänge tönen, und der kühle Schatten Euch einladet zu süßen Träumen und Spielen. Er ist schön im Sommer, wunderbar schön, der grüne, deutsche Wald, aber er ist nicht minder herrlich im Winter und Ihr sollt mit mir gehen und ihn kennen und lieben lernen.
Es ist eine mondhelle Winternacht, in der wir hinaus wandern. Die einsamen Gehaue sind so hell beschienen, als wär’ es Tag, welchen Eindruck die Wirkung des Schnee’s noch erhöht; nur die gewaltigen Schlagschatten, die die hohen Holzungen auf die blendende Decke werfen, liegen in Dunkelheit, so daß man das hier und da über die Blößen ziehende Gewild aus den Augen verliert, so wie es den Schatten erreicht, um vollends in der tiefen, nächtlichen Finsterniß der Dickichte zu verschwinden. Die zerrissenen Wolken jagen am Himmel in phantastischen Formen, gleich einer wilden Jagd, dahin, und ihre Schatten huschen wie gestaltlose Gespenster über die beschneieten Flächen, erklimmen die hohen, mächtigen Bäume, eilen dann weiter über ihre beleuchteten Wipfel fort und fliehen über Thäler und Berge, von anderen, ihnen nachkommenden, verfolgt. Immer mehr gewinnt der klare Mond die Herrschaft; blos noch in weiter Ferne sieht man Wolken dahin jagen, bis auch die letzten am Horizont verschwunden sind und der silberleuchtende Planet unter unzähligen funkelnden Sternen in seiner vollen Reinheit dasteht, sich spiegelnd im glitzernden, frischgefallenen Schnee. Ruhe, tiefe, heilige Ruhe ist nun allenthalben im Wald; der Wind, der zuvor brausend und wimmernd durch das schneebelastete Gezweig gestöhnt, hat sich vollkommen gelegt; keine Nadel und kein Halm, der etwa noch über den Schnee emporragt, rührt sich, und selbst da, wo dieser, der eigenen Last nachgebend, von den Bäumen herabfällt, hört man es nicht, da er so weich wie Flaumen in Flaumen gleitet. Auch das noch wohl herumziehende Wild aller Gattungen vernimmt man nicht, wenn es mit seinem ohnedies leisen Tritt den weichen, tiefen Schnee durchschweift, so daß dem einsamen Menschenherzen, weilt es zu solcher nächtlichen Zeit im Walde, bange wird vor lauter Ruh’, jetzt, wo auch das Auge nur dem eintönigen Weiß der Winterhülle oder dem düstern Dunkel des Waldes begegnet. Dann unterbricht wohl der langgezogene Ruf der Eule die Ruhe und, so schauerlich er tönt, so ist’s doch Leben, was aus ihm spricht und der Mensch athmet wie entfesselt auf.
Einsam zieht das Wild im Forste einher, und sucht das Dickicht auf, wo es den kommenden Tag ungestört ruhen kann. Da – der edle Hirsch! Ruhig schreitet er ohne Trupp[1] über das Gehau, denn es ist ein starker Hirsch und ein solcher hält sich nur zur Brunstzeit zum Wild.[2] Stolz trägt er sein mächtiges und zackiges Geweih, das sich, wie die ganze edle Gestalt, dunkel und scharf gegen die weiße Fläche absetzt. Noch einmal, ehe er zu Holze zieht, bleibt er stehen und äugt[3] nach allen Seiten; dann verschwindet er im Dunkel des Dickichts, um sich daselbst niederzuthun.[4]
Der Mond verbleicht und im Osten röthet sich der Himmel, die freundliche, nachtverscheuchende Sonne verkündend. Leichte rosige Wölkchen ziehen ihr voran; wieder rauscht es leise in den Wipfeln und, als gäbe dieser große mollige Accord das Signal für die kleinen befiederten Waldbewohner, so zwitschert und tönt es jetzt aus hundert Kehlchen auf einmal. Es sind die echten heimischen Vögel, die uns auch im Winter nicht verlassen. Ist’s auch nicht der Jubelton der Lerche, oder das melodische Pfeifen der Drossel, der muntere Schlag des Finken oder gar der süße, schmelzende Ton einer Nachtigall, so ist’s doch für diese strenge Jahreszeit Melodie genug, um das Menschenherz zu entzücken. Da hört man den feinen Ton des niedlichsten aller heimischen Vögel, des Goldhähnchens, so wie das geschäftige Pinken der schmucken Meisen. Weithin klopft der Specht, der dann in Wellenlinien laut pfeifend zu einem anderen Baume fliegt, um seine Arbeit als Holzhacker fortzusetzen. Kreuzschnäbel klettern in den Wipfeln der Fichten umher, um den Samen an den Zapfen zu sammeln, und leise, unhörbar schütteln sie dabei den Schnee von den Zweigen, daß er beim Niederfallen, von der rosigen Luft beleuchtet, wie bunte Sternchen flimmert.
Majestätisch, wie glühendes Gold funkelnd, steigt jetzt die Sonne über die Berge empor und drückt die aufschwebenden Nebel nieder, die sich, da es ziemlich kalt geworden ist, als Rauchfrost an die beschneiten Halme und Zweige ansetzen und wie Diamantenschmuck im Sonnenlichte glitzern. In jungfräulicher Frische und Reinheit liegt der frisch gefallene Schnee auf Bäumen und Sträuchern und auf dem Boden, übergossen von rosigem Hauch, der den zauberischen Anblick noch zauberhafter macht. Müder Tritt von allerhand Gethier kennzeichnet sich auf dieser wunderbar schönen Decke der winterlichen Erde. Von der niedlichen Spur der Waldmaus an entgeht nichts dem aufmerksamen Auge, und namentlich der Jäger sieht an einem solchen Morgen mit freudigem Gefühl mancherlei Gefährt, wie von Meister Reinecke, der sich dahin geschnürt, vom Baummard, das in weiten Sätzen durch den tiefen Schnee gehüpft, oder von Reh- und Edelwild, das ruhig in’s Dickicht gezogen ist. Auch die Fährte des starken Hirsches, den wir bei noch nächtlicher Weile über das Gehau ziehen sahen, spürt man tief eingedrückt dem Dickicht zu, und geht man der Fährte nach, so kann man wohl, da der Wind gut steht,[5] den edelsten Waldbewohner in seinem Bette[6] überraschen. Es ist nicht schwer, der Fährte zu folgen; denn im Dickicht zeichnet sich dieselbe, auch wenn man den Boden nicht betrachtet, deutlich genug aus, da das mächtige Thier beim Durchziehen den Schnee in Massen von den Bäumchen streifte.
Doch sieh, – plötzlich ist die Fährte verschwunden und der Unkundige würde sich dieses Räthsel kaum zu lösen wissen; der Jäger aber weiß sofort, daß der Hirsch hier den Wiedergang gethan,[7] und hätte jener nicht, noch ehe er zu Ende der Fährte gekommen, schon seitwärts dieselbe an den schneelosen Wipfeln des Unterholzes erkannt, so würde er hier umkehren und bald die Stelle auffinden, an der der Hirsch auf dem Rückwege abgesprungen, um seitwärts weiter fort in’s Dickicht zu ziehen, vielleicht das Manöver wiederholend, um dann erst sich zu betten. Auch wir folgen ihm nach und kaum zehn Schritt vor uns erhebt sich auf einmal im Sprunge der herrlich Gekrönte und entflieht der geglaubten Gefahr mit windesschnellen Läuften. Hört man auch im tiefen Schnee nicht den hallenden Tritt seiner Schalen,[8] so bezeichnet er doch im vollen Wuchse des Dickichts krachend seinen Lauf, indem mancher Ast durch die Wucht des Leibes und des sperrigen Geweihes brechend zu Boden fällt, und das Auge verfolgt überrascht die Richtung, wo der Schnee in blitzschnell fortlaufender Linie sich von den Wipfeln schüttelt. Flüchtig geht so der Versprengte noch ein Stück über das nächste Gehau, dann macht er wohl Halt, um zu sichern,[9] ob die Gefahr vorüber. Keinen verdächtigen Laut vernimmt sein scharfes Gehör; nichts Bedenkliches wittert er im Winde und so geht er trollend, mit elastischem Schwunge, das prächtige Geweih stolz emporgehoben, dem nächsten Dickicht zu, um dort von Neuem sich im Schnee zu betten. Ungestört ruht er nun den übrigen Tag dort, denn der Jäger läßt beim Aufspüren ruhig die Dickung liegen, da er eben nur einen starken Hirsch darin weiß, und ein solcher auf Forsten, wo man gut waidmännisch verfährt, im Winter nicht geschossen wird.
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Die Sonne nähert sich bereits der Vollendung ihres Laufes; da erhebt sich der edle Hirsch wiederum und zieht hinaus auf die Blößen, um daselbst unter dem Schnee die karge Aeßung[10] aufzusuchen, oder zu Wasser, um sich zu tränken. Vorsichtig geht er aber, ehe er das schützende Dickicht verläßt, innen am Rande desselben hin, den Wind einzuholen, ob draußen alles sicher sei, und erst, wenn er nichts Verdächtiges bemerkt, wagt er sich in’s Freie. Stolz aufgerichteten Hauptes tritt er dahin, anfangs weit hinäugend und hierauf sich niederbeugend, um unter dem mit den [678] Schalen weggeschlagenen Schnee die wenigen nahrhaften Reiser zu suchen oder die Sprößlinge der jungen Pflanzen[11] abzubeißen, die ihm als kärgliche Nahrung dienen. Weiter schreitet der freie Edle inmitten des Gehaues hin nach einem Windbruch zu, wo noch die mächtigen Aeste einer Eiche liegen, deren Knospen ihn anlocken. Hier und da im Forste findet er wohl auch Aspen, von denen er die Rinde als leckeres Wintermahl schält, in Ermangelung dieser aber begnügt er sich auch mit der Schale der durch die Schneelast heruntergebrochenen Kiefernäste. Sind freilich Felder in der Nähe, dann sind ihm die Wintersaaten und der Raps willkommen, – dem Landmanne zu nicht unerheblichem Schaden, und zwar weniger durch das, was der ungebetene Gast äßt, als vielmehr durch das, was er zertritt, namentlich wenn er in Gemeinschaft seines Gleichen und der Boden noch nicht gefroren ist. So verlebt der edle Hirsch während der Winterzeit entweder einsam oder auch mit mehreren seines Geschlechtes zusammengehend, Nachts auf Gehaue oder Felder tretend, den Tag über in der Dickung steckend, sein freies Waldesdasein, bis das Frühjahr ihm üppige Nahrung bringt, ihn aber auch seines schönsten Schmuckes, des Geweihes, beraubt. Dann zieht er sich wie verschämt zurück, so daß man ihn selten zu Gesicht bekommt, bis er im Hochsommer in seinem rothen Sommerkleide, mit neuem prächtigem Geweih geziert, einhertritt und kraftvoll das Gefege[12] an den jungen Bäumen schlägt. Der Herbst vollends, des Hirsches schönste Zeit, wo Liebesbrunst ihn zum Heroen macht, läßt auch sein Aeußeres am schönsten erscheinen. Im Gefühl seiner Pracht und Kraft läßt er den gewaltigen Brunstschrei erdröhnen und mit mächtigem, schwungvollem Halse und kampfentschlossenem Gebahren tritt er, inmitten seines Trupps, einem jeden seines Gleichen muthvoll entgegen. In solcher Weise ihn zu schildern, ist uns vielleicht ein anderes Mal vergönnt; für diesmal lasse man den „Hirsch im Winter,“ nach guter Jägersitte, ohne ihn zu scheuchen, an seinem kargen Knospenmahl sich ruhig äßen.
Mitgetheilt von Julius v. Wickede.
Meine Seereise, von San Francisco bis nach Chili, war auch diesmal wieder von heftigen Stürmen begleitet und ich freute mich daher nicht wenig, als ich endlich in Valparaiso anlangte. Wer, wie ich, Jahre lang, mit dem geladenen Revolver zur Seite, unter Gottes freiem Himmel geschlafen hat, kann sich an der behaglichen Ruhe in einer so lebenslustigen und dabei wirklich großartigen Stadt, wie es Valparaiso unstreitig ist, schon immerhin einige Wochen erfreuen. Ueberhaupt muß Jedem, der aus Californien zurückkommt, fast jeglicher andere Aufenthalt erquicklich erscheinen, und ein Heimweh nach den Ufern des Sacramento wird wohl so leicht noch Niemand – er müßte denn ein mexicanischer Spieler sein – empfunden haben. Einige Wochen waren mein Hansen und ich denn auch ausgemachte Straßenbummler in Valparaiso, dann sehnten wir Beide uns wieder nach einem thätigen Leben. Der amerikanische Grundsatz, daß „Zeit Geld sei“, hatte sich uns Beiden schon fest eingeprägt und so beschlossen wir denn auch, unsere Zeit, Energie und Jugendkraft wieder möglichst gut zu verwerthen.
Bevor ich aber noch irgendwie einen festen Plan für die nächste Zukunft gefaßt hatte, wollte der Zufall, daß ich die Familie eines alten Gutsbesitzers aus der Nähe von Mendoza, der wegen politischer Grundsätze auf einige Zeit geflüchtet war, kennen lernte. Seine einzige Tochter, Donna Manuela, gefiel mir außerordentlich und ich hatte das Glück, auch ihr zu gefallen. Da hier im Süden Alles rascher, wie bei Euch daheim im kalten Deutschland, (doch dabei ein gar wackeres Land), vor sich geht, so waren wir in wenigen Tagen fest verlobt miteinander und eine Woche später legte ein ehrwürdiger Priester in der großen, prächtigen Pfarrkirche von Valparaiso unsere Hände zum Bund für dieses Leben ineinander. So hatte ich denn plötzlich an den Ufern des „stillen Oceans“ eine Frau gefunden, was ich einige Jahre früher, da ich noch deutscher Officier war, mir wahrlich nicht hätte träumen lassen. Der zufällige Umstand, daß ich ein geborner Katholik bin, erleichterte meine Bewerbung sehr, denn einem Protestanten hätte mein jetziger Schwiegervater die Hand seiner einzigen Tochter wohl nimmermehr gegeben.
Hatte ich nun eine liebe, schöne Frau, so mußte ich auch einen Beruf haben, das sah ich wohl ein, und so entschloß ich mich denn, meinem Schwiegervater, der jetzt nach dem Sturze Rosas’ auf seine Besitzungen unweit Mendoza zurückkehrte, dahin zu begleiten. Landstrecken besaß derselbe von einem Umfange, daß man bequem ein Dutzend der größten holsteinischen Rittergüter daraus hätte schneiden können, und Rinder und Pferde, wenn auch freilich ganz verwildert, zu Hunderten, baares Geld aber desto weniger, und so kamen mir denn jetzt die in Californien schwer genug erworbenen Dublonen trefflich zu statten. Es wurden noch in aller Eile mehrere Sachen für den Haushalt in Valparaiso eingekauft, auch, Pulver, Blei, diverse Colonialwaaren und für mich eine Kiste mit deutschen Büchern, die Gott weiß durch welchen Zufall hierher verschlagen war, darunter zu meiner Freude auch Körners Werke. Mit 26 schwer bepackten Mauleseln brachen wir zur Reise über die Cordilleren, die in ihrer vollen Höhe zwischen Valparaiso und Mendoza sich erstrecken, auf. Eine ganze Karavane bildeten wir, meine Frau und eine Freundin derselben, mein Schwiegervater, ich und acht bis neun Diener und Maulthiertreiber, alle in den Satteln der sichersten und besten Maulthiere, und hinter uns dann die lange Reihe der Packthiere. Eine Reise über die Pässe der Cordilleren ist stets eine gefährliche Sache, zumal im Winter, wenn tiefer Schnee alle Pfade bedeckt: Pferde sind lange nicht sicher und ausdauernd genug, um sich derselben auf solchen Wegen bedienen zu können, daher man nothgedrungen schon sehr tüchtige Maulthiere dazu benutzen muß.
Ich habe Vieles und Großartiges in meinem sehr bewegten Leben gesehen, aber den Eindruck, den es auf mich machte, als ich zwei kleine Tagereisen von Valparaiso, auf der Kuppe eines niederen Hügels angelangt, plötzlich diese ganze Gebirgskette in weiter Ausdehnung mit einem einzigen Blicke übersehen konnte, werde ich niemals wieder vergessen. „Ja, Gott ist groß und groß sind auch die Werke seiner Schöpfung;“ dies Gefühl drang sich mir am lebhaftesten auf, als ich zuerst den wildaufgeregten Ocean bei einem Sturme, und jetzt, da ich die ganze Kette des Hochgebirges der Cordilleren so plötzlich vor mir liegen sah.
So großartig auch der Anblick dieser mächtigen Gletscherreihe war, schauderte ich doch bei dem Gedanken, daß ich mit meiner Frau und der langen Reihe der schwerbepackten Maulesel über die Eisfelder derselben klettern sollte. Es mußte indeß sein und so half denn auch weiter kein Bedenken. Was aber ein gutes Maulthier an Kraft, Sicherheit des Ganges und unermüdlicher Ausdauer leisten kann, habe ich bei diesem Uebergange erst recht bewundern gelernt und meine Werthschätzung gegen diese häßlichen, aber unendlich nützlichen Thiere hat sich seitdem noch mehr gesteigert. Der eigentliche Ritt durch das Hochgebirge dauerte an sechs Tage und bot der Beschwerden und Gefahren aller Art so viele dar, daß es zu ermüdend sein würde, sie alle hier aufzuzuzählen. Ein Ereigniß aber wird mir stets unvergeßlich bleiben.
Es war am dritten Tage unseres Marsches; wir befanden uns gerade an der steilsten und wildesten Stelle des ganzen Gebirges, als wir unweit einer mächtigen Felskuppe unser Lager aufschlugen. Eine kleine, roh aus Felsblöcken erbaute Hütte, wie sie an mehreren Stellen des Weges zum Schutz der Reisenden hier errichtet [679] sind, diente uns zum Nachtquartier. Viel Bequemlichkeitten waren freilich nicht in derselben vorhanden, denn nur der nackte Erdboden, auf dem wir uns aus Fellen, Sätteln und Ponchos ein Lager bereiteten, war da, und der Rauch unseres kleinen Feuers, welches mit spärlichem Buschwerk und getrocknetem Maulthiermist unterhalten wurde, erfüllte den ganzen Raum, bis er denn durch die vielen Ritzen und Löcher in den Wänden und die kleine Thüröffnung ohne Thür wieder abzog. Es war indeß besser wie draußen hier in der Hütte, und da dieselbe für alle unsere Treiber nicht Platz genug gewährte, so mußte ein Theil derselben im Freien übernachten und sich dort, so gut es nur eben gehen wollte, gegen den eisig kalten Wind, der von den Gletschern herabwehte, zu schützen suchen. Die Burschen hatten sich hinter den Felsblöcken alle einzeln verkrochen und dabei so in Schaffelle verhüllt, daß sie wirklich einem Haufen von Fellen mehr wie menschlichen Wesen glichen. Ungefähr 60–80 Schritte von der Hütte standen unsere sämmtlichen Maulthiere, 42 an der Zahl, in einer Schlucht, wo sie mehr gegen den Wind geschützt waren, zusammengekoppelt und nicht weit davon hatte sich ein zwölf- bis dreizehnjähriger junger Bursche, der Sohn eines Maultiertreibers, seinen Lagerplatz aufgesucht und sich dabei zur besseren Erwärmung mit dem Lassoriemen einige Schaffelle fest um den Leib geschnürt. Es war dies ein hübscher, kleiner Bursche, zwar unbeschreiblich schmutzig, der, seinem Aussehen nach, den Gebrauch des Wassers gewiß seit Jahren schon verschmäht hatte, sonst aber munter, zuthunlich und beim schnellsten Reiten über die steilen Abhänge und schwersten Felsenpfade von einer solchen sorglosen Verwegenheit, daß ich sie kaum begreifen konnte.
Nach einer ziemlich schlecht verbrachten Nacht trat ich schon bei Sonnenaufgang aus unserer Hütte, um die rings umher schlafend liegenden Treiber zu erwecken, und den baldigen Aufbruch zu beschleunigen. Es war ein kalter, sonst aber wunderschöner und klarer Morgen, und die eben aufgegangene Sonne färbte mit purpurnem Schein die glänzenden Gipfel der nächsten Gletscher. Ich war kaum aus der Hütte herausgetreten, und ergötzte meine Augen an der großartigen Pracht der Umgebung rings um mich, als ich plötzlich ein mächtiges Rauschen in der Luft über meinem Kopfe hörte, und ein großer schwarzer Schatten sich auf der Schneefläche zeigte. Schnell richtete ich meine Blicke in die Höhe, und gewahrte einen mächtig großen Condor, der vielleicht gegen 100 Fuß von mir entfernt (wegen der außerordentlichen Klarheit und Durchsichtigkeit der Luft sind die Entfernungen hier sehr schwer zu schätzen), in dem blauen Aether schwebte. Aus weiter Ferne hatte ich diese riesigen Vögel schon gesehen, in solcher Nähe aber noch niemals, und mußte jetzt wirklich über die ungeheure Größe desselben erstaunen. Der mächtigste europäische Adler, den ich jemals sah, ward an Größe weit von diesem riesigen Vogel übertroffen. Besonders die Ausdehnung seiner weit gespannten Flügel war von erstaunlicher Länge. Schon wollte ich in die Hütte eilen, meine Büchsflinte zu holen, um wo möglich den Condor mit einer Spitzkugel zu begrüßen, als derselbe plötzlich mit einer Schnelligkeit, daß mein Auge seinen Bewegungen kaum zu folgen vermochte, auf den in seinen Schaffellen ruhig fortschlafenden Knaben herabstürzte, seine riesigen Fänge in denselben einschlug, wobei es mir schien, als habe der eine Fang sich in den Lassoriemen verwickelt, nur dann eben so schnell und ohne daß es schien, als werde er durch die Last nur im mindesten behindert, wieder kerzengerade in die Höhe stieg. Voll Entsetzen stürzte ich in die Hütte, riß die Büchsflinte hervor, und sandte dem Condor eine Spitzkugel nach; es war aber zu spät, der Vogel schwebte schon zu hoch, als daß meine Kugel ihn noch erreichen konnte. Von dem Schusse waren alle meine Maulthiertreiber erwacht, und erschraken heftig bei dem Anblick des Condors, der das schreiende Kind, dessen Klagetöne in der klaren Morgenluft aus der Höhe gar schaurig an unsere Ohren drangen, fort führte, allein helfen und retten konnte hier Niemand mehr. Ein Schaffell, welches sich abgelöst haben mußte, fiel aus der Höhe zu unseren Füßen herab, und war schon ganz mit Blut bedeckt. Wenige Minuten vergingen aber nur, und der große Vogel war mit seinem Raube schon so weit von uns entfernt, daß man ihn nur noch als kleinen schwarzen Punkt im Aether erkennen konnte, bis er dann endlich ganz hinter einem Felsgipfel verschwand.
Der Vater des geraubten Knaben, ein sehr kühn aussehender Mann, schien großen Schmerz über den Verlust seines Kindes zu empfinden, und auch uns Andere verstimmte dieser Unglücksfall nicht wenig. Der Knabe war zwar nur klein und schmächtig gebaut, wie dies überhaupt der chilenische Volksstamm fast immer ist, mochte aber doch mit den dicken Schaffellen zusammen an 90 bis 100 Pfund wiegen. Daß der Condor diese Last ohne irgend eine bemerkbare Anstrengung und ohne daß die Schnelligkeit seines Fluges nur im mindesten darunter litt, durch die Lüfte trug, kann einen Begriff von der Größe und Stärke dieses mächtigen Raubvogels geben.
Einer meiner Treiber erzählte mir bei dieser Gelegenheit, daß vor mehreren Jahren ein Condor, der aber noch größer wie dieser jetzt hier gewesen sei, vor seinen Augen ein ziemlich ausgewachsenes Maulthier mit den Fängen gepackt und auf eine Felsenklippe getragen habe, um dasselbe dort zu verzehren. Menschen, die in Bewegung sind, greifen diese Raubvögel zwar niemals an, schlafende Hirten oder Treiber haben dieselben aber schon wiederholt mit fortgeschleppt, obgleich doch auch Jahre vergehen sollen, bis man von einem solchen Falle hört.
Jahresversammlung der Pariser Lumpensammler. Wir finden in einem Pariser Blatte folgende interessante Details über die ehrenwerthe Gemeinschaft der Lumpensamler. „Sie haben eine methodische Brüderlichkeit, und schon seit langer Zeit besteht unter ihnen eine äußerst nützliche Gesellschaft zur gegenseitigen Unterstützung. Noch kürzlich erbaten sie vom Polizei-Präfecten die Erlaubniß, sich zur Prüfung und Revidirung der Statuten dieser Gesellschaft versammeln zu dürfen. Diese Versammlung fand in einer Kneipe „Zur alten Fahne“ im Quartier St. Marcel statt. Achtundvierzig von der Association der Lumpensammler ernannte Delegirte waren gegenwärtig; jeder von ihnen bezahlte beim Eintritt 20 Centimes zur Bezahlung der Saalmiethe und einer gewissen Anzahl von Flaschen gewöhnlichen Weines. Der älteste der Delegirten nahm vorläufig den Präsidentenstuhl, d. h. eine umgekehrte Tonne ein; sechs Delegirte, die lesen, und fünf, welche schreiben konnten, wurden als Candidaten für die Posten eines Präsidenten und eines Secretairs ernannt. Nach der Wahl dieser beiden Würdenträger übergab der Alterspräsident seinen Sitz dem neuen Präsidenten, wobei letzterer seinen Vorgänger umarmte; der Präsident hielt dann eine Anrede, worin er zuerst die Rechtschaffenheit der Corporation der Lumpensammler rühmte und nachwies, daß dies kein leerer Wahn sei, da sie alle gefundenen Gegenstände der betreffenden Behörde einhändigten und nur selten ein Lumpenammler wegen Diebstahls oder anderer Ursachen vor Gericht erscheine. Er erstattete dann Bericht über die Thatigkeit der Gesellschaft seit der letzten Versammlung und ermahnte in pathetischer Weise seinen „lieben Brüder,“ sich einander zu lieben und einig zu bleiben. Nach dieser Ansprache verlas der Secretair die Statuten, 52 Paragraphen an der Zahl, und fragte, ob Jemand Veränderungen zu beantragen habe. Nur zwei Artikel wurden debattirt: der 17., betreffend die brüderliche Vertheilung der verschiedenen Districte von Schmutzhaufen unter die Lumpensammler, und der 52., den monatlichen Beitrag jedes Mitgliedes und die Unterstützung der Kranken betreffend. Nach einer ernsthaften Debatte wurde der erste dieser beiden Artikel dahin modificirt, daß die obenerwähnten Districte nicht nur den Lumpensammlern dieser Districte vorbehalten bleiben sollen, sondern daß auch kein Lumpensammler unter irgend einem Vorwande sich an den Schmutzhaufen eines andern vergreifen darf; der 52. Artikel wurde dahin geändert, daß künftighin wegen der Theurung der Lebensmittel der monatliche Beitrag 50 Centimes statt 25 betragen, und jeder Kranke täglich 60 Centimes statt 30 erhallen soll. Nachdem die Statuten feierlich angenommen waren, wurde der schon in früheren Versammlungen gefaßte Beschluß, daß der Aelteste der Corporation, Namens S…, ein Greis von 85 Jahren mit dem Beinamen: der General, für den Rest seiner Tage von dem monatlichen Beitrage ausgenommen, dennoch aber alle Rechte eines Mitgliedes beibehalten soll, daß ihm ferner monatlich 250 Gramme Tabak zuertheilt werden und er bei allen Versammlungen und Banketen den Ehrenplatz nebst freier Zeche habe, von Neuem einstimmig und unter donnerndem Beifallsruf bestätigt.
Die Reihe kam nun an den Schatzmeister, um Rechnung über seine Cassenverwaltung abzulegen. Alles wurde für richtig befunden, auch die Bilanz von 17 Frcs. 95 Cts., welche in einer irdenen Sparbüchse aufbewahrt waren.
Als die Geschäfte alle abgemacht waren, begaben sich die Delegirten nach einer Kneipe, genannt „der dreifarbige Topf“, an der Barrière Fontainebleau, wo ein Banket bereitet war. Dieser Ort ist stets das Rendez-vous der Association der Lumpensammler gewesen. Er war immer in drei Sectionen abgetheilt; die erste, genannt die Pairskammer, war für die Elite der Versammlung reservirt, d. h. für diejenigen bestimmt, welche einen guten Tragkorb, eine gute Laterne und einen mit Kupfer beschlagenen Hafen besaßen; die zweite Abtheilung, Deputirtenkammer, war [680] für diejenigen bestimmt, welche obige Gegenstände in nicht so wohl erhaltenem Zustande oder von geringerer Qualität besaßen; die dritte Abtheilung endlich, der Saal der wahren Proletarier, faßte die Lumpensammler der niedrigsten Classe, d. h. diejenigen, welche weder Tragkorb, noch Laterne, noch Haken besitzen und folglich gezwungen sind, die Lumpen mit der Hand aus den Schmutzhaufen zu holen und in einen Sack zu stecken. In der Versammlung aber, welche wir beschrieben haben, wurde beschlossen, daß als Zeichen der Freundschaft und guter Brüderlichkeit alle Classenunterschiede aufgehoben werden und die drei erwähnten Classen an einem Tische Platz nehmen sollten. Der Präsident beantragte, daß dieser Beschluß auch in Zukunft als fest bestehende Regel gelten sollte, was auch durch Acclamation angenommen wurde. – Die Theilnehmer des Bankets begannen alsdann ihrem Mahle zuzusprechen. Die Ehrenschüssel war eine riesige olla potrida; ein hoher irdener Krug, das „Väterchen“ genannt, welchen ein Faß, der „Mohr“ benamset, beständig füllte, enthielt den Wein, und zwar ordinären; das Nachessen bestand aus gewaltig stark riechendem Käse, Radieschen und einem Glase Branntwein, genannt „Brustbrecher“ (casse-poitrine). – Beim Banket ging es sehr lustig her und beim Dessert wurden mehrere Toaste ausgebracht; der eine auf die Presse, welche, sagte der Präsident, die Welt erleuchtet, und durch ihre ungeheure Papierconsumtion den Lumpensammlern ihr tägliches Verdienst zuwendet. Schließlich wurde eine Sammlung zu Gunsten der Armen veranstaltet, welche 9 Frcs. 75 Cts. einbrachte. – Bei früheren Gesellschaften waren die Tischgeräthschaften mit Ketten an den Tisch befestigt; dieses Mal geschah dies nicht. Indessen verlangte man von den Gästen, daß sie eine gewisse Summe deponirten, welche ihnen später wiedergegeben wurde.
A. Traeger. Den vielen Lesern und Leserinnen der Gartenlaube glauben wir durch die Nachricht, daß Albert Traeger’s Gedichte nunmehr gesammelt erschienen sind, eine angenehme Mittheilung zu machen. Durch seine Beiträge, namentlich durch die eben so sinnigen wie tief gefühlten Lieder: „Wenn Du noch eine Heimath hast – Das Mutterherz – Wie stirbt es schön sich in der Kindheit Tagen – Wenn Dich die Welt an’s Kreuz geschlagen etc. etc.“ hat sich Traeger rasch die Gunst der vielen tausend Leser unserer Zeitschrift gewonnen und die meisten dieser Lieder sind bereits mehrere Mal in Musik gesetzt. Die in eleganter Ausstattung erschienene Sammlung enthält noch viele schöne Gaben, die sich durch Tiefe des Gemüths und eine edle vollendete Form auszeichnen. Wir führen unter den vielen nur eins an:
Einst wirst Du schlummern.
Ist Nachts auch thränenfeucht Dein Pfühl,
Und heiß die ruhelosen Lider,
Einst wirst Du schlummern sanft und kühl,
Und keine Sorge weckt Dich wieder.
Vergehe nicht in Angst und Qual,
Es eilt die Stunde, Dich zu retten;
Vier Breter nur braucht’s dünn und schmal,
Ein müdes Menschenherz zu betten.
Und Du auch findest eine Hand,
Die Augen sanft Dir zuzudrücken,
Mit einer Blume, einem Band
Dir Deinen Sarg noch auszuschmücken.
Der Tod bringt Ruhe Deinem Harm,
Die Dir das Leben nie vergönnte;
Halt’ aus: es ist kein Mensch so arm,
Daß er nicht endlich sterben könnte.
Der Seehund. Der Seehund besitzt eine bedeutende Gehirnentwickelung und einen Scharfsinn, der ihm selbst unter den Hausthieren einen hohen Rang gibt. Er ist leicht gezähmt und offenbart einen Grad von Anhänglichkeit für häusliches Leben, welcher nur dem Hunde, diesem treuesten Freunde des Menschen, den Vorrang läßt. Diesen Zug bemerkte schon Plinius und Cuvier beschreibt einen, der viel Intelligenz verrieth und manche Schelmereien ausführte. Wollte man z. B., daß er sich auf sein Hintertheil erhebe und, eine Schildwache nachahmend, einen Stock zwischen seine Pfoten nehme, so gehorchte er dem Commandowort; auch legte er sich, je nachdem man es wünschte, auf die rechte oder linke Seite, oder schoß einen Purzelbaum. Er reichte seine Pfote wie ein Hund. und spitzte seine Lippen zum Kuß. Diese Anhänglichkeit zu seinem Herrn, insbesondere zu denen, die ihn füttern, nahm man auch bei dem Seehunde wahr, welcher sich im zoologischen Garten des Regents Parks befand. Dieser bewies einen merkwürdigen Grad von Lebhaftigkeit und Verstand, wenn er seinen Pfleger von fern erblickte. Folgende Geschichte aber ist wohl, wenn nicht die überzeugendste, so doch die ergreifendste, von der häuslichen Natur und Anhänglichkeit der Phoca vitulina, oder des gemeinen Seehundes, deren Authenticität unbezweifelbar ist. – In dem Hause eines Landmannes, nahe der Seeküste in Irland, wurde ein junger Seehund aufgezogen. Er wuchs zusehends. Seine Gewohnheiten waren unschuldiger und freundlicher Natur; er spielte mit den Kindern, war familiär mit der Dienerschaft, und anhänglich an Haus und Familie. Im Sommer machte es ihm Vergnügen, sich in der Sonne zu sonnen; im Winter, vor dem Feuer zu liegen oder, gestattete man es ihm, in den großen Ofen zu kriechen, dieses Anhängsel einer irischen Küche. Da traf es sich, daß das Schwarzvieh in eine absonderliche Krankheit verfiel, woran mehrere starben. Kein Mittel wollte helfen. In seiner Verzweiflung befragte der leichtgläubige Eigenthümer eine alte Hexe. Diese behauptete, die Sterblichkeit unter seinem Vieh käme davon her, daß er um sein Haus ein unreines Thier dulde – den harmlosen und belustigenden Seehund, und daß er sich desselben entledigen müsse, sollte das Sterben unter seinem Vieh aufhören. Der abergläubische Landmann ließ das Thier in ein Boot schaffen und oberhalb der Insel Clare in die See werfen. Am nächsten Morgen fand man den Seehund ruhig im Ofen schlafen. Er war durch ein offenes Fenster gekrochen, und hatte sich nach seinem Lieblingsplatz begeben. Der sonst gutmüthige Landmann ließ ihn eine Zeitlang im Hause. Da aber das Vieh nicht aufhörte zu sterben, so wurde der Seehund von Neuem verurtheilt, in noch weiterer Entfernung, als das erste Mal, in die See geworfen zu werden. Als am zweiten Abende eben die Dienerin das Küchenfeuer schürte, hörte sie ein Kratzen an der Thüre, sie öffnete und herein kam – der Seehund, einen eigenthümlichen Freudenschrei ausstoßend, weil er sich wieder zu Hause befand. Hierauf streckte er sich beim Heerde nieder, und fiel in einen gesunden Schlaf. Die alte Hexe wurde von Neuem befragt. Diese sagte, es wäre nicht rathsam, das Thier zu tödten, man sollte ihm die Augen ausstechen und es dann in die See werfen. Der einfältige Mensch gehorchte dem barbarischen Rathe, und das unschuldige Geschöpf wurde seines Augenlichtes beraubt und zum dritten Male, während es sich noch im Todesschmerze wand, tief in die See hineingebracht und hineingeworfen. In der achten Nacht, nachdem das harmlose Thier dem Ocean Übergeben worden, blies ein starker Wind. In den Pausen des Sturmes hörte die Dienerin klagende Töne, welche sie für das Banshee, d. h. für die Stimme hielt, welche nach dem Aberglauben in jener Gegend den Tod irgend eines Familiengliedes verkündiget. Am nächsten Morgen fand man den Seehund todt auf der Thürschwelle liegen.
Leitmuscheln. Was das für Dinge sind, wird wohl vielen Lesern und Leserinnen der Gartenlaube noch unbekannt sein. Wenn ein Brunnengräber irgendwo in der Erde eine alte Waffe oder Aschenurne oder Münzen oder einen alten Mosaikfußboden findet, so hat er – Leitmuscheln gefunden. Das ist nun freilich nicht buchstäblich zu nehmen, denn es sind ja keine Muscheln, was er gefunden hat. Aber buchstäblich darf die erste Sylbe genommen werden, denn der Brunnengräber oder vielmehr der Alterthumsforscher, dem er die Dinge bringt, wird dadurch geleitet.
Worauf denn? Auf welt- und kulturgeschichtliche Vermuthungen und Schlüsse. Solche Funde beleben oft mit einem hellen Lichte einen weiten Umkreis. Durch dieselben kann die Oertlichkeit eines ehemaligen Kampfes, die Lage einer untergegangenen Stadt, die Grenzen des Vordringens eines Eroberungsvolkes festgestellt werden. Was hier dem Geschichtsforscher dergleichen Alterthümer leisten, das leisten dem Erdgeschichtsforscher Muscheln, nämlich versteinerte; aber nicht blos Muscheln, sondern auch andere thierische und pflanzliche Ueberreste. Am meisten thun es allerdings versteinerte Muscheln und Schneckengehäuse. Weil nun aber auch andere Versteinerungen solche Leiter siud, so sagt man in neuerer Zeit lieber Leitfossilien (zu deutsch Leitversteinerungen). Aber nicht jede alte Münze, nicht jede Versteinerung leitet gleich bestimmt und sicher.
Ein Topf mit alten römischen Münzen sagt zunächst blos, daß auf dem Platze oder in der Nähe einstmals eine römische Niederlassung gewesen sein mag. Aber zu welcher Zeit? Dies sagen nur alle Münzen übereinstimmend, wenn sie alle von gleichem Gepräge sind. Sind sie von ungleichem Gepräge und tragen sie die Brustbilder verschiedener Kaiser, so geben blos die Münzen mit dem neuesten Gepräge einen Aufschluß über die Zeit der muthmaßlichen Niederlassung. Fänden wir nun in den verschiedensten von einander entfernten Ländern Münzen von gleichem Gepräge, so dürften wir mit Fug und Recht schließen, daß an allen diesen Orten gleichzeitig römische Niederlassungen bestanden hätten. – So können uns solche alte Münzen zu geschichtlichem Verständniß einer Gegend leiten.
Genau denselben Dienst leisten nun die Versteinerungen. Wenn wir z. B. überall auf der Erde in den Schieferthonschichten der Steinkohlenformation Abdrücke theils von denselben, theils wenigstens von sehr nahe verwandten Pflanzenarten finden, so dürfen wir daraus den Schluß ziehen, daß damals – nach Humboldt’s Schätzung vor etwa 7 Millionen Jahren – überall auf der Erde ziemlich die gleichen klimatischen Verhältnisse geherrscht haben. Wenn wir ferner z. B. in den ältesten versteinerungführenden Schichten der Grauwacke, wo dieselben auch immer untersucht worden sein mögen, stets Versteinerungen von einer sonderbaren – den Krebsen zunächst stehenden – Thierfamilie finden, welche sich schon in der nächst jüngeren Steinkohlenformation nicht mehr, und noch weit weniger in noch jüngeren Formationen wiederfinden, und wir treffen dann diese Versteinerungen in einer bisher noch nie untersuchten, vielleicht in einem neuentdeckten Lande liegenden Gebirgsschicht an, so werden wir dadurch zu dem Schlusse geleitet, daß diese Gebirgsschicht zu der Grauwackenformation gehöre, d. h. in derselben Erdepoche, wie diese, gebildet sei.
Dieses Auftreten gewisser Versteinerungen leitet viel sicherer auf die Erkennung der gleichalterigen, wenn auch weit von einander entlegenen, vielleicht durch Meere getrennten Schichten, als die übrige Beschaffenheit der Gesteine derselben; weil die letzteren bei den Schichten derselben Bildungsepoche oft sehr verschieden ist, da die Bildung unter sehr mannichfaltigen Umständen stattfinden konnte. Wo immer wir in einer Felsschicht die Arten der Muschelgattung Cardinia finden, da können wir sicher sein, eine Schicht der untersten Abtheilung der Juraformation vor uns zu haben.
Wir begreifen nun vollkommen, wie wichtig für das Studium der Erdgeschichte die Kenntniß der Leitfossilien ist, und wie treffend man die Versteinerungen die „Denkmünzen“ der Schöpfung genannt hat. Da die Zahl der Freunde dieses Studiums täglich wächst und mit ihr die Zahl der Lehrbücher der populären Geologie, so fühlte ich mich zu obigen kurzen Erläuterungen veranlaßt, welchen ich noch die vielleicht manchem Leser erwünschte Bemerkung anknüpfe, daß das streng unter wissenschaftlicher Leitung stehende „Mineralien-Comptoir in Heidelberg“ in neuester Zeit verkäufliche Sammlungen der wichtigsten Leitfossilien aller Formationen und derjenigen lebenden Arten, welche mit jenen zum Studium der Altersfolge der Gebirgsschichten dienen, vorräthig hält.
- ↑ Ein Trupp sagt man, wenn das Wild zu mehreren bei einander ist.
- ↑ Hier bezeichnet Wild speciell das weibliche Geschlecht.
- ↑ äugen: sehen.
- ↑ niederthun: niederlegen.
- ↑ Nämlich so, daß der Wind vom Hirsch auf den Menschen zustreicht, also der Geruch des Menschen nicht zum Hirsch hindringen kann.
- ↑ Das Lager des Hirsches heißt Bett.
- ↑ Wiedergang: wenn der Hirsch, um über seine Fährte zu täuschen, genau auf derselben zurückgeht und dann seitwärts abspringt, was der Absprung heißt.
- ↑ Schalen heißt beim Wild der Huf.
- ↑ sichern: aufpassen.
- ↑ Aeßung: Nahrung.
- ↑ Pflanzen heißen hier junge Waldbäumchen.
- ↑ Gefege ist die haarige Haut, die das frische Geweih überzieht und die der Hirsch, sobald dieses ausgewachsen und reif ist, an jungen Bäumen abreibt oder abschlägt.