Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1857)/Heft 5

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[57]

No. 5. 1857.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0 Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Verfehltes Leben.

Nach wirklichen Erlebnissen vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)

Die Majorin war zusammengefahren, als sie ihren Mann plötzlich sah. Sie schritt ihm entgegen. Man sah es ihrer Miene an, sie wollte ihren Entschluß sofort ausführen. Aber sie sah den fremden, ungewohnten Ausdruck seines Gesichtes, und blickte ihn forschend an. Die Worte, die sie auf den Lippen hatte, drängten sich zurück.

Der Major schien nur mit seinen Gedanken beschäftigt zu sein. Er gewahrte die Aufregung nicht, in der sie sich befand.

„Marie,“ hob er rasch und unruhig an, „zum ersten Male fehlte mir Dein verständiger Rath. Ich habe ohne ihn etwas unternommen, wenigstens versprochen, was mich beunruhigt. Ich muß mich Dir anvertrauen.“

Die Worte der Frau drängten sich mehr zurück: ihr Entschluß blieb ihr ja.

„Es bereiten sich,“ fuhr der Major fort, „ernste politische Begebenheiten vor. Die Pläne des Unterdrückers unseres Vaterlandes werden hochfliegender. Er eilt, die höchste Spitze seiner Macht, seines Glanzes, seines Ruhmes zu erklimmen, um desto eher und desto tiefer in den Abgrund zu stürzen. Bald wird die Zeit des Handelns für das deutsche Volk sich nahen. Für die Einzelnen ist die Zeit des Vorbereitens schon da. Ich habe Dir von dem Tugendverein erzählt, der noch vor meiner Verbannung nach Rußland oben in Preußen gestiftet wurde. Ich gehörte zu seinen Gründern. Er hatte später, auf Verlangen des französischen Kaisers, aufgehoben werden müssen; ich aber hatte gemeint, er sei wirklich aufgehoben. Aber die Treue der Diener des Königs war stärker gewesen, als der von dem Fremden erzwungene Befehl. Der Bund besteht noch, und wirkt im Verborgenen. In diesem Augenblicke war ein Abgesandter von ihm bei mir; er kam unmittelbar[WS 1] von meinen tapfern Freunden, den Obersten Gneisenau und Boyen. Man rechnet auf mich. Ich soll in diesem Theile Deutschlands im Geheimen organisiren, damit auf einen großen Ruf der dem deutschen Vaterlande treu gebliebenen Fürsten das Volk sich wie ein Mann erhebe. Ich habe meine Mitwirkung zugesagt. Marie, billigst Du es?“

Die Majorin hatte ihre Unruhe verloren, während ihr Mann sprach. Sie war mit lebhafter Theilnahme seinen Worten gefolgt, und sah ihn mit stolz blitzenden Augen an. Aber in den Stolz hatte sich Wehmuth, Trauer gemischt.

„Du wirst einer großen Sache dienen, Hermann, und Du wirst ihr begeistert dienen; Du wirst Dir neuen Ruhm und neuen Dank erwerben, zu dem Danke Deines Königs den Dank Deines befreiten Vaterlandes.“

„Aber Marie, wenn der Plan mißlingt, wenn er vorzeitig verrathen wird, so habe ich Dein, unserer Kinder Glück und Zukunft zerstört, vernichtet!“

„Mein –? O, mein Hermann, was bin ich, was ist der Einzelne, wenn es das ganze Vaterland gilt? Und unsere Kinder? Sie stehen in der schützenden Hand des Himmels. Einmal wird, muß unser schönes Vaterland aus den Ketten dieser fremden Unterdrücker wieder befreit werden; dann wird auch unsern Kindern der Dank, das Glück der Freiheit nicht fehlen. Du hast Recht gethan, Hermann. O, werde groß, werde glücklich!“

In ihren Augen standen Thränen. Sie streckte die Arme nach ihm aus; sie wollte ihn umfangen, sich in seine Arme werfen, aber sie vermochte es nicht.

Der Major drückte sie an seine Brust.

„Ich wußte es!“ rief er stolz und glücklich. „Du bist das edelste, das größte, das aufopferndste Herz! Wie liebe ich Dich!“

„Und ich Dich!“ rief die Unglückliche, hingerissen von ihrem innersten Gefühle. „Ich, ich –“

Sie wollte ein Wort aussprechen, sie vermochte es nicht. Wie konnte sie in diesem Momente ihr, sein Glück zerstören, für immer, mit dem furchtbarsten Schlage?

„Und Ihr werdet nicht unglücklich werden,“ rief der Major. „Wir werden Alle glücklich sein, der Geist des Vaterlandes, des Muthes, der Tugend wird uns beschützen.“

Er zog die Gattin auf das eine Knie, und setzte seinen Knaben auf das andere. Die kleine Agnes stellte sich zwischen Beide; sie umarmten sich Alle.

Ein Bedienter öffnete leise, aber eilig die Thür. Er sah etwas verstört aus. „Ich suche den gnädigen Herrn.“

„Was gibt’s?“ fragte der Major.

„Kann ich den gnädigen Herrn allein sprechen?“

„Sagen Sie hier, was Sie haben.“

„In der Nähe des Schlosses,“ berichtete der Diener etwas geheimnißvoll ängstlich, „sieht man mehrere Gensd’armen umherschleichen.“

Vor anderthalb Jahren, vor einem Jahre noch war das nichts Ungewöhnliches gewesen. Jetzt hatte man schon seit langer Zeit keine Gensd’armen mehr in oder um Schloß Harthausen gesehen. Der Major stutzte. Er mußte nothwendig an den geheimen Besuch denken, der vor kaum einer Viertelstunde ihn verlassen hatte. Er wechselte einen Blick mit seiner Gattin; diese war sehr blaß geworden.

[58] „Fürchte nichts,“ flüsterte er ihr zu. „Ich werde mich selbst überzeugen.“ Er stand auf. Sie wollte ihn zurückhalten.

„Bleibe, Hermann, ich beschwöre Dich!“

„Für mich sehe ich keine Gefahr,“ erwiederte er ihr. „Ich kehre bald zurück.“

Er verließ mit dem Bedienten die Stube; die Majorin blieb mit den Kindern zurück, und spielte mit ihnen. Sie schien so die Rückkehr des Gatten erwarten zu wollen. Es verbreitete sich immer mehr eine große Ruhe über ihr ganzes Wesen; es war die Ruhe des großen und festen Entschlusses.

Ihr Spiel mit den Kindern wurde unterbrochen, gestört. Die Thür des Zimmers öffnete sich wieder, sehr leise, sehr langsam. Ein männliches Gesicht blickte in die Stube, und gleich darauf trat Jemand ein.

Es war ein Mann in den mittleren Jahren, von großer, aber etwas zusammengesunkener Gestalt, mit einem Gesichte, das ehemals gewiß schön, lebhaft, geistvoll gewesen war, das aber jetzt nur noch Züge der körperlichen und moralischen Verkommenheit aufzuweisen hatte; es drückte sich vollkommen jene unverkennbare tiefste Gemeinheit des Zuchthauses darin aus.

Die Frau von Rixleben saß mit dem Gesichte von ihm abgewendet, als er eintrat; sie hatte auch sein Nahen nicht gehört, aber die kleine Agnes sah ihn. Das Kind erschrak, als es auf einmal und so leise, so unhörbar, den fremden Mann durch die Thür hervorkommen, an der Schwelle stehen bleiben und die durchdringenden, fast brennenden Augen auf sich und ihre Mutter und ihr kleines Brüderchen gerichtet sah. Sie starrte den Mann einen Augenblick an, dann wandte sie sich ängstlich zu der Mutter, den Blick noch immer auf den Fremden gerichtet.

Die Majorin folgte dem Blick des Kindes, und auch sie sah den Fremden. Eine Stunde vorher würde seine Erscheinung ihr die eines Gespenstes gewesen sein. Jetzt aber wußte sie, daß sie einen Lebenden vor sich hatte. Aber war ihr Entsetzen nicht ein desto größeres? Trotz ihrer Ruhe, trotz aller ihrer Fassung flog sie auf.

„Ha, schon!“ rief sie. „Schon so bald, so schnell tritt das Schicksal mit seiner Vergeltung und Vernichtung zu mir!“

Sie starrte den Mann an, wie so eben das Kind ihn angestarrt hatte. Aber ihr Entsetzen dauerte nur eine Sekunde lang, dann gewann sie ihre Ruhe, ihre volle Kraft wieder.

Auch der Mann war ruhig. Er verschloß die Thür, durch die er eingetreten war, dann ging er auf die Majorin zu. Diese erwartete ihn mit festem Blicke.

„Ich sehe, Du kennst mich noch,“ sagte er. „Das ist gut; denn ich komme –“

Die Majorin unterbrach ihn, gleichfalls mit fester, ruhiger Stimme.

„Gregoire, bevor Du weiter sprichst, höre wenige Worte von mir an. Du kannst dann machen, was Du willst; Du wirst dann aber auch einsehen, daß für Dich hier wenig zu gewinnen ist.“

„Sprich,“ erwiederte der Mann kalt.

„Ich erfahre heute, in dieser Stunde,“ fuhr die Frau von Rixleben fort, „daß Du noch am Leben seist und zugleich, daß es Dir gelungen sei, aus Deiner Haft zu entwischen.“ –

„Ah, Du hattest mich wirklich für todt gehalten?“

„Mußte ich nicht?“

„Freilich, ich war zum Tode verurtheilt. Die französischen Kriegsgerichte machen verteufelt kurzen Prozeß; aber mir wurde das Leben geschenkt, denn ich hatte drüben auch manchen hübschen Dienst geleistet, wenngleich ihre Steckbriefe mich jetzt nur zum Spion ihrer Feinde machen wollen. Dank und Undank! Allein fahre fort. Du hast mich also für todt gehalten? Du warst mir wohl nachgereiset, als ich arretirt, als wir von einander getrennt wurden? Und nachdem Du den schnellen Spruch des nach meinem Blute dürstenden Kriegsgerichtes erfahren hattest, war auch Deine Liebe gesättigt, und Du machtest Dich stracks auf den Weg zu diesem schönen Schlosse, um als Deine verstorbene Schwester einen einfältigen, sentimentalen preußischen Helden zu betrügen. O, es war kein großes Kunststück, aber ein ganz ordinäres, gemeines Verbrechen, das sich mit zwanzig Jahren Zuchthaus abbüßen läßt. Du erstaunst, wie ich das Alles weiß? Man lebt auch in der engsten Haft nicht ganz abgeschlossen von der Welt. Du wirst es im Zuchthaus gleichfalls erfahren. In der Citadelle zu Mainz hatte ich einen Leidensgefährten, einen vormaligen Polizeispion, der Unglück gehabt hatte, wie ich. Der Mann wußte viel; er wußte auch, daß ein vormaliger preußischer Major in der Gegend von Holzminden, ein gefährlicher Mensch für die Ruhe und das Glück Europa’s, und daher unter strenger Aufsicht der Kasseler Polizei, eine junge, hübsche Dame, Namens Marie Antoinette Andreä, geheirathet habe. In welcher Beziehung diese schöne Dame zu mir stand, wußte er freilich nicht; aber ich wußte das, und da errieth, oder vielmehr wußte ich denn auch das andere, und – hier bin ich. – Doch verzeihe, ich sollte Dich nicht unterbrechen, und ich habe es dennoch gethan. Es wird nicht wieder geschehen. Sprich, ich werde Dich sehr aufmerksam anhören.“

Der Hohn des Menschen hatte die Klarheit und Ruhe der Frau von Rixleben nicht stören können. Sie erwiederte ihm: „Du bist offen gegen mich gewesen, ich werde es auch gegen Dich sein. Ich bin es in dieser letzten Stunde mir, Dir, unserm Kinde schuldig.“

„O, von einer letzten Stunde sprichst Du? Aber verzeihe nochmals mein Unterbrechen.“

Die Majorin fuhr fort: „Ich liebte Dich, Gregoire. Du hattest durch schlechte Künste mein junges, unerfahrenes Herz bethört; Du hattest mich boshaft verführt, Du hattest grausam mich gezwungen, das väterliche Haus zu verlassen, um Dir zu folgen. Ich liebte Dich dennoch. Bald jedoch erkannte ich Deinen Charakter, Deine Lebensweise ganz; Du lebtest nur von Verrath und Verbrechen. Ich sah zugleich, daß Du mich nicht liebtest, daß Du so mich nicht lieben konntest. Ich liebte Dich dennoch, Gregoire. Ich hoffte auf Aenderung, Besserung Deines Charakters und Lebenswandels, und dann auf Deine Liebe.“ –

„Du hattest die Güte, mir das oft zu sagen,“ fiel der Mann höhnisch ein.

„Meine Bitten, meine Thränen, meine Hoffnungen waren vergebens. Du wurdest kein Anderer, Du sankest nur noch tiefer. Du konntest freilich kaum noch anders. Dein Leben war verwirkt, Du hattest nur noch eine unstäte, flüchtige Existenz. Ich hielt treu bei Dir aus, noch mehr, ich liebte Dich noch immer, und hoffte auf einen Zufall der Rettung. Es kam anders. In dem Augenblicke, als ich meine sterbende Schwester wiederfand, wurdest Du von meiner Seite gerissen, um zum Tode zu gehen. Du warst unrettbar verloren, darüber war kein Zweifel. Ich stand allein in der Welt, und hatte Niemanden, als dieses arme, hülflose Kind, und ich selbst war arm, hülflos; aber ich dachte nicht an mich, ich hatte nur Gedanken für mein Kind. Was sollte aus ihm werden, wer sollte es vor Elend, vor Schande, vor Verbrechen retten? Da kam ein furchtbarer Entschluß in mir zur Reife, den, ich will es nicht leugnen, ein Zufall schon an dem Sterbebette meiner Schwester in mir angeregt hatte. Ich führte ihn aus, nachdem ich Dein Todesurtheil erfahren hatte. Du hast ihn errathen, Du kennst ihn. Aber höre mich weiter. Für mein, für Dein Kind war gesorgt, seine Zukunft war gesichert, aber ich desto unglücklicher geworden. Eine verworfene, gemeine Verbrecherin, die Verrätherin des bravsten Mannes, konnte ich nur einen Augenblick glücklich sein! Und dennoch mußte ich stets Glück erheucheln. Ich trug das Leben nur um meines Kindes, jetzt meiner beiden Kinder, und um des Glückes meines Gatten, dieses edlen Mannes willen, der mich liebte, der mich noch über Alles liebt. – Da erfuhr ich heute, daß Du lebst, daß Du Dich befreit hattest. Ich kannte Dich; auch wenn ich Dich nicht gekannt hätte, die Ehre, das Glück meines Mannes war gefährdet; mein Entschluß stand sofort fest. Ich habe ihn noch nicht ausführen können; in der nächsten Viertelstunde aber geschieht es. Ich entdecke meinem Manne Alles, und bitte ihn nur um Liebe für das Kind, für das ich seine und meine Ehre, sein und mein Glück geopfert habe. Er hat ein großes Herz, er wird meine Bitte erfüllen. Und nun, Gregoire, sage mir, was Dich hierher geführt hat, wenn es Dir noch der Mühe werth ist, es mir zu sagen?“

Sie endete, und sah ihn ruhig, würdevoll an. Sein Hohn war, wenigstens für den Augenblick, verschwunden. Die Würde des Herzens, das er verdorben, zerbrochen hatte, imponirte ihm.

„Und was soll aus Dir werden, Antoinette?“ fragte er.

„Frage mich nicht,“ erwiederte sie ihm. „Kann ich noch etwas für Dich thun, so sage es mir. Sonst entferne Dich von hier.“

Dem verworfenen Verbrecher hatte ein besserer Sinn nur für einen kurzen Moment imponiren können.

„Ah,“ rief er, „Teufel, Du bist klug! Beinahe hätte ich mich von Dir fangen lassen. Mit einem Bettelpfennig denkst Du mich [59] hier abzuspeisen, und dann den mit Steckbriefen verfolgten Sträfling wieder in die Hände seiner Verfolger zu spielen, und unterdeß Dich selbst ruhig in die Arme des sentimentalen großen Herzens zu legen. Nein, Madame, so wird es nicht werden. Zuerst –“

„Gregoire,“ unterbrach die Frau ihn, „Du kennst mich und die Festigkeit meiner Entschlüsse. Ich habe Dich von manchem Verbrechen zurückzuhalten gewußt, das ich vorher erfuhr.“

„Du hattest einen starren dummen Eigensinn.“

„Du weißt auch, daß ich mich gegen Dich nie verstellt habe.“

„Du hast seitdem die Komödie gelernt.“

„Bei Gott, Gregoire, ich habe kein unwahres Wort zu Dir gesprochen, kommt mein Mann in diesem Augenblicke hier herein, so werde ich in Deiner Gegenwart meinen Entschluß ausführen. Und entfernst Du Dich nicht bald – wie gern ich ihm auch die Schmach Deines Anblicks ersparte – ich lasse ihn hierher rufen.“

Der Verbrecher wurde wieder ernsthaft.

„Antoinette,“ sagte er, „ich glaube in der That, Du wärst thöricht genug dazu. Aber höre jetzt auch mich an. Ich bin nicht zu Dir gekommen, um Dein Glück, das Du hier gefunden hast, zu zerstören, sondern es vielmehr mit Dir zu theilen. Und das geht auf einem sehr einfachen Wege an. Wir setzen nur die Rollen in der Weise fort, wie Du die Deinige begonnen hast. Ich werde der Mann Deiner verstorbenen Schwester, der aus der lebenslänglichen Haft sich befreit hat, und ein ganz ordentlicher, tugendhafter Mensch geworden ist, und hier –“

„Sprich nicht weiter, Unglücklicher,“ rief mit Entsetzen die Frau. „War das nicht der empörendste Hohn, so bist Du ein Wahnsinniger!“

„Du bist eine Närrin, Antoinette. Wir werden hier glücklich werden. Dein edler Mann wird mir seinen Schutz nicht versagen –“

„Gregoire,“ unterbrach ihn wiederholt die Frau, „kein Wort weiter, oder ich rufe meinen Mann.“

„Ist das Dein Ernst?“

„Mein voller Ernst!“

„Zum Teufel, so höre vorher noch ein paar andere Worte von mir. Weißt Du, daß das Haus mit Gensd’armen umsetzt ist?“

„Sie suchen Dich schon!“

„Nicht mich, aber einen geheimen politischen Emissär, der vor einer Stunde bei Deinem Manne war, und wenn ich will, auch Deinen Mann, um ihn vorläufig in das Kastell zu Kassel und von da weiter nach Mainz zu bringen, wo an ihm sicher das Todesurtheil vollzogen werden wird, das an mir vorüberging.“

Die Majorin war erblaßt.

„Unmensch, Du hast auch schon hier den Verräther gemacht?“

Que faire? Il fort gagner la vie. Du stehst, ich kam doppelt bewaffnet zu Dir, mit der Güte und mit der Gewalt. Suche Dir jetzt aus. Noch ist Dein Mann sicher; nur jener, der bei ihm war, wird verfolgt; die Dummköpfe vermuthen ihn noch hier. Ach, Antoinette, die französische Polizei fängt an, schlecht bedient zu werden; es scheint mit der Wirthschaft zum Ende zu gehen. Nun, wofür hast Du Dich entschieden?“

Die Majorin war mit großen Schritten im Zimmer umhergegangen; sie ging entschlossen auf die Thür zu, neben welcher die Klingel hing. Der Verbrecher hatte sie nicht aus den Augen gelassen; er vertrat ihr den Weg, und hielt sie fest.

„Nicht doch, Antoinette!“

Aber der feste Entschluß hatte in dem schwachen Weibe eine ungewöhnliche Körperkraft erzeugt. Sie riß sich von ihm los, stieß ihn von sich und zog heftig an der Klingel.

Der Elende erschrak bei dem lauten Tone.

„Thörin, trotziges Geschöpf!“ rief er, „Dein sentimentaler Held könnte mich erschießen, ich bin unbewaffnet. Noch ist mir mein Leben zu lieb. Wir sehen uns wieder, heute, jeden Tag. Wisse, ich lasse Dir keine Ruhe, bis Du wieder mein bist.“ Er verschwand durch die Thür. Gleich darauf trat ein Bedienter ein.

„Sobald mein Mann zurückkehrt, geben Sie mir Nachricht.“

Die Frau von Rixleben war angegriffen, erschöpft; sie mußte sich in ihren Sessel zurücklehnen, um sich zu erholen, um wieder Kräfte zu gewinnen, Kräfte für den schwersten Entschluß, für die schwerste Stunde ihres Lebens.

Die beiden Kinder spielten wieder zu ihren Füßen. Sie waren durch den Eintritt des fremden Mannes nur einen Augenblick darin unterbrochen worden, als die kleine Agnes, geängstigt durch sein plötzliches geräuschloses Erscheinen, sich an die Mutter gedrängt hatte. Das Kind hatte seinen Vater nicht wieder erkannt. Die lange Haft, der gemeine Ausdruck seines Gesichts, der ganze, zur Vollendung ausgeprägte äußere Charakter des gemeinen Verbrechers hatten ihn für das zarte Gedächtniß des fünfjährigen Kindes unkenntlich gemacht. Wohl dem armen, kleinen Wesen! Die Unterredung ihrer Mutter mit dem Manne hatte einen äußerlich ruhigen Verlauf genommen. Das Kind hatte daher nicht darauf geachtet, und sein Spiel mit dem Brüderchen wieder fortgesetzt. Die Kinder hatten Glöckchen, kleine Thiere, Häuser, Stuben. Das Mädchen baute auf, ordnete und richtete ein; der Knabe riß auseinander, zerstörte, warf umher. Das Mädchen las geduldig wieder zusammen, bauete wieder auf, ordnete wieder; der Knabe warf es wieder wild und bunt durcheinander. Beide lachten und freuten sich, und wurden nicht müde im Aufbauen und Zerstören.

Schon so früh das Bild des Lebens und Treibens der Menschen, des ewigen Aufbauens und Zerstörens des Glücks, des fremden und des eigenen! Die Kinder waren nur fröhlich und unschuldig dabei. Die unglückliche Frau sah das Spiel der Kinder; sie nahm keinen Theil daran, und konnte sie das, nach dem eben Erlebten, so nahe vor dem Ende ihres Schicksals?

Nur dieses, nur ihr Schicksal stand vor ihr: ihr vergangenes Leben, ihre Zukunft, ihre Träume über beide. Wie hatte sie als reines, unschuldiges Mädchen von sechzehn Jahren sich ihre Zukunft so rein, so unschuldig, so schön geträumt! Da war der Verführer gekommen, und hatte sie und ihr Leben vergiftet. Welches Elend hatte sie ertragen an der Seite des Verbrechers, dem sie nicht entfliehen, vor dem sie kaum sich retten konnte, daß er sie nicht in seine Verbrechen mit hineinriß! Und hatte er nicht dennoch sie zur Verbrecherin gemacht? Hatte er nicht, durch seine tägliche Frivolität, durch tägliches Beispiel, ihr Herz, ihren Sinn, ihr ganzes Wesen so durch und durch vergiftet, daß ihre reine, edle Liebe zu ihrem Kinde, das heiße Streben für dessen Wohl und Glück sie zu keinem andern Mittel greifen ließ, als zu einem empörenden, furchtbaren gemeinen Verbrechen? Konnte die böse Aussaat gute Frucht tragen? Dennoch war sie so verblendet gewesen, daß sie von einer glücklichen Zukunft geträumt hatte. Nochmals von einer glücklichen Zukunft! Ihr Leiden, ihre ewige Angst, die Angst des Gewissens, die Angst vor Entdeckung, hatte in dem ersten Augenblicke ihres Entschlusses zu dem Verbrechen klar und lebendig vor ihr gestanden. Und doch wurde sie nicht mit glücklich in dem Glücke ihres geliebten Kindes? War, nachdem sie von ihrem zum Tode verurtheilten, und wie sie glauben mußte, hingerichteten Manne befreit war, eine Entdeckung ihres Verbrechens jemals zu befürchten? Mußte nicht zuletzt auch die Stimme des Gewissens schweigen vor dem so laut redenden Zeugnisse des Glückes ihres Kindes? Sie hatte ihren Entschluß ausgeführt; sie hatte den Schritt des Verbrechens gethan; es war vorbei, unwiderruflich vorbei. Sie konnte nicht zurück, obwohl sie täglich wollte. Sie liebte den Mann, den sie betrogen hatte, und konnte nicht mehr von ihm lassen. Schon von dem Verführer hatte sie sich nicht losreißen können; ihr Herz fühlte sich an ihn gefesselt; aber welche andere, reinere, edlere Liebe erfüllte ihr ganzes Innere für den Mann, mit dem sie jetzt verbunden war! Eine reine, edle Liebe, und sie entdeckte sich ihm nicht? Sie setzte den Betrug, das Verbrechen gegen ihn fort? Er liebte sie; er liebte in ihr seine Marie; er liebte sie mit der ganzen Kraft seines kräftigen Herzens. Sein Herz war verwachsen in diese Liebe; starb diese, so mußte es mit ihr verbluten, sterben!

Konnte sie ihm ihr Verbrechen entdecken? So glaubte sie; so glaubte ihr vielleicht zu leichtgläubiges Herz, so redete vielleickt ihre eigene Liebe zu dem Manne, die Sorge für ihr Kind, bethört und bethörend dem Herzen nur zu. In dieser Bethörung wurde sie in der That glücklich; nur auf Stunden, Augenblicke; dann aber auch so glücklich, so selig! Die Gewissensqual, die Angst vor Entdeckung kam furchtbar hinterdrein, um so furchtbarer, je mehr sie sie verbergen mußte, je mehr sie nur sich glücklich zeigen durfte. Aber waren jene Stunden, nur Augenblicke des Glücks, nicht eine Bürgschaft, daß das Glück dauernder, daß es für immer zu ihr wiederkehren könne? Hatte sie nicht sogar einen Anspruch hierauf? Lebte sie nicht der strengsten Ausübung ihrer Pflicht, der Tugend, der Liebe und Sorge für ihren Mann, für ihre Kinder? – Lebte sie wirklich der Tugend, der Pflicht, der Liebe zu dem Manne, den sie noch immerfort, täglich, ja stündlich [60] betrog? Wie viele, wie unbegreifliche Widersprüche liegen in dem Innern des Menschen! Wie leicht und gern täuscht er sich absichtlich fast bei allem seinem Thun; wie leicht und gern läßt er sich von sich selbst täuschen! Aber das Schicksal, die Gerechtigkeit, die furchtbar vergeltende Gerechtigkeit läßt sich nicht von ihm täuschen. Sie konnte bei all’ jener Liebe und Pflichterfüllung sich kein dauerndes Glück schaffen durch Betrug, Verbrechen. Der Schrecken, das Elend, das Unglück mußte darauf folgen; denn sie forderte es täglich, stündlich heraus. Und es kam. Es war da. Es brach ihr nicht das Herz. Ihre starke Seele wußte es zu ertragen, wußte es würdig zu ertragen.

Sie hatte ihre Kräfte wieder gesammelt, stand auf, ging dann zu den spielenden Kindern, und sah, mit der ganzen stillen, tiefen, innigen Theilnahme, mit der sie so oft bei ihnen gestanden hatte, ihrem freundlichen Spiele zu. Aber mit der freundlichen, glücklichen Theilnahme früherer Zeit konnte sie ihnen nicht zusehen. Ein schmerzliches Aufzucken ihres Gesichts zeigte, wie sehr sie sich Gewalt anthun mußte, den heftigsten Schmerz ihres Innern zurückzudrängen. Sie beugte sich nieder zu den Kindern.

„Mütterchen will mit uns spielen,“ jubelte die kleine Agnes, in die Händchen klatschend.

„Jetzt nicht,“ entgegnete die unglückliche Mutter. „Nie mehr, nie mehr!“ setzte sie für sich hinzu; „aber stören muß ich Euer Spiel; Euer letztes Spiel, das meine Augen sehen werden.“ Sie nahm den Knaben auf den Arm, und drückte ihn an ihr Gesicht, an ihr Herz. „Lebe wohl, mein Kind, mein Friedrich, das Kind meines Glückes, meines Stolzes!“ Thränen stürzten aus ihren Augen; noch vermochte sie, diese zu trocknen. Darauf setzte sie den Knaben nieder auf die Decke, und hob die kleine Agnes auf. „Auch Du, auch Du lebe wohl! Du Kind meiner Leiden, meiner Sorge, meines Schmerzes, meines Unglückes; und doch mein geliebtes, mein über Alles geliebtes Kind! Lebe wohl, lebe wohl!“

Sie konnte ihre Thränen nicht mehr zurückhalten; wie sie krampfhaft das Kind an sich preßte und auf sein schönes, freundliches Gesicht, seine hellen Locken, seine Brust, seinem Nacken ihre heißen Küsse drückte, da strömten auch mit einer krampfhaften, nicht mehr zurückhaltenden Gewalt ihre Thränen hervor.

Gibt es einen Schmerz, der tiefer, gibt es Thränen, die bitterer wären, als der Schmerz und die Thränen einer Mutter, die den letzten Abschied von ihren Kindern nimmt?

Sie ließ den Knaben aus ihren Armen, stürzte zu der Thür, wandte sich aber noch einmal zu den Kindern um. „Lebt wohl!“ Sie riß die Thür auf. Sie wollte sich noch einmal umsehen; noch einmal, zum letzten Male sollte ihr Auge die geliebten Wesen erblicken, sie hatte aber die Kraft nicht, es auszuführen, und verließ sogleich die Stube. Einige Minuten später trat die Wärterin der Kinder ein.

„Die Mutter befiehlt, wir sollen in den Garten gehen,“ sagte sie zu der kleinen Agnes.

Sie nahm den Knaben auf den Arm, das kleine Mädchen an die Hand. So verließ sie mit den Kindern die Stube, aber alles in der ruhigen, gewöhnlichen Weise. Die Majorin mußte noch die Kraft gehabt haben, ihr in derselben Weise den Befehl zu ertheilen.

Es war nur wenige Augenblicke leer in dem Zimmer, das so lange, und doch nur so kurze Zeit die freundliche, glückliche Mutter- und Kinderstube gewesen war. Die Mutter kehrte bald darauf allein, aber gefaßter als vorher, zurück. Ihr Gesicht war zwar bleicher geworden; denn der Schmerz und die Gewalt, die sie sich anthun mußte, hatten den letzten Blutstropfen darin verzehrt; aber die Muskeln zuckten nicht mehr auf, und das Auge blickte sogar mild. Sie stellte sich vor die Decke, auf der die Kinder gespielt hatten, und sah lange still auf den leeren Platz. Manchmal bewegte sich ihr Körper wohl vorwärts, als wenn sie niederknieen, als wenn sie mit ihren Küssen und ihren Thränen die Stelle bedecken wolle, auf der so oft, zuletzt noch vor wenigen Minuten, die Kinder gesessen, gespielt hatten; aber sie versagte es sich, oder wollte sie dem aufregenden Schmerze keine neue Nahrung geben? Sie vernahm Schritte, die sich der Stube näherten, und erschrak für den Augenblick.

„Herr, stärke mich!“ betete sie, die Augen zum Himmel gerichtet; dann ging sie zur Thür.

Ihr Mann trat ein. Er stand mit heiterer Stirn vor ihr. Die Gensd’armen hatten die Umgebung des Schlosses wieder verlassen, und nach den Nachrichten, die er eingezogen, keine Verhaftung bewirkt. Der Abgesandte seiner Freunde war also nicht ergriffen.

„Du hast mich verlangt, Marie?“

Sie nahm seine Hand, und führte ihn zu dem Sopha, das in dem Zimmer stand. Ihre Hand zitterte, wenn auch nur leise. Er warf erschrocken einen Blick auf ihr Gesicht.

„Du zitterst, Marie, Du bist so blaß; fehlt Dir etwas?“

„Es wird vorübergehen, Hermann; setze Dich zu mir.“

„Aber was fehlt Dir? Dieser ungewöhnliche Ernst –“

„Findest Du mich wirklich so verändert?“

Sie sah ihn mit ihren schönen Augen mild und liebend an.

„Dein Blick ist derselbe,“ sagte er; „und so lange er mir Liebe und Glück bringt, bist Du keine Andere.“

„Du liebst mich also, Hermann?“

„Wie fragst Du?“

„Noch immer? Noch immer heute, wie je vorher?“

„Heute und immer; immer, ewig!“

„O, sage es mir noch einmal, daß Du mich liebst; nur heute, nur jetzt noch liebst, mit Deiner alten, Deiner besten, mit der vollsten Liebe Deines Herzens!“

„Kannst Du daran zweifeln, Marie?“

„O, sage es mir, ich möchte es noch einmal hören, von Deinen Lippen, in Deinen Armen, an Deinem Herzen!“

„Ja, Marie,“ sagte der Major mit dem innigsten, heiligsten Tone der Liebe, „ja, ich liebe Dich, wie ich Dich je geliebt habe; mit meiner vollsten Liebe, Dich über Alles!“

Er schlang seine Arme um sie, drückte ihr Herz an das seinige, seine Lippen auf ihre Lippen. Sie erwiederte seine Umarmung, seinen Druck, seine Küsse. Nachdem sie lange so an dem edlen, treuen Herzen geruhet hatte, entwand sie sich plötzlich seinen Armen und warf ihm einen dankbaren, glücklichen Blick zu; es war ein Blick der höchsten Seligkeit, der reinsten Liebe.

„Auch das ist vorbei,“ sagte sie dann leise für sich; „die letzte Sekunde meines Glücks. Jetzt habe ich Abschied genommen von Allem im Leben, von dem Leben.“

Sie verließ die Seite ihres Mannes. Sie setzte sich, entfernt von ihm, in die andere Ecke des Sopha’s. Er sah sie darüber erstaunt, verwundert an, und wollte ihr folgen, aber sie wehrte ihn mit der Hand zurück.

„Ich bitte Dich, Hermann, nahe mir nicht.“

Wiederholt schaute er sie beunruhigt an; aber sein Blick traf in einen klaren, würdevollen, feierlichen und doch innig bittenden Blick. Er folgte ihr deshalb nicht.

„Hermann,“ sagte sie, „was Du auch jetzt von mir hören wirst, höre mir ruhig zu; und dann, das ist meine letzte Bitte an Dich, versuche nicht, mich überreden, von meinem Entschlusse abbringen zu wollen, der unwiderruflich in mir feststeht.“

Der Major erschrak.

„Um des Himmels willen, Marie, was ist geschehen?“

„Du sollst es in wenigen Worten, ohne Vorbereitung, erfahren; ich will Dich, ich will mich nicht länger martern. Hermann, ich bin eine Betrügerin; Deine Marie starb: ich bin die verworfene, die entehrte Antoinette, eine gemeine Verbrecherin.“

Die Frau hatte einen unbegreiflichen Reichthum von Kraft. Sie hatte ihre ganze Kraft zusammengenommen, und die entsetzlichen, vernichtenden Worte ruhig, klar, ohne Versagen ihrer Stimme, ohne Beben ihrer Lippen aussprechen können. Der starke Mann neben ihr war nicht so kräftig; er war an die Lehne des Stuhles zurückgesunken. Sein ganzer Körper zitterte convulsivisch, sein Gesicht war mit der Blässe des Todes überzogen: die Augen irrten und starrten umher, als ob die Nacht des Todes sie bedecke; er war sich keines Wortes mächtig. Dieser Anblick traf die Frau erschütternd; er schien ihre Kraft zu lahmen, zu zerstören.

„Hermann,“ rief sie in tödtlicher Angst. Sie wollte zu ihm stürzen, aber ihre Kraft, ihre Gewalt über sich kehrte zurück. Sie blieb an ihrer Stelle. „Hermann,“ setzte sie mild, beruhigend hinzu, „Hermann, edler Mann, fasse Dich!“

Ein so kräftiger Mann, wie der Major, mußte sich bald erholen, wenn auch nur nach und nach.

„Marie,“ entgegnete er, mit noch zitternder Stimme, aber gefaßter, „erzähle mir, sage mir Alles.“ Aber unmittelbar darauf fuhr er fort: „doch nein, erzähle mir nichts; Du kannst es nicht, und ich würde es nicht anhören können; überdies weiß ich ja auch schon Alles. Aber schenke mir einige Minuten Geduld, daß ich

[61]

General Dufour.


zur Besinnung komme! Das war ein harter Schlag!“ Dann stand er auf, ging in dem Zimmer auf und ab, um seine volle Fassung, die volle Klarheit des Geistes wieder zu gewinnen. Die unglückliche Frau blieb mit verhülltem Gesichte auf dem Sopha sitzen. Gefaßter nahete er sich ihr wieder, trat vor sie hin und sagte ernst, aber gütig:

„Marie, laß uns mit Ruhe und Besonnenheit unsere Lage betrachten, um dann eben so besonnen überlegen zu können, was zu thun ist.“ Nach diesen Worten schluchzte sie heftig auf unter dem Tuche, das ihr Gesicht verbarg.

„Du hast noch Güte, noch eine freundliche Stimme für mich?“ rief sie fragend. „Aber darf ich noch so zu Dir sprechen? Darf ich Dich noch „Du“ nennen? Darf ich den theuern Namen Hermann noch aussprechen?“

„Marie,“ fuhr er mit seiner Ruhe und Güte fort, „wir wollen uns diesen Augenblick nicht anders als für ein paar unglückliche, sehr unglückliche Gatten ansehen, die gemeinsam ihr hartes Schicksal überlegen.“

„O, wie verdiene ich das?“ Sie verhüllte ihr Gesicht, trocknete ihre Thränen. „Sprich,“ sagte sie dann, „frage, fordere Alles.“

„Die Vergangenheit,“ erwiederte der Major, „errathe und kenne ich; nur über die Gegenwart und Zukunft gestatte mir einige Fragen: was hat Dich veranlaßt, mir gerade heute diese fürchterliche Entdeckung zu machen?“

Sie erhob sich, ging an den Tisch, auf welchem noch das Zeitungsblatt lag, das er ihr gebracht hatte, übergab und zeigte ihm dann die Stelle über Gregoire Lauterbach. Er las sie.

„Antoinettens, Dein Verführer?“ rief er.

„Ja, mein Verführer; aber auch der Mann, dem ich freiwillig Jahre lang folgte. Nach den Gesetzen war er dem Tode verfallen und ich hatte ihn für todt gehalten, als ich hierher kam, und war bis zu dieser Stunde von seinem Tode überzeugt, bis Du mir heute dieses Blatt brachtest. Für mein Kind übernahm ich die Rolle meiner Schwester und begann den Betrug, den ich enden wollte, wenn die Zukunft desselben gesichert war – um meines Kindes willen allein. Ach, ich ahnete nicht, daß die Liebe [62] hinzutreten würde! Wie schlecht, welch’ eine elende, verworfene Verbrecherin bin ich nun, daß ich bis jetzt, bis zu einer solchen Veranlassung diese Rolle spielen konnte!“

„Und nun,“ fragte der Major weiter, „was war Dein Vorsatz für die Zukunft?“

„Habe ich eine Wahl? Ich verlasse Dich, verlasse Dich noch heute, in demselben Moment, in welchem Du mir noch zwei Bitten gewährt haben wirst.“

„Sprich sie aus.“

„Bleibe der Beschützer, der Vater meiner Agnes, und dann gib mir Deine Verzeihung.“

Sie hatte nur unter dem heftigsten Aufweinen die Bitten aussprechen können, und war dabei auf das Sopha zurückgesunken. Der Major antwortete ihr nicht gleich, sondern schritt wieder im Zimmer umher und suchte nach einem Entschlusse. Jetzt trat er zu ihr; ein fester Entschluß leuchtete aus seinen Blicken.

„Marie,“ sagte er –

Sie hatte bisher den Namen ohne Widerspruch angehört; die Gewohnheit hatte sie wohl in den ersten Augenblicken nicht zum Nachdenken darüber gelangen lassen. Der Entschluß, den sie in seinem Auge las, führte ihr dieses Nachdenken herbei.

„Nicht Marie,“ entgegnete sie, „entweihe den Namen nicht!“

Diese wenigen Worte erschütterten den starken Mann und seinen Entschluß.

„O, mein Gott!“ rief er, wandte sich wieder um und durchmaß die Stube, von neuem nach einem Entschlusse suchend. Denselben gefunden, kehrte er nochmals zu dem Sopha zurück. „Ich kann nicht anders, Marie,“ setzte er kleinlaut hinzu, „ich habe Alles, mein ganzes Innere geprüft, Deine und meine Lage ruhig überlegt; im Geiste das edle Herz, den klaren Verstand meiner Mutter gefragt; meinen Stolz, ja sogar meine Ehre erforscht; aber ich kann nicht anders, Marie! Nun beantworte mir nur noch eine Frage: hat jener Mensch Rechte an Dich?“

„Er ist mein Verführer, der Vater meines Kindes.“

„Hat er gesetzliche Rechte? Ist er Dein Mann?“

„Nein!“

„Wohlan, Marie, so bleibst Du mein!“

Sie sprang auf. „Nein, Hermann, –“

„Entscheide jetzt nicht, Du hast einen kräftigen Geist, der Schlag mußte Dich dennoch zu stark treffen; Du siehst noch nicht klar.“

„Auch Dich hat er getroffen, Hermann, auch Du –“

„Ich bin ein Mann; höre mich weiter –.“

„Höre vorher mich, Hermann, ich habe Dir noch nicht Alles gesagt; ich wollte Dir die Schmach einer Nachricht, vielleicht den Anblick jenes entsetzlichen Menschen ersparen. Gregoire ist hier; vor einer halben Stunde war er bei mir, hier, in diesem Zimmer, mit schmachvollen Anträgen, mit furchtbaren Drohungen, gar gegen Dich, gegen Deine Ehre, gegen Dein Leben.“

Die Nachricht schien den Entschluß des Majors nicht erschüttern zu können.

„Ich fürchte den Elenden nicht,“ sagte er, „und auch Du wirst ihn keinen Augenblick wieder zu fürchten haben. Höre nun mich weiter.“ Sie ließ ihn nicht weiter reden.

„Nein, Hermann, ich weiß Alles, was Du mir sagen kannst, und will auch glauben, daß Du Dich nicht täuschest, selbst für die Zukunft nicht; aber ich kann nicht, mein Entschluß steht unerschütterlich fest.“

„Du mußt mich hören, Marie, –“

„Ich kann nicht!“

„Um Deiner Kinder willen!“

„Auch für sie nicht; ich weiß, daß Du sie nicht verlassen wirst, Beide nicht!“

„Marie, um meinetwillen denn; willst Du mich völlig unglücklich machen? Beantworte mir nur noch eine Frage: Hast Du mich je geliebt? Liebst Du mich noch?“

Er sprach diese Worte mit dem Tone der innigsten, der wahrsten Liebe. Konnten sie den Eindruck auf das Herz verfehlen, das ihn so innig und wahr liebte?

„Ja, Hermann,“ rief sie, „ich liebe Dich, habe Dich schon von dem Augenblicke an geliebt, als ich Dein Herz erkannte, und ich erkannte es ja gleich in dem ersten Blicke Deines Auges, dem ersten Tone Deiner Stimme! O, glaube mir, Hermann, zweifle nicht an meiner Liebe; aber gerade darum muß ich von Dir scheiden. Hätte diese Liebe mich nicht verzehren müssen, wenn Du mich nicht wieder geliebt hättest? Und kann Dein Herz noch Liebe zu der Betrügerin, der Verbrecherin fühlen?“

„Zu Dir immer, Marie!“

„Nein, nein! Schon bisher hast Du ja mich nicht geliebt, nur die todte Marie; nur durch Selbsttäuschung, durch gewaltsame Selbsttäuschung konnte ich glücklich werden, wenn ich vergaß, daß ich nicht die war, der eigentlich Deine Liebe galt. Und wie gern täuschte ich mich so! Wie war diese Täuschung mir zum Bedürfniß, zur Gewohnheit geworden! – Es ist vorbei, für immer vorbei!“

„Marie,“ entgegnete er, „täuschest Du Dich jetzt nicht? Wen habe ich denn geliebt seit anderthalb Jahren? Wen habe ich mit meinen Armen umfangen, an mein Herz gedrückt, auf meinen Knien geschaukelt? Von wessen Lippen hat das Wort der Liebe in den süßesten Tönen derselben mein Herz mit Glück, mit Seligkeit erfüllt? Wessen edlen, kräftigen Geist habe ich bewundert? Wessen schönes, großes Herz habe ich angebetet? War es nicht immer Du und nur Du?“

„Als Maske der Todten!“ setzte sie hinzu.

„Aber die Maske ist abgefallen, und Du bist doch dieselbe, geblieben; nur dasselbe Herz, denselben Geist, wie sie jetzt sind, habe ich geliebt; nichts ist anders in mir geworden, Du selbst warst Deine Maske; Du stehst nun ohne sie da, wie Du mit ihr warst.“

„Das sind Sophismen, Hermann.“

„Das sind Sophismen der Liebe, ja, Marie oder Antoinette, der Liebe, die nicht von Dir lassen kann. Du hast Recht; Marie bist Du nicht mehr, Marie ist todt; die schöne, edle, gute, von mir so innig geliebte Marie ist todt; mein Herz kann nur noch die Trauer der Liebe für sie haben; es wird sie ewig bewahren. Ewig und ungeschwächt neben dem Glücke der Liebe für die Schwester der Todten, für meine Gattin, für die Mutter meines Kindes, für die, die ich nur –“

Sie unterbrach ihn mit fester Stimme.

„Hermann,“ sagte sie bittend, „erschwere Dir und mir nicht die letzten Augenblicke, die wir noch beisammen sind, beisammen sein können. Du liebst mich, ich weiß es, aber wir müssen uns dennoch trennen, mögen Dein Herz und Deine Liebe Dir zureden, was sie wollen; nur eins bleibt bestehen, und Dein Geist muß es Dir in jedem Momente des klaren Schauens zeigen: ich bin eine Verbrecherin, ich habe Dich in dem Heiligsten betrogen, was der Mensch hat, und eine Verbrecherin kann, darf Dein Herz nicht lieben; könnte es, dürfte es aber auch, ich könnte und dürfte nie an diese Liebe glauben; ein Wölkchen auf Deiner Stirn, ein trüber Blick Deines Auges würde mir ihr Ende verkünden, und mein Leben wäre dann eine ununterbrochene Qual, eine ewige unerträgliche Pein! Spare daher jedes fernere Wort, mein guter, mein edler Hermann! Ein schweres, aber kein unersetzliches Unglück hat Dich betroffen; um so mehr mußt Du starker Mann es tragen. In unserem Kinde, dem lieben Friedrich, blühet Dir ein neues Glück; laß darum auch meine Agnes eine Knospe in dieser Blüthe sein. Jetzt müssen wir scheiden, auf der Stelle, um unserer Aller willen. So lebe denn wohl! Meine beiden Bitten, die ich vorhin aussprach, hast Du mir schon gewährt; ein so braver, edler Mann, wie Du, wird mein armes Kind nicht verlassen. Und Deine Verzeihung lag in Deinen Worten. Habe Dank dafür, Dank für alle Deine Liebe, Deine Güte. Lebe wohl!“

Sie hatte auch jetzt die Kraft, mit ihrer schönen, klaren Milde zu sprechen, und ihm die Hand zum Abschiede zu reichen. – Noch machte der Major einen Versuch.

„Marie, Antoinette,“ rief er, „wenn Du vor anderthalb Jahren als Antoinette zu mir gekommen wärst, mir den Sterbegruß Mariens gebracht, und Dich und Dein Kind in meinen Schutz gegeben hättest, hätten sich nicht auch dann unsere Herzen gefunden? Du hast das heute gethan –“

„Sie hätten sich gefunden,“ unterbrach sie ihn mit einem schweren Seufzer. „Das war mein Verbrechen, daß ich es nicht that; daß ich es erst heute gethan habe, dafür muß ich büßen. Ich wäre glücklich geworden für immer, und hätte Dich nicht unglücklich gemacht, daß Du Armer nun mit mir büßen mußt, für mein Verbrechen. Aber ist auch nicht das ein Fluch des Verbrechens, daß auch Andere mit darunter leiden müssen! – Lebe wohl!“

Sie wand ihre Hand, die er noch immer gefaßt hielt, aus der seinigen; er wollte sie gewaltsam an sein Herz drücken; sie sah ihn flehend an.

[63] „Hermann, ich bin ein schwaches Weib; laß mich! Folge mir nicht!“

Er ließ sie los, sie stürzte zur Thür.

„Marie,“ rief er ihr nach, „meine Geliebte, mein Weib!“

Sie hatte die Thür schon aufgerissen. „Marie, noch ein Wort: was ist Dein Entschluß? Begehe kein Verbrechen, keine –“

Er wagte nicht, das Wort auszusprechen; aber sie hatte seine Gedanken schon errathen.

„Nein,“ entgegnete sie, „fürchte nichts, ich gehe an einen stillen Ort, um meine Tage im Gebete zu beschließen, im Gebete für Dich, für meine Kinder, für meine Vergebung im anderen Leben.“

Sie zog die Thür hinter sich zu, und verschwand in dem auf sie im Hofe wartenden Wagen, den sie schon vorher bestellt hatte, fuhr darin nach Holzminden, und von dort war sie in der Nacht mit der Post weiter gereist. In dem Augenblicke, als sie den Schloßhof verließ, war von der andern Seite die Generalin mit ihrer Nichte auf denselben gefahren; die unglückliche Frau hatte Beide nicht mehr gesehen.




Anderthalb Jahre später rief der König Friedrich Wilhelm III. seine Getreuen zu den Fahnen. Der Major von Rixleben war einer der ersten, die dem Rufe folgten; der König vertraute ihm den Befehl eines Regimentes an. Der Erste in allen Kämpfen mit den Franzosen, fand er, was er suchte – den Tod auf dem Felde der Ehre.

Etwa ein halbes Jahr nach seinem Tode traf auf dem Schlosse Harthausen ein Schreiben der Vorsteherin des Annunciatenklosters in Würzburg mit der Nachricht ein, daß die fromme Schwester Magdalena, des weltlichen Namens Maria Antoinette Andreä, schon lange an der Auszehrung krank, selig dem Herrn entschlafen sei, und in ihr letztes Gebet alle ihre Lieben auf Schloß Harthausen eingeschlossen habe.




General Dufour.
(Mit Abbildung.)

Die Ereignisse in der Schweiz haben in der jüngsten Zeit Aller Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und je ungeduldiger man in ängstlicher Spannung der Dinge wartete, die da kommen sollten, und je lebhafter das Bedauern sich allerwärts aussprach, die eingetretene Waffenruhe von Neuem gestört zu sehen, um so wohlthuender klang in Aller Ohren die Nachricht von der friedlichen Beilegung der eingetretenen Konflikte.

Wenn nun auch diese Sache als der Geschichte überliefert betrachtet werden kann, so dürfte doch eine kurze Mittheilung über den Mann, in dessen Hände die Schweiz ihr Wohl und Wehe gelegt hatte, den Lesern der Gartenlaube angenehm sein, so wie ihnen das Portrait desselben eine willkommene Erscheinung sein wird.

Wilhelm Heinrich Dufour, eidgenössischer General, wurde 1787 zu Konstanz geboren und diente, nachdem er sich zu Genf zum tüchtigen Genieoffizier ausgebildet, unter Napoleon, zur Zeit, da Genf zum großen Kaiserreiche gehörte. Es konnte ihm hier nicht an Gelegenheit fehlen, die Kriegskunst in der Praxis kennen zu lernen, und er brauchte nicht lange Zeit, um unter den Offizieren höheren Ranges und den Rittern der Ehrenlegion genannt zu werden. Sein entschiedenes Feldherrntalent ließ ihn bald unter seinen Kameraden hervorragen, und rühmlichst wird noch der Taktik Erwähnung gethan, mit welcher er im Jahre 1815 die Stadt Grenoble befestigen und vertheidigen half. Seitdem seine Vaterstadt der Schweiz angehört, hat er nie aufgehört, dem schweizerischen Vaterlande seine Dienste zu widmen, und er that es auf ausgezeichnete Weise. Im Jahre 1827 wurde er Oberst im eidgenössischen Generalstabe, und als 1831 die Tagsatzung zur Wahrung der schweizerischen Neutralität ein Heer unter General Gugier von Prangin aufgeboten hatte, wurde er diesem als Chef des Generalstabes beigegeben. Bald darauf zum Oberstquartiermeister ernannt, leitete er die topographische Aufnahme der Schweiz, und die seitdem erschienenen Karten verdanken ihm hauptsächlich ihr Dasein.

Durch seine Verdienste um das eidgenössische Heerwesen, namentlich als Oberinstruktor des Geniekorps an der Militairschule zu Thun, hat er sich in seinem Vaterlande ein unvergängliches Denkmal gesetzt, und das hohe Vertrauen, dessen er sich als Soldat bei seinen Mitbürgern erfreuete, erhielt seine Weihe im Jahre 1847, wo er von der Tagsatzung unter dem gebräuchlichen Titel eines Generals an die Spitze des zur Bewältigung des Sonderbundes aufgebotenen 100,000 Mann starken eidgenössischen Heeres berufen wurde. Es galt damals, durch eine überwiegende Macht einem vielleicht langwierigen und blutigen Bürgerkriege vorzubeugen, dem Auslande aber zu zeigen, wie sich mit dem etwaigen Versuche einer bewaffneten Intervention kein allzu leichtes Spiel treiben lasse. Er war dieser Aufgabe gewachsen und hat sie, so viel an ihm war, gelöst; denn er trug durch seine tüchtige Führung im Sonderbundkriege nicht nur zur besseren Militairorganisation, sondern überhaupt zum Uebergange der Schweiz aus dem lockeren Staatenbunde in den Bundesstaat mittelbar wesentlich bei. In ihm vereinigen sich Theorie und Praxis. Zudem ist er ein feuriger Eidgenosse und ein edler, rechtschaffener, wohlwollender Mann, den alle Parteien hochachten. Seine Mäßigung im Glück, sein versöhnendes Vermitteln, sein theilnehmendes Entgegenkommen und die freundliche Behandlung der Besiegten haben ihm die Herzen selbst Derer gewonnen, die seiner Sache feind waren. Der moralische Eindruck des Sieges, der lediglich seinen weisen und wohlberechneten Maßregeln zuzuschreiben, ist für die große Sache ein unendlich großer gewesen; er hat die Bessern ermuthigt und die Finsterlinge bis in das innerste Mark ihres Lebens erschüttert. Seinen Feldzugsplan hielt er so geheim, daß er einst sagte: „Und wenn ihn sein Hemd wüßte, so würde er es ablegen.“

Sein humaner fester Charakter hat sich auch in dem neuern Konflikte bewährt, und seine Vorsicht und Bedachtsamkeit, womit er zu Werke geht, haben ihre gute Wirkung nicht verfehlt.

Durch Herausgabe mehrerer geschätzter militairischer Werke hat er sich einen Namen unter den militairischen Schriftstellern erworben.




Photogen und Paraffin.

„Man würde es sicher als eine der größten Entdeckungen unseres Jahrhunderts betrachten, wenn es Jemandem gelungen wäre, das Steinkohlengas in einen weißen, festen, trocknen, geruchlosen Körper zu verdichten, den man auf Leuchter stecken, von einem Platze zum andern tragen, oder in ein flüssiges, farb- und geruchloses Oel, das man in Lampen brennen könnte. Wachs, Talg und Oel sind aber brennbare Gase, im Zustand von festen Körpern und Flüssigkeiten, die uns gerade eine Menge Vortheile bieten, welche das Gaslicht nicht besitzt.“

So lautet eine Stelle in Herrn v. Liebig’s chemischen Briefen (Brief XII. S. 214). Die Industrie der Neuzeit hat uns mit zwei Beleuchtungsstoffen, dem Photogen und Paraffin, bereichert, welche um so mehr obigen Stoffen zugezählt werden müssen, als namentlich das Paraffin im Zustande seiner chemischen Reinheit genau die Zusammensetzung des ölbildenden Gases, (1 Kohlenstoff auf 2 Wasserstoff) den Hauptbestandtheil des Steinkohlengases besitzt, und also mit vollem Rechte „verdichtetes, auf einem Leuchter zu steckendes Leuchtgas“ genannt zu werden verdient. Photogen und Paraffin, zu deutsch Lichterzeuger und Verwandtschaftsloser, sind in der That zwei Produkte, die jedenfalls zu einer großen Rolle in der Zukunft berufen sind, wofür die schnelle Ausbreitung dieses neuen Industriezweiges hinreichendes Zeugniß sein dürfte. Wie alles Neue, fand auch er Gegner und Freunde die Hülle und Fülle, und während erstere so weit [64] gingen, die ganze Sache als „reinen Schwindel“ hinzustellen, prophezeiten die Enthusiasten der Gegenpartei ein völliges Aufhören alles Oelfruchtbaues und was dergl. Extravaganzen mehr waren. Die richtige Ansicht dürfte, wie so oft, in der Mitte liegen: die Photogen- und Paraffinfabrikation wird sich zu einer achtungswerthen und einflußreichen Stellung emporschwingen und Vielen lohnenden Verdienst gewähren; der schöne Maimonat wird uns aber trotzdem den Duft und das lustige Hochgelb der Rapsblüthe bringen und mancher Oekonom nach wie vor seinen Pacht mit dem Erlös für die Oelsaat bezahlen.

Das Photogen, in reinem Zustande eine wasserhelle, leicht bewegliche Flüssigkeit von stark lichtbrechender Kraft, ist ein Gemisch verschiedener ätherischer Oele, aus Kohlenstoff und Wasserstoff bestehend, von denen das bekannteste das Benzin oder Benzol als Flecken vertilgendes Mittel, so wie als Lösungsmittel für Kautschuk, Harze u. s. w. bereits ausgebreitete Anwendung findet. Die erste Einführung des Photogens verdankt man dem französischen Fabrikanten Salligner, welcher aus den bituminösen Schiefern von Autun und Vouvant ein Oel bereitete, das er zwar anfangs nur zur Leuchtgasbereitung benutzte, später aber durch Destillation gereinigt, als Beleuchtungsmaterial zur Speisung eigenthümlich konstruirter Lampen, von dem Pariser Lampenfabrikanten Delignous erfunden, in den Handel brachte. In England und Belgien verwendet man das dem Photogen identische Steinkohlentheeröl oder die Kohlennaphtha schon seit Langem zur Beleuchtung von Straßen, Werkstätten u. dergl. Orten, und bediente sich dazu eigner, dochtloser Lampen, wie man sie heute in den Straßenlaternen der Leipziger Marienvorstadt und andern Orten in Norddeutschland findet. Der höchst unangenehme, intensive Geruch der neuen Waare mußte jedenfalls für den Anfang ein Hinderniß ihrer schnellen Ausbreitung sein; die durch bessere Darstellungsweise erzielte größere Reinheit und die vervollkommnetere Konstruktion der Lampen brachen ihr endlich Bahn und wurden darin jedenfalls durch die hohen Rübölpreise der letzten Jahre wesentlich unterstützt. Heut zu Tage sieht man das blendend weiße Licht des Photogens schon in vielen Gegenden ganz allgemein in Haushaltungen, Verkaufslokalen, Werkstätten und Straßen, und jeder Konsument findet sich durch die Billigkeit des Stoffes, verbunden mit seiner großen Leuchtkraft völlig befriedigt und übernimmt um dieser Vorzüge willen gern die geringe Mühe einer sorgfältigen Abwartung und Reinhaltung der Lampen, welche, so wie das Füllen, Anzünden und Auslöschen derselben des Geruchs wegen außerhalb der Zimmer, allerdings eine nothwendige Bedingung bei dem Gebrauche sind.

Das Paraffin, eine schneeweiße, wachsartige Substanz, ist ein Produkt der trocknen Destillation vieler organischer Körper. Es wurde zuerst im Jahre 1831 von Dr. Reichenbach zu Blansko in Mähren aus Buchenholztheer dargestellt und beschrieben, aber erst 1850 gelang es dem englischen Chemiker Young, eine Methode ausfindig zu machen, mittelst welcher das Paraffin in verhältnißmäßig großer Menge und auf eine hinlänglich billige Weise gewonnen werden kann, um zu einem Industrie- und Konsumtionsartikel zu werden. Herrn Young’s Paraffinfabrik zu Manchester war die erste ihrer Art, und er daher nach Reichenbach’s eigenem Zeugnisse der Urheber der neuen Industrie.

Das Paraffin ist in gewöhnlicher Temperatur starr, krystallinisch, rein weiß, geruch- und geschmacklos, und schmilzt bei 45° C. zu einer farblosen, öligen Flüssigkeit; es zeichnet sich in chemischer Hinsicht durch eine merkwürdige Indifferenz aus, welcher es auch seinen Namen verdankt, denn weder ätzendes noch kohlensaures Kali, Natron und Ammoniak, noch Schwefel-, Salz- und Salpetersäure üben irgend eine Wirkung auf dasselbe aus und selbst rauchendes Vitriol greift es nur bei höherer Temperatur an und zersetzt es langsam. Diese noch nicht hinreichend gewürdigten Eigenschaften gewähren an sich schon dem Paraffin einen hervorragenden Platz unter den Produkten chemischer Industrie, abgesehen von der Eleganz und Schönheit der daraus gegossenen Kerzen, die durch ihre durchscheinende, alabasterne Weiße und helles Licht die besten Stearinkerzen in den Schatten stellen. Freilich ist der jetzt noch hohe Preis derselben ein Hinderniß ihrer allgemeinern Verwendung; doch wird die unausbleibliche Konkurrenz und die Fortschritte der Industrie selbst nicht nur diese bald ermäßigen, sondern auch die noch vorhandenen Unvollkommenheiten dieser so schönen Kerzen dauernd beseitigen.

Es kann nicht im Zwecke dieses Blattes liegen, die Hand in Hand gehenden Fabrikationen des Photogens und Paraffins in ihren Einzelnheiten zu beschreiben; es ist dies die Sache technischer und chemischer Schriften, die zudem auch nicht viel darüber berichten, da man die speciellen Verfahrungsarten noch immer zu verheimlichen sucht. Es genüge uns, hier zu wissen, daß der Theer von Holz, Torf, Braunkohlen, Steinkohlen, bituminösen Schiefern und Kalksteinen (dem Stinksteine), ja selbst von allen möglichen thierischen Stoffen (bekannt unter dem Namen Franzosenöl) die Quelle ist, aus welcher die Kunst des Chemikers durch verschiedene Destillationen, Behandlung mit Säuren und Alkalien, Waschungen mit Wasserdampf u. s. w. die beiden Produkte ausscheidet; aber nicht sie allein, sondern noch eine ganze Reihe anderer Produkte, die man jedenfalls dem stinkenden, schmierigen Theere kaum zutrauen würde: da ist z. B. der bekannte Kreosot, das schon oben erwähnte Benzin, welches durch Einwirkung von Salpetersäure zu Bittermandelöl wird und zu Parfümerie und Konditoreiwaaren zu verwenden ist; die Pikrinsäure, ein gelber Farbstoff für Wolle und Seide; das Pittakal, ein blauer Farbstoff; verschiedene Fette und Oele, die zum Schmieren von Maschinentheilen aller Art dienen können, und endlich der Asphalt, dessen mannigfaltige Anwendungen noch einer ungeheuren Ausdehnung fähig sind. Dazu kommen Nebenprodukte aller Art: Kohlen und Koake, Ammoniak und Holzessigsäure, Schiefer zur Alaunfabrikation, Asche zur Düngung u. s. w.

Aber nicht allein die oben erwähnten Stoffe liefern der neuen Industrie das Rohmaterial: bereits hat man in manchen Erdpechen, Erdharzen und Steinölquellen einen großen Paraffingehalt nachgewiesen und mächtige Lager derselben behufs industrieller Ausbeutung aufgeschlossen; so berichtet Herr Robert Doms in Lemberg an die k. k. geologische Reichsanstalt zu Wien:

„Sehr häufig in der Nähe unserer Salzformation am Rande der Karpathen kommen mächtige Thonmassen angeschwängert mit Bergtheer, eine Lösung von Ozokerit (unreines Paraffin), Brandharzen und Asphalt in Steinöl vor. Die Gewinnung dieses Bergtheeres zur späteren Darstellung des Steinöles, um dasselbe statt des Kamphins in Lampen zu verbrennen, worauf ich ein Patent für die Monarchie gewonnen habe, veranlaßte mich, in Borgstow bei Drohobietz einen Schacht abzuteufen, hoffend, dieselben Verhältnisse wie in Baku am kaspischen Meere anzutreffen, wo einfache Brunnen ungeheure Mengen Naphtha liefern. Wenige Spatenstiche unter der Oberfläche fängt der bituminöse Thon an, der bei einem Schachte, den ich abteufte, in der 7. und 8. Klafter am meisten mit Bergtheer durchdrungen ist, in welcher Tiefe auch allein der Ozokerit in Ballen in den Thon eingeschlossen vorkam und habe ich bei 2/3 Kubikklafter Erdaushebung 220 Pfund rohen, ausgeschmolzenen Ozokerit erhalten. Die Bohrung ist bis zur 16. Klafter vorgeschritten, ohne das Liegende des bituminösen Thones erreicht zu haben.“

Solche natürliche Paraffinvorräthe müssen bald ihren Einfluß geltend machen und den Nutzen des Stoffes verallgemeinen!

Werfen wir nun einen Blick auf die unausbleiblichen Folgen der Ausbildung des neuen Industriezweiges, so sind sie zwar jetzt noch kaum berechenbar, aber ohne Zweifel heilsam für die ganze menschliche Gesellschaft. Durch Verwendung einer Menge, bisher theils ganz werthloser, theils nur wenig benutzter Naturprodukte, wie der bituminösen Schiefer, des Torfes, des Erdpeches u. s. w. müssen dem Nationalvermögen große Summen gewonnen werden; die Erzeugung der neuen Produkte wird die hohen Preise von Talg und Rüböl nicht noch höher steigen lassen, sie für die Beleuchtung entbehrlich und zu vortheilhafteren Verwendungen verfügbar machen; der unbegrenzte Verbrauch der fraglichen Produkte wird eine Ausdehnung dieser Industrie zulassen, die Tausende von Arbeitern lohnend beschäftigen wird!

Das erste Etablissement zur Erzeugung von Photogen und Paraffin war in Deutschland die Fabrik von Wiesmann & Co. bei Bonn; ihr sind in neuester Zeit eine Menge Konkurrenten erstanden, deren Existenz freilich zuweilen mehr auf sanguinischen Hoffnungen, als auf solider, industrieller Basis ruht.

Karl Müller.

 

[65]
Die geheimnißvollen englischen Lockteiche.




So eng England in den meisten Gegenden der dichten Bevölkerung und auch uns im Vergleich zu andern Ländern erscheint, erfreut es sich doch natürlicher und noch mehr künstlicher Wildnisse, welche nie von dem Laute einer civilisirten Thätigkeit erschreckt werden, in denen der schrille Pfiff einer Locomotive, das heisere Geräusch einer gewetzten Sense, das ferne Aechzen eines Segels, der Anblick, ja der Geruch eines Menschen zum unerhörtesten Verbrechen würde. Schon die berühmten „Fen-districts“ (Moorgegenden) lassen oft blos Menschen zu, insofern sie den darin herrschenden befiederten und besinnten Geschöpfen, den lebendigen Vorrathskammern der Wild und Geflügel essenden Standes- und Geldaristokratie, der Helden in der Geflügel-Ausstellung des Krystallpalastes als Wärter und Erzieher, als Einfänger und Vertheidiger dienen. Die darin gehegten und gepflegten Moor- und Sumpfvögel, Teichfische und Amphibien sind heilig, aristokratische Jagd-, Fischerei-, Angel- und Lockteich-Privilegien. Ja selbst das gemeine, wilde Kaninchen, unabsehbare Strecken mit Millionen bevölkernd, ist heilig, so heilig, daß die Magistrate Jungen schon wegen des Verdachts, daß sie möglicher Weise die Absicht gehabt haben könnten, mit einem „Karnikel“ Streit anzufangen, hart bestrafen.

Der Mensch hat immer eine große Vorliebe für das Geheime und Verbotene, sei’s für Geheimrath werden oder verbotene Bücher, für die Geheimnisse der Chemie oder der Kabinette. Sobald ich hörte, daß diese künstlichen Wildnisse dem gewöhnlichen Sterblichen hermetischer verschlossen seien, wie dem besten Riesen-Teleskope die Grenzen des Himmels, nahm ich mir vor, um jeden Preis Zutritt in diese verbotensten Heiligthümer der englischen Jagd- und Wildprivilegien zu bekommen. Ich hatte keine Wahl mehr, es ließ mir keine Ruhe.

Was sonst noch kein Fremder gewagt, sollte es einem courageusen Deutschen nicht möglich werden, in die verborgenen Heiligthümer der Moore von Norfolk und Lincolnshire, in einen Ententeich, einzudringen? Das nagte an meinem patriotischen Herzen. Ich konnt’s nicht ertragen. Jeder Engländer sagte mir: „Nicht möglich! Lächerlich, dies zu versuchen! Ist noch niemals Jemandem gelungen.“

Was liegt daran, einen Ententeich zu sehen, denn darin besteht das ganze Geheimniß. Nichts! Nicht das Geringste. Aber die Unmöglichkeit, ihn zu sehen, das war der meinen Augen hingeworfene Fehdehandschuh, den ich nicht liegen lassen durfte. Ich glaube, es würde nicht halb soviel gestohlen, wenn das siebente Gebot nicht wäre. Wenigstens bin ich überzeugt, daß ich nie daran gedacht hätte, den Ententeich in Lincolnshire zu besehen, wenn ich nicht Jahre lang von allen Seiten gehört hätte, so etwas sei absolut unmöglich und wenn ich nicht Jahre lang mit allen Gesuchen und Petitionen um Zulassung entschieden und einige Male grob abgewiesen worden wäre, wie ich die meisten Merkwürdigkeiten großer Städte, die umsonst zu sehen sind, während Jahre langen Aufenthalts keines Blicks gewürdigt und nur denen meinen Besuch abgestattet habe, die ummauert, mit Brettern und Leinwand vernagelt, nur für Geld zu sehen waren.

Man halte dies nicht für überflüssige Einleitung in die Geheimnisse eines Ententeichs. Es ist kein gewöhnlicher Ententeich, sondern ein Entenlockteich „a decoy“, wie’s die Engländer nennen, ohne daß 10 Menschen eine richtige Vorstellung davon haben. Ich habe in illustrirten Magazinen, ja in naturwissenschaftlichen Büchern der Engländer nur ganz verkehrte Beschreibungen und Abbildungen davon gesehen. Man sieht Jäger mit Flinten in solchen abgebildeten „decoy’s“ mit Jagdhunden. Aber diese künstlichen Wildnisse für wilde Enten und Wasser- und Zugvögel ähnlicher Art sind so empfindlich, daß der bloße Gedanke an einen Schuß die Ernte eines ganzen Jahres verderben kann.

Ich glaube, noch Niemand in England, der schriftstellern und zeichnen kann, hat jemals einen solchen Teich gesehen, wenigstens lassen sich die falschen und verkehrten Schilderungen und Abbildungen davon, die von einer einzigen falschen Phantasiezeichnung in alle Bücher, selbst naturwissenschaftliche übergegangen sind, nicht anders erklären. Um aber nicht zu lange einzuleiten, übergehe ich die ganze merkwürdige Geschichte meiner Liste und Ränke und Diplomatieen, die endlich doch (Ende vorigen Novembers) zum Ziele führten. Es war freilich auch Glück dabei, da ich Zutritt zu einem Lockteich-Eigenthümer ausfindig machte, der sein ganzes Geschäft selbst besorgte, so daß Alles von ihm allein abhing. In größern Anstalten der Art, der Aristokratie gehörig, ist der Zutritt wohl allerdings absolut unmöglich, schon deshalb, weil der einzige Mensch, der die Geheimnisse dieser merkwürdigen Schonungen größtentheils allein betritt, so voller Aberglauben und so eifersüchtig auf sein Monopol ist, daß ihn kein Herr und Eigenthümer zwingen und bewegen kann, nur ihn zuzulassen.

Nachdem mir der aufgeklärte Eigenthümer einer kleinen Anstalt der Art feierlich Eid und Ehrenwort abgenommen, daß ich nie seinen Arm loslassen, mich nicht sehen, nicht hören, nicht riechen lassen, nicht sprechen, nicht husten, nicht niesen wolle, schlichen wir vorsichtig unsern Weg durch Gebüsch und Schilf in das Heiligthum seines Teiches an, Jeder ein Stück glimmenden Torfes in durchlöcherter Blechbüchse vor uns tragend, das beste Mittel, die „Witterung“ menschlicher Nähe für die Bewohner des Teiches zu zerstören.

Seltsamste, panischste aller Naturscenen! Schon meilenweit vor der Wohnung meines „Decoy-man“ (Verwalters und Eigenthümers des Wild-Enten-Lockteichs) hatte jede Spur von Civilisation und deren Geräusch aufgehört. Ein trüber, schwerer Nebel hing über dem niedrigen Buschwerk und in den unabsehbaren Bayonnetten von Schilf-Armeen, die nach allen Seiten hin in trauriger Ebene sich in’s nebelhaft Unbestimmte verloren. Schweigend schlichen wir durch die schweigenden Fußpfade, die durch Schilf über dumpfen Boden hinirrten, hinter uns ein jämmerliches, merkwürdiges Exemplar von stummen Hunde. Die leiseste Luftbewegung wurde laut im seidenen, scharfen Seufzen des Schilfes, das bald mauerartig dicht vor uns stand. Wir waren vor der äußersten Verzäunung angekommen, der äußersten, höchsten Schilffestungsmauer, deren mehrere den sechsstrahligen Teich umgeben und gegen Geräusch und Aussichten schützen. Weitere Umgebungen müssen durch anderes Gestrüpp und Dickicht mindestens anderthalb englische Meilen ringsum jedes lautere Geräusch ausschließen. Diese Umgebungen müssen also künstlich vereinsamtes, wild liegendes Eigenthum des Teichbesitzers und weit und breit vor Menschen und deren Thun und Treiben gewahrt sein. Das macht solche Anlagen in einem Lande, wo Grund und Boden fast überall schon zu enge und deshalb theuer ist, ungemein kostspielig und immer mehr zu Seltenheiten großer aristokratischer Grundbesitzer. Das Pfeifen oder Zurufen eines Pflugknechts, das Geklingel einer Schafglocke, eine gewetzte Sense darf hier nie vernommen werden. Straßen mit knarrenden Wagen, die knirschende Takelage eines Bootes, das fernste Aufkreischen einer Locomotivpfeife entvölkert den geheimnißvollen Teich oft auf ein ganzes Jahr und macht ihn werthlos. Mein Führer, der 1/2 Meile weit von seinem Teiche wohnte, hatte sich einmal die ganze Ernte verdorben, blos durch heftiges Einschlagen eines Nagels in sein Hausthor. Der Lockteich darf mit einem Worte von keinem Geräusch, das die wilden Bewohner selbst nicht machen, berührt werden. Sie sind natürlich, je nach den Mitteln, verschiedener Größe. Der, welchen ich zu sehen auserkoren war, bestand aus einem etwa drei Morgen bedeckenden See mit sechs regelmäßigen, sich einengenden Ausläufen, „pipes,“ Pfeifen, genannt. Aus der Vogelperspektive würde er daher wie ein sechsmahliger Stern oder eine sechsfüßige Spinne aussehen. Von jeder „Pfeife“ krümmen und engen sich rundbogig überdeckte dunkle Graben, in welche die wilden Enten gelockt, von unsichtbarer Hand geräuschlos gewürgt und auf den Markt (à Stück 11/2 bis 3 und mehr Thaler) gebracht werden. Die am See mit 18 Fuß Weite anfangenden und sich dann von allen Seiten, auch in ihren Ueberdachungen einengenden Pfeifen laufen in den sechs Hauptrichtungen des Kompasses in’s Land hinein, um sich immer der bedienen zu können, gegen welche der Wind kommt und so den Geruch des einzigen Menschen in ihrer Nähe wegzublasen. Bei Windstille muß nicht selten glimmender Torf diesen Menschengeruch (gegen den alles Wild die fabelhaft feinste Nase des Abscheues und der Furcht hat) zerstören, wie wir ihn, weil ihrer Zwei, der Vorsicht wegen bei uns [66] trugen. Am Ende dieser Pfeifen liegen Netze auf dem Grunde, die mit einem einzigen Ruck über die Exemplare, welche sich von der „Lockente“ zu dem Tode des Verraths ködern ließen, gezogen und dann wieder unter Wasser gebracht werden, wo der listige Fänger sie lautlos erwürgt, so daß nicht einmal ihr Angstgeschrei die andern warnen kann. Wie aber werden die wilden, scheuen, ungemein scharf besinnten und mißtrauischen Thiere in diese Kanäle des Verraths geködert? Das ist die merkwürdigste List, die mir je vorgekommen: mit einem Judas, einem gewerbsmäßigen, einstudirten Judas unter ihnen, und einem seltsamen Exemplare von Hunde, dessen Erziehung, wie so häufig unter Menschen, blos in künstlicher Verblödsinnigung bestand. Man läßt ihn erst zu Hause zwischen Oeffnungen nach durchgeworfenem Brote springen und dabei auf stummen Wink gehorchen. Außerdem wird er künstlich stumm gemacht und jeder leiseste Laut, den er von sich gibt, so lange bestraft, bis er niemals mehr muckst. Auch bekommt er keinen Namen und muß ausschließlich auf Winke gehorchen lernen. Ist diese Erziehung des Hundes vollendet, wird er examinirt und angestellt, um ihn mit der „Lockente“ um die Wette unbewußt zum Morde zu führen.

Die Lockente (decoy-duck) wird aus jungen zahmen Enten vom Eie weg gewählt, insofern ihr Gefieder dem der wilden Ente entspricht. Nur die eine Person, welche sie einst gebrauchen will, füttert sie ausschließlich, wobei ihr jedesmal ein bestimmter Passus von Tönen ganz leise vorgepfiffen wird. Auch bekommt die zum professionellen Verrath erzogene Ente während des ganzes Jahres ihrer einsamen Schule keinen andern Menschen zu sehen. Versteht sie das leise Gepfeife, den Schritt, die „Witterung“ ihres Erziehers und frißt sie ihm aus der Hand, wird sie angestellt. Decoy-man, decoy-duck und decoy-dog, Lockmann, Lockente und Lockhund, das ist das ganze Künstlerpersonal, welche die Enten „wirken“, um den professionellen Ausdruck für das Locken derselben in die Todeskanäle wörtlich wiederzugeben.

Die wilden Enten verlassen ihre Tagesresidenz auf dem Lockteiche jeden Abend in der Dämmerung, um während der Nacht in den benachbarten Mooren Frösche und dergleichen wohlschmeckendes Gethier unglücklich zu machen und sich zu laben, kehren mit Tagesanbruch gesättigt zurück und schlafen bis Mittag und amüsiren sich dann wieder bis gegen Abend. Gleich nach dem Erwachen waschen und putzen sie ihr Gefieder und ordnen es mit der größten Koketterie. Dann vertheilen sie sich in Gruppen und schwatzen und lachen mit einander aus verschiedenen Entfernungen. Im Frühjahre gibt’s viel Liebesangelegenheiten für’s Leben zu ordnen, wobei viel duellirt wird, da die wilden Enten die unter zahmen anerkannte Institution der Polygamie durchaus nicht dulden, so daß Nebenbuhler energisch und für immer abgewiesen werden müssen. Dabei gibt’s unter den jungen Enterichen, wie Enten, manche Koketten und Courmacher, worüber es viel zu klatschen gibt, mit den Flügeln, wie mit den skandalsüchtigen Breitschnäbeln. Aeltere, gesetzte, verheirathete Herren und Damen setzen sich während solcher Liebes- und Ritterkämpfe der Jugend auf dem Wasser gern ruhig an den Ufern, die unmittelbar am Rande von Schilf und sonstigem Wuchs frei gehalten werden, zur Sonnung und ruhiger Unterhaltung, zum Zusehen und zur Kritik. Alles benimmt sich ganz ungenirt, wie in den fernen Wildnissen von Bothnia u. s. w., wo manche von ihnen gelegt und ausgebrütet wurden.

Sie ahnen nicht, daß gierige Menschenaugen durch künstlich in die Schilfmauern gebogene Oeffnungen jede ihrer Bewegungen studiren. Der Lockmann fängt unter gewöhnlichen, nicht durch Wetter u. s. w. gestörten Verhältnissen etwa um 2 Uhr sein listiges, dem Gewetze des Schilfs abgelauschtes, leises Pfeifen an, das die Lockente für Einladung zu Tische nimmt. Von ihr hängt jetzt Alles ab. Ist sie sehr hungrig, so macht sie durch ungestümes Klatschen und Flattern nach der für sie bestreuten Speiseröhre (der „Pfeife,“ nach welcher ihr gepfiffen wird) die wilden Collegen stutzig und mißtrauisch. Hat sie die Nacht über gut geschmaust, folgt sie der Einladung entweder gar nicht oder nachlässig. In beiden Fällen verfehlt sie, Nachfolger hinter sich herzulocken. Sie muß mit einer gewissen vornehmen, leidenschaftlosen Zutischegehmiene den Locktönen ihres Meisters folgen, wenn ihr ein guter Theil der wilden Gesellschaft folgen soll. Sobald nur einige, geführt von der Lockente, in einer bestimmten Richtung schwimmen, denken andere am Ufer: da muß was los sein, wollen doch sehen! und schließen sich neugierig dem Zuge an bis zur Oeffnung der „Pfeife,“ wo die Lockente, der hier nun bald Leckerbissen hereingestreut werden, zurückbleibt, während die andern „auf den Hund“ kommen. Der Lockmann wirft jetzt weiter nach innen der Pfeife ein Stück Brot durch eine Oeffnung der innersten Schilfmauer, welches sich der Hund holt und zurückspringt. Die Enten mußten ihn dabei sehen und schwimmen neugierig nach dem Orte, wo ihnen das merkwürdige Phänomen erschien und verschwand. Inzwischen schleichen Mann und Hund nach der nächsten Oeffnung, durch welche den Enten dieselbe flüchtige Hundeerscheinung auffällt, so daß sie ihre Forschungen auch auf diesen Punkt ausdehnen. So geht es fort, bis sie eingeengt und umnetzt, gepackt, gewürgt und den Epikuräern der englischen Standes- und Geldaristokratie zugeschickt werden.

Die „Strippen,“ an welchen die beiden Hülfsverräther geleitet werden, sind sehr einfach. Hund und Ente gehen nach Brot. Ihre ganze Dressur besteht darin, daß sie in dieser bestimmten Weise ihr Brot zu suchen gewöhnt wurden. Von der teufelischen Lust, mit welcher die Lockente ihre Mitbürger in die Falle des Verraths führen soll, wie mehrere englische Dichter gesungen haben, weiß der Lockmann nichts, wohl aber steckt er voll des seltsamsten Aberglaubens, den er aus seiner einsamen, menschenscheuen, sumpfigen Lebens- und Geschäftsweise zog. Ich erwähne hier nur einen Zug. Der Mann schreitet nie zur Blüthe und Frucht seiner merkwürdigen Arbeit, dem Halsumdrehungsgeschäfte, wenn die Lockente zufällig einmal mit in die „Pfeife“ hineinschwimmen sollte, weil er sich schämt, sich ihr, die ihn blos als treuen Freund und Fütterer kennt, in seinem wahren Charakter zu verrathen. Er wacht, oft gegen seinen augenblicklichen Vortheil, eifersüchtig darüber, daß ihm die Liebe und das Vertrauen der Lockente bleibe. „Hab’ ich doch sonst keinen Freund auf Erden!“ setzte der Mann hinzu, als er mir später dieses Herzensgeheimniß nicht ohne Anflug von Gefühl enthüllte.

Die Rolle des Hundes mag auffallend erscheinen, läßt sich aber aus der auf Enten ausgedehnten menschlichen Natur sehr einfach erklären. Wo’s etwas Neues zu sehen gibt, drängen sich die Leute zu. Eben so machen’s[WS 2] die Enten, denen, namentlich beim ersten Anblick, nichts Merkwürdigeres in ihrer ausschließlichen Wildniß verkommen kann, als ein plötzlich hervorspringender und scheinbar erschreckt und furchtsam wieder ausreißender naseweiser Hund. Neue Ankömmlinge benehmen sich beim ersten Anblick auch so neugiertoll, wie kaum Krethi und Plethi unter den Menschen, denen zum ersten Male Gelegenheit geboten wird, eine Mißgeburt, einen persischen Prinzen oder dreibeinigen Hasen zu sehen. Man kann übrigens leicht an zahmen Enten beobachten, was hier die wilden thun. Trinkt ein Hund aus ihrem Teiche, schwimmen sie mit langen Hälsen und bedeutungsvollen Zuckungen und Winken auf ihn zu, um ihm zu drohen oder ihn näher zu besehen. Dem gesättigten und davonlaufenden Hunde quärren sie dann einen jubelnden Hohn nach, stolz auf ihre vermeintliche Courage und den feigen Rückzug des Hundes.

Das ist ein Bild des regelmäßigen Geschäfts. Aber es wird nicht selten entsetzlich aus der Natur desselben heraus gestört. Es gibt viele Arten von wilden Enten, die beim Lockmann alle ihre verschiedenen Namen haben: „teal, widgeon, gewöhnliche wilde Ente, pochard, shoveller, pin-tail“ u. s. w. Unter ihnen ist die „Pochard“ ein wahrer Satan von List und Pfiffigkeit. Sie riechen die Gefahr, das Netz auf dem Grunde und tauchen oder fliegen dann blitzschnell und stürmisch genau in der Richtung, in welcher sie kommen, zur Pfeife hinaus, wodurch sie die andern Arten so in Furcht setzen, daß sie ihnen nachstürmen und oft alle entkommen. Man hat schon Netze vor ihnen, näher der Mündung der Pfeife plötzlich aufgezogen, um ihre Flucht unmöglich zu machen, sie aber nie gefangen. Durch Fliegen, Tauchen, Stürmen gegen das Netz u. s. w. fanden sie stets, entweder oben oder unten eine Stelle ausfindig, um zwischen Netz und Boden oder Netz und Netz oben zu entkommen. In der Regel folgen sie aber gar nicht in die Pfeife hinein, sie scheinen die Gefahr darin genau zu kennen. Sie schwimmen höhnend vor der Mündung der Pfeife umher, machen listige Winke, schwimmen davon, nicht selten gefolgt von allen andern. „Das ist zum Todärgern,“ sagte der Mann, „zumal da die Pochards mit ihrem feinen Fleische den berühmten amerikanischen Canevas-Enten gleichkommen und mit Gold aufgewogen werden.“

[67] Noch schlimmer ist der Hecht von unten. Daß er junge Enten verschlingt, ist durchaus nicht sein schlimmster Fehler. Wenn er wie eine Boa Constrictor gefressen, legt er sich gern im seichten Wasser zur Verdauung, nicht selten an der Mündung einer Pfeife.

Kommen nun die Enten, geführt von ihrer Lockerin, wie eine kleine Flotte angeschwommen, dreht er sich unwillig, zu sehen, was los sei, schlägt mit dem Schwanze, und bringt die ganze Flotte fliehend auf ihre Flügel. So verliert der Mann durch diesen Hechtschwanz vielleicht einen Fang von 100 bis 150 Thalern an Werth.

Und dann der langbeinige Reiher! Wie in Stein gehauen steht er da am Rande, den langen Hals zusammen geklappt, mit funkelnden, kleinen runden Augen, um den Fisch in seiner Nähe blitzschnell mit langem Schnabel zu spießen, zu verschlingen und dann wieder wie steinern still zu stehen, bis wieder ein Fisch in das Bereich seines Spießes schwimmt. Das würde noch nicht so viel schaden, aber er wittert noch viel feiner, als die Enten. Selbst der glimmende Torf entgeht ihm nicht. Mit eigenthümlichem Jammergeschrei fliegt er davon, und warnt damit auch die Enten, die insofern viel Sprachkenntnisse zu haben scheinen, als sie den Warnungsruf einer ganz andern Thiergattung sofort verstehen, danach fliehen und die Mitte des Teiches den ganzen Tag nicht wieder verlassen.

Die Geschäftszeit für den Lockmann ist vom Oktober bis März. Einige Entenarten bleiben das ganze Jahr. Die besten aber kommen vom Oktober an aus den großen Sumpfgegenden von Nordeuropa, und bleiben bis zum Frühlinge, wenn ihre Sommerwohnungen wieder aufgethaut sind.

Diese hocharistokratischen künstlichen Wildnisse und Wildstände haben im Hechte, im Reiher und dem schwarzbraunen pfiffigen Pochard arge Feinde, ärgere aber in der Art, der Schaufel, der niedrigen Karre, dem gemeinen Pfluge. Die französische Aristokratie opferte ihre Vorrechte in einer heißen Augustnacht; der englischen, zäheren, werden sie langsamer, nüchterner, aber gründlicher abgepflügt, und durch Schürfen und Schaufeln sehr allmälig abgewonnen.




Ein Besuch bei Alexander von Humboldt.

Durch die Empfehlung eines jungen Naturforschers, der sich schon längere Zeit der Gunst und Theilnahme des berühmte Gelehrten erfreute, gelang es auch mir, Zutritt bei Alexander von Humboldt zu erhalten. Bei den zahlreichen Besuchen, mit denen der große Mann täglich beschwert wird, ist derselbe genöthigt, eine gewisse Ordnung zu beobachten. Jeder Fremde, der die Bekanntschaft Humboldt´s zu machen wünscht, hat sich deshalb schriftlich an denselben zu wenden. In dem Falle, daß der Besuch angenommen wird, erhält er eines jener kleinen Billets von der eigenthümlichen Hand des Gelehrten, deren Hieroglyphenschrift keineswegs so leicht zu enträthseln ist. Von seinen Reisen schreibt sich Humboldt die Gewohnheit her, auf einer über seinen Knieen ausgebreiteten Mappe sowohl Briefe wie größere Arbeiten zu schreiben; er bedient sich der lateinischen Lettern. Die Zeilen beobachten nicht immer die gerade Linie, die einzelnen Buchstaben schwanken hin und her, und manches Wort bleibt selbst für die eingeweihten Freunde und Verehrer eine unlösbare Aufgabe, die schon Manchen zur Verzweiflung gebracht hat. Die charakteristische, aber keineswegs kalligraphische Handschrift umschließt aber wie ein unscheinbares Gefäß den köstlichsten Inhalt. Jedes dieser Briefchen, selbst das unbedeutendste, legt ein Zeugniß für den Geist und die humane Bildung des Absenders ab. Es sind Reliquien, die der Empfänger sorgfältig zu bewahren pflegt.

Ein solches Briefchen beglückte auch mich, und lud mich zu Alexander von Humboldt ein. Zur bestimmten Stunde stand ich in der Brandenburger Straße vor dem Hause, welches der berühmte Gelehrte schon seit langer Zeit bewohnt. Das Gebäude gehört dem reichen Banquier Alexander Mendelssohn, mit dessen Familie Humboldt seit Jahren schon befreundet ist. Als Humboldt die ihm lieb gewordene Wohnung verlassen sollte, kaufte Herr Mendelssohn das Haus, und sicherte so seinem Freunde und jetzigen Miether den behaglichen Aufenthalt. Dieser Zug einer liebenswürdigen Pietät von Seiten des Banquier verdient gewiss die vollste Anerkennung.

Mit klopfendem Herzen stieg ich die Treppe hinauf, welche nach der Belle-Etage führt. Ein Gefühl von Ehrfurcht überkam mich plötzlich, als ich in das Vorzimmer trat; mir war zu Muthe, als sollte ich mit dem Könige sprechen. Im Reiche des Geistes ist Alexander von Humboldt sicher ein geborener Fürst von Gottes Gnaden, seine Herrschaft erstreckt sich über die ganze Erde, und sein Name wird in den fernsten Weltgegenden mit Bewunderung und Verehrung genannt. Er erschien mir in diesem Augenblicke als ein Welteroberer im höchsten Sinne. Ich dachte an seinen wissenschaftlichen Siegeszug durch das spanische Amerika, durch die Hochebenen Asiens, wie er die Anden bestieg, auf dem Chimborasso die Fahnen der Wissenschaft wehen ließ, die Krater der feuerspeienden Vulkane durchforschte, das Senkblei des Geistes an die Tiefen des Meeres und an die höchsten Gipfel der Erde legte, die Naturkräfte und ihre Gesetze maß und bestimmte, und magnetische Kreise von einem Punkte zum andern zog. Er war mir wie Napoleon Eroberer, Sieger und Gesetzgeber zu gleicher Zeit. Die Nähe eines solchen Mannes hat für uns zugleich etwas Erhebendes und Demüthigendes. Wir werden uns der eigenen Kleinheit und der Größe der Menschheit bewußt. Ich hatte vollkommen Zeit, diesen Gedanken nachzuhängen, und zugleich einen Blick auf meine nächste Umgebung zu thun. Das Vorzimmer war mit ausgestopften Vögeln, mit Fischen und Seethieren einer fremden Zone erfüllt; rings umher standen verschiedene physikalische und astronomische Instrumente, der gelehrte Apparat, mit welchem der Naturforscher die Wunder der Schöpfung enthüllt. An den Wänden hingen einige Gemälde, meist landschaftliche Ansichten ferner und exotischer Gegenden. Das Ganze stimmte zu dem Charakter und Beruf des Eigenthümers, und bereitete den Gast in würdiger Weise vor.

Nachdem ich einige Augenblicke hier verweilt, erschien der Kammerdiener, Herr Seifert, der bereits länger als dreißig Jahre in Humboldt’s Diensten steht, und dessen Begleiter auf der Reise durch die Steppen Hochasiens gewesen war. Seifert genießt im vollsten Grade das Vertrauen seines Herrn, dem er mit unerschütterlicher Treue anhängt. Seine ganze Erscheinung, welche einen gewissen preußisch militärischen Anstrich trägt, erinnert an den ehrlichen Paul Werner in Lessing’s „Minna von Barnhelm“ und ruft uns das Bild jener alten Diener zurück, welche man fast Freunde nennen kann, und deren Gattung in unserer schnell dahin lebenden und wechselnden Zeit bald nicht mehr gefunden werden dürfte. Der Kammerdiener öffnete mir die Thür, und führte mich durch die Bibliothek, welche der geniale Hildebrandt erst kürzlich in seinem trefflichen Bilde abgeschildert hat, in das eigentliche Empfangszimmer des berühmten Gelehrten. Diesmal richtete sich meine ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Erscheinung Humboldt’s selbst. Ein freundlicher Greis in gebückter Haltung trat mir entgegen, und empfing mich mit der humansten und zuvorkommendsten Höflichkeit. Meine schüchtern vorgebrachte Entschuldigung wegen meiner Zudringlichkeit beantwortete er mit einem aufmunternden Lächeln, und bald verlor sich meine Befangenheit im Laufe einer Unterhaltung, die für mich ewig unvergeßlich bleiben wird. Während derselben unterließ ich nicht, das Bild des berühmten Mannes meinem Gedächtnisse für immer einzuprägen.

Die Figur ist nicht groß, eher untersetzt zu nennen, Füße und Hände klein von echt aristokratischer Bildung. Silberweißes Haar umgibt das ehrwürdige Haupt, welches an der hohen und breiten Stirn, dem Tempel des Geistes, den deutlich ausgeprägten Stempel des Genius trägt. Seine Augen sind blau und trotz des hohen Alters ausdrucksvoll und lebendig. Um den fein geformten Mund schwebt ein eigenthümliches Lächeln, halb sarkastisch, halb wohlwollend, voll geistiger Ueberlegenheit und Feinheit, welche nur das Resultat des Wissens und der Erfahrung sind. Während Humboldt spricht, sitzt er gebückt mit auf den Boden gerichteten Blicken vor sich hinsehend; nur von Zeit zu Zeit erhebt er das Haupt, den Hörer freundlich und aufmunternd anlächelnd. In der Unterhaltung

[68]

Alexander von Humboldt.

[69] vergißt man vollständig, daß der berühmte Mann bereits sein siebenundachtzigstes Jahr zurückgelegt hat, so jugendlich frisch, so anregend fließt seine Rede im wunderbaren Wechsel von Scherz und Ernst. Er ist im wahrsten Sinne und in der vollsten Bedeutung Meister des Wortes, der beste Erzähler, der klarste Redner. Ein unermeßliches Wissen steht ihm zu Gebot und trotz des hohen Alters bemerkt man auch nicht die geringste Abnahme eines Gedächtnisses, das wohl kaum seines Gleichen hat. Thatsachen, Namen und Zahlen lassen ihn nie im Stich und er erinnert sich oft der unbedeutendsten Kleinigkeit mit derselben Schärfe, wie der größten und wichtigsten Begebenheit. Um dieses Wunder zu erklären, behauptet zwar die böswillige Fama, daß Humboldt sich auf seine Besuche förmlich vorbereiten soll und oft den staunenden Gast, besonders wenn derselbe Schriftsteller ist, durch Citate aus den kurz zuvor gelesenen Werken desselben überrascht. Wir führen dies Gerücht nur an, ohne demselben den geringsten Glauben zu schenken. Wäre diese Behauptung aber selbst wahr, so könnten wir auch dann nur darin eine zu weit getriebene Nachsicht gegen die Schwäche und die Eitelkeit der ihn besuchenden Autoren finden, denen die geringste Anerkennung aus seinem Munde unendlich schmeicheln muß. – Der Grundzug seines ganzen Wesens ist eine seltene, fast bis zur Selbstvergessenheit weit getriebene Humanität gegen Andere. Es ist eine nur seinen genauesten Freunden bekannte Thatsache, daß Humboldt den größten Theil seines Einkommens zu Wohlthaten und zur Unterstützung junger und strebender Gelehrten verwendet. Sein Privatvermögen soll nur unbedeutend sein, aber er bezieht vom Könige von Preußen einen ansehnlichen Gehalt für seine Stellung am Hofe, und außerdem zahlt ihm Cotta für die Herausgabe seiner Werke jährlich eine entsprechende Summe. Bei der Einfachheit seiner Bedürfnisse würde dies Einkommen nicht allein hinreichen, sondern auch noch Ersparnisse gestatten, aber Humboldt glaubt einen besseren Gebrauch davon zu machen, wenn er das unverdiente Geschick so manches Unglücklichen dadurch lindert. Ueberhaupt verwendet er den Einfluß, den er bei dem Könige besitzt, lediglich zur Förderung der Wissenschaft. Es gibt keine Erscheinung, keine Persönlichkeit, welche sich einigermaßen hervorthut, die er nicht beachtete. Fern von jedem Neide, von kleinlicher Eifersucht verschafft er dem verdienstvollen Gelehrten oft nicht nur die gebührende Anerkennung, sondern Anstellungen, Brot und Auszeichnungen aller Art.

Schloss Tegel, Familiensitz der Humboldt’s.

Humboldt’s Verhältniß zum Könige und zum Hofe ist somit in jeder Beziehung ein segensreiches. Viele seiner Freunde und Verehrer sind allerdings überrascht, wenn sie den berühmten Gelehrten bei einem öffentlichen Feste oder im Theater als preußischen Kammerherrn in der fast livréeähnlichen Uniform eines solchen zum ersten Male sehen. Ich gestehe, daß auch mir der Anblick nicht eben wohl that, wie ich den großen Mann hinter dem Stuhle irgend eines fremden Prinzen in der königlichen Loge aufwartend erblickte. Humboldt genießt jedoch durch diesen Posten das Glück, stets in der nächsten Umgebung des Königs zu verweilen und somit einen bei weitem größeren Einfluß auszuüben, als dies in jeder anderen Stellung für ihn möglich wäre. Dabei weiß er sich eine geistige Freiheit zu wahren, die er mehr als einmal öffentlich bethätigt hat. Er besitzt im reichsten Maße jenen „Muth der Meinung“, die er vor aller Welt auszusprechen sich nicht scheut. Religiöse und bürgerliche Freiheit finden stets an ihm einen beredten Vertheidiger und er nimmt keinen Anstand, die übertrieben pietistische Richtung, wo sie ihm entgegen tritt, mit den Waffen des ihm zu Gebot stehenden Witzes zu bekämpfen. – Als die erste Kritik über den Kosmos so eben in einer Berliner Zeitung erschienen war, frug ein hochgestellter Würdenträger Humboldt in Gegenwart des Königs, ob er die Recension schon gelesen hätte. Als dieser verneinte, setzte der Redner hinzu: Ihr „Kosmos“ wird von dem Beurtheiler ein wahres „Erbauungsbuch“ genannt. „Das kann mir jetzt nur nützen,“ entgegnete Humboldt mit einem Seitenblick und feinem Lächeln auf seine Umgebung. So weiß er die sich widersprechenden Elemente des gewandten Hofmanns und des Wahrheit suchenden Gelehrten in seiner Person zu verbinden, mit Feinheit zu belehren und mit Grazie auch zu tadeln, wo er anderer Ueberzeugung ist. – Ein Räthsel bleibt allerdings noch zu lösen, wie der berühmte Mann den Zeit raubenden Ansprüchen des Hofes und den Forderungen der Wissenschaft zugleich genügen kann; bedenkt man noch dabei, daß Humboldt bereits sein siebenundachtzigstes Jahr zurückgelegt hat, so muß man allerdings an Wunder glauben. Selbst mancher junge Mann müßte nach unserer Meinung den doppelten Anstrengungen des Vergnügens und der Arbeit erliegen.

[70] Es dürfte deshalb gewiß interessant sein, die Tagesordnung des großen Naturforschers kennen zu lernen, die sich mit wenig Ausnahmen stets wiederholt. Durch die gütige Mittheilung jenes Freundes habe ich darüber folgenden Aufschluß erhalten. Humboldt steht gegen halb neun Uhr des Morgens auf; beim Frühstück liest er die eingegangenen Briefe, welche er auch sogleich zu beantworten pflegt. Es gibt wohl keinen pünktlicheren Briefschreiber als ihn, obgleich wenig Menschen eine so ausgebreitete Korrespondenz nach allen Weltgegenden führen mögen. Hierauf zieht er sich mit Hülfe seines Kammerdieners an, um die angemeldeten Besuche zu empfangen, oder selber welche bis zwei Uhr Mittags abzustatten. Um drei Uhr geht er zur königlichen Tafel, woran er für gewöhnlich speist, wenn er sich nicht in irgend einer befreundeten Familie, meist bei Alexander Mendelssohn selbst zu Tische ladet. Erst um sieben Uhr Abends kehrt er in seine Wohnung zurück, wo er bis neun Uhr lesend oder arbeitend verweilt. Von Neuem eilt er an den Hof oder in die Gesellschaft, aus der er gegen halb zwölf Uhr des Nachts wiederkommt. Erst jetzt beginnt seine eigentliche und liebste Arbeitszeit, in der tiefsten, nächtigen Stille schreibt er an seinen unsterblichen Werken, oft bis der helle Tag im Sommer durch die Fenster scheint. Drei Uhr des Morgens ist es schon geworden, wenn dieser jugendliche Greis seinem fast neunzigjährigen Körper eine kurze Ruhe gönnt, um die nöthige Kraft zum neuen Tagewerke zu sammeln. Man glaubt in der That ein Märchen zu lesen und doch ist diese Lebensweise Humboldt’s buchstäblich wahr. So sehr herrscht der Geist über den Körper, daß er kaum der Erholung gewöhnlicher Sterblicher zu bedürfen scheint. – Humboldt besitzt keine eigene Familie; seine nächsten Anverwandten sind die Söhne und Töchter seines Bruders Wilhelm, dem er eine rührende Pietät bewahrt. Als ich im Laufe der Unterhaltung den Namen des berühmten Bruders und die großen Verdienste desselben um den Staat und um die Wissenchaft erwähnte, glänzte das Auge Alexander’s in jugendlichem Schimmer und ein Lächeln der Erinnerung umschwebte verklärend das edle Gesicht des Greises. „Sie hätten meinen Bruder kennen sollen,“ sagte er mit liebenswürdiger Bescheidenheit, „er war immer von uns Beiden der begabteste.“ Die Verehrung für den Hingeschiedenen ist zu einem wahren Kultus geworden, der den Ueberlebenden am meisten ehrt. Zusammen glänzten einst diese Heroen der Wissenschaft als das unsterbliche Dioskurenpaar an dem geistigen Himmel der deutschen Literatur. Diese Pietät hält indeß Humboldt nicht ab, den kleinen Schwächen seines großen Bruders in schonender Weise im vertrauten Kreise zu gedenken. Als der bekannte „Briefwechsel Wilhelm von Humboldt’s mit einer Freundin“ erschienen war, äußerte Alexander in seiner feinen Weise: „Mein Bruder hätte der guten Frau weniger schreiben und mehr geben sollen.

Die Familie verehrt in Alexander Humboldt ihr berühmtes Oberhaupt und sein Geburtstag, der 14. September, wird auf dem Schlosse Tegel, welches gegenwärtig seine Nichte, Frau von Bülow, bewohnt, besonders festlich begangen. Dann erscheinen in den gastlichen Räumen, die von jeher die edelsten und bedeutendsten Männer Deutschlands bewirtheten, die Freunde aus Berlin, Meister Rauch, der größte Bildhauer unserer Zeit, die genialen Maler Kaulbach und Eduard Hildebrandt, der in Humboldt einen väterlichen Beschützer seines Talents gefunden hat, und noch manche andere Zierden der Kunst und Wissenschaft, um den schönen Tag in würdiger Weise zu begehen. Heiterer Scherz wechselt mit sinnigen Reden ab und wenn Alexander von Humboldt neben der erhabenen Gestalt seines Freundes Rauch, begleitet von seinen Jüngern und Verehrern, durch den schönen Schloßpark, von den Strahlen der untergehenden Herbstsonne beleuchtet, hinwandelt, so glaubt der Wanderer, der ihnen begegnet, sich in die schöne Zeit der Blüthe Griechenlands versetzt, wo Plato in der Akademie mit süßem Munde Philosophie lehrte und Phidias unsterbliche Bilder der Götter mit dem Meisel schuf. - Außer den genannten Freunden gehört noch Ehrenberg, der durch seine mikroskopischen Forschungen die Welt der Infusorienbildung erschlossen hat und besonders Varnhagen van Ense, der berühmte Biograph und Geschichtsschreiber im schönsten Sinne, zu dem näheren und vertrauteren Umgange des berühmten Mannes. Von jüngeren Gelehrten erfreut sich Professor Du Bois-Reymond, der geniale Nachfolger Humboldt’s auf dem Gebiete der thierischen Elektrizität und Doktor Brugsch, welcher die egyptischen Alterthümer mit rastlosem Eifer aufzudecken versucht, seiner ehrenden Gunst und Anerkennung.

Humboldt wird von einem wahrhaft antiken Gefühl für Freundschaft beseelt; seine Aufopferungsfähigkeit und Dienstwilligkeit sind in unserer egoistischen Zeit wahrhaft bewunderungswerth und fast ohne Beispiel. Durch diese Eigenschaft und seine vielfachen Verbindungen mit den hervorragendsten Persönlichkeiten aller Länder und Völker, wir gedenken nur seiner ausländischen Freunde Arago, Bonpland und Faraday, ist er im eigentlichsten Sinne der geistige Mittelpunkt unserer heutigen europäischen Kultur und jedes wissenschaftlichen Fortschrittes geworden. Durch ihn angeregt dringen kühne Reisende nach den fernsten Gegenden und entdecken neue, unbebaute Ländergebiete, welche so der Civilisation und der Bildung gewonnen werden; junge Naturforscher beschäftigen sich unter seinem Einflusse mit den Räthseln der Schöpfung und den geheimen Kräften der Natur, der Physiker, der Astronom, der Botaniker und der Chemiker legen ihm die Entdeckungen, die sie zum Theil seinen Vorarbeiten zu verdanken haben, huldigend zu Füßen. Er belebt ihren Eifer, sein Lob ist ihr Sporn und höchster Lohn, seine Anleitung zeigt ihnen meist den richtigen Weg, den sie einzuschlagen haben. Alle blicken nur auf ihn wie auf einen Fürsten, alle Kanäle und Ströme münden in dies Meer des Wissens, welches den ganzen Schatz unserer heutigen Kenntnisse in sich schließt. Wahrlich, ein solcher Mann hat noch nie zuvor gelebt und in ihm kommt der schöne Traum, den Goethe von einer Weltliteratur und einer universellen Bildung geträumt hat, zur vollsten Wahrheit und schönsten Anerkennung. Einem Deutschen ward das große Loos zu Theil, die Weltherrschaft des Geistes zu begründen, und das ganze Volk muß mit Stolz und Ehrfurcht zu dem geborenen Fürsten emporschauen, der aus seiner Mitte hervorgegangen ist und die Krone des Genius für ewige Zeiten trägt.

Max R.




Blätter und Blüthen.


Der schwarze Domino. Die junge Gräfin Charlotte von F., eine schöne und geistreiche Dame in Paris, war nur erst zwei Jahre verheirathet, aber schon nahm sie an ihrem eleganten Manne eine Gleichgültigkeit wahr, die sie mit Schmerz und Eifersucht erfüllte. Während der Gatte seine Klubs besuchte, wie er vorgab, blieb die Gattin, die sich sonst häufig an der Seite des Grafen gezeigt, allein in ihrem großen Hotel.

„Werden wir nächsten Donnerstag den Maskenball in der Oper besuchen, lieber Franz?“ fragte sie eines Tages bei Tische den Grafen.

„Nächsten Donnerstag? Mein liebes Kind, der Maskenball trifft mit einer Klubgesellschaft zusammen, die ich unmöglich versäumen kann, da ich zu dem Comité derselben gehöre.“

„Könntest Du Dich mir zu Liebe nicht frei machen?“

Der Graf führte so triftige Gründe an, daß die Gräfin, eine taktvolle Dame, nicht weiter in ihn drang, und schwieg. Früher hatte sie ein Opfer gebracht, wenn sie ihren Mann auf den Ball begleitete, wo die fashionable Welt von Paris sich versammelte, und jetzt weigerte er sich, ihr den kleinen Wunsch zu erfüllen. Die arme Frau nahm an, daß der Graf ohne sie den Ball besuchen würde, den er früher um keinen Preis versäumt hätte. Was die Eifersucht argwöhnte, machte Hermine von S., eine Freundin, zur Gewißheit.

„Ich wette,“ sagte Hermine, „daß Dein Mann auf dem Balle nicht fehlt! Die Klubs versammeln sich an solchen Abenden nicht, da alle Mitglieder den Maskenball besuchen.“

„Das wäre entsetzlich!“ flüsterte traurig die junge Frau. „O, hätte ich Gewißheit!“

„Diese zu erlangen, wird nicht schwer sein, meine arme Charlotte.“

„Aber wie?“

„Du kennst Deinen Mann am Gange, an seiner ganzen Haltung, wie er sich auch costümiren mag; ich besorge zwei Einlaßkarten, und wir besuchen als einfache Domino’s den Ball. Eine Stunde genügt, um den Saal zu durchspähen. Siehst Du ihn nicht, so kannst Du Dich beruhigen, er hat Dir die Wahrheit gesagt.“

„Besorge Kostüme und Einlaßkarten!“

Der verhängnißvolle Donnerstag erschien. Nach dem Diner, das um fünf Uhr eingenommen ward, küßte der Graf seine Gattin, und ging in den Klub. Charlotte trocknete eine Thräne, als sie sich in ihrem Boudoir allein befand. Die Befürchtung, den Gatten in der Oper zu treffen, schnürte ihr die Brust zusammen. Um zehn Uhr erschien Hermine; um elf Uhr verließen beide Frauen, mit Halbmasken und Domino’s versehen, das Hotel. Ein Fiaker brachte sie nach der Oper. Der Ball war ungewöhnlich zahlreich besucht. Prächtige Masken wogten im dichten Gedränge durch den glänzend erleuchteten Saal. Charlotte hing mit klopfendem Herzen an dem Arme der Freundin, in jeder Maske glaubte sie den ungetreuen [71] Gatten zu erblicken. Die beiden weiblichen Domino’s, die allein durch den Saal irrten, erregten bald Aufmerksamkeit. Ein Pascha, in strahlendem Kostüme, verfolgte sie.

„Hermine,“ flüsterte die Frau, „der Türke, der uns nicht aus den Augen läßt, scheint mein Mann zu sein. Sieh’ nur, es ist seine Gestalt, sein Gang. Vielleicht hat er mich erkannt.“

„Das kann Dir nur lieb sein,“ antwortete die Freundin; „in diesem Falle weiß er, daß Du seine heimlichen Schliche kennst. Er geht ohne Dich zu Balle, folglich hast Du das Recht, ohne ihn zu gehen. Doch sieh’ nur, jetzt nähert er sich jener Damengruppe – er redet die Türkin an – wir wollen näher gehen und ihn belauschen.“

Der Pascha ergriff die Hand der Odaliske, einer reizenden, üppigen Frauengestalt, und zog sie in die Reihen der Tänzer; sie mischten sich in die Mazurka, die so eben exekutirt ward. Charlotte hätte darauf geschworen, daß der Pascha ihr Mann sei, und daß er aus Rücksicht für seine Tänzerin das türkische Kostüm gewählt habe. Ihr Schmerz läßt sich nicht beschreiben. Je mehr sie den Pascha beobachtete, je deutlicher glaubte sie ihren Mann zu erkennen. Das waren seine Manieren beim Tanzen, das war sein braunes Haar, das sich im Nacken kräuselte, das war sein schöner Kinnbart, der unter der Halbmaske hervorquoll, das war mit einem Worte die elegante Tournüre, die ihn vor vielen Männern auszeichnete. Und wie zärtlich schlang er seinen Arm um die schlanke, elastische Taille der Odaliske, die leicht wie ein Sylph durch den Saal schwebte. Plötzlich war das Tänzerpaar verschwunden.

„Komm, komm!“ flüsterte Hermine, indem sie die Freundin mit sich fortzog.

„Wohin?“

„In die Nische dort, welche der Pascha betreten hat.“

Charlotte ließ sich willenlos fortziehen. Ehe die beiden Frauen die Nische erreichten, die sich in einem Winkel des großen Saales befand, wurden sie von einem Dutzend Polichinells und Harlequins umringt, die auf ausgelassene Weise ihre Maskenfreiheit benützten; sie schlugen mit ihren klappernden Stöcken aufeinander los, quiekten, schrieen und trieben das tollste Zeug. Ein neuer Haufen komischer Masken vergrößerte das Gedränge, und nach wenigen Minuten waren die beiden Frauen getrennt, die sich die tolle Schaar zum Gegenstand ihrer Scherze genommen zu haben schien. Die arme Charlotte befand sich allein in einem Kreise neckender Harlequins, die, Grimassen schneidend, sie umtanzten. Ein lautes Gelächter der zuschauenden Masken begleitete diese Scene, die absichtlich hervorgerufen zu sein schien. Charlotte war dem Umsinken nahe; sie fürchtete, daß man sie erkennen würde, oder vielleicht schon erkannt habe. Auf ihre bittenden Geberden antwortete man durch Lachen. Der Tumult ward immer ärger, da in diesem Augenblicke ein neuer Maskenzug im Saale erschien. Die Harlequins mußten berauscht sein. Da theilte die hohe Gestalt eines Mannes den Kreis; er trug einen eleganten schwarzen Domino, eine feine Halbmaske und ein schwarzes Barett mit weißer Feder, die über den Rücken herabwallte.

„Zurück!“ rief er mit kräftiger Stimme, und durch die Löcher der Maske sah man seine vor Entrüstung glühenden Augen. „Diese Dame steht unter meinem Schutze.“

Und zugleich schob er die Harlequins bei Seite. Ein lauten Gemurmel erhob sich. Der Domino kümmerte sich nicht darum.

„Ich bitte, reichen Sie mir Ihren Arm, Madame!“ sagte er ruhig.

„Führen Sie mich aus dem Saale, mein Herr, ich beschwöre Sie!“ flüsterte die bedrängte Frau.

Der Domino zögerte nicht. Fünf Minuten später standen Beide an dem Portale des Opernhauses. Charlotte hing ziternd an dem Arme ihres Schützers, sie vermochte kaum noch sich aufrecht zu erhalten. Ein dichtes Schneegestöber hatte sich erhoben, die Nacht war rauh und kalt.

„Einen Wagen, mein Herr!“ flüsterte die arme Frau, „Ich bin so erschöpft, daß ich nicht gehen kann!“

Der Domino rief nach einem Fiaker. Das Unglück wollte, daß in diesem Augenblicke kein Wagen auf dem Platze war. Der eiskalte Wind trieb eine Fluth von Schnee auf die leicht gekleidete Charlotte.

„Hier können wir nicht bleiben!“ murmelte mitleidig der Domino.

„Um des Himmels willen, führen Sie mich nicht wieder in den Saal zurück.“

„Aber Sie sind krank, Madame! Wohin wenden wir uns? Ah, dort drüben ist noch ein Café offen – folgen Sie mir – ich werde einen Wagen bestellen lassen!“

Die Gräfin ließ sich führen. Ihre kleinen, mit Atlasschuhen bekleideten Füßchen mußten den Schnee durchwaten. Zitternd vor Kälte und Erschöpfung trat sie in das Kaffeehaus, wo sie bald ohnmächtig auf einen Sessel sank. Der Domino war auf das Eifrigste um seine Dame bemüht.

„Madame, in diesem Zustande können Sie den Heimweg nicht antreten. Sie müssen etwas genießen, Sie müssen sich erfrischen. Erlauben Sie mir, daß ich die Sorge für Sie übernehme. Ich bitte Sie zu Gaste. Kellner, die Speisenkarte. Zwei Flaschen Champagner!“

Charlotte wollte ablehnen; der großmüthige Protektor ließ sie nicht zu Worte kommen.

„Wir speisen zusammen, Madame,“ sagte er; „dann hole ich einen Wagen, und Sie fahrcn in Ihre Wohnung.“

Das Betragen des Domino’s war so liebenswürdig, so decent, daß Charlotte sich der freundlichen Gewalt fügte, zumal da sie annehmen durfte, der Fremde sei ein Kavalier. Man sprach über die Ausgelassenheit, die jetzt auf dem Opernballe herrschte. Der Domino war entrüstet. In seiner Entrüstung verzehrte er Trüffeln, Pasteten, gebratenes Geflügel und Kompots, kurz, das Feinste, was die Speisenkarte aufzuweisen hatte. Dazu trank er einige Flaschen Champagner. Die arme Gräfin berührte Einiges von den Speisen, um nicht undankbar zu erscheinen. Nach einer halben Stunde hatte der Domino seine Mahlzeiten vollendet.

„Wie fühlen sie sich, Madame?“ fragte er.

„Mir ist besser.“

„Gut, so hole ich auf der Stelle einen Wagen.“

„Aber wie soll ich Ihnen danken, mein Herr?“

„Dadurch, daß sie annehmen, ich habe Ihnen auch nicht den geringsten Dienst geleistet. Was ich that, würde ein jeder Kavalier an meiner Stelle gethan haben.“

„O, so krönen Sie das Werk Ihrer Großmuth dadurch, daß Sie mir rasch einen Wagen besorgen.“

„Ehe Sie noch eine Tasse Thee getrunken haben, werde ich zurückgekehrt sein. Garçon, eine Tasse Thee mit Biscuit!“

Der Domino wischte sich den Mund mit der Serviette, und verließ hastig den Saal. Charlotte wartete zehn, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde – der Schützer blieb aus. Einige Masken traten ein und ließen sich Erfrischungen geben. Die Befürchtung, ihr Mann könne früher zurückkehren, als sie, trieb die Gräfin, den Heimweg anzutreten.“

„Der Fremde wird keinen Wagen finden können,“ dachte sie; „er verzeiht mir sicherlich, wenn er mich nicht mehr antrifft.“

Sie hüllte sich in ihren Domino, um sich zu entfernen. Der Kellner trat ihr entgegen.

„Mein Freund,“ flüsterte Charlotte, „wenn der Herr im Domino zurückkehrt, so sagen Sie ihm, ich lasse wegen meiner Entfernung um Entschuldigung bitten.

„Soll geschehen,“ war die Antwort; „doch zuvor bezahlen Sie.“

Die Gräfin erschrak; sie erinnerte sich, daß sie kein Geld zu sich gesteckt, da Hermine für Alles gesorgt hatte.

„Hier ist die Rechnung,“ fuhr der Kellner fort; „jener Herr hat mich an Sie gewiesen, als er sich entfernte.“

„An mich?“

„Meine Frau wird bezahlen, hat er mir gesagt.“

Hätte die Maske nicht das niedliche Gesicht der Gräfin bedeckt, so würde der Kellner gesehen haben, wie sie vor Scham erröthete, denn sie begriff, daß sie einem Abenteurer in die Hände gefallen war, der auf ihre Kosten ein vortreffliches Nachtessen zu sich genommen hatte. Die Rechnung betrug 65 Francs. Es erschienen immer mehr Masken. Der Kellner sah die Dame mit argwöhnischen Blicken an.

„Nehmen Sie, nehmen Sie!“ sagte die Gräfin, indem sie mit zitternder Hand eines ihrer Armbänder löste. „Morgen früh werde ich die Rechnung bezahlen und den Schmuck zurückfordern.“

Charlotte athmete auf, als sie in das Freie trat. Eine große Gruppe Fiaker hielt vor dem Opernhause, in dem die Ballmusik rauschte. Sie bestieg einen Wagen, und ließ sich nach ihrer Wohnung fahren, wo der Thürsteher den Kutscher bezahlte. Kaum hatte sie ihr Zimmer betreten, als auch der Graf nach Hause kam; sie hörte es an dem Schließen und Oeffnen der Thüren. Wußte sie nun, ob er auf dem Opernballe gewesen war? Sie verbrachte eine traurige Nacht, schon früh am nächsten Morgen kam Hermine, um sich nach der Freundin zu erkundigen. Charlotte erzählte ihr Abenteuer, und bat die junge Dame, da sie sich einer dritten Person nicht anvertrauen könne, das Armband zurückzuholen. Hermine nahm die Rechnung und fuhr ab. Nach kaum einer Stunde trat sie wieder zu der harrenden Charlotte in das Zimmer.

„Wo ist mein Schmuck?“

„Der Kellner sagte mir verwundert, daß der Herr, der diese Nacht die Zeche gemacht, den Schmuck für seine Frau schon vor einer Stunde mit 65 Francs eingelöst habe.“

Die Gräfin ward bleich; sie hatte ein Armband verloren, das einen Werth von fünfzehntausend Francs hatte. Damit das Abenteuer der Ballnacht nicht bekannt wurde, mußte sie den Verlust ruhig erleiden.

„Das sind die Folgen der Eifersucht!“ rief sie aus.

Einige Tage später erfuhr sie, daß der Graf zehntausend Francs in derselben Nacht im Klub verspielt hatte.

„Das war eine theure Nacht!“ sagte Hermine, welche die Nachricht überbrachte.

„Ich bezahle sie gern,“ antwortete Charlotte lächelnd, „denn ich habe nun die Gewißheit, daß der schöne Pascha eine fremde Person war.“

Von dem schwarzen Domino hat man nie wieder etwas gehört.

S.




Der Urahn des deutschen Weinstockes. Es ist eitel Verleumdung, wenn man, des feurigen Syracusers voll, dem deutschen Boden die Berechtigung des Weinbaues absprechen will. Da soll unser Klima für den fremden Südländer zu frostig sein und unser Herbst zu wenig Macht haben, sich gegen den Dränger, den eisigstarren Winter, zu behaupten. Es ist Alles eitel Verleumdung – denn der Weinstock ist ein alter echter deutscher Urbewohner.

In der neunundzwanzigsten Versammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte hat es der jeder verdächtigen Deutschthümelei abholde Herr Professor Alexander Braun in Berlin bewiesen, daß der Weinstock eher ein Recht hat, uns alle mit einander Einwanderer in sein ihm ureigenes deutsches Vaterland zu nennen, als wir ihn. Ja das Geschlecht des Weinstockes war vielleicht aus Bekümmerniß darüber wieder ausgestorben, daß es in Deutschland noch kein Menschengeschlecht vorfand, welches seine süßen Trauben zu perlendem Weine hätte keltern können. Den letzten Sproß seines edeln Geschlechtes hat der genannte Gelehrte aus seinem Grabe hervorgezogen, in welchem er ohne Zweifel Hunderttausende von Jahren geschlafen hat. Bei Salzhausen, in der Nähe des oberhessischen Städtchens Nidda, lag die braune Mumie des ältesten deutschen Weinstockes mitten unter Braunkohlen, mit denen vielleicht schon manche Rebe der grauen Vorzeit die Kachelöfen geheizt haben mag. Der Weinstock ist also sicher ein Zeitgenosse jener Pflanzenwelt, weiche uns die mächtigen Braunkohlenlager hinterlassen hat. Wer Braunkohlenversteinerungen gesehen hat, der wird wissen, daß es mit obiger Bezeichnung Mumie seine buchstäbliche Richtigkeit hat.

[72] Eine Täuschung ist dem Entdecker nicht widerfahren, denn er fand, und zeigte sie in jener Versammlung vor, rosinenartig verschrumpfte Beeren, Kerne, Stengel und Blätter, die von den Anwesenden als unzweifelhafte Abkömmlinge des Weinstockes anerkannt wurden. Die sterblichen Reste des edeln Sorgenbrechers waren nicht allein gefunden worden, sondern vermischt mit anderen Gebeinen, will sagen mit versteinerten oder besser verbraunkohlten Samen untergegangener Pflanzengeschlechter, welche schon von früheren Funden her bekannt waren.

Bedeutungsvoll – dieser Fund wurde gemacht in der Nähe des weintriefenden Rheingaues und die Kunde davon ertönte in Wiesbaden – wo jene Versammlung stattfand – an der Pforte in jenes gelobte Land der Bacchus-Priester.

Sind nun die Millionen Reben unserer Weinberge die direkten Descendenten jener Vitis teutonica, wie Herr Al. Braun seine Entdeckung genannt hat? Viele werden geneigt sein, es anzunehmen, und zu ihnen müßte nach dem scherzhaften Eingang meiner Mittheilung auch ich gehören. Bejahung und Verneinung sind jedoch gleich unmöglich, denn die Zeit, aus welcher jene versteinerten Ueberreste stammen, liegt weit hinter dem Anfange aller Geschichte. Ob des Varus Kriegerschaaren den Weinstock in Deutschland vorfanden ist nicht bekannt, und Tacitus, der doch manches Ehrenrührige von unseren Altvordern erzählt, gibt ihnen wenigstens Leidenschaft für den Wein nicht Schuld. Am Rhein und an der Mosel ließ um 280 n. Chr. der Kaiser Probus Weinberge anlegen; (darum ist das Sprüchlein probatum est beim Wein doppelt an seinem Platze.) Es wäre aber wunderbar, wenn nicht schon die 14. Legion, welche unter Drusus Germanicus im J. 13 v. Chr. durch das castrum maguntiacum den Grund zur Stadt Mainz legte, die günstige Lage des nahen Rheingaues erkannt und die Rebe dort angepflanzt hätte, da sie zumal, nachher von der 22. Legion abgelöst, beinahe ein Jahrhundert dort lagerte.

Ueber die Verwandtschaft des aufgefundenen Stammvaters der deutschen Rebe mit dem Meißner, dem Naumburger und nun gar dem Grüneberger Gewächs wollen wir uns in Vermuthungen erst recht nicht einlassen. Wohl aber muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß jener Urwein wahrscheinlich ein noch viel besseres Glas gegeben haben würde als unsere Liebfrauenmilch und Steinberger Cabinet sind, wenn, was zu bezweifeln ist, damals schon Weintrinker gelebt hätten. Meine Leser werden sich vielleicht über diese kühne Hypothese verwundern; und doch ist sie nicht so kühn, wie sie aussieht. Zur Braunkohlenzeit, oder vielmehr in jener Zeit, wo sich die Braunkohlen aus abgestorbenen Pflanzenwelten zu bilden anfingen, gediehen am Fuße des rauhen sächsisch-böhmischen Grenzgebirges – Palmen und dem Zimmtbaume nahe verwandte Bäume, wie man dies mit voller Bestimmtheit nach daselbst aufgefundenen versteinerten Ueberresten behaupten kann. Dies läßt auf eine Wärme schließen, die Deutschland längst verlassen hat, und welche jenen teutonischen Wein viel zuckerreicher machen mußte, als es jetzt die deutsche Sonne vermag, wenn anders das Salzhausener Braunkohlenbecken nicht ein viel jüngeres ist, als jenes böhmische.

Doch lassen wir uns den Mund nicht wässern nach den ungetrunken gebliebenen Jahrgängen der Vorwelt, welche sich wahrscheinlich, wie jetzt noch im heißblütigen Süden, in beinahe ununterbrochener Folge aneinander reihten und nicht auf Kometen und andere Zeichen und Wunder warten mußten, um trinkbar zu werden. Begnügen wir uns mit Dem, was uns beschieden, und dessen Veredelung uns ein Gott gelehrt hat; und vor Allem freuen wir uns, daß wir den Weinstock mit urdeutscher Vaterlandsliebe den unseren nennen können, den unseren von Anbeginn. Aber wer hat vor Allen sich über den Salzhausener Fund zu freuen? Unsere längst um neue Gedanken verlegenen Dichter. Ihre Weinpoesie hat dadurch einen neuen Gedanken gewonnen; und da unter den vielen tausenden Abonnenten der Gartenlaube doch mindestens 1000 lyrische Dichter sind, für welche ich diesen Schatz aus den Schachten der Wissenschaft gehoben habe, so wird sicher Mancher bei Verwendung dieses neuen Gedankens sich dankbar und – trinkbar meiner erinnern.

R–r.


Aesthetik auf einem grünen Zweige. Im republikanischen Reiche der Bäume, in welchem das Königthum zugleich so allgemein ist, daß jeder seine eigne Krone trägt, findet man zuweilen eigenthümliche Strahlenbildungen dieser Kronen, Bifurcationen, wie es die gelehrten Gärtner nennen, d. h. Zweige, die von einem gemeinsamen Centrum ausgehen, und sich über dem Centrum entweder gleich trennen, oder erst eine Zeit lang, wie siamesische Zwillinge zusammegewachsen, an einander fortlaufen. Diese Zweige sind auch stets Zwillinge: sie entsprangen aus dem Schooße einer einzigen Frühlingsknospe. In einigen seltenen Fällen findet man 3 bis 6 solcher Zweige aus ein- und demselben Mittelpunkte hervorstrahlend, manchmal mit einer Regelmäßigkeit, die im Vergleich zu dem übrigen verworrenen Haar in den Baumhäuptern auffällig erscheint. Dergleichen Wirkungen sind in der Regel Folge eines Insektenbisses in der Knospe. Der von Insekten benagte Sproß verkommt entweder oder entfaltet sich zu doppeltem, drei- bis sechsfachem Leben mit eben so viel besonderen Zweigbildungen. Dies gilt von zweig-, wie fruchtbildenden Frühlingsschößlingen. Das Insekt geht seiner Nahrung nach, beißt zu, wo’s schmeckt, und lehrt uns unbenutzt eine fruchtbringende und ästhetische Weisheit, auf die aber erst neuerdings ein Franzose M. Millot-Brulé, zu Réthel in den Ardennen gekommen ist. Der hat’s den Insekten abgelauscht, wie man nach Belieben nicht nur Zweige, sondern auch Früchte der Bäume hervorlocken kann. Mit einem zarten, dünnen Messer oder einem Streifchen Sandpapier nöthigt er die Knospen, so viel Zweige zu produciren, wie er verlangt, und sie ihm zur schönen Gestaltung der Baumkrone wünschenswerth erscheinen. Hiermit kommt die Aesthetik auf einen „grünen Zweig.“ Millot-Brulé fing sie 1849 in seinen Bäumen an, und hat seitdem einen ganzen Wald von Bäumen nach Schönheitsregeln erzogen, eine ganz neue schöne Arborikultur geschaffen. Sie zog so viel Aufmerksamkeit auf sich, daß der Ackerbauminister eine Kommission zu ihm schickte, um ihm darüber zu berichten. In diesem ihrem Berichte heißt es: „Mehrere Bäume, besonders Pfirsichbäume, bestehen aus einem Reichthume regelmäßig und nach bestimmten Richtungen laufender Zweige, die alle von einem gemeinsamen Mittelpunkte entspringen und sich mit eben so mathematisch als symmetrisch-geordneter Regelmäßigkeit und zugleich phantastischer, malerischer Schönheit verstrahlen. Durch geschicktes Zerknospen vermittelst Einschnitte und Abkneipen störender Knospen und Schößlinge gab er den Kronen seiner Bäume die verschiedensten, malerischen Formen. Unter seinen Fingern nehmen die folgsamen Aeste und Zweige den luxuriösesten Reichthum von Formenschönheit an. Zugleich erhöht er dadurch die Fruchtbildung und entwickelt die Formen der Zweige ganz nach seinen Zeichnungen.“

Seine Elementarfigur besteht in einem geraden Stamme, der von einem Centrum aus in 15 regelmäßig und symmetrisch gerichteten Zweigen auseinander strahlt. Besonders schön ist ein Spalier-Pfirsischbaum, dessen Zweige ein Rad bilden mit ovalen Endringen aus kleineren Zweigen. Von diesen einfacheren Formen ist er zu complicirteren übergegangen, welche zum Theil als Muster für Stickerei und sonstige Ornamentik dienen können, Kreisfiguren, Ovale, Segmente, Sterne aus Halbbogen gebildet, die von der Peripherie aus gezogen, sich innen über dem Centrum treffen, Figuren, aus Kreisbogen gebildet, die sich von verschiedenen Centren aus schneiden u. s. w. Es gibt eben, so bald man angefangen hat, hier die Natur zu lenken, keine Grenzen, als die der Rücksicht auf Luft und Sonne, welche freien Zutritt durch die Zweige haben müssen, wenn sie gedeihen und Früchte tragen sollen, und des individuellen Geschlechts. Dabei entdeckte M. Brulé noch ein Geheimniß der Arborikultur, nämlich daß gerade gegen einander entwickelte kleine Zweige nicht gedeihen und einer (der mehr aufwärts gerichtete) in der Regel den andern aussaugt, so daß es für Spalierbäume nothwendig wird, die kleinen Zweige an horizontalen Aesten alternirend (d. h. an den zwei Seiten der Aeste abwechselnd gestellt) zu entwickeln, oder im Nothfalle die zurückbleibenden durch Aufwärtsrichten zu unterstützen.

Uebrigens sind die Grundprinzipien dieser Baumästhetik so einfach und so leicht in der Anwendung, daß Jeder leicht Arborikulturist werden kann. Man enthauptet im Frühlinge, wenn der Saft zu circuliren beginnt, die Knospen, die man verdoppeln will, mit einem scharfen Messerchen. In einigen Tagen erscheinen zwei neue Knöspchen in der Basis der ab- oder eingeschnittenen Knospe, die man, wenn man eine Quadrupelalliance bilden will, beide noch einmal operiren kann. Mit noch blos einer Incision wird’s eine Tripelalliance. Durch andere einfache Erziehungsinstrumente, z. B. Draht, kann man dann die aufschießende Jugend lenken und leiten, wie man’s eben schön findet. Schößlinge, welche ohne Rücksicht auf diese Aesthetik dazwischen fahren wollen, kneipt man bei Zeiten mit einer noch einfacheren Maschine ab, mit den Nägeln. Man sieht leicht, wie man nun dicke, volle, schöne, üppige Baumkronen und Gestaltungen derselben erziehen kann. Außer der Schönheit und Fülle ist reichere Frucht der Lohn dieser Gartenschulmeisterei, die man nicht mit der Bemerkung abweisen kann, daß der Baum in seiner Naturwüchsigkeit am schönsten sei. Die Sache ist, daß unsere Gärten und Bäume schon von vorn herein Kunstnatur sind, welche uns nicht schlechtweg Natur, sondern verschönerte Natur, mit unsern Ideen erfüllte und veredelte Natur liefern soll. Es ist ein Jammer, wie natürlich viele Bäume in unsern Gärten aussehen und wie spärliche und schlechte Früchte sie oft tragen. Dies kommt von dem Mangel an Erziehung. Mindestens sollte man keinen Fruchtbaum mit in einander gekreuzten Zweigen stehen lassen, sondern ihn so lange aussägen und richten, bis Luft und Sonne von allen Seiten in die neben und weit über einander laufenden Zweige eindringen und namentlich im Innern der Kronen beinahe kesselförmigen Raum finden.

Die Brulé’sche Arborikultur gibt übrigens noch einen sehr praktischen Wink, nämlich Holz für Bau-, Tischler- und sonstige ornamentale Zwecke gleich auf dem Baume in die nöthigen Formen, Rundungen und Kurven hineinzuziehen, so daß man später Arbeit, Kehlhobel, Leim und den Aerger über Möbel, die aus dem Leim gehen, sparen kann.



Literarisches. Eine neue Zeitschrift, die sich speciell den industriellen Interessen Sachsens widmet, erscheint seit Neujahr in der alten Bergstadt Freiberg, unter dem bergmännischen Titel: „Glück auf. Erzgebirgisches Industrie- und Familienblatt.“ Das Programm sagt: „Unser Vaterland ist ein großer Bienenstock, in dem es von emsigen Wesen wimmelt, und wo zum Glück die Zahl der Drohnen, die verzehren, ohne zu schaffen, eine geringe ist. Gleichwohl arbeitet unsere Tagespresse weit mehr für das Bedürfniß derer, die nichts oder wenig schaffen, als für die rastlos Schaffenden.“ Das „Glück auf“ will es nun umgekehrt machen. Es bespricht die industriellen Fragen, Erfindungen u. s. w. in Leitartikeln und Correspondenzen und bietet in seinem unterhaltenden Theil vaterländische Lebensbilder. Ein solches ist die erste Erzählung unseres Mitarbeiters Elfried von Taura „Gottfried Silbermann“ – dessen Orgeln gewiß unsern sächsischen Lesern bekannt sind.



Nicht zu übersehen!
Für diejenigen Abonnenten, welche sich die Gartenlaube einbinden lassen, sind durch uns auch zum Jahrg. 1856 höchst
geschmackvolle Decken mit Golddruck
nach eigends dazu angefertigter Zeichnung zu beziehen. Alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem billigen Preise von 13 Ngr. zu liefern. – Zu den Jahrgängen 1854 und 1855 stehen ebenfalls Decken zu dem gleichen Preise zur Verfügung.
Die Verlagshandlung.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ununmittelbar
  2. Vorlage: manchen’s