Die Gartenlaube (1857)/Heft 45
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No. 45. | 1857. |
Felicitas.
Es war dunkler Abend geworden; der Herbstwind schlug den Regen an die Fenster des einsamen Fährhauses. Die Wellen des von dem Regen angeschwollenen Stromes drängten sich laut, prallten an die Ufer, peitschten die rauschenden Weiden, die von den Ufern her in das Wasser hinunterragten, und schüttelten dröhnend die Fährnachen, die in der Nähe des Fährhauses angekettet lagen, gegen einander.
Von dem Fährhause entfernte sich ein dunkler Zug. Es waren wenige Menschen, sieben oder acht Männer; sie trugen eine Todtenbahre. Es war ein Leichenzug. Er bewegte sich langsam und still an dem Ufer des Stromes hinunter. Die langsamen Schritte verhallten in dem Unwetter. Die dunklen Gestalten verschwanden in der Finsterniß des Abends.
Man hörte rings umher nur das Rauschen des Windes und des Wassers und der Weiden, die an dem Wasser standen, und das Geräusch der Kähne, die aneinander schlugen. Man sah nur den dunklen Abend; am Himmel keinen Stern, auf der Erde kein Licht, so weit das Auge reichte.
Auch in dem Fährhause war es dunkel und still. In der Stube waren nur drei Personen; ein alter Mann lag im Bette, er mußte krank sein. Ein kleines Kind lag auf einer Bank, gleichfalls gebettet; auch das Kind war krank. Ein erwachsenes Mädchen saß neben dem Kinde auf der Bank am Fenster.
Man konnte in der Finsterniß die Personen nicht näher unterscheiden. Es war in der Stube stiller, wie draußen. Man hörte den Wind und den Regen durch das Fenster.
Und weiter hörte man nichts?
Doch! Durch die Stille vernahm man ein leises Weinen.
Das Mädchen, das am Fenster saß, weinte. Das kranke Kind in den Kissen neben ihr suchte mit seinem Händchen ihre Hand.
„Warum weinst Du denn, Muhme Felicitas? Du hast mir ja gesagt, die Mutter komme zum lieben Gott und zu den Engeln.“
„Ja, mein Kind, sie ist beim lieben Gott und bei den Engeln.“
„Oben im Himmel?“ fragte das Kind.
„Ja, oben im Himmel. Fort von uns!“
Das Kind schien nachzudenken.
„Und da kommt sie wohl nicht wieder zu uns?“
„Nie, nie!“
Ein lauter, heftiger Thränenstrom stürzte aus den Augen des Mädchens. Das kranke Kind weinte jetzt still.
„Sie war so gut, die liebe Mutter!“
„So unendlich gut, so sanft, so ergeben,“ klagte das Mädchen.
„In all’ ihrem Unglücke, in allen ihren Leiden.“
Der alte Mann im Bette war unruhig geworden. Thränen hatten seine alten Augen wohl nicht mehr; aber seine Brust hatte noch tiefe, schwere, schmerzliche Seufzer, und seine Stimme hatte noch Klagen, wenn auch nur die tröstende Klage des Alters, das nur auf Eins hofft, aber auf dieses Eine so sehnlich, so gottvertrauend, auf den Himmel.
„Das unglückliche Kind hat viel gelitten,“ klagte der alte Mann. „Sie hatte nur saure und bittere Tage. Aber der Himmel hat sie ja erhört, und sie ist mit Vertrauen auf ihren Erlöser gestorben. Und nun, Felicitas,“ fuhr er nach einer Weile fort, und seine Stimme war nicht mehr klagend, „nun besorge, was zu besorgen ist. Zuerst das Wasser und dann das Ansagen.“
Wie nahe grenzen Glaube und Aberglaube an einander!
In der ganzen Gegend war es der Gebrauch der Leute, wenn eine Leiche aus dem Hause getragen war, ein Gefäß mit Wasser vor der Thür, durch welche man die Leiche getragen hatte, in’s Kreuz auszugießen. Es mußte geschehen, bevor nach dem Leichenzuge Jemand das Haus verlassen hatte. Geschah es nicht, so hatte der Todte keine Ruhe im Grabe.
In dem kleinen Dorfe bestand von uralten Zeiten her ein besonderer zweiter Gebrauch. Nachdem die Leiche aus dem Hause getragen und das Wasser vor der Thür in’s Kreuz ausgegossen war, mußte, noch ehe die Mitternacht den neuen Tag brachte, der Tod und die Beerdigung dem nächsten Nachbar im Dorfe angesagt werden, und dieser mußte sie weiter seinem nächstes Nachbar ansagen, und das so fort, bis es an den letzten Mann im Dorfe kam. Dieser letzte mußte zu dem nächsten Eichenbaum gehen, und es diesem mit lauter Stimme ansagen. Versäumte Einer etwas darin, so hatte er in demselben Jahre noch eine Leiche im Hause. –
Das Mädchen stand auf, ging in die Küche, füllte ein Gesäß mit Wasser und trat damit vor die Hausthür.
Still, ohne ein Wort zu sprechen, wie es geschehen mußte, goß sie das Wasser in’s Kreuz vor der Thüre aus. Dann blieb sie stehen, und blickte und horchte in die Gegend hinaus, nach welcher man die Todte fortgetragen hatte. Es war dunkel und still dort. Es war der Weg zum Kirchhofe!
Sie mußte bitterlich weinen, doch sie trocknete ihre Thränen und wollte in das Haus zurückkehren, das Wassergefäß wegsetzen und dann dem Nachbar die Todte ansagen.
[610] Da schlug ein Laut an ihr Ohr. Es war ein so sonderbarer Laut, ein leises Wimmern, ein unterdrückter Hülferuf. Er kam vom Wasser her; aber nicht aus dem Wasser. Er kam aus den Weiden, die am Wasser standen, dort, dicht, unmittelbar am Wege, auf welchem die Leiche zum Kirchhofe getragen war.
Was war das?
Es hatte nur ein paar Secunden gedauert, da war es wieder still geworden. Sie horchte. Sie hörte nur wieder den Wind, der an die Fenster schlug und durch die Bäume strich, und die Wellen, die durch die Weiden rauschten und die Kähne, die gegen einander sich schüttelten. Es wurde ihr graulich.
Jetzt, in diesem Augenblicke, hatte der Leichenzug den Kirchhof erreicht, wurde der Sarg in die Erde gesenkt.
Wer klagte dort? Wer rief um Hülfe? Konnte die Todte nicht von ihren Lieben scheiden? Von ihrem Kinde? Von dem alten Vater, dem sie so vielen Kummer gemacht hatte? Sie hatte doch das Wasser ausgegossen, früh genug, völlig nach dem Brauche!
O, wenn alte Bräuche die Ruhe dem Todten geben könnten, der gefehlt oder gelitten hat, der seine Lieben zurücklassen muß!
Sie wollte in das Haus zurückeilen. Da noch einmal der Laut. Leises Klagen, unterdrücktes Rufen nach Hülfe.
Aber war das nicht eine männliche Stimme? Konnte es nicht ein Unglücklicher sein, der ihrer Hülfe bedurfte? Ein Verirrter, der in der Dunkelheit des Abends, in dem Sturm des Herbstwetters in das Wasser gerathen war?
„Wer ruft da?“ rief sie laut.
Sie bekam keine Antwort.
„Hat dort Jemand gerufen?“ rief sie noch einmal lauter.
Es war ihr, als ob sie in der Ferne Schritte höre, weit fort von der Gegend, wo sie die jammernde Stimme vernommen hatte.
Eine Antwort erhielt sie nicht.
Was war das wieder?
Sie horchte noch eine Weile; hörte aber nichts mehr, als den Wind und den Regen und das Rauschen der Wellen. Auch die Schritte waren nicht mehr zu hören.
Sie kehrte in das Haus zurück. Aber sie war erschrocken, und konnte nicht sogleich weiter gehen, die Todte anzusagen. Sie kehrte in die Stube zurück.
„Du warst schon bei dem Nachbar?“ fragte der alte Mann im Bette.
„Nein, Vater, ich werde gleich gehen.“
„Ich hörte Dich draußen sprechen.“
„Ich glaubte ein Wimmern vernommen zu haben, und da rief ich, ob Jemand Hülfe bedürfe.“
Der alte Mann war aufmerksam geworden.
„Wo hörtest Du das?“
„Es war mir, als ob es aus den Weiden am Strome käme.“
„Unterhalb oder oberhalb?“
„Unterhalb, dort, wo sie –“ Sie stockte.
„Wo sie die Leiche vorbeigetragen haben?“ ergänzte der alte Mann.
„Ja,“ sagte leise das Mädchen.
„Sollte sie schon jetzt keine Ruhe haben?“ fragte der alte Mann, und warf sich unruhig in seinem Bette umher.
„Muhme Felicitas!“ rief leise das Kind.
Das Mädchen nahete sich dem Kinde.
„Muhme, im Himmel ist die Mutter?“
„Ja, mein Kind.“
„Aber warum haben sie sie denn auf den Kirchhof getragen?“
„Ihre Seele kommt in den Himmel.“
„Und was haben sie auf den Kirchhof gebracht?“
„Ihren Leib, mein Kind.“
„Und der bleibt da?“
„Er schlummert dort im Grabe.“
„Ganz allein, liebe Muhme?“ fragte daö Kind. „Ganz allein die arme Mutter? Da hinten in dem dunklen Kirchhofe? In der finsteren Nacht? In dem häßlichen Wetter? Mich friert, Muhme!“
Das Kind schüttelte sich.
„Beruhige Dich, meine gute Anna, Deine Mutter ist nicht allein, die Engelchen sind bei ihr, gute, freundliche Engel; die wärmen sie.“
Aber das Kind weinte schmerzlich.
„Muhme Felicitas, ich fürchte mich. Die arme Mutter!“
Das Mädchen zündete eine Lampe an, dem Kinde die Furcht zu benehmen. Dann wollte sie gehen, die Todte anzusagen. Die Lampe beschien die drei Personen, die in der Stube des Fährhauses waren. Der alte Mann im Bette war ein hinfälliger Greis. Sein Gesicht war so geisterbleich, so hohl. Lag der Tod schon bei ihm im Bette? Seine stechenden Augen blickten gespensterhaft. Das Kind auf der Bank war ein blasses, abgezehrtes Mädchen von vielleicht sechs Jahren. Seine großen, schwarzen Augen glänzten so matt und so unheimlich. War der Tod bei ihm schon näher, als bei dem hinfälligen Greise?
Zwischen ihnen stand ein in der Jugend und in der Schönheit von achtzehn Jahren blühendes Mädchen. Ihr Gesicht zeigte tiefe Trauer. Das Kind beruhigte sich, als es das Gesicht sah.
Draußen wurde ein anderer Ton laut, als der des Wetters und des Wassers. Pferde sprengten in wildem Galopp heran.
Das Mädchen erbebte. Sie warf einen schmerzlichen Blick auf den Greis und das Kind.
Wollte da Jemand auf die andere Seite des Wassers übergesetzt werden, so mußte sie es besorgen; sie war mit den Beiden allein zu Hause. Der Bursch, der ihr sonst half, oder allein den Fährmann machte, wenn sie nicht da war, war mit der Leiche gegangen. Es war ein blödsinniger, stiller Mensch, der schon seit zwanzig Jahren an der Fähre war.
Mußte sie jetzt übersetzen bei dem heftigen Winde, dem wild treibenden Wasser, auf wie lange Zeit mußte sie die hülflosen Kranken allein lassen! Von dem Todtenansagen beim Nachbar wäre sie doch in einer Viertelstunde zurückgekommen.
Die Thür der Stube wurde geöffnet, schnell, aber nicht laut, nicht heftig.
Ein junger Bauer trat eilig in die Stube. Er strich sich die nassen Haare aus dem hochgerötheten Gesichte. Er hatte eine eilige Frage auf der Zunge; aber er unterdrückte sie, als er in der Stube sich umgesehen hatte.
„Ist die Leiche schon lange fort?“ fragte er im Tone der Theilnahme.
„Seit einer Stunde,“ antwortete ihm der Greis im Bette.
„Verzeihet mir, Vater Rose, ich konnte sie nicht begleiten, ich hatte dringende Abhaltung.“
„Es that mir leid, Dich nicht dabei zu sehen, Ferdinand.“
„Auch mir that es leid. Ich habe sie so oft hier leiden sehen. Ich hätte sie so gern zu ihrer Ruhe begleitet; sie hat ja jetzt Ruhe.“
„Ja, sie ruhet aus von schwerem Elende.“
„Fünf Jahre lag sie hier.“
„Beinahe sechs. – Welche Abhaltung hattest Du?“
Der junge Mensch antwortete nicht. Er wandte sich an das Mädchen.
„Felicitas, hast Du Niemanden übergesetzt?“
„Seit zwei Stunden keinen Menschen.“
„Und woher?“
„Ein paar Landleute, die von drüben kamen und in’s nächste Dorf wollten.“
„Und Niemanden von dieser Seite nach drüben?“
„Seit heute früh nicht. Bei dem schlechten Wetter bleiben die Leute zu Hause.“
„Wer war es heute früh?“
„Eine Frau aus unserem Dorfe. – Suchst Du Jemanden, Ferdinand?“
„Wißt Ihr denn hier noch nichts von den Franzosen?“
„Was sprichst Du von den Franzosen?“ fragte der Greis.
„Ihr wißt es also noch nicht?“
„Kein Wort.“
„Alter Vater Rose, hätte das die Todte noch erlebt! Hört. Bei Leipzig sind die Franzosen geschlagen. Mit ihrem Regimente bei uns, in ganz Deutschland, ist es vorbei.“
Der hinfällige Greis hatte in seinem Bette sich hoch aufgerichtet. Eine Röthe konnte in dieses geisterbleiche Gesicht nicht mehr aufsteigen. Aber die gespenstischen Augen leuchteten hell in ihren dunklen weiten Höhlen, wie glühende Kohlen aus einem Todtenschädel.
„Wir sind frei, sagtest Du? Frei?“
„Wir sind frei, Vater. Es ist aus mit ihnen. Die ganze französische Armee ist vernichtet. Der Kaiser ist über den Rhein entflohen. Was ihm folgen kann, folgt ihm. Sie hatten hier überall, so lange sie konnten, die Nachricht vor den Leuten zurückgehalten. Gestern Abend kam sie in die Stadt. Flüchtige Soldaten kamen zerrissen und verhungert an. Gensd’armen folgten. [611] Der Präfect, der kaiserliche Procureur, die Steuerrecepteure, die Douanen, Alle liefen zusammen. Die ganze Nacht wurde gepackt. Am frühen Morgen waren sie fort, all das fremde Gesindel. Eine Stunde nachher waren Kosaken da. Die alten Beamten und treu gebliebenen Anhänger des Königs haben sofort im Namen des Königs das Regiment wieder übernommen. Nach allen Seiten haben sie in das Land geschickt, um es den Leuten zu wissen zu thun. Und überall sind auf der Stelle die Patrioten aufgestanden und zusammengetreten, das französische Gesindel zu verfolgen. Kein Franzose darf lebendig aus dem Lande. Gegen Abend kamen sie in unser Dorf. Mit meinen Cameraden bin ich hierher aufgebrochen. Man hatte einen Trupp flüchtiger französischer Soldaten sich nach dem Flusse ziehen sehen. Wir suchen sie.“
Der Greis saß mit gefalteten Händen im Bette.
„Nach sieben Jahren! Endlich! Es waren schwere sieben Jahre. Für Alle! Und für die Arme, für mein armes Kind! Hätte sie nicht diesen Tag noch erleben können? Aber es ist wohl besser so. Es war vorbei mit ihr. Leben konnte sie nicht mehr, und hätte sie nicht wieder leben wollen? Aber ich sterbe jetzt in Frieden.“
Er sah betend zum Himmel auf, betend, daß sein Haß, seine Rache befriedigt waren. Das war sein Friede! Und er war ein braver Mensch, der in seinem Leben keinem Menschen Unrecht gethan, aber so viel Unrecht und Elend erlitten hatte! Der beste Mensch ist kein Engel.
Der junge Bauer schickte sich an, wieder zu gehen.
„Leuchtetst Du mir wohl hinaus, Felicitas?“ sagte er zu dem Mädchen.
Sie zündete die Laterne an, die neben der Lampe auf dem Tische stand, und verließ mit ihm die Stube. Sie ging in einiger Befangenheit mit ihm. Gleichwohl waren Gesicht und Wesen des hübschen, kräftigen jungen Menschen so unbefangen, offen und Zutrauen erweckend.
„Felicitas, drei Worte,“ sagte der junge Bauer, als sie draußen allein waren.
„Was willst Du, Ferdinand?“
„Dein Vater ist sehr elend.“
„Das ist er.“
„Ich fürchte, er folgt bald Deiner armen Schwester.“
„Auch ich fürchte es.“
„Dann bist Du ganz allein, nur mit dem kranken Kinde.“
„Das Kind wird noch eher sterben, als der Vater.“
„Du hättest dann gar nichts mehr.“
Das Mädchen mußte sich Gewalt anthun, um nicht zu weinen.
„Ich wollte Dich nicht traurig machen, Felicitas, ich wollte Dich aufrichten.“
„Du bist gut, Ferdinand.“
Der junge Bauer nahm die Hand des Mädchens.
„Felicitas, ziehst Du dann mit mir?“
Die Laterne zitterte in der Hand des Mädchens.
„Laß uns heute nicht davon sprechen, Ferdinand.“
„Gerade heute. So oft bisher, wenn ich Dir den nämlichen Antrag machte, hast Du mir geantwortet, Du könntest Deinen Vater und Deine Schwester mit dem Kinde nicht verlassen, und wenn ich Dir dann sagte, daß sie mit ausziehen sollten, dann erwidertest Du mir, es habe ja noch Zeit, Du könntest noch nicht recht klar mit Dir selbst werden.“
„Ich kann es auch heute noch nicht.“
„Doch, doch, Felicitas. Wenn man einen lieben Angehörigen zu seiner letzten Ruhe gebracht hat, dann fragt man sich selber: Wo wirst Du denn zuletzt Deine Ruhe finden? Was soll aus Dir werden? Du mußt über Dich nachgedacht haben.“
„Ja, ich habe es, Ferdinand.“
„Und was?“
Das Mädchen konnte ihre Thränen nicht mehr zurückhalten. Sie setzte die Lampe zur Erde, um mit beiden Händen ihre Augen zu trocknen.
Er legte auf die beiden Hände weich die seinigen.
„Nun, Felicitas?“
Die Thränen des Mädchens flossen durch die vereinigten Hände.
„Ja, Ferdinand, ich muß mir ein Herz fassen und Dir Alles sagen. Ich habe so nachgedacht, wie Du sagtest, und es ist klar in mir geworden. Es wurde Alles klar in mir. Ich soll kein Glück auf der Welt haben, Ferdinand. Warum nicht, ich weiß es nicht. Aber zuerst sah ich die kleine Anna sterben, dann den Vater und ihm folge ich, bald, sehr bald. Ich glaube, sie tragen mich mit ihm zusammen zum Kirchhofe.“
„Felicitas,“ sagte der junge Mann, und er wurde so blaß, wie das traurige Mädchen. „Welchen häßlichen Traum hast Du da gehabt?“
„Es war kein Traum. So wird es kommen.“
„So wird es nicht kommen, mein braves Mädchen. Du warst angegriffen. Du bist es noch. Es ist auch kein Wunder. Was hast Du in den letzten Tagen ausgestanden! – Morgen komme ich wieder. Du wirst Dich erholt haben. Heute wollen wir nicht weiter sprechen. Schlage Dir nur die traurigen Gedanken aus dem Kopfe. Bis morgen, Felicitas. Gott tröste Dich.“
Er drückte noch einmal ihre Hände. Er ließ sie sanft los.
„Tröste Dich Gott, Felicitas!“
Er sprang fort. Er sprang auf sein Pferd, das er an der Thür angebunden hatte, und sprengte seinen Gefährten nach, den Weg zum Dorfe hin. Sie sah ihm lange gedankenvoll und still weinend nach. Dann trocknete sie ihre Thränen, nahm die Laterne von der Erde auf, löschte sie aus und kehrte in die Stube zurück.
Das Kind war eingeschlafen. Der Vater saß noch aufrecht und aufgeregt im Bette.
„Wir sind frei, Felicitas! Sie sind fort, verjagt, verfolgt. Jetzt kommt es an sie. Sieben Jahre lang haben sie uns mißhandelt. Unser Land, uns Alle. Mich; das arme Kind, das jetzt auf dem Kirchhofe liegt. Gerade heute! Das hat Gott gefügt. – Jetzt büßen sie. Würden sie doch Alle gefangen! Käme Keiner lebendig aus dem Lande!“
„Vater, wie sprecht Ihr so?“
„Was willst Du?“
„Ihr sagt, Ihr wolltet in Frieden sterben, und Ihr habt nur Haß und Zorn im Herzen.“
„Sollte ihnen nicht vergolten werden? Ist denn der Himmel nicht gerecht? Heißt es denn nicht, mit welchem Maße Du ausmissest, mit dem soll Dir zugemessen werden?“
„Vater, der liebe Gott liebt alle Menschen und kein Mensch soll den andern verdammen.“
„Nein, nein. Sie haben mich mißhandelt, sie haben mich verspottet, verhöhnt. Ein schändlicher Bösewicht unter ihnen hat mein Kind verführt und unglücklich gemacht und frühzeitig unter die Erde gebracht. Sie müssen ihren Lohn haben; Keiner von ihnen darf verschont werden. Man muß sie verfolgen, sie müssen niedergestoßen, sie müssen gequält und dann getödtet, zu Tode gequält werden, wie sie uns mißhandelt haben. Sie, ihre Brut, Alle.“
Die Augen des geisterhaften Greises stachen und glühten, wie im Wahnwitze.
„Vater, das Kind, das hier schläft – gehört sein Vater nicht auch zu ihnen?“
„Auch er!“ rief der Greis.
„Versündigt Euch nicht. Wenn er, der Vater des armen Kindes, nun auf einmal hier ankäme, flüchtig, verwundet, krank, verhungert, um Hülfe, um Obdach gegen das Unwetter, um ein Stück Brod gegen den Hunger bäte, würdet Ihr ihn zurückweisen, würdet Ihr ihn seinen Verfolgern ausliefern?“
„Er müßte sterben. Er hat mein Kind verführt. Er hat mich verhöhnt –“
„Und wenn er sich auf das Bettchen seines Kindes flüchtete, in seine Aermchen –“
„Er hat mein Kind unter die Erde gebracht!“ rief der wahnwitzige Greis.
Das Mädchen erschrak von Neuem.
„O Gott, und er war auf der Verfolgung, und ich habe nicht daran gedacht, ihn um Mitleid für die Armen zu bitten. – Aber er ist so gut. Auch der Vater! Es ist ja nur der Irrsinn, der so aus ihm redet. – Ich gehe jetzt, dem Nachbar die Todte anzusagen.“
„Geh,“ sagte der alte Mann noch heftig.
Sie nahm ein Tuch und wickelte sich hinein gegen das Unwetter. Dann ging sie. Die Laterne durfte sie nicht mitnehmen. Nach dem Brauche mußte sie im Dunkel gehen.
Nach einer halben Minute kehrte sie zurück. Der Greis hatte [612] sich im Bette wieder niedergelegt. Der Aufregung war die Abspannung gefolgt. Sie nahm die Laterne und zündete sie an der Lampe an.
„Was willst Du mit der Laterne?“ rief der alte Mann aus dem Bette, beinahe wieder heftig.
„Es rief von der andern Seite. Es will Jemand übergesetzt sein.“
„In dem Wetter? Und so spät noch?“
„Bei solchem Wetter kommt es immer.“
„Ist der Wilhelm noch nicht zurück?“
Er meinte den blödsinnigen Fährgehülfen, der mit der Leiche gezogen war.
„Noch nicht. Ich muß selbst herüberholen.“
„Vergiß nur das Ansagen nicht.“
„Nachher, wenn ich zurückkomme.“
Sie verließ mit der Laterne die Stube.
„Hol’ über!“ rief vom jenseitigen Ufer eine Mannesstimme.
Sie hatte schon vorhin gerufen. Sie hatte auch von dem Mädchen Antwort erhalten, daß sie gehört sei. Sie rief bei dem Erscheinen der Laterne vor dem Fährhause noch einmal, wohl nur, um sich zu vergewissern, man vergesse sie nicht.
Das Mädchen hob die Laterne hoch, zum Zeichen, daß sie komme.
Sie ging zum Ufer.
Es lagen dort drei Nachen zum Uebersetzen. Ein größerer Prahm für Pferde, selbst kleine Wagen; ein mittlerer für mehrere Menschen; ein kleinerer für weniger Personen. Die Nachen, Eigenthum des Staats, lagen angeschlossen. Sie löste den kleineren von seiner Stange ab und stieg hinein.
Das Wetter war noch naß und ungestüm, wie vorher. Der Wind strich kalt über den Strom und über den Nachen. Er jagte in dicken Tropfen den Regen in das Gesicht des Mädchens.
Sie befestigte die Laterne an den Vordertheil des Nachens. Am Hintertheil befanden sich zwei Ruder. Sie nahm sie und ruderte in das dunkle Wasser hinein.
Nachdem die Stimme drüben nicht mehr gerufen, war es ringsumher wieder völlig still, bis auf das Geräusch, das Wind, Strom und Regen machten.
Das Mädchen warf unwillkürlich ihre Blicke nach der Gegend, wo sie vorhin das Wehklagen und unterdrückte Hülferufen gehört hatte. Oder hatte sie nur gemeint, es zu hören? War es eine Einbildung ihrer aufgeregten Phantasie gewesen?
Sie glaubte mit ihrer Gegend an Gespenstergeschichten, an Vorgeschichten, Ahnungen, an die heilsame Kraft alter Gebräuche, an die nachtheiligen Folgen ihrer Nichtbeachtung. Aber nie hatte sie Furcht empfunden. Wie oft hatte sie, gleich heute, in dunkler Nacht, selbst Mitternacht, durch Wind und Wetter in ihrem Nachen allein über den Strom fahren müssen, allein hinaus oder allein zurück. Nie hatte auch nur ein leises Schauern oder Frösteln der Furcht sie ergriffen. Freilich hatte sie auch nie etwas von einem Gespenste gehört oder gesehen, und nichts war ihr begegnet, was sie als Vorgeschichte hätte ausdeuten können.
Warum heute dieses unheimliche Gefühl, mit dem sie nach jener Gegend blicken mußte? Sie hatte dort jene sonderbaren Töne vernommen. Aber hatte sie sie in der That vernommen? Sie wollte sich auch wohl einreden, daß sie nichts gehört habe. Aber immer kehrte die Erinnerung zurück, und mit der Erinnerung das unheimliche Gefühl und die Ahnung, wie eines schweren Unglücks.
Sie mußte wieder und wieder nach jener Stelle in den Weiden zurückblicken. Sie mußte immer wieder hinhorchen. Sie sah nichts, sie hörte nichts.
Als sie die Mitte des Stromes erreicht hatte, hörte sie auf einmal etwas. Aber es kam nicht aus jener Gegend. Es kam aus weiterer Ferne. Es klang, wie wildes Geschrei; man konnte glauben, gar Schüsse fallen zu hören. Das Brausen des Windes und der Wellen nahm aber die Töne wieder fort, bevor das Ohr sie deutlich hatte aufnehmen können.
Sie legte an dem jenseitigen Ufer an.
Ein einzelner Mann wartete auf das Uebersetzen. Es war ein Handelsmann aus der Gegend, der schon vor einigen Tagen den Strom passirt hatte. Das Mädchen nahm ihn ein und ruderte mit ihm zurück. Er sagte, daß er noch so spät nach Hause eile, weil es auf der Seite, von der er komme, überall unruhig sei.
„Morgen kann man da seines Lebens nicht mehr sicher sein. Das ist eine schlimme Zeit jetzt im Lande.“
„Was gibt es?“ fragte das Mädchen.
„Ist es denn bei Euch noch ruhig? Von Eurer Seite kommt es ja.“
„Wir haben noch von nichts gehört. Man sagt nur, daß die Franzosen überall aus dem Lande laufen.“
„Wo sie weglaufen können, da mögen sie es gewiß thun. Aber wohl die wenigsten kommen fort.“
„Die armen Menschen!“
„Habt Ihr auch noch nichts von der großen Schlacht bei Leipzig gehört?“
„Die Franzosen sollen sie verloren haben.“
„Sollen nur? Vernichtet sind sie. Das war eine Völkerschlacht. Sechsmalhunderttausend Menschen standen gegeneinander im Kampfe. Drei Tage stritten sie gegen einander. Ueber hunderttausend sind gefallen. Am dritten Tage hatten die Unsrigen den Sieg erfochten, und während unser König und die Kaiser von Oesterreich und Rußland ihre Häupter entblößten und auf der nassen Erde niederknieten, um Gott zu danken für die Befreiung des Vaterlandes, für die Niederwerfung des hochmüthigen Erzfeindes, unterdeß lief schon der Bonaparte schmählich dem Rheine zu und alle seine Franzosen, die laufen konnten, liefen mit ihm. Aber sie sind dennoch nicht Alle ihrem Schicksale entlaufen. Sie hatten weit vom Sachsenlande bis an den Rhein, und die Sieger setzten ihnen nach. Und mit den siegenden Soldaten hat sich überall das Volk im Lande verbunden, um Rache zu nehmen für all das Unglück und Wehe, das dieses freche Franzosenvolk sieben Jahre lang über unser armes Land gebracht hat. Das ist eine wahre Hetzjagd im ganzen Lande gegen Alles, was Franzosen heißt. Mit Sensen und mit Mistgabeln, mit Aexten und mit Knitteln haben die Leute sich bewaffnet, selbst Weiber und Kinder. So ziehen sie einher, in großen Haufen, wo die flüchtigen Franzosen sich haufenweise zeigen. Einzeln verfolgen sie den Einzelnen. Und Keiner findet Gnade vor den Verfolgern. Es ist eine Wuth in den Leuten, sie stoßen den Verwundeten nieder, sie erschlagen den Kranken.“
„Das ist ja entsetzlich,“ sagte das Mädchen. „Das ist abscheulich, niederträchtig.“
„Was wollt Ihr?“ sagte der Handelsmann. „Sieben Jahre lang ist unser Volk von den Franzosen gedrückt und geknechtet und mit Füßen getreten. Was wir erwarben, mußten wir ihnen an Abgaben zahlen; unsere Söhne schleppten sie fort nach allen Weltgegenden in den Tod. Unsere Frauen und unsere Ehre verhöhnten sie. Kein freies Wort durfte gesprochen werden. Wer es wagte, wurde erschossen. Mußte da nicht die Wuth, der Ingrimm des Volkes gegen seine Unterdrücker immer höher und höher steigen? Und was wollt Ihr? Wenn der Strom, so viele Jahre eingedämmt und zurückgehalten, endlich seinen Damm durchbricht, soll er dann gleich still und glatt und ruhig dahin fließen? Muß er nicht im ersten Augenblicke zerreißen und zerstören, was ihm im Wege steht?“
„Aber entsetzlich ist es!“ rief das Mädchen.
„Entsetzlich, aber durch wessen Schuld? Aber nicht niederträchtig.“
Sie hatten das Ufer erreicht. Der Handelsmann verließ den Kahn, bezahlte sein Fährgeld, sagte gute Nacht und schlug den Weg landeinwärts zu seiner Heimath ein.
Das Mädchen schloß den Kahn wieder an und wollte in das Haus zurückkehren. Wieder mußte sie nach den Weiden blicken und lauschen, in denen sie die Klagetöne vernommen hatte. Es waren vielleicht zwei Stunden seitdem vergangen und sie hatte unterdeß nichts weiter gehört. Aber die Erzählung des Handelsmannes hatte sie von Neuem aufgeregt.
Sie horchte lange; sie vernahm nichts. Sie kam in’s Träumen. Die Vergangenheit ging an ihr vorüber. Es war so viel mehr Leid als Freude darin. Sie ging schnell an ihr vorüber, wie alles Leid in der Erinnerung. Die Zukunft stand vor ihr. Versprach sie ihr mehr Freude? Was sollte aus ihr werden? Sie hatte wohl an der Leiche der Schwester darüber nachgedacht. Aber der brave junge Bauer hatte die Frage wieder angeregt.
[613]
Als mir einst das Gedicht „die Nothwendigkeit“[2] aus der Seele quoll, schwebte ihr ein mir befreundeter Mann und dessen eigenthümliches Schicksal und großartiges Wirken als Schema oder Typus vor, der vom Zeitgeiste die hohe und schwere Mission empfangen hatte, einer der kühnsten und kräftigsten Geistes-Pioniere der Zukunft zu sein, und der diese eben nicht beneidenswerthe Aufgabe schon damals mit Erstaunen erregender Rührigkeit und Gewandtheit löste. Eine Stanze des Gedichtes kann als Motto dieser biographischen Skizze gelten, so ganz und gar paßt sie auf den Mann, den ich hier besprechen will, und ist gleichsam von ihm abgezogen und auf ihn gemacht:
„Nur Lebensdrang stählt die Gefühle
Der Wahrheit und des ew’gen Rechts.
Nicht von des Reichthums weichem Pfühle
Ersteh’n die Helden des Geschlechts.
Still wandeln sie als Morgensterne
In kalter Früh dem Tag voran.
Sie brechen in die lichte Ferne
Durch Trümmerhaufen neue Bahn.“
Dieser Mann war Josef Meyer, der Gründer des „Bibliographischen Instituts in Hildburghausen.“
Unter allen Mitlebenden, mit welchen ich in irgend eine Berührung gekommen bin, war Josef Meyer bei weitem der Bedeutendste, ja, da es doch nichts weniger als widersinnig ist, von dem Theil auf das Ganze zu schließen, so wird in Betracht der nicht geringen Anzahl Menschen, die, mehr oder minder an den precären Segnungen der heutigen Cultur betheiligt, ich auf meinem, auch schon ziemlich langen Lebenswege etwas näher kennen gelernt, die Behauptung gerechtfertigt erscheinen, daß er eines der merkwürdigsten und außerordentlichsten Individuen der Mitwelt war und geradezu der kleinen Anzahl der größten und thatkräftigsten, durch Fülle und Schwung des Geistes, Tiefe des Gemüths, Schärfe und Erhabenheit der Conception und ungemeine Willenskraft ausgezeichnetsten Menschen aller Zeiten angehörte. Und was ihm vorzüglich den scharfen Prägstempel der Ungewöhnlichkeit verlieh, war der seltene Umstand, daß er nicht etwa in einem Fache des menschlichen Wissens und Könnens zur Meisterschaft und Virtuosengröße gedieh, wie andere gepriesene und bewunderte Sterbliche, sondern daß er in einer Menge Fächern, von welchen jedes geeignet ist, ein ganzes Menschenleben zu beschäftigen und auszufüllen, das Primat errang, und gleichsam in allen Sätteln sich als Kunstreiter bewährte. In dem grandiosen Bestreben, das ganze ungeheure Gebiet der menschlichen Thätigkeit, wie sie in ihrer geistigen und technischen Weiterentwicklung, in ihrer flughaften Vergeistigung, begriffen ist, zu erobern und zu beherrschen, zeigte sich Meyer als eine Titanennatur, als ein aus der metaphysischen Speculation in die praktische Philosophie übersetzter Faust. Man bedenke: während er als Industrieller die großartigsten Unternehmungen machte, wie sie in Deutschland nicht, in England weniger ihres Gleichen haben, war er zugleich tiefforschender Gelehrter und schlug als Buchhändler und Buchdrucker eine wahre Riesenbrücke von einem [614] Gebiete zum andern. Während er mit sichrer Hand Etablissements errichtete, die, wenn man ihn hätte ruhig gewähren lassen, Deutschland rasch zu einer nie geahneten Blüthe des Wohlstandes geführt hätten, ergötzte er sein geübtes und seines Kunstkennerauge an dem ungewöhnlich großen Schatze von werthvollen Kunstwerken aller Art, den er mit großen Mühen und Kosten zusammengebracht hatte. Keine Wissenschaft, keine Kunst war ihm fremd, in vielen hatte er sich eine meisterhafte Kennerschaft angeeignet, keine Erwerbsthätigkeit lag ihm zu fern, daß er sie nicht gelegentlich in seinen Gesichtskreis gezogen hätte. Aber – und dies ist gewiß die Krone seines Wirkens und Schaffens – über Alles, was er dachte, schrieb und schuf, waren die zauberhaften Tinten der echten und wahren Lebenspoesie, jener sanfte und liebliche Hauch des Idealen gegossen, der die Bitterkeit des alltäglichen Menscheitschicksals versüßt, die düstre Wirklichkeit verschönt und den Mimen auf der Lebensbühne, wie den Zuschauer geistig und seelisch erhebt, stärkt und beglückt. Ja, Meyer war nicht nur einer der bedeutendsten, markigsten Schriftsteller, er war in all’ seinem Thun und Wesen ein gewaltiger und doch liebenswürdiger Dichter. Oft wenn ich das bewundernde Auge über seine, von so viel sittlicher Würde geschmückte Person und seine ernorme gigantische Thätigkeit hingleiten ließ, war ich versucht seinen kleinlichen Gegnern und Verfolgern, dem armseligen Pygmäenhaufen, der ihn gern gekreuzigt hätte, mit des Pilatus Worten zuzurufen: Sehet welch’ ein Mensch!
Wie bei weitem die größte Zahl der großen Menschen, die befruchtend, anregend, ringend und fördernd über die Erde gegangen sind und ihr die Spuren dieses Ganges für ewige Zeiten eingedrückt haben, ging Josef Meyer aus dem Schoße des Volks hervor. Auch er sieht in der Schaar echter und wahrer Menschen, die mit dem Zimmermanns- und Bergmannssohne die Gemeinschaft des Geistes haben, denen der Genius den Weihekuß der Kraft in der Wiege gegeben, die man sonst kreuzigte und verbrannte, und die man heule schmäht und lästert, verfolgt und behindert, in Kerker wirft und am liebsten verhungern läßt.
Und auch das hat Meyer mit den meisten großen Menschen gemein, daß er, nachdem er sich lange mit allerlei Pack und Pöbel herumgeschlagen, nachdem er unglaubliche Hindernisse besiegt, die theils in den öffentlichen Verhältnissen selbst lagen, theils ihm absichtlich und mit grinsender Schadenfreude bereitet wurden, rastlos titanisch thätig, immer von kleinem boshaften Gethier in die Fersen gebissen, begeifert und gescholten, wenn er ein Centimane Berg auf Berg thürmte, um den Götzen der Aftercultur zu bekriegen, oder ein Prometheus neue bessere Menschen bilden wollte, oder ein Jesaias mit Flammenworten dem verderbten Geschlechte Strafpredigten hielt, – daß er nach all diesem Kampf, nach all’ dieser Arbeit das Werk seines Lebens doch als Torso, als des Daches und der Thürme entbehrenden Dombau verlassen, und sein heißes großes Herz allzufrüh dem erstarrenden Tode überliefern mußte.
Josef Meyer ward am 9. Mai 1796 zu Gotha geboren. Sein Vater, Johann Nikolaus Meyer, war einst als Schuhmachergeselle eingewandert, und hatte als Meister sein Handwerk durch Energie und Speculationsgeist allmählich zu einem schier großartigen Fabrikgeschäft ausgedehnt, das Hunderten von Händen Arbeit und lohnenden Verdienst gab. Auch die Mutter unseres Meyer, Tochter eines Bürgers Gotha’s, wird als eine geistbegabte, thätige, rasch entschlossene Frau gerühmt, welche 80 Jahre alt, 1851 in Hildburghausen bei ihrem Sohne starb, nachdem ihr Gatte schon 1822 in Zurückgezogenheit vom Geschäft mit Tode abgegangen war.
Meyer war bis zu seinem 11. Lebensjahre Schüler der durch nichts ausgezeichneten Bürgerschule und der untern Classen des durch Scholarchismus und Pedantismns ausgezeichneten Gymnasiums seiner Vaterstadt. Dieser lieblose und eigensinnige Schulgeist, dem sich der lebendige Knabe nur mit Widerwillen fügte, hatte die natürliche Folge, daß Meyer nur geringe Fortschritte machte und nahe daran war zu verwildern. Eine so üppige und keusche junge Menschenpflanze bedarf vor allem der liebevollsten, gütigsten Pflege, und gerade diese war auf dem gothaischen Gymnasium eine unbekannte Größe. Interessant ist, daß einer der weisen Herren Schulmonarchen, durch seine ewige Consternation und Confusion der Schöpfer nie versiechender Heiterkeit unter seinen Schülern, an Meyer Prophetenamt übte, indem er ihm oft zurief: „Aus Dir wird im Leben nichts, Junge!“ Ein genialer Knabe ist in den plumpen Händen solcher Baculanten Hamlets Flöte; sie verstehen nicht darauf zu spielen. Nie war Meyer als reifer Mann heiterer und liebenswürdiger, als wenn er seine Schulfata erzählte und der Prophezeihung des sehr würdigen Herrn gedachte, der doch so viele Bücher hatte drucken lassen. Er sprach aber auch sehr ernste und hoherzigenswerthe Worte über den ungeheuern Schaden, welchen solche gepriesene Lehranstalten in den Geistern und Herzen ihrer Schüler anrichten, und wie verderblich sie dadurch einem ganzen Lande, einer ganzen Generation werden. Meyer’s schon früh erwachter Oppositionsgeist gegen Ungerechtigkeit und seine Unerschrockenheit retteten ihn glücklich aus der großen Staatspräparir-Anstalt, wo „der Geist recht wohl dressirt und in spanische Stiefel eingeschnürt“ wurde. Vom Lehrercolleg zu einer entehrenden Strafe verurtheilt, weil er einen ältern Knaben nicht unbedeutend verletzt, der seinen jüngeren Bruder August (den noch lebenden, rühmlich bekannten Theologen und Bibelcommentator Consistorialrath Meyer in Hannover) gemißhandelt hatte, konnte er weder durch Bitten noch durch Drohungen in die Schule zurückzukehren vermocht werden. Diese beiden Brüche, der Armbruch jenes Knaben und der Bruch Meyer’s mit der Schulweisheit und Gerechtigkeit, wurden die geöffneten Flügelthüren seiner ihm angemessenen Lebensbahn. Die für das geistige Wohl des Sohnes besorgten Eltern brachten diesen in das Pensionat eines als Pädagogen aus der Salzmann’schen Schule gerühmten Pfarrers in Weilar, einem eisenachischen Dorfe, wo der talentvolle Knabe im Schoße ländlicher Einfachheit, gepflegt und gehoben von der echten Liebe und Humanität seines von den liberalsten und verständigsten Erziehungsgrundsätzen beseelten, an Geist und Gemüth gleich wahrhaft gebildeten Lehrers, die schönste, naturgemäßeste Entwicklung erfuhr und die zwei glücklichsten Jahre seiner Jugend verlebte. Diese beiden Jahre sind vom entschiedensten Einfluß auf seine spätere Bildung und von der höchsten Wichtigkeit für sein Leben geworden; denn das tiefe Gemüth des Knaben, zeither vom dünkelhaften Baculismus verwahrlost und verbittert, eröffnete sich hier dem befruchtenden Sonnenstrahle der Liebe und würde von der innigsten Anhänglichkeit und zartesten Verehrung für seinen hochsinnigen Lehrer und dessen Haus erfüllt. Meyer begriff den Unterschied zwischen der handwerksmäßigen Strenge seiner früheren Lehrer und der freien warmen Pflichterfüllung seines jetzigen, und diese Einsicht förderte früh seine Menschenkenntniß und gab seinem Charakter in den Jugendjahren, wo Andre noch willenlose Rohre im Schulsumpfe und vom scholastischen Winde hin und hergeworfen sind, jene prägnante Entschiedenheit und seiner Seele die lyrische Gefühlsweichheit und den Schwung, welche Trias in seinem männlichen Leben und Wirken so scharf ausgeprägt hervortritt.
Nach der Confirmation des Sohnes, brachte ihn der Vater, welcher mit seinem Fabrikat die Messen in Frankfurt am Main bezog und in dieser Stadt vielfache Bekanntschaften und Geschäftsverbindungen hatte, dorthin, um ihn in einem Colonialwarengeschäft zum Kaufmann bilden zu lassen, denn dieser Lebensberuf Josef’s war Wahl des Vaters und Sohnes zugleich. Von 1809 bis 1813 dauerte diese Lehrzeit, welche Meyer pflichtgetreu zu seiner Ausbildung benutzte. Der großartige Verkehr Frankfurts erweiterte seinen geistigen Horizont. Der Genius in ihm fing schon an die Flügel zu regen, und er kehrte als ein ebenso tüchtiger Kaufmann, wie gesitteter Jüngling in’s Vaterhaus zurück, um die mercantile Leitung eines von den Eltern inzwischen errichteten Schnittwarengeschäfts und der noch bestehenden Schuhfabrik zu übernehmen. Vom 17. bis zum 20. Lebensjahre handelt der ungemein hübsche, blühende, freundliche und gewandte Jüngling mit Kattun, Gingham, Merino’s, Tüchern und Bändern, führt die Geschäftsbücher, betreibt in seinen freien Stunden mit Eifer und Lust das Studium der kaufmännischen Wissenschaften, der modernen Weltsprachen und sieht sich mit Nutzen in der Geschichte und Literatur Deutschlands, Englands und Frankreichs um. Aber während dieser Beschäftigungen wuchsen und erstarkten ihm die Flügel des Geistes. Er reckte sie und dehnte sie, und eines schönen Tages machte er die Bemerkung, daß das Vaterhaus für ihn zu eng geworden sei, und daß es bessere Dinge für ihn zu thun geben möchte, als mit Bürger- und Bauernweibern in der Bude zu feilschen und über die Lieferungen fleißiger Schuhmachergesellen Buch und Rechnung zu führen.
Sobald der in ihm schlummernde Funke erwacht und von der jungen Zuglust des Geistes glühend und sprühend geküßt war, wurden ihm Kattun und Schuhe zuwider, aber er verzehrte sich [615] nicht in lyrischer Sehnsucht nach einem unbestimmten Lebensziele; wie von einem Blitze erleuchtet, stand es plötzlich in scharfen Umrissen und von reiner Glorie umflossen vor dem dürstenden Jünglingsauge seiner Seele und er rang sich diese Seele nicht wund an Hindernissen und Unmöglichkeiten: er wollte und deshalb konnte er. Einmal sich seiner Kraft bewußt, gab es kein Hinderniß für den jungen Helden, leicht und kühn rang er sich aus den engen Schranken des Vaterhauses empor; er wußte nun, daß er Flügel hatte, er ahnete, daß es Adlerfittiche seien, und damit war ihm auch die Nothwendigkeit gegeben, sie zu gebrauchen. Und sein erster Flug ging gleich nach der Sonne. Wie sein Landsmann Joh. Andreas Stumpff 26 Jahre früher, wanderte Meyer im gleichen Alter, mit eben so geringen pecuniären Mitteln und unter sehr ähnlichen Verhältnissen nach London. Nichts als seine Kenntnisse, seinen glühenden Willen, seine sprudelnde Thatkraft hatte der zwanzigjährige Kattunhändler, als er im Frühling 1816 in der Weltstadt anlangte. Thatkräftige poetische Naturen waren beide Jünglinge, aber Stumpff’s lyrische Natur arbeitete sich still und langsam zu einer, wenn auch behaglichen, doch immer bescheidenen Existenz empor; Meyer’s dramatische Natur erstürmte sich ein glänzendes großartig bewegtes Leben, gleich einem Perseus auf dem Flügelrosse. Der erste Wurf zeigte, weß Geistes Kind er war; mochte er gelingen oder mißglücken, er bethätigte die herakleische Kraft des Werfers. Mit rastloser Anstrengung macht sich Meyer alle ihm nöthig erscheinenden Elemente jener kaufmännischen und Lebensbildung, wie sie ein Stapelplatz des Weltverkehrs erheischt, zu eigen und erringt sich eine würdige Stellung in einem großen Handelshause. Tausende hätten sich damit begnügt und sich der großen und bunten Lebensströmung überlassen; nicht unser junger Thüringer. Nicht ein Getriebener konnte er sein, sondern ein Treiber; nicht als „dienendes Glied“, sondern als „Ganzes“ mußte er wirken.
Ohne Zaudern orientirt er sich in Natur und Wesen der dortigen Platzgeschäfte und hat sich zum Erstaunen Aller, die ihn kannten, in der unglaublich kurzen Zeit eines Jahres aus der bescheidenen Sphäre eines Commis in die stolze weitgreifende eines selbstständigen großen Londoner Speculanten emporgeschwungen. Unerhörte Kühnheit von unerhörtem Erfolge gekrönt! Der einundzwanzigjährige Sohn der kleinen thüringischen Residenzstadt, vor einem Jahre noch Lappen- und Bandkrämer auf den idyllischen Jahrmärkten seines speciellen Vaterländchens, jetzt unter den Tonangebern der Londoner Börse, ein genannter Geschäftsmann auf dem Weltmarkt und mit den Millionären verkehrend, als sei er Einer aus der Clique, ein aus der Dichtung des großen Briten in die Wirklichkeit gesprungener königlicher Kaufmann von Venedig. Aber als sollte er, der poetische Waghals, auch das vom Dichter geschaffene Schicksal jenes idealen Kaufmanns erfüllen, stürzte er, nachdem er drei Jahre alle Wechselfälle seines gefährlichen Geschäftszweiges erlebt, ungeheuere Summen gewonnen und verloren und seinem Namen eine glänzende Geltung verschafft hatte, von der schwindelnden Höhe, die er athemlos erklommen, getroffen von wiederholten Wetterschlägen widriger Conjuncturen, und beschloß, 24 Jahre alt, im Londoner Schuldgefängniß den ersten Abschnitt seines außerordentlichen Sturm- und Dranglebens.
Das ist wahr! er verstand es schon damals, die Leute von sich reden zu machen. Als Schüler des Gothaischen Gymnasiums hörte ich damals zuerst von Meyer, der mir sieben Jahre älter als ich war, und in einer mir befreundeten Familie, deren Oberhaupt mit Meyer’s Vater in enger Geschäftsverbindung gestanden, erfuhr ich sehr interessante Details über seine Persönlichkeit. Erst hatte man in Gotha viel bewundernden Rühmens von seiner unerhörten Londoner Carrière gemacht, als sie aber wie Ikarus’ Sonnenfahrt endigte, hatte natürlich jede Philisterweisheit das vorausgesehen, und als vollends Meyer’s Vater all’ seine Habe zum Opfer brachte und auch die Hülfe des Herzogs August in Anspruch nahm, um den Sohn zu befreien und zu retten, da hatte Gotha nicht Material genug, um den verwegenen Sonnenfuhrmann zu steinigen. Die ganze Stadt sprach von ihm, und man erinnerte sich mit Genugthuung, welcher Ungeberdigkeit wegen er das Gymnasium verlassen hatte. Deshalb that der junge Schiffbrüchige wohl daran, daß er nicht in seine Vaterstadt zurückkehrte, sondern das ihm so theure Haus seines Lehrers und Erziehers in Weilar aufsuchte. Hier empfing ihn alte Liebe mit Herzlichkeit, und junge Liebe blühte mit Inbrunst für ihn auf. Des Pfarrers Tochterlein, Minna, das er einst als Kind verlassen, war zur zarten sittigen Jungfrau heraufgeblüht, und der junge unglückliche Held fand in ihrer Theilnahme an seinem Geschick den rechten Trost, in ihrem Umgange die rechte Erheiterung, so daß ihm die augenblicklich gelähmten Flügel schnell wieder erstarkten. Wie er in Weilar einst das schönste Knabenglück gefunden, so fand er jetzt hier wiederum das schönste Jünglingsglück. Aber die Liebe machte ihn nicht zum unthätigen Träumer; sie gab ihm im Gegentheil neue Kraft zum Handeln und Streben, und in dieser Kraft einen höhern Schwung. Denn in dem großartigen neuen Industrieunternehmen, das er hier begründete, verband er zum ersten Mal mit der merkantilen Thätigkeit jene nicht genug zu rühmenden Humanitätsbestrebungen nach ungewöhnlichem Maßstabe, welche in seiner ganzen spätern, sich immer gewaltiger entfaltenden Wirksamkeit maßgebend und bestimmend für ihn geworden sind.
Das neue Etablissement, welches er in Gemeinschaft mit den in der Nähe begüterten edlen Herren von Boyneburg in Weilar unter der Firma „Gewerbs- und Hülfsanstalt“ schuf, hatte nämlich die Hebung und Belebung der Spinnerei und Weberei jener armen Gegend zum Zweck und versprach ein reicher Segensborn für das dortige Proletariat zu werden.
Aber ein eigenthümlicher Unstern waltete über Meyer’s ersten Schöpfungen. So gut sie auch anfangs prosperiren, so gehen sie doch dann rasch an der Ungunst äußerer Umstände zu Grunde. Auch das Weilarsche Unternehmen scheiterte nach drei Jahren (1823) an der Feindseligkeit eingetretener Conjuncturen, welche seine planmäßige Entwickelung verhinderten. Das geschäftliche Verhältniß Meyer’s mit den Herren von Boyneburg löste sich zwar, aber die freundschaftlichen Beziehungen und der geistige Verkehr zwischen beiden Parteien dauerten fort und übten sogar auf Meyer’s spätere Lebensverhältnisse gestaltenden Einfluß. Zu derselben Zeit starb Meyer’s Vater, und die Zurechtstellung seiner Familienverhältnisse führte ihn wieder nach Gotha.
Hier trat er sehr bescheiden als Privatlehrer der englischen Sprache auf und lebte zurückgezogen. Bald war er ein gesuchter Lehrer, der sich schon nach einigen Monaten als Schriftsteller eigne Bahn brach. Er gab nämlich im eigenen Verlage ein „Correspondenzblatt für Kaufleute“ heraus, das wegen seiner neuen und originellen Ansichten und ungewöhnlichen Sprache rasch allgemeine Verbreitung findet und des Verfassers Ruf als kaufmännischer Schriftsteller begründet. Mit diesem Blatte beginnt eine neue Aera in Meyer’s Leben, die der literarischen und buchhändlerischen Thätigkeit, welche, von nun an nie wieder geschieden, ihn vereint bis an’s Lebensende begleitete. Denn er ist stets Schriftsteller und Buchhändler zugleich gewesen, ohne was der Vielgestaltige sonst noch war. Zwar stand er eine Zeit lang 1824 und 1825 mit der Hennings’schen Verlagsbuchhandlung in Gotha in Geschäftsverbindung, aber sie zerschlug sich bald wieder, und Meyer entfaltete seine bibliopolische Taktik, die von der zeither in Deutschland üblichen himmelweit verschieden war.
Wie die beiden ersten mercantil industriellen Etablissements Meyer’s in London und Weilar eigentlich Fehlgriffe, Uebergriffe in’s Riesige und Massenhafte waren, aber großartige Irrthümer, wie sie nur ein Genie von so eigenthümlich hochgestimmter Besaitung wie Meyer begehen kann, so war auch sein erstes größeres literarisches Unternehmen ein merkwürdiger Fehlgriff, der ebenfalls vollgültiges Zeugniß von Meyer’s kühner Genialität nach einer andern Richtung hin ablegte. Ich meine seine damals mit großem Aufsehen oder eigentlich Spott und Tadel aufgenommene, jetzt wohl ziemlich vergessene Uebersetzung, richtiger Bearbeitung und Verbesserung einiger Shakespeare’schen Dramen, des Macbeth, Othello und Sturm (denn die übrigen, im Verlage der Hennings’schen Buchhandlung in Gotha erschienenen Shakespeare-Stücke sind nicht von Meyer bearbeitet).
Es war doch in der That der verwegene Griff eines jungen Kaufmanns, der in London in mercantiler, in Weilar in industrieller Wirksamkeit falsch speculirt hatte, nun den größten Dichter des christlichen Zeitalters für die Deutschen bearbeiten, resp. verbessern zu wollen. Aber nur ein gewaltiges Genie konnte einen solchen Mißgriff thun. Große Menschen sind in allem groß und oft in ihren Irrthümern am größten. Gleichzeitig begann Meyer eine gelungene Uebersetzung Walter Scott’scher Romane in bis dahin unerhört billiger Ausgabe. Nur „Waverley“ und „Ivanhoe“ sind vollständig erschienen. Eine junge süddeutsche Buchhandlung [616] behielt nämlich die für den Meyer’schen Walter Scott gesammelten zahlreichen Subscribenten zu einer von ihr selbst rasch veranstalteten Ausgabe des übersetzten schottischen Dichters und machte, die Hennings’sche Ausgabe überflügelnd, einen bedeutenden Gewinn. Meyer, von Hennings’ Langsamkeit geärgert, sagte sich von ihm los und stand von nun an auf eigenen Füßen. Mit dieser Shakespeare- und Walter Scott-Ausgabe hat er aber den großen Wurf gethan, der dem deutschen Volke von unberechenbarem Nutzen geworden ist, er ist damit der Schöpfer der billigen Literatur geworden. Und auf diesem Felde hat er einen Segen ausgestreut, welcher erst den kommenden Geschlechtern als echte goldene Ernte erblühen wird.
Lieber Leser! Nimm Deinen Verstand, den Du gerade hast, einmal auf kurze Zeit zusammen, und beantworte Dir und mir folgende Fragen: Was ist wohl von einer Versammlung von sogenannten wissenschaftlich gebildeten Männern zu halten, die über die Herstellung der Gesundheit ihrer kranken Mitmenschen berathen wollen und zum Präsidenten eine alte, aller Heilwissenschaft unkundige Frau (nämlich die Frau Dr. Hahnemann aus Paris, die Wittwe des Entdeckers des Alkali Pneum.; s. Gartenl. 1855. Nr. 32.) wählen? Sprich! Was muß wohl zu diesen Männern und ihrer Wissenschaftlichkeit sein? – Oder sage mir: glaubst Du, daß die Heilkunst wirklich zum Heile führen kann, welche von den Töchtern, Frauen und Wittwen von Heilkünstlern, sowie von Leuten aller Art, – die sich nie um das gesunde und kranke Treiben im menschlichen Körper bekümmert haben, die aber eine homöopathische Hausapotheke nebst gedruckter Anweisung zum Curiren besitzen, – gerade eben so gut ausgeübt werden kann, wie von examinirten homöopathischen Aerzten? – Wie denkst Du ferner über Heilkünstler, die es dem Patienten frei stellen, ob er homöopathisch (mit Nichts) oder allopathisch (mit großen Gaben wirksamer Arzneien) behandelt sein will? – Wie geruhst Du Dich sodann über Heilkünstler auszusprechen, die, wenn ihr homöopathischer Zwirn alle ist, heimlich zu allopathischen Mitteln in ganz tüchtiger Gabe greifen, trotzdem aber, selbst wenn sie dem Kranken mit den letzteren (nicht selten von allopathischen Aerzten confiscirten und chemisch untersuchten Arzneistoffen Schaden zufügten, fortwährend über die allopathische Heilmethode schimpfen? Solcher Halb-, Bastard- oder Justemilieu’schen Homöopathen gibt es aber gerade genug, ja sie finden sich sogar unter den am lautesten schreienden Chorführern in der homöopathischen Comödie. – Hältst Du es für möglich, daß ein Heilkünstler eine krankhafte Veränderung im menschlichen Körper zu heben im Stande ist, die er gar nicht zu ergründen versteht und sehr oft gar nicht zu ergründen vermag? Den Homöopathen kommt es nun aber gar nicht auf diese Ergründung an, die halten sich nur an ein paar Krankheitserscheinungen bei der Auswahl ihres Heilmittels. Ob übrigens diese Krankheitserscheinungen dieser oder jener krankhaften Veränderung dieses oder jenes Organs zukommen, ist bei dieser Heilkünstelei auch ganz egal, da das dagegen gereichte Arzneimittel in homöopathischer Gabe doch nichts als ein Nichts ist. – Warum gibt es unter den homöopathischen Heilkünstlern auch nicht einen einzigen Mann, dessen Name in den Natur- oder Heilwissenschaften rühmlich genannt würde? Warum kümmert sich überhaupt die Wissenschaft gar nicht um die Homöopathie? – Wie mag es wohl kommen, daß in einem benachbarten Staate ein gewisser Examinator und Physicus im ärztlichen Staatsexamen alten, längst abgeworfenen allopathischen Kram examinirt, während er doch selbst in der Praxis fanatischer Homöopath ist? Man braucht sich deshalb aber auch nicht zu wundern, wenn in einem solchen Examen Leute durchfallen, die bald nachher zu gesuchten Universitäts-Professoren werden. – Wie ist es zu erklären, daß sich die Anhänger der Homöopathie, auch nicht einmal die Gebildeteren derselben, durchaus nicht durch eigene Versuche von der Gehaltlosigkeit der homöopathischen Grundsätze überzeugen wollen? Man nehme doch einmal Bärlapp (Lycopodium), einen ganz unschädlichen Stoff, eine Zeit lang ein und sehe zu, ob Leberflecke, Sommersprossen, Warzen, chronische Wehadern, Hautwassersucht, Flechten, Husten mit salzig schmeckendem Auswurfe, Gichtknoten oder dgl. danach entstehen oder vergehen, wie dies dem Lycopodium in den homöopathischen Arzneimittellehren nachgerühmt wird. – Ist es nicht wunderbar, daß die Homöopathen unter sich über die Wirkungsweise und Gabe der verschiedenen Arzneimittel, ja sogar über ihre verschiedenen Anhänger und Heroen, so ganz verschiedener, ja oft geradezu entgegengesetzter Ansicht sind? Ich werde nächstens dem Leser und mir den Spaß machen und diese Differenzen, so wie die äußerst spaßigen Wirkungen und Kräfte ein und desselben homöopathischen Heilmittels zusammenstellen. – Schließlich möchte ich aber nur wissen, weshalb die kranke Menschheit bei homöopathischer Behandlung (d. h. bei Nichts in Zucker oder Spiritus), ebenso wie bei Charlatanismus, so spät die Geduld und das Vertrauen verliert, auch wenn ihr Leiden nicht weicht oder sich sogar verschlimmert, während sie bei rationeller (d. h. vernünftiger) Behandlung nicht schnell genug curirt werden kann, und schon in kurzer Zeit nach einem andern Arzte und einer andern Behandlung forscht. Spricht das für Verstand oder Unverstand der Einen oder der Andern? Freilich wundert man sich in manchen Fällen hierüber nicht, wenn man erfährt, wie Kranken mit unheilbaren Uebeln von homöopathischen Aerzten, bisweilen sogar auf Ehrenwort, versprochen wird, daß sie jenen Kranken binnen einer ganz bestimmten Zeit die volle Gesundheit wieder verschaffen wollen. – Fälle aus der Praxis sollen Licht auf das homöopathische Treiben werfen. Natürlich werde ich, obschon ich es könnte, niemals die hierbei betheiligten homöopathischen Aerzte nennen, weil ich nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen die ganze homöopathische Unheilkunst zu Felde ziehen will.
Ein achtzehnjähriges blühendes Stumpfnäschen, welches mit seiner kranken Mutter, nicht seiner selbst wegen, in die ärztliche Sprechstunde kam, machte sofort durch seine lebensunlustige Miene, die kleinen dünnen blonden, vereinzelt von der Stirn nach den Schläfen sich hinziehenden Löckchen und durch ein niedliches Häubchen den Wunsch im Beobachter rege, zu wissen, ob er ein Frauchen oder ein Fräulein vor sich sähe. – Suchen wir dahinter zu kommen. –
„Ein so nettes Häubchen steht allerdings jungen Frauen recht hübsch, doch kleiden die Haare, zum Gesichte passend geordnet, in Ihrem Alter noch weit besser.“
„Meine Tochter, erst seit Kurzem Braut, trägt leider nur gezwungen ein Häubchen;“ – „und hoffentlich,“ fiel die Tochter mit thränenden Augen ein, „nicht lange mehr, denn der Arzt hat mir fest versprochen, mich in der nächsten Zeit so herzustellen, daß auch die Haare bis zum Trauungstage alle wieder gewachsen sind.“
„Also einer Krankheit Ihres Köpfchens wegen sind Sie unter das Häubchen gekommen? Haben dabei aber Haare lassen müssen? Da muß Ihnen wohl der Kopf öfters von Ihrer Frau Mutter gewaschen werden?“
„O nein! Mein Arzt ist Homöopath und will mir ohne Kopfwäsche den Kopf zurecht setzen, nur durch seine Kügelchen; freilich gehört viel Geduld zu einer solchen Behandlung.“
„Sie nehmen sonach schon lange homöopathische Mittel gegen Ihr Leiden ein, und sind wohl noch niemals äußerlich behandelt worden?“
„Allerdings schon über ein Jahr medicinire ich, aber blos innerlich.“
„Da würden Sie aber doch gut thun, wenn Sie einmal einem andern Arzte Ihr Köpfchen ohne Mützchen zeigten, denn der Homöopathie ist überhaupt nicht, zumal aber, was die Kopfhaut und Haarkrankheiten betrifft, niemals zu trauen, obschon diese so genannte Heilkunst sehr probate und sogar verschiedene Mittel gegen das Ausfallen der Haare an den verschiedenen Körperstellen zu besitzen sich rühmt. Sollte Ihr Herr Doctor trotz dieser Mittel nicht vielleicht auch eine Glatze oder eine Perrücke tragen?“
Zaudernd und schamroth setzte unser Blondinchen ihr Häubchen ab, und was ich da sah, würde mich –, wenn ich nicht dem armen [617] Kinde großen Kummer zu machen und mir den Namen eines groben Mannes zuzuziehen gefürchtet hatte, – haben veranlassen können, in laute Verwünschungen über die Bornirtheit jenes homöopathischen Unheilkünstlers auszubrechen. Denn nur durch die ganz einfältige Behandlung desselben war das arme Mädchen, welches an ihrem Hochzeitstage dem Bräutigam mit dem Myrthenkranze auf dem Lockenköpfchen entgegenzutreten und zu gefallen hoffte, so ziemlich ihres ganzen Haarschmuckes für das ganze Leben beraubt. Ja, die meisten der wenigen noch vorhandenen Haare mußten, um Heilung zu erzielen, auch noch herausgezogen werden, und von Hoffnung auf ein Wiederwachsen der Haare war gar keine Rede. – Ich möchte nur wissen, ob es wirklich Menschen gibt, die bei solchen und ähnlichen homöopathischen Unthaten ruhig und artig bleiben können.
Was zeigte sich denn nun auf dem Köpfchen unserer Kleinen? Zwischen einer schwefelgelben, pulverigen Masse, die an manchen Stellen wie die Waben eines Bienenstockes, an anderen Stellen dagegen in Form größerer Grinde erschien, ragten dünne Büschel dürrer, entfärbter und gespaltener Haare hervor. Hier und da sah man auch schon weiße, glänzende, kahle Stellen auf der Kopfhaut zwischen jenen gelben Massen. Schon bei sanftem Ziehen gingen die Haare aus.
Jeder vernünftige Arzt, welcher sich etwas genauer eine solche kranke behaarte Kopfhaut besieht, weiß nun sofort, daß jene schwefelgelbe Masse aus Pilzen besteht, die ebensowenig wie Läuse und Flöhe durch innere Arzneien, wohl aber durch eine passende äußere Behandlung entfernt werden können. Er weiß ferner, daß dieser sogen. Wabenkopfgrind (Favus, Tinea favosa), – der sich zuerst in Gestalt einzelner kleiner schwefelgelber, von einem Haare durchbohrter Pünktchen (über den Ausführungsgängen der Talg- und Haarsäckchen sitzend und trichterförmig in die Tiefe dringend) zeigt, die später zu schüsselförmigen, einem umgekehrten Krebssteinchen ähnlichen, gelben Schorfen heranwachsen, – daß dieser Grind ansteckend ist und deshalb, wenn er nicht ordentlich behandelt wird, möglicherweise nach und nach eine ganze Familie enthaaren kann, gerade wie die von einer Milbe erzeugte Krätze (s. Gartenl. 1857. Nr. 4.) bei homöopathischer Behandlung sich ebenfalls über alle Glieder einer Familie zu erstrecken und erschrecklich zu peinigen im Stande ist. – Der vernünftige Arzt weiß auch noch, daß, wenn dieses Pilzleiden lange anhält, bisweilen die ganze körperliche und selbst geistige Gesundheit untergraben werden kann. Das ist aber einem gewissenlosen Homöopathen ganz gleich, der opfert ganz ruhig Leben und Gesundheit seiner Mitmenschen seinem dummen Aberglauben. Sollte denn die Zeit nicht bald kommen, wo solche offenbare ärztliche Verbrechen gerichtlich verfolgt und bestraft werden? Ich schlage vor, daß jeder Homöopath, welcher den Wabenkopfgrind nur durch die innere Anwendung seiner Hauptmittel „Staphysagria und Hepar sulphuris“ zu heilen die Frechheit hat, so lange diese Hauptmittel im Gefängniß selbst einnehmen muß, bis ihm Favuspilze auf dem Kopfe wachsen und er zum bemoosten Haupte wird.
(Nächstens mehrere solche Beispiele.)
Der größte Theil unserer Erdoberfläche ist mit Wasser bedeckt oder vielmehr nur ein kleiner Theil unserer Kugel wasserfrei und hoch genug gehoben worden, daß die unersättlichen Oceane nicht mehr über sie hintoben können. Aber vom Wasser kann man nicht leben, am wenigsten vom Meerwasser, das die Erdoberfläche in unbestrittener Majorität beherrscht, so daß wir Menschen uns auf den Paar trockenen Stellen, genannt die fünf Erdtheile, zusammendrängen und uns mit deren Früchten begnügen müssen.
Das scheint so, ist aber nicht wahr. Wir verdanken dem Wasser mehr Lebensmittel, als der Erde. Abgesehen von dem produktiven Verkehre auf allen Flüssen und Meeren und dem Regen wachsen in den Flüssen und Meeren die unerschöpflichsten Ernten, deren Ackersleute nach Millionen zählen und deren Erträge für andere Millionen Jahr aus, Jahr ein die Hauptnahrung liefern. Und geräuchert und gesalzen gehen die Fische bekanntlich durch alle Welt bis in die tiefsten Binnenländer. Ja sogar in Leipzig und Dresden kann man neue Heringe zu neuen Kartoffeln essen, ohne den folgenden Morgen seinen Bankerott anzukündigen. Der in Stroh gewickelte, aus der Tasche des Landmannes duftende Hering, wenn er vom Jahrmarkte nach Hause jubelt, beweist durch alle Gauen Deutschlands, wie reichlich die Ernten aus dem Meere sein müssen, um noch wohlfeil in die meerentlegensten, ärmsten Taschen und kärglichsten Häuslichkeiten zu reichen.
Die Fruchtbarkeit der Gewässer ist unglaublich, unerschöpflich, aber die Bewirthschaftung derselben um einige Jahrhunderte hinter den Land-Industrien zurück, so daß bis jetzt kaum ein Hundertstel der Reichthümer und Genüsse, die in Meeren, Seen und Flüssen ewig quellend und reifend ohne Pflügen und Säen zum Ernten einladen, wirklich herausgefischt wird. Die Fischergegenden sind überall die ärmsten, abergläubischsten, unbeholfensten und arbeiten noch wie vor Jahrhunderten, weil sich thörichter Weise keine Capitalisten und Actionäre, keine mechanischen Erfindungen, keine Naturwissenschaft bis an die Küsten und die Fischnetze ausdehnen. Wie viel ließe sich allein durch künstliche Zucht und Verbreitung delicater Fische gewinnen? Diese neue Kunst aber und der Dampf, der frische Seefische bis in die innersten Landorte zu liefern vermag, somit die ungemein gesteigerte Leichtigkeit des Fischverbrauchs, werden auch die Produktivität auf diesem unermeßlichen Acker steigern und den ärmsten Landmann mit noch ganz andern Fischfreuden bekannt machen, als mit dem versalzenen Hering und Kartoffeln. Bis jetzt ist der Hering unter unsern Breitengraden die Haupternte aus dem Meere und das eigentliche Brod der schottischen und norwegischen Küstenbewohner, so wie der armen Insulaner dazwischen. In Schottland hat die Heringsfischerei hauptsächlich [WS 1] der erst neuerdings gemachten Entdeckung, daß der Hering kein wandernder, sondern ein einheimischer Fisch ist, steigende Thätigkeit und Blüthe zu verdanken. Früher dachte man von einem Großvater zum andern, daß er jährlich aus dem Norden heranziehe, um in den Winkeln der Nordsee sein Geschlecht zu vermehren und dann wieder in’s arktische Eis zu ziehen. Jetzt fischt man den Hering um Schottland herum das ganze Jahr hindurch, im Mai bei Lewis, im Sommer um Edinburg herum und im Herbste um Yarmouth, dessen „bloaters“ in London täglich tausendfach ausgeschrieen und in Millionen verzehrt werden.
In den westlichen „lochs“ (Meeresbuchten) Schottlands fischt man selbst noch im Winter Heringe und an der Ayrshire-Küste vom Februar an bis Mai. Man hat also das ganze Jahr hindurch frische Heringe aus dem Meere, und wenn die Fischer erst etwas Gescheidtes von den kleinen Wanderungen und Ausflügen, von den Gewohnheiten und Sitten der Heringe wüßten, würden sie drei Mal so viel ernten als jetzt.
Um ganz Schottland herum blüht die Heringsfischerei mit besondern Stationen in Banff, Whitehill, Portsoy, Fraserburgh, hauptsächlich aber in Wick! Wick ist die schottische Heringshauptstadt und macht allein den vierten Theil aller anderen Geschäfte. Von dem auf 24 Millionen Thaler geschätzten Capitale, das in den schottischen Heringsfischereien steckt, beschäftigt es über 6 Millionen und liefert im Durchschnitt jährlich über 250,000 Tonnen Heringe, ganz Schottland aber nicht mehr als eine Million Tonnen. Um die ganze schottische Heringsfischerei statistisch anschaulich zu machen, geben wir den Census von 1855.
Von der Hauptstadt Wick an bis Peterhead hängen beinahe 100 Dörfer und Städte wie Trauben an der Küste entlang mit je 100 bis 10,000 Einwohner. Sie besitzen zusammen
3000 Heringsboote und | 15,000 Fischer. | |
Zwischen Peterhead und Anstruther 46 Fischerdörfer |
1000 Heringsboote und | 5000 Fischer. |
Im Districte Leith: 11 Stationen |
354 Heringsboote und | 1100 Fischer. |
Im Districte Eyemouth: 7 Stationen |
225 Heringsboote und | 1000 Fischer. |
[618]
[WS 2] | 3000 Heringsboote und | 15,000 Fischer. |
Im Districte Greenock: 31 Stationen |
591 Heringsboote und | 1800 Fischer. |
Im Districte Rothesay: 17 Stationen |
551 Heringsboote und | 1600 Fischer. |
Im Districte Inverary: 47 Stationen |
1062 Heringsboote und | 3189 Fischer. |
Im Districte Loch Shiel- ding: 15 Stationen |
307 Heringsboote und | 1085 Fischer. |
Im Districte Loch Broom: 42 Stationen |
570 Heringsboote und | 2120 Fischer. |
Im Districte Stornaway: 7 Stationen |
418 Heringsboote und | 2178 Fischer. |
Im Districte Shetlands- Inseln: 11 Stationen |
655 Heringsboote und | 3165 Fischer. |
Im Districte Orkney- Inseln: 32 Stationen |
606 Heringsboote und | 2472 Fischer. |
366 Stationen | 9339 Heringsboote und | 39,709 Fischer. |
Also in beinahe 400 Stationen gegen 10,000 Boote mit beinahe 40,000 eigentlichen Heringsfischern, mit den Packern, Reinigern und Trägern über 100,000 Menschen, welche direct als Schnitter und Mäher der Heringsernten an den schottischen Küsten leben.
Sie fangen den Hering in dreierlei Zuständen, als „matic“ (Matjes, am besten, wenn Milch und Rogen noch in zarter Entwickelung sind), als „full fish“ („voller Fisch“ mit vollem Rogen oder voller Milch) oder als „spent fish“ (gespendeten Fisch, der sich ausgegeben hat und mager und wässerig geworden ist).
In England und besonders Irland hält man’s am liebsten mit dem „vollen Fische“; die „Matjes“ gehen nach dem Continente, den ausserdem Holland und Norwegen versorgen. Letzteres liefert als ältester, erfahrenster Heringsfischer die besten Matjes und besser zubereitet, als die schottischen. (Sie lassen einen Theil der Eingeweide darin, die ihnen einen würzigen Geschmack geben sollen.)
Die Holländer arbeiten mit großen Schiffen, früher einmal mehr als 2000, während die Schotten sich in mehr als 10,000 kleine, unbeholfene Boote zersplittern und mit Treibnetzen fangen. Diese, in der Regel 20 Fuß tief und von verschiedenen Längen, werden von ganzen Flotten auslaufender Boote an geeignet scheinenden Stellen nach Sonnenuntergang ausgeworfen, verbunden, mit Senkeisen hinuntergezogen und durch Korke schwimmend erhalten. Durch 200 Fuß lange Taue mit den Booten und nach dem Gestade hin an Anker oder Pfähle befestigt, bieten sie nun im Wasser zusammen oft eine viele Meilen lange Netzwand, gegen welche die in Gruppen von Millionen ziehenden Heringe stoßen und sich mit den Köpfen unentwirrbar in den Maschen verwickeln. Manchmal gibt’s nach nächtelangem Warten keinen einzigen Fisch, so daß man eine andere Gegend aufsucht, um dann vielleicht in einer einzigen Nacht mit einem einzigen Zuge für’s ganze Jahr zu ernten, während andere Boote dicht daneben nicht selten leer ausgehen, da die Heringe in Sectionen und Abtheilungen schwimmen und den in die Zwischenräume fallenden Netzen gar keine Beute liefern.
Nicht professionirte Fischer fangen auch einzeln auf ihre eigene Rechnung in 150 Yards langen „Seine“- oder Ziehnetzen, deren eines Ende am Ufer festgehalten wird, während das Boot mit dem andern in einem möglichsten großen Halbkreise herum segelt, um aus dem hernach an beiden Enden herausgezogenen Netze herauszunehmen, was der Zufall hineinwirrte.
So wie die Heringsflotten den Hafen erreichen, geräth Alles in fieberhafte Thätigkeit. Armeen von Trägern schütten einen sich bald aufthürmenden Silberregen auf den Strand. Frauen und Mädchen, aus den verschiedensten Gegenden herbeigelockt, eben noch Bilder reinlicher, blonder, blauäugiger Unschuld, verwandeln sich in bluttriefende Furien und wetteifern, in jeder Stunde so und so viel über 1000 Fische aufzuschneiden und auszuweiden (jeder mit einem Schnitt und einem Riß). Die so ausgeweideten Fische werden von andern Händen in Schichten mit Salz gepackt, dann von massiven Armen öfter durcheinander gemischt, bis das Faß gefüllt ist, nach einer kurzen Ruhe aufs Neue gesalzen und zuletzt entweder breit oder abwechselnd auf Rücken und Bauch wieder mit Salz in die eigentlichen Tonnen für den Handel wunderbar fest eingepackt. Die Tonnen stehen eine Woche offen (die zum Export bestimmten, welche mit dem Regierungsstempel des „Fisch-Amts“ gebrandmarkt werden müssen, zehn Tage), dann werden sie von extemporirten Böttchern wasserdicht geschlossen und verschifft. Eisenbahnen und Segel- oder Dampfschiffe bringen auch Millionen frisch in alle großen Städte Englands.
Aber die Schotten können bei diesem „Lotteriespiele“ mit kleinen Booten, die unbeholfen sind, leicht untergehen (18. August 1848 nicht weniger als 124 auf einmal) und, da sie nach jedem Zuge an’s Land müssen, nicht reich werden und nicht mit den Holländern concurriren, deren Heringsschiffe, wie Walfischfahrer, Alles am Bord haben und für den Export fertige Tonnen Heringe an’s Land bringen. In Schottland existiren Hunderte von Dörfern und Städten von Heringen, Holland aber wurde reich davon und das stolze Amsterdam „erhob sich auf Heringsgräten.“ Noch jetzt leben etwa 115,000 Holländer glänzender von dem Silber der Heringe, als die 40,000 Schotten, Shetlands- und Orkney-Insulaner, welche geradezu die niedrigste Cultur aller vereinigten Königreiche Großbritanniens in ihren Schmutzhütten darstellen.
Das Parlament gibt jährlich 3000 Pfund für die Verbesserung fast eben so vieler Fischereihäfen Schottlands und pensionirt dabei jedes Jahr ein paar Schock Taugenichtse mit 3 bis 5000 Pfund jeden. Dazu kommt das „Fischerei-Amt“, ein Anstellungs-Augiasstall für unbrauchbare „Noblemen“ und ihre Angehörigen, wie die meisten entlegenen und Colonialämter. Diese Beamten haben jährlich 11,000 Pfund durchzubringen, um für diese Geldverwüstung statistische Nachrichten zu sammeln, die Heringsfässer untersuchen zu lassen und zu brandmarken, ebenso „Fremde“ von den schottischen Fischdistricten abzuwehren, Polizei zu üben und so von allen Seiten das Gedeihen der Fischerei zu cujoniren und zu behindern. Nähme man diese 11,000 Pfund nur ein Jahr zu wirklicher Vervollkommnung der Fischerei und ließe dann die Schotten durch Zurückbehaltung der 11,000 Pfund und der Beamten ungeschoren, so könnte alle Welt bald für die Hälfte des Preises oder noch einmal so viel Heringe genießen, als bisher.
Es heißt, die Amtsstempel auf den Heringstonnen garantiren, daß die Heringe gut gesalzen und gepackt seien. Sie garantiren in der That die Gewißheit, daß sie schlechter sind, als die ungestempelten holländischen Heringe, und sind eine Cujonirung der Fischer, aber keine Garantie für’s Publicum, das nach demselben Principe auch verlangen könnte, daß die Regierung Schuhe und Stiefeln, Stecknadeln und Schwefelhölzer alle einzeln stempeln lasse, damit Jeder eine Garantie gegen Schwefelhölzer habe, die nicht zünden oder von selber „losgehen“. Und wer sorgt für den Berliner Weißbierphilister, daß er jedes Mal „eene jut jeproppte“ bekomme?
Ohne den Hering wäre die ganze Westküste Schottlands lebensunfähig. Nichts ist überraschender als der Contrast zwischen der Herings- und der stillen Zeit. Während letzterer mag die einsame Yacht Tage und Wochen lang die Wogen pflügen oder in eine wilde Gebirgsbucht nach der andern einlaufen, ohne einem lebenden Wesen zu begegnen, als dem wilden Schwane und den schrillen, traurigen Seevögeln. Der Wanderer auf dem Lande in diesen Regionen, wenn es möglich wäre, würde Tage lang nichts sehen, als nebelige Geister Ossians, hohe, dunkele Gebirgsmassen vernebelt, meeresumtobt, von unzähligen Meereseinschnitten und „Lochs“ durchfressen. Und einige Monate später! Nicht ein, nicht hundert, sondern Tausende der geschäftigsten Lebensbilder wimmeln vor seinen Augen. Eine Flotte von 1500 Booten mit geschwellten Segeln schaukelt kühn über die Wogen hinaus, um gegen Abend ein gegen 1000 englische Meilen langes Netz durch das Meer zu spannen und in Sturm und Unwetter die Nacht hindurch zu halten, wenn nicht ein silbern zum Himmel blitzender unbeschreiblicher, dumpfer Donner gegen sie heranbraust – eine Herings-Wanderung – und in ihren Netzen sich zersplittert. Ging die Nacht leer aus, wartet man eine zweite und dritte ab, bis endlich das Meer phosphorescirend aufblitzt und von millionenfachem, sich thatsächlich über die Wogen heraufdrängenden Leben wimmelt. Der Morgen begrüßt dann die jubelnd heimkehrende Flotte, erst kleine Punkte auf dem weiten Meere, dann eine Welt von lustig geschwellten Segeln, die nach einer halben Stunde den ganzen Hafen, vom October bis April leblos, mit dichtgedrängter Geschäftigkeit überfüllen. Die schmutzigen Gestade füllen sich mit silbernen Gebirgen, die Felsen dahinter mit 1000 Meilen Netzwerk, [619] das Dampfschiff, welches kam, verschlingt ganze Boote voll frischer, silberner Heringe. Die Träger laufen en carrière, Dauben zu Fässern drängen sich hindurch, Hunderte von hölzernen Hämmern böttchern sie zusammen. Die Messer der Ausweiderinnen blitzen leidenschaftlich durch das spritzende Blut und die umhergeschleuderten Eingeweide der silbernen Legionen. Die zackigen zerrissenen Wände des Amphitheaters mit Purpurblumen und grauem Hederich, mit zackigen Farren und verzwergtem Gestrüpp schauen grimmig herab.
Bei alledem ist die schottische Heringsfischerei, weil die Lebensbedingung unzähliger öder Felsen und „Lochs“, sehr bedeutend. Im Jahre 1818 wurden mit zwei Millionen Geviert-Yards Netzen 116,000, und diesen Herbst in Wick allein mit 22 Mill. Geviert-Yards 82,000 Tonnen gefangen. Der ungeheuere Unterschied zwischen Auslage von Netzen und Ernte erklärt sich durch fortgesetztes Ueberfischen, wodurch an manchen Stellen die Heringe beinahe ausgerottet wurden. Einige Fischstationen sind ganz ausgestorben. Es gibt bestimmte, an verschiedenen Orten einheimische Racen von Heringen, von denen einige bereits zu den größten Seltenheiten geworden sind. Dies liegt auch an der unsinnigen Gier nach „Vollfischen“, die mit vollem Rogen und voller Milch gefangen jede nächste Ernte um unzählige Millionen verringern.
Die Herings-Industrie ist in jedem Stadium eigenthümlich. Sie verursacht für jede Erntezeit kleine Völkerwanderungen aus dem Innern nach den Häfen, wo gewöhnliche Arbeitsleute, allerdings außer Kost und Logis, nur 5–6 Pfund (30–40 Thaler) für jede Ernte erhalten, dabei aber noch oft das Doppelte und Dreifache als Sporteln und Gratificationen gewinnen. So kommen, von hohem Gewinne angelockt, allein von der Insel Skye und den benachbarten kleineren Inseln 5–6000 Personen – ganze Familien – herbei und bevölkern die sonst Monate lang von keinem lebenden Wesen betretenen Loch-Wildnisse mit der kunterbuntesten Thätigkeit. Die Fischer oder Bootbesitzer miethen sich Leute je nach den Bestellungen, welche die „Einsalzer“ (ein bestimmter Stand und ein besonderes Gewerbe) machen. Letztere stehen mit den großen Heringshändlern in Stettin und sonstigen Ostseestädten in kaufmännischer Verbindung (oft allerdings nur durch weitere Mittelspersonen) und contrahiren mit denselben auf Lieferung einer gewissen Anzahl von Tonnen zu einem festgesetzten Preise, worauf sie oft Vorschüsse erhalten. Auf Grund dieser Lieferungscontracte contrahirt der Einsalzer mit dem Fischer auf Lieferung einer bestimmten Zahl von „Crans“ (ein Maß, das mehrere Tonnen, ich weiß nicht, wie viel, umfaßt), der Fischer auf Grund dieses Contracts mit Hülfsfischern und Tagelöhnern. Werden mehr, als der Contract verlangt, gefangen, bekommen die Leute auf jedes Boot bestimmte Gratificationen. Der Einsalzer liefert die Tonnen, das Salz und was sonst zur Verarbeitung und Verpackung gehören mag. Die Erntezeit für den „vollen Fisch“ erstreckt sich über die letzten Frühlings- und ersten Sommermonate, während welcher sich die Heringe in bestimmten Divisionen vom Norden her an der Westküste Schottlands vertheilen, um für ihre Nachkommenschaft zu sorgen. Sie fallen dabei oft in ein Netzwerk von 1000 englischen Meilen Ausdehnung (bei Wick und Dunbar) und opfern nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer Nachkommen. Und man weiß, daß eine einzige Heringsmutter auf einmal die Keime zu 5 bis 10,000 Kindern legen kann. Es ist daher ein großer Unsinn, besonders auf den vollen Fisch Jagd zu machen und sich nicht, wie die Holländer, auf Matjes zu beschränken. Andere Fische, wie z. B. der Lachs (davon ein zweiter Artikel) werden während der Laichzeit sorgfältig geschont; die Heringe fängt man just während derselben, so daß am Ende auch selbst der fruchtbarste und populärste Fisch selten und theuer werden mag.
(Fortsetzung.)[3]
Als wir am Morgen erwachten, lag der Markt von Suhl offen und freundlich vor uns, und über den modernen Häusern ragte der buschige Domberg hervor. Wir bestiegen einen Theil desselben und hatten einen dürftigen Blick über Stadt und Umgegend, da letztere von verhängnißvollen Wolken größtentheils überschleiert war. Eine Kapelle auf dem hervorragenden Felsstück Ottilienstein ist das Andenken an einen zweiten Toggenburg, der von hier aus seine Geliebte – erschoß, ein zweiter Stein, der die Inschrift führt: „Dem Helfer Keferstein im Nothjahr 1852.“ ist das Denkmal für jenen edlen Mann, der damals durch eine Collecte 600 Thaler zusammenbrachte, und hierfür Brod für die Armen backen ließ. Denn zwischen dem Korn und der Bevölkerung Suhls ist ein arges Mißverhältniß, da der Ertrag der Felder für die 10,000 Einwohner höchstens auf einen Monat reicht, die übrigen elf Monate aber Alles gekauft werden muß.
Eine antediluvianische Chaise mit zwei muthigen Füchsen, geleitet von dem ehemaligen Postillon Kümmel, entführte uns dem Getöse der Gewehrfabriken und Blechhämmer und jemehr wir uns aus dem Qualm der Betriebsöfen entfernten, desto mehr zertheilten sich die Wolken, und bei ganz heiterem Wetter erreichten wir Schleusingen. Hiermit waren wir in das einst weitläufige Gebiet der Henneberger gekommen, deren altes Schloß, die Bertholdisburg, fast noch unversehrt, die Wohnungen des Landraths und Oberforstmeisters enthält. Seine festen Thürme und Mauern haben Zerstörungen mancherlei Art um sich herum gesehen, und dennoch scheinen sie wohl geeignet, noch manchem Jahrhundert Trotz bieten zu wollen.
Die Statue einer Gräfin von Henneberg, in der unbeholfenen Tracht des 15ten Jahrhunderts, ziert die Spitze eines Brunnens, neben dem an jenem Tage die grünen Reste eines fossilen Gensd’armen wehmüthige Erinnerungen an „verbotenes Tabaksrauchen“ und liebevolles „zaruck“ in den Söhnen Berlins auftauchen ließen.
Während eines heiteren Frühstücks, dem das schwarze Spritzleder unseres Wagens als Tisch diente, und der lehrreichen, oft erotischen Mittheilungen unseres biederen Kutschers, erreichten wir Hildburghausen, und entfernten uns auf diese Weise immer mehr und mehr vom Thüringer Walde, um einem kleinen Gelüste nach Koburg und ein wenig Baiern zu genügen.
Hildburghausen ist ein hübsches Städtchen in ziemlich altem Styl. Wunderbare Gossen an den Dächern einiger Häuser führen auf die nicht sehr gewagte Vermuthung, daß ein Klempnermeister seiner Vorliebe für getriebene Arbeit in höchst abnormen Formen fröhnt. Ein altes Wappen über dem Thorwege des Rathhauses zeigt eine Jungfrau und einen bärtigen Mann in dem Negligé unserer Ureltern vor dem Sündenfall, die sich um ein Wappen zerren. In wohllautenden Versen, die dies charaktervolle Bild umgeben, wird die Dame aufgemuntert, nicht nachzugeben. Ha, welche Moral! – Das Schloß am Werrafluß ist groß und zopfig, und verbirgt die Sitzungen des Oberlandes-Gerichts von Sachsen-Meiningen.
An dem Mittagstisch im „sächsischen Hof“ erfreuten uns wieder einmal zwei Weinreisende durch ihre belehrende Unterhaltung, indem sie von der Bereitung des Weines sprachen, und auf diese Weise das „Ganze des Geschäfts“ entlarvten. Sie erklärten in einer wahrhaft naiven Unbefangenheit die Heidelbeeraufgüsse mit den Versetzungen von Alkohol. Der Eine derselben, wenig behaart und daher mehr blasirt, hatte in einem Destillationsgeschäft seine Studien in „langsamer Vergiftung“ begonnen, während der Andere, ein blonder, stark behaarter, gescheitelter und geschniegelter Elegant seines Standes, als der Sohn eines renommirten Hauses mißmüthig erklärte, daß oft seine Weine bei dem besten Willen, den er in der Zubereitung derselben zeige, schlecht befunden würden. Armer Junge mit dem ungarischen Schnurrbart und den falsch gebrauchten Präpositionen: die Arbeit wird selten nach Verdienst anerkannt.
Am Nachmittage ging es durch angenehme, oft malerische Dörfer, in denen aber zwei arge Verirrungen der Zopfzeit besonders störend in’s Auge fallen. Es sind die mit allerlei Staniolverzierungen beklebten Schieferhäuser und dann hauptsächlich die [620] in die lächerlichsten Formen gebrachten und so auf das Gräulichste ruinirten Bäume und Hecken. Treppenanlagen und Corridore bieten dagegen herrliche Motive für Genre- und Landschaftsmaler. Bald tauchten die stolzen Schlösser Koburg und Callenberg in der Abendsonne vor uns auf, und es dauerte nicht mehr lange, so fuhren wir in ersteres ein, wo die langweiligen Kellner im Gasthof zur Post die Reisenden abschreckten und sie bestimmten, für diese Nacht das Daunenbett des „weißen Schwanes“ zu suchen.
Auf einem parkartig behandelten hohen Berg, etwa 1/2 Stunde entfernt, liegt die Burg (die „fränkische Leuchte“ genannt), eine der sehenswerthesten, deren vortreffliche Restauration von einem, gar nicht hoch genug anzuerkennenden Kunstsinn des jetzigen Besitzers zeugt. Alles auf das Gediegenste in feinem gothischen Geschmack wieder hergestellt von Rothbart, einem würdigen Schüler des alten Heideloff. Die Holztreppe, welche von dem innern Hofe in die Gemächer führt, ist in reichster Durchführung mit glücklich malerischer Wirkung angelegt. Auf dem ersten Corridor zieht sich, an der oberen Wand entlang, ein eben so hübsch gezeichnetes, als harmonisches Bild (den Brautzug eines Ahnherrn darstellend), das ich für ein Werk Meister Adolf Schrödter’s hielt, und nur mißtrauisch der Versicherung nachgab, daß es von Schneider sei. Im Innern ist eine bemerkenswerthe Rüstkammer mit den auserlesensten Stücken, – eine Sammlung origineller Gläser etc. etc. in höchst geschickt renovirten Gemächern; ferner das Reformationszimmer mit den lebensgroßen Portraits der wichtigsten protestantischen Reformatoren, und auch das Lutherzimmer, in dem der Glaubensheld sein herrliches, unsterbliches Lied „eine feste Burg ist unser Gott“ dichtete. Es ist einfach – sehr einfach, aber ungemein gemüthlich mit seinen Steinsitzen in den tiefen Fensternischen und der herrlichen, entzückenden Aussicht. Von seinen eignen Möbeln sind nur noch die vom Wurm zerfressenen Trümmer eines Bettes und die Rudera eines Lehnstuhles vorhanden[WS 3], Beide einzig und allein interessant durch die Erinnerung an den großen Mann. Luther soll ein halbes Jahr hier gelebt haben, und da man Nichts weiter von seinen Arbeiten erwähnt, als das oben angeführte Lied, so möchte wohl ein gewaltiger Humpen, aus dem er getrunken haben soll, nähere beachtenswerthe Aufschlüsse geben.
An dem schönen Bau des Schlosses wird fortwährend gearbeitet, und statt daß man, wie man gewohnt ist, von der vor dem Thore patrouillirenden Schildwache zurückgewiesen wird, ladet diese selbst am späten Abend noch freundlich zum Besuch ein, und versichert, man könne in der auf der obersten Terrasse hinten eingerichteten Gastwirthschaft so lange verweilen, als man nur irgend wolle. Dort aber ist es entzückend, und man hat einen Kreis der bezauberndsten Landschaftsbilder vor sich.
Die Stadt Koburg ist freundlich, im Genre einer großen Stadt, aber ohne besonders in die Augen zu fallen. Das umfangreiche Residenzschloß ist imponirend, aber nicht geschmackvoll, die Façade des Theaters langweilig, aber die Gebüsche und Parkanlagen, welche sich in der Nähe dieser Gebäude entlang ziehen, verleihen dem Stadttheile eine gewisse Traulichkeit, die besonders an lauen Sommerabenden durch geheimnißvolles Flüstern und verstohlenes Seufzen in eine vollständige Poesie übergeht.
Der Herr Kammerdiener, ein schwerfälliger, viel schnupfender alter Mann und das Fräulein Zofe des Fürstenpaares war unsere Reisegesellschaft in dem Omnibus nach dem Eisenbahn-Stationsort Lichtenfels, bis zu welchem man, kaum daß man die Grenze Baierns überschritten, der schweren Trennung von einem Wirthshause mit vortrefflichem Bier unterworfen ist.
Bambergs Bahnhofsgebäude wimmelte von Volk und weiß-blauen Fahnen zum Empfange der aus dem Bade zurückkehrenden Königin. Es war immer noch das alte Bamberg, wie ich es in einer meiner früheren Reisen beschrieben, das stets vortreffliche Bier im „deutschen Hause“, das schwefelige Bier auf dem Michelsberg, dessen Gebäude weisermaßen zugleich Leihhaus ist, die „alte Burg“ etc. etc. Aber neu und immer neu bleibend war der uralte grandiose Dom, der auch jetzt wieder die meiste Zeit in Anspruch nahm.
Zunehmende Finsterniß und feiner rieselnder Regen gebot uns, eine Zufluchtsstätte zu suchen – und das war hart. Wo in aller Welt sollte man in der kleinen Stadt eine anständige Zerstreuung suchen, da die einzigen Anschlagezettel, die eine Seiltänzergesellschaft und ein Feuerwerk ankündigten, schon vor acht Tagen ungültig geworden waren? Wir zögerten und zögerten und fanden endlich, satt und müde, eine gänzlich moralische Vernichtung auf der Eisenbahn nach Nürnberg, wo ein verschlafener Junge sich den Schmutz seiner Stiefeln an meinen Unaussprechlichen abrieb und ein schlesischer Landwehrlieutenant in seinem harten, mißtönenden Dialekt die Anfangsgründe des Courschneidens bei der Mutter vergebens in Anwendung brachte.
Nach drei harten Stunden auf einem Güterzuge kamen wir endlich um Mitternacht in der alten, lieben Stadt Nürnberg an, und überließen nun die übrige Welt dem strömenden Regen.
Auch Nürnberg fängt an, in die abgetretenen Wege der Cultur einzulenken, der Cultur, die das Bild der uralten deutschen Biederkeit immer mehr und mehr verwischt. Große Schaufenster nehmen die Stelle der halbrunden bescheidenen Fenster ein, durch die der Juwelier, der Händler mit Gott weiß was, seine Waare sofort nach der Straße verkaufte; die Läden werden Magazine, die Schneider tailleurs oder tailors of London, und selbst das weltberühmte Bierlocal „die Himmelsleiter“ hat sich ein sauberes modernes Kleid angezogen, und bietet statt der Holzbänke Sophas mit Plüschüberzug. Selbst der „Bratwurst-Schneider“ im Herzengäßchen hat neue Tapeten aufgeklebt und neue Kanäle gezogen, aber sein Häuschen ist noch eben so dürftig, seine Küche noch eben so bescheiden und seine Würstchen mit Sauerkraut noch ebenso schmackhaft als sonst.
Dank sei es Heideloff, daß das Aeußere der guten alten Stadt wenigstens in seinen Hauptsachen erhalten wird, und die neuen Lappen, mit denen man das würdige Gewand flickt, nicht neuem Plunder gleichen. Ein wahres Kunstcabinet ist fast jede Straße [621] durch ihre, von architektonischem Reichthum strotzenden Linien, und so fand ich es auch recht – aber sonderbar, daß ein junger Mann (natürlich ein Engländer) mit seiner Inamorata und Lohndiener inmitten einer neugierigen Jugend aquarellirte.
Die Vormittagsstunden des nächsten Tages waren noch in ihrer Kindheit, als wir schon wieder Bamberg hinter uns hatten, und am Main entlang auf dem Wege nach Würzburg waren. Trostloser Regen und die vielen Schwarzröcke mit den unheimlichen Physiognomien stimmten uns mißmuthig, und wir verwünschten den langsamen, schleppenden Train. Bis hierher schien das in manchem Comptoir so weise angeschlagene Wort „Zeit ist Geld“ noch nicht gedrungen zu sein, denn es ist zu entsetzlich, wenn man bedenkt, daß ein bairischer Güterzug mit Personenbeförderung ebenso schnell fährt, als eine preußische Courierpost. Möglich, daß dergleichen Langweiligkeiten an einem unbeholfenen Lokomotivführer liegen, die, wie ich hörte, hier nur täglich einen Gulden bekommen. Gewisse Kräfte und besonders solche, die viel Verantwortlichkeit auf sich nehmen müssen, können nur zu gewissen, d. h. hohen Preisen erhalten werden. Viele sind berufen, aber Wenige sind auserlesen. – Das geflügelte Rad auf den Mützen der Bahnwärter, auf den Wasserpumpen etc. scheint mir mehr eine Ironie, als ein Sporn für die Beamten der Eisenbahn zu sein. Jedenfalls ist diese Allegorie in jener Gesellschaft für den Augenblick unverständlich. –
Eng bestrumpfte Pfaffen, bebänderte Officiere, Pharisäer und Schriftgelehrte empfingen uns auf dem Perron des Bahnhofes zu Würzburg – in Erwartung des Königs von Baiern, und spreizten sich hochmüthig im Glanze ihrer Livreen. Wir aber durchbrachen unbeirrt ihre Reihen, und freuten uns über den ersten Eindruck, den die Residenz der einstigen „Frankenherzöge“ auf uns machte. Imposant lag das ehemalige fürstbischöfliche Palais vor uns und dies, wie sein heimlicher Park mit steinernen Nymphen und Titanen, mit Springbrunnen und Marmortreppen entathmete den wollüstigen Hauch des vorigen Jahrhunderts. Der Schöpfer desselben, Joh. Bapt. Neumann, ein geistreicher Mann (früher Stuccateur, später Obrist), scheint auch den alten, aus allen Jahrhunderten zusammengesetzten Dom ausgebaut haben. Die ungeheure Wölbung des Mittelschiffes, mit der ausgesuchtesten Feinheit in weißem Stuck auf das Reichste verziert, ist das Erhabenste und zugleich Heiterste, was ich an diesem Baustyle kenne. Viele schöne Denksteine für entschlafene Kirchenfürsten schmücken die Pfeiler.
Ein anderes großartiges Gebäude ist die Universität, die älteste der deutschen Hochschulen, die besonders in der medicinischen Facultät Sterne erster Größe erzeugte. – Doch mehr sollte uns nicht gegönnt sein, von Würzburgs historischer Architektur kennen zu lernen, da wir, auf der schönen massiven Mainbrücke angekommen, um nach der auf hohem Berge thronenden Festung Marienberg zu wandern, wiederum von dem ewigen Regen überfallen und gezwungen wurden, den am meisten verbreiteten Ruf, die Weine, mit kritischer Zunge zu untersuchen. Das Gasthaus „zur Rose“,
welches uns von einem feinzüngigen Gastronomen empfohlen war, wurde das Prüfungslocal und Herr König, der freundliche Wirth, ließ eine vortreffliche Reihenfolge vom Zwölf-Kreuzer- bis zum Leisten-Wein die Gurgeln der strengen Richter passiren, und beobachtete mit Befriedigung das bei jeder neuen Sorte wohlgefälligere Schlürfen und Kopfnicken derselben. Die uns umgebende zahlreiche Gesellschaft war die süddeutsche Gemüthlichkeit selbst, und höhere Officiere und Bauern saßen in liebenswürdiger Einigkeit nebeneinander. Welch vortheilhafter Unterschied gegen unser abgesperrtes Kastensystem! – Eine besondere Eigenthümlichkeit der auf Wein bezüglichen Stadtverwaltung ist das den Bäckern ertheilte Recht, denselben auszuschenken, und als wir auch noch den hervorragendsten dieser Sorte, den „Fiscals Beck“, mit dem Prädicat „sehr gut“ verlassen, mußten wir Würzburg, das jetzt für uns der Ausbund aller Städte geworden, bis auf spätere Zeiten aufgeben.
Regen und Gewitter begleiteten uns auch jetzt, als wir nach Schweinfurt und von da per Post nach Kissingen fuhren, um auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege wieder den Thüringer Wald zu erreichen.
Ein Morgen in Kissingen ist wie ein Morgen in Wiesbaden, in Homburg, in Pyrmont, kurz wie an jedem anderen fashionablen Badeort. Die schöne Welt mit ihren Unterleibsbeschwerden trinkt an dem Ragotzi-Brunnen den heilsamen Quell, und läuft dann wie verbrüht die fast sterotype Promenade entlang, oder sie kostet ihn nur, mustert bei langsamem Schritt die Gesellschaft, und verläßt das Local. Zu Letzteren gehörten wir. – Herumschlendernde Kinder Albions mit extravaganten Toiletten und natürlich Berliner Juden war das Gros der sich an jenem Morgen kreuzenden Spaziergänger.
Ein kleines Anekdötchen, das in der Gesellschaft circulirte, darf ich nicht unerwähnt lassen: der reiche österreichische Fürst L. war vor einiger Zeit in dem Bade anwesend, und machte durch
seinen prahlenden Pomp ein enormes Aufsehen. Vier reich galonnirte Diener begleiteten ihn stets, und am Brunnen wurde ihm der Trank in seinem eigenen Silbergeschirr von einem derselben gereicht. Da kam der König von X. und die Großherzogin [622] von Y. einfach, anspruchslos und liebenswürdig, und als Letztere jenes verachtende Auftreten bemerkte, stieg die hohe Frau selbst zum Brunnen hinab, und schöpfte mit eigener Hand. – Am nächsten Morgen blieben die Diener fort.
Schlecht und theuer war der Gasthof zur Post, den wir in einer Beichaise am Montag verließen und mit angenehmen Reisegefährten und ewigen blinden Passagieren die Reise über Münnerstadt, an der stolzen Burgruine des Henneberges vorbei, nach Meiningen fortsetzten. Wieder einmal war hier Schützenfest und das überreich versammelte Landvolk füllte die Straßen der kleinen Stadt und zog hinaus, durch den schönen Park, nach dem Schützenhause. Auch hier fehlten die so unumgänglich nöthigen Buden nicht, an denen man sich stromweise vorüberwälzte und wieder umkehrte, ohne eigentlich recht zu wissen, was man wollte. Erst mit einbrechender Dunkelheit wurde es uns klar, daß man Meiningen nicht verlassen könnte, ohne seine berühmten Würstchen, die hier an mehreren Orten auf den Kasten dampften, gekostet zu haben. Verführt durch die Unerschrockenheit zweier junger eleganter Damen traten wir dem Fettgeruch näher. Der Dampf umwirbelte uns und ein traurig abschreckendes Gefühl ließ uns darin die formlosen Gestalten schuldlos hingemordeter Katzen und Hunde erblicken. Als wir indessen durch eine leichte und liebenswürdige Conversation entzaubert, die Phantome nicht mehr erblickten, versuchten wir, wenn auch erst zaghaft, die gestopften Därme. Dieses Versuchs aber hatte es nur bedurft, denn nun baten wir im Stillen „Mutter Schilling“ um Verzeihung und flehten laut um mehr, was zu gewähren bei der herandrängenden Volksmasse kein leichtes Stück Arbeit war. Jedoch die lustigen Berliner hatten das Weib bei der Achillesferse, der Eitelkeit, ergriffen und ihnen gelang Unglaubliches. Durch einen Meininger Freund in die Schützengesellschaft eingeführt, bewegten wir uns den übrigen Abend, unter den charakteristischsten Figuren der „deutschen Kleinstädter.“
Wäre die Morgenstunde nicht so entsetzlich früh gewesen, als wir aus Meiningen fuhren, und hätte ich nicht auf dem mittelsten Rücksitz eines jener unförmlichen Kasten gesessen, von denen die Postbehörde behauptet, daß sie nur für anständige Leute eingerichtet wären, so wüßte ich vielleicht Mancherlei zu erzählen von der Gegend, die wir bis zum thüringer Walde durchfuhren. So wurde ich aber nur an zwei Orten aus meiner Lethargie gerüttelt. Das erste war Altenbreitungen, wo ich durch einen im Wege liegenden Stein aufmerksam gemacht wurde auf die wild decorirten Häuser. Wir befanden uns im Lande des berühmten Wasunger Tabaks, der auf Bindfaden getrocknet in Guirlanden und Behängen die Häuser bedeckt. Die Wasunger „pur sang“, die Wasunger „Regalia“ verbreiten sich von hier aus über ganz Sachsen (was ich mir allerdings denken konnte), und sollen fast den Kirschblättern vorzuziehen sein (eine Notiz, der die Cigarren Leipzigs nicht widersprechen). Außerordentlich mühselig ist die Zucht des Pflänzchens, das zuerst im Mistbeete aus dem Samen gezogen, dann jedes einzeln in’s Feld verpflanzt und hier auf das Strengste gehegt und gepflegt werden muß. Hitze bedingt, jedes einzeln zu begießen, während ein nur gelinder Frost alle Hoffnungen auf Ernte vernichtet.
Unser Eilwagen und seine klingelnde Bespannung von vierzehn Maulthieren legten mit einer fabelhaften Geschwindigkeit einen malerischen Weg zurück. Eine schöne Wasserleitung zeigte sich bald zu unserer Linken, und endlich erschienen die alterthümlichen Mauern der Stadt Sevilla. Wir drangen immer im Galopp in ein Labyrinth ein von engen und stillen Straßen mit milchweißen Häusern. Es war eine erstickende Hitze. Am hohen Mittag warf die Sonne ein unerträgliches Licht auf die glänzenden Mauern. Die ganze Stadt schien im Schlafe zu liegen; auf den Straßen war fast Niemand zu sehen, nur einige Männer drückten sich geschwind an den Häusern hin, schwitzend unter dem langen braunen Mantel, in den sie sich einhüllen und dabei behaupten, daß es kein kühleres Kleidungsstück gebe. So erschien Sevilla ganz anders, als meine Einbildungskraft mir vorgespiegelt hatte. Ich hatte mir eine riesige Stadt geträumt, von der Sonne vergoldet, mit gewölbten Pforten, mit alterthümlichen Fenstern, mit Masten von Blumen in den Straßen, mit Mandolinen unter den Balkonen, mit reizenden Mantillen auf den Spaziergängen und mit bezaubernden mit Atlas beschuhten Füßchen auf jedem Wege. Ich sah aber eine ganz moderne, ganz weißgetünchte, ganz leere, ganz schweigsame Stadt. In dem Hotel angekommen, trat ich plötzlich in eine Vorhalle, die mit Orangenbäumen und Oleandersträuchen geschmückt war; einige junge Frauen schwatzten miteinander in diesem blühenden Bosquet und ich hörte eine tremulirende Stimme, welche sich mit der Guitarre begleitete und zu einer sehr lustigen Melodie die traurigen Worte sang:
Quando yo me muera
Dejare encargado
Que con una trenzo
De tu pelo negro me ommarrea los manos.
(Wenn ich sterbe, werde ich verordnen, daß man mir die Hände mit einer Flechte von Deinen schwarzen Haaren zusammenbinde.)
Diese unerwartete Serenade, diese Guitarre, diese durchdringende Stimme, diese verliebten und melancholischen Worte, diese lustige Melodie, diese duftenden Blumen, diese plaudernden Frauen, diese so frische Vorhalle, die träge Ruhe der sich hier befindenden Personen im Gegensatz zu dem beweglichen Leben, welches ich seit einigen Tagen führte, die Aussicht, mich nun auch bei dem Klange der Guitarren dieser poetischen und träumerischen Unbeweglichleit der südlichen Länder hingeben zu können, das Alles ergriff mich auf einmal in dem Augenblicke, wo ich in den Hof trat, und söhnte mich völlig mit Sevilla aus.
Nachdem die Unruhe der ersten Einrichtung in meinem Quartiere vorüber war, beeilte ich mich, dem kleinen Kreise mich anzuschließen, welcher dem wandernden Sänger zuhörte. Diese Jotas, welche ohne Zusammenhang auf einander folgten, erinnerten mich an die endlosen Gesänge der Griechen in Kleinasien, jedoch mit einem Zusatz von andalusischer Lebhaftigkeit. Uebrigens hatte ich mich kecker am Fuße eines Orangenbaumes niedergelassen, als ein wohlbeleibter Mann mit einem fabelhaft kleinen Hute auf dem Kopfe in die Halle eintrat, gerade auf mich zu kam, sich als Lohndiener vorstellte und mich in gutem Französisch fragte, ob meine Herrlichkeit wünsche, zuerst die Kathedrale zu besuchen oder den Alcazar, oder die Tabaksfabrik, oder das Museum, oder die Bibliothek oder den Schädel Peters des Grausamen und so weiter; mit seltener Zungenfertigkeit zählte er alle Merkwürdigkeiten von Sevilla auf.
„Nichts von alle dem,“ erwiderte ich; „ich habe überall Schlösser, Fabriken und Bibliotheken gesehen; ich habe zweihundert Museen und fünfhundert Kathedralen besucht. Wie heißen Sie?“
„Bailly.“
„Nun wohl, Herr Bailly, ich wünsche vor Allem die Tänzerinnen von Sevilla zu sehen. Tanzen will ich sehen die Cachucha, die Jota, die Gitana, den Fandango, die Ole und den Jaleo. Wenn Sie mir das zeigen können, bin ich Ihr Mann, außerdem nicht.“
„Bueno, bueno,“ riefen freudig die Cigarrenschmaucher aus, welche mich umgaben, und ich gelangte auf der Stelle zu einer großen Bedeutung in dem Hotel. Wirklich ist es die Lustpartie eines Nabobs, welche ich mir da bestellte; eine der theuersten Vergnügungen, welche man sich in Spanien verschaffen kann, wo überhaupt keine einzige Sache wohlfeil zu haben ist. Ueberdem ist eine solche Lustpartie ein Act der Galanterie, denn man verständigte mich, daß ich die Tänzerinnen nicht sehen könne, ohne einen Ball zu geben, und daß ich zu diesem Balle einladen könne, wen ich wolle. Ich sah nun wohl ein, daß ich mich in meiner Uebereilung etwas überstürzt hatte, aber ich war zu weit gegangen, um zurückzutreten, und so fing ich damit an, alle gegenwärtige Personen zu diesem improvisirten Feste einzuladen. Die jungen Männer nahmen dieses mit Freuden an, einige junge Frauen lächelten, ohne zu antworten, als ob sie sich nicht getrauten zu gestehen, daß sie vor Begierde brannten, das Gleiche zu thun, und nur zwei alte Kammerfrauen anderer Reisenden erklärten, daß dieses eine Abscheulichkeit sei und daß alle Franzosen schlechte Subjecte wären, welche die guten Sitten in Spanien verderben wollten.
[623] Gegen neun Uhr Abends fand sich Herr Bailly ein, welcher seine Rolle als Ceremonienmeister ungemein ernsthaft durchführte, und zeigte uns an, daß das Ballet bereit sei und man nur noch uns erwarte. Er führte uns in ein benachbartes Haus. Der innere Hof war reichlich mit Blumen geschmückt und erleuchtet. Jeder Orangenbaum trug statt der Früchte Lampen, jeder Lorbeerbaum war mit Rosen von buntem Glas behangen. Die Gesellschaft war zahlreich. Auf den Balkons erwarteten mehrere Señoras, welche sorgfältig verschleiert und in geheimnißvolle Mantillen eingehüllt waren, schweigend die Zeit, wo sie ein nach der Sitte ihnen verbotenes Vergnügen genießen sollten. Ueber dem Hofe den Blumen, den Lampen, den Balkonen und den Mantillen erblickte man gleich einer mit Perlen gestickten Zeltdecke den mit Sternen besäeten Himmel. Bei unserm Eintritte gab das Orchester, welches aus einer Violine, einer Guitarre und aus einem Sänger bestand, das Zeichen zum Anfang und vier Tänzerinnen,im Costüme der Majas, kurzer Rock mit Goldflimmern verziert, seidene Strümpfe, gelbe Schuhe, hüpften unter dem Klange der Castagnetten in die Vorhalle, in Begleitung von vier Andalusiern in seidenen Beinkleidern. Die Cachucha, welche sie sehr lebhaft ausführten, erinnerte mich an den Tanz, welchen vor einigen Jahren die Dolores Seral zuerst im Théatre des Variétés sehen ließ, doch war dieses nur ein Vorspiel. Es trat eine Pause ein und eine der Tänzerinnen trat langsamen Schrittes allein hervor in die Mitte der Vorhalle. Sie hieß Carmen. Ein Mädchen von sechszehn Jahren.
klein und schmächtig, mit großen schwarzen Augen, ebenso feurig als sanft, wenn es gestattet ist, diese beiden unvereinbar scheinenden Worte zusammenzustellen, um dieses spanische Auge zu bezeichnen, zugleich glänzend und verschleiert, worin Traurigkeit und Leidenschaft, Aufforderung und Schmachten mit einander kämpfen. Sie war mit einem rothen Rocke bekleidet; ihre Arme, obwohl noch von einiger jugendlicher Magerkeit, waren doch höchst graziös; sie hatte einen schönen Fuß, und überhaupt war sie sehr hübsch vom Kopf bis zum Fuß.
Als sie in der Mitte des Tanzplatzes ankam, erhob sie langsam ihre Arme, und ließ die Castagnetten ertönen. Die Musik begann sogleich eine der langsamen und einfachen Melodieen, deren einziger Gedanke sich unaufhörlich wiederholt, von unbeschreiblich naiver Anmuth, welche ohne Zweifel die Gesänge uralter Zeit waren, und noch jetzt die Völker des Orients bezaubern. Carmen begann, fast ohne sich zu bewegen, eine jener wollüstigen Pantomimen, die an die Tänze der Bajaderen und der Almees erinnern. Im ganzen Orient, von Madras bis nach Kairo und Sevilla, spricht der Tanz dieselbe Sprache, und drückt durch fast gleiche Zeichen die gleichen Gefühle aus. Augenscheinlich bietet Andalusien durch seine Tänze noch mehr Erinnerung an das Morgenland dar, als durch sein Costüme. Abgesehen davon, daß Carmen ihre bleiche Stirn nicht mit goldnen Zecchinen geschmückt und ihre schlanke Taille nicht mit einem durchsichtigen Flor bedeckt hatte, wäre sie nach ihren Stellungen, ihren Blicken, ihren Bewegungen in Egypten eine Almee, in Indien eine Bajadere gewesen. Die Einbildungskraft, welche nicht unterläßt, diese stummen Pantomimen sich zu erklären, konnte leicht schon allein in der Physiognomie der Carmen Erinnerungen aus Asien finden, Träume in der Einsamkeit der Wüste, Begegnungen im Schatten einer Oase, Liebe unter einem Zelte, Anreizung und Widerstand, alles dieses und noch tausend andere Dinge konnte man sich vorspiegeln. Weshalb auch nicht? Warum sollte der Tanz, der zu jeder Zeit wie die Musik eine Sprache für die Empfindung war, nicht auch den Gedanken ausdrücken, der ihn begeistert? Die Musik hat es gewagt, den Sonnenaufgang zu schildern, den Marsch der Karavanen, selbst die Entdeckung der neuen Welt.
Uebrigens schien die schöne Tänzerin sich selbst an dem Feuer des Gedichts zu entzünden, dessen verschiedene Strophen sie vor uns darstellte. Ihr Blick belebte sich, ihr Körper bewegte sich in graziösen Wendungen, ihr Teint, vor Kurzem noch so bleich, röthete sich, bald mit feurigem Auge die Luft begierig einathmend, schien sie Jemand zu suchen, und stampfte mit dem kleinen Fuße auf den Boden, als wollte sie den Geliebten herbei rufen, und da er nicht erschien, kam sie gerade auf mich zu, schoß auf mich einen feuertrunkenen Blick, der mich bezauberte, und warf mir mit dem Anstand einer Sultanin ihr Taschentuch zu. Sogleich ertönte ein allgemeiner Wirbel der Castagnetten von allen Sitzen und allen Händen, und die entzückten Zuschaner riefen aus: „salero, salero!“ (eigentlich Salzfaß, ist als Zuruf der Bewunderung und Aufmunterung üblich.) Die Rolle eines Pascha setzte mich ein wenig in Verlegenheit. Carmen verweilte noch auf dem Platze mir gegenüber, als wollte sie ihre schöne Gestalt noch länger bewundern lassen, dann schritt sie, verführerisch wie eine Fee, vorwärts, und trat plötzlich wieder zurück, um die Zuschauer in die Rolle des Tantalus zu versetzen. Sie schien verwandelt, elektrische Funken sprühten aus ihren großen schwarzen Augen, und als sie besiegt, entwaffnet sich auf ein Knie niederließ, als wolle sie sich unbedingt ergeben, hätte sie auch den bejahrtesten Sultan bezaubert; allein sogleich hörte die Musik auf, Carmen erhob sich nachlässig, ihre Hände schlossen sich, ihre Blicke erloschen, ihre Blässe erschien wieder, und sie setzte sich ganz ruhig, ganz blöde an die Seite ihrer Mutter auf die Kniee ihrer Schwester. Die Bacchantin war verschwunden, und Carmen war nur noch eine arme Arbeiterin aus der Tabaksfabrik.
Es ist merkwürdig, wie leicht die menschlichen Gesichtszüge bei ihrer Beweglichkeit sich zu alle den Umwandlungen hergeben, welche die Kunst des Mimen ihm zur Pflicht macht. Ich werde nie vergessen, wie ich eines Abends in einer Gesellschaft in Paris neben Demoiselle Rachel saß, und eben mit ihr gesprochen hatte. Als ich mich wieder zu ihr wendete, sah ich auf einmal ihr Gesicht so verändert, daß ich darüber ganz betroffen war. Man hatte die Künstlerin gebeten, Verse aus der Phädra zu declamiren, und sie hatte die Physiognomie dieser Rolle in einer Secunde dergestalt angenommen, daß sie kaum zu erkennen war. Carmen, obgleich weniger eingeschult, verstand doch etwas von dieser Kunst, und das Talent dazu war bei ihr um so auffallender, je weniger man es erwarten durfte. Werden Sie übrigens wohl glauben, daß diese jungen Mädchen von Sevilla, welche vor Ihnen für einige Douros die Ole, die Gitana und andere eben so verrufene Tänze aufführen, von einer makellosen Tugend sind, welche den lockendsten Anerbietungen widersteht? Und doch ist dieses durchaus wahr, es gibt davon Beispiele in Menge, und diese Anomalie gehört zu den sonderbaren Eigenthümlichkeiten des weiblichen Charakters in Spanien.
Zu derselben Zeit, wo ich Andalusien bereiste, befand sich die berühmteste Tänzerin von Sevilla in England. Ein Capitain der englischen Marine war von ihrer Schönheit so eingenommen, daß er, nachdem er Haufen von Gold vergebens ihr zu Füßen gelegt hatte, zuletzt ihr seine Hand anbot. Das junge Mädchen hatte endlich eingewilligt, in Begleitung ihrer Mutter ihm nach London zu folgen, allein dort zeigte sich ein unbesiegbares Hinderniß. Die Tänzerin aus dem katholischen Spanien weigerte sich durchaus, einen Protestanten zu heirathen, und ich weiß nicht, wie die Sache noch ausgegangen ist. Was mich anlangt, so begnügte ich mich damit, das Tuch der Carmen mit der vollkommensten Selbstbeherrschung zurückzugeben. Die Boleros, die Fandangos dauerten bis Nachts ein Uhr fort, und ich kehrte sehr zufriedengestellt nach dem Hotel zurück.
Das Passeyerthal und Hofer’s Wohnhaus. Das Gebirge besteht hier aus lauter Geröll und Conglomerat; es gleicht einem harten Teige, in den eine ungeheuere Masse von Steinen hineingeknetet ist. Sobald nun der Regen diese lockeren Abhänge auflöst, entstehen Erdstürze und Schlammströme. Die Bewohner dieses Thales, wenigstens die Männer, sind schön und stark; durch einen gewissen Stolz und eine ritterliche Haltung, die man jetzt bei den Bergvölkern selten findet, zeichnen sie sich vor ihren Nachbarn aus. Im Oetzthale hörten wir, daß die Passeyer so gesund und frisch seien, weil die Luft und die Quellen so rein wären. Doch wollte es uns bedünken, als ob die Erinnerung an ihre Kriegsthaten unter Hofer diesen einfachen Menschen einen edlen Stolz einflöße. Auch grüßten sie keineswegs so zuvorkommend und freundlich, wie wir es in anderen Thälern gewohnt waren, ein Zeichen ihres Selbstbewustseins. Häßlich war der Kopfputz der Weiber, ein turbanähnlicher Wulst von Wolle; ihre Strümpfe waren in allen Dörfern roth. Nachdem wir etwa 4 Stunden zurückgelegt hatten, betraten wir das Dorf St. Martin, dessen Häuser unsere Aufmerksamkeit
[624] in Anspruch nahmen. Da sah man große Frescogemälde in Lebensgröße, nicht schlecht gefertigt und Heiligenbilder darstellend; daneben allerlei Verslein, wie z. B.
„Euch, St. Martin und St. Benedict,
Vertrauen wir dieses Hauses Glück.“
oder:
„Dir, o St. Gertraud,
Dieses Haus sei anvertraut.“
Eine Hochzeit, welche in diesem Dörflein gefeiert wurde und zu der man sich eben versammelte, brachte uns die hübsche Sonntagstracht der Passeyer Burschen recht zu Gesicht. Sie sahen uns aber gar ernst und feierlich aus, und wir machten uns mit ihnen nichts zu schaffen. Nach einer kleinen Stunde erreichten wir das Wirthshaus Am Sand, welches am östlichen Ufer liegt. Es ist bekanntlich der Geburtsort des Andreas Hofer und wird von allen Reisenden, die nicht die Pietät aus den Augen setzen, als eine heilige Stätte besucht. Es liegt einsam, von dem Dorfe St. Leonhardt durch einen bedeutenden Zwischenraum entfernt. Der Eigenthümer führt immer den Namen „der Sandwirth“; jetzt ist es Andreas Erb, Hofer’s Schwiegersohn. Die Frau und die Tochter jenes Helden sind bereits gestorben. Das Gastzimmer ist unten, und man findet darin durchaus nichts, wodurch es sich von der Einfachheit der ländlichen Wirthshäuser unterschiede. Aber eine Treppe hoch gelangen wir in das eigentliche Heiligthum, wo wir die zahlreichen Reliquien des braven Hofer betrachten können. Da finden wir eine große Schachtel mit seinem Gürtel, der da beweist, daß er einen ziemlichen Umfang gehabt hat. Außerdem befindet sich darin seine Jacke und seine rothe Weste. Auf dem Tische liegt unter Glas und Rahmen das Original seines letzten Briefes, den er vor seiner Hinrichtung in Mantua schrieb. Er ist unorthographisch, und nur mit großer Mühe gelingt es uns, ihn zu entziffern, wobei die stete Rücksicht auf den hiesigen Dialekt aushelfen muß. An den weißen Wänden hängen sechs kleine illuminirte Ansichten von Innsbrucker Gegenden, ein kleines farbiges Hautrelief von Hofer, eine Lithographie des Basreliefs zu Innsbruck und der Statue von Professor Schaller. Außerdem bemerken wir auf dem Tische noch die beglaubigte deutsche Uebersetzung von Hofer’s Todtenschein, abgefaßt von einem Geistlichen und datirt aus der Festung Mantua am 26. August 1814. Wir bestellen ein Mittagsessen und blättern inzwischen ein wenig im Fremdenbuch, eine Unterhaltung, welche so oft die unausbleiblichen Lücken auf unseren Fußreisen ausfüllen muß. Da finden wir unter Anderem die Bemerkung eines Franzosen, der da sagt: „Ich bewundere den Helden; aber kommt in unsere Vendee, und statt eines Hofer, werdet ihr deren dort zwanzig finden.“ Ein deutscher Patriot hat sich nun über diesen Franzosen hergemacht und ihm nachdrücklich den Text gelesen, und hinter diesem hat ein deutscher Kosmopolit drei Ausrufungszeichen gesetzt und geschrieben: „Was würde der Franzose sagen, wenn er dieses Gewäsch läse?“
Berichtigung. Als Ergänzung des in Nr. 42. gebrachten literarhistorischen
Portraits Varnhagen von Ense’s ist noch zu bemerken, daß
von ihm weiter im Jahre 1853 eine Biographie des Generals Bülow von
Dennewitz und ein Aufsatz über die Ermordung Kotzebue’s, sowie mehrere
kritische Artikel erschienen sind. – Auf verschiedene an uns ergangene Anfragen
diene zugleich die Mittheilung, daß ein großes schön lithographirten
Portrait Varnhagens in Berlin bei Mecklenburg zu dem billigen Preise
von 15 Sgr. erschienen ist.
Schleswig Holstein ist im Gedächtniß der Deutschen noch nicht gestorben,
wenigstens beweist dies die rege Theilnahme, welche die Geldsammlungen
zur Unterstützung der Vertriebenen überall finden. Namentlich zeichnet
sich Leipzig jetzt vortheilhaft aus. Seit wenigen Wochen hat der Buchhändler
Gustav Mayer weit über 1000 Thaler gesammelt.
Goethe’s Servilismus. Man wirft Goethe stets vor, er sei nur Fürstendiener gewesen und es habe ihm der Muth einer selbstständigen Stellung gefehlt. Das ist durchaus falsch. Goethe blieb selbst seinem fürstlichen Freunde Karl August gegenüber stets der stolze Frankfurter Patriciersohn, der sich dem Fürsten ganz gleich stellte und sich nicht scheute, die Wahrheit rund herauszusagen, wenn es galt.
Es handelte sich im Jahre 18.. darum, einen Orientalisten nach Jena zu rufen. Neue Besetzungen pflegte Goethe vorsichtig zu bedenken, auch nie ohne abwägenden Bericht an den Großherzog und aufmerksames Vernehmen seiner Absichten bestimmte Schritte zu thun. Hatte er sich aber einmal, auf solche Befugniß gestützt, entschieden, dann gab er nachträglichen Einmischungen von anderer Seite her keinen Zoll breit nach. So hatte er denn, nach Rücksprache mit dem Fürsten, bereits von Jena aus, wo er sich gerade befand, die Berufung eines Orientalisten eingeleitet, als Karl August auch nach Jena kam und in einem Gespräch mit dem Geh. Hofrath Stark Eindrücke schöpfte, die ihm die Berufung einen Andern mehr zu empfehlen schienen. Der Großherzog speiste hierauf im Schlosse mit Goethe und einem Dritten. Nach Tische nahm er Goethen in ein Fenster und brachte die Unterhaltung leise auf die Berufungsfrage. Anfangs ging Goethe sehr diensam auf alles ein, indem er aber die Vorstellungen, die dem Großherzog mitgetheilt waren, hindurch merkte, wurden seine Entgegnungen immer bestimmter und schärfer. Endlich sagte der Großherzog: „Du bist ein närrischer Kerl, Du kannst keinen Widerspruch vertragen.“ „O ja, mein Fürst,“ antwortete Goethe, „aber er muß verständig sein.“ Karl August ging einmal das Zimmer entlang, dann trat er wieder an’s Fenster zu Goethe und führte das Gespräch ruhig zu Ende.
Wie ehrend für Fürst und Diener.
Wir Übergeben dein Publicum mit diesem Werke ein Unternehmen, das vermöge seines literarischen und philanthropischen Werthes ein großes und allgemeines Interesse erregen wird. Aus der Feder eines Fach Mannes (früheren Criminaldirectors in Berlin), der wie kein anderer deutscher Schriftsteller es versteht, den schwierigen Stoff der Criniinalistik zu beherrschen und in eben so klaren wie ansprechenden Bildern zur Anschauung des Laien zu bringen, verbindet dieses Werk in ausgezeichneter Weife mit dem Zwecke der Unterhaltung zugleich den der Belehrung. Temme’s großes Talent, Erzählungen zu schaffen, die, ohne forcirt zu erscheinen, von Anfang bis zu Ende die Spannung des Publieumö in hohem Grade aufrecht erhalten, hat sich niemals größer gezeigt, als in dieser Sammlung „deutscher Criminalgeschichten“, die für Leser aller Stände eine eben so belehrende wie unterhaltende Winterlectnre abgeben.
Die Tendenz des Werkes gibt der Verfasser selbst in der Vorrede mit kurzen Worten an: „Die nachfolgenden Erzählungen beruhen auf wahren Thatsachen. Sie sind nur in eine novellistische Form gebracht. Dieses Letztere aus einem einfachen Grunde. Hätte ich sie nur actenmäßig erzählen wollen, ich hätte, namentlich in der ersten Erzählung des ersten Bändchens, fast nur Grausen und Abscheu erregen können. Dadurch unterhält man weder, noch belehrt man. Ich aber wollte Beides, vorzüglich belehren durch Unterhaltung.“
Die Sammlung wird in höchstens 8 bis 10 Bändchen ü 12 bis 15 Bogen zu dem sehr billigen Preise von 12 Ngr. pro Bändchen erscheinen. Einzelne Bände kosten den dreifachen Preis.
Magazin für Literatur in Leipzig.
(Ernst Keil.)