Die Gartenlaube (1854)/Heft 15
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No. 15. | 1854. |
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(Fortsetzung.)
Leonie ging nach wie vor zu ihrem kleinen Freunde; denn die Bequemlichkeit ihrer Mutter siegte über jede Bedenklichkeit ihrer Eifersucht. Ebenso blieb es ungerügt, als am nächsten Morgen um die zehnte Stunde auf dem Schreibtisch des Herrn Pastors eine dampfende Tasse Chocolade gestellt ward, neben der die appetitlichsten kleinen Semmelschnitte lagen. – Etwas so Einladendes wurde ihm zu Hause nie vorgesetzt, und schon sein Auge genoß hier, bevor er noch die Lippe damit genetzt. Er konnte nicht umhin, bei seinem nächsten Gange zu seinem Herrn Collegen unten an die Thüre des Wohnzimmers zu klopfen, und auf ein „Herein!“ einzutreten, um Augusten ein Wort des Dankes zu sagen.
„Reden wir nicht davon!“ bat diese. „Je weniger Geräusch man von solchen kleinen Aufmerksamkeiten macht, je lieber werden sie angenommen. Und das letztere wünsche ich doch ganz allein!“
„Sie sind ein Engel!“ sagte er, überwallenden Herzens; denn seine leicht erregbare Natur trug ihn oft zu einem Höhepunkt der Empfindung, wo er weiter ging, als die Besonnenheit gut hieß.
„An gutem Willen!“ fügte Auguste mit weiblichen Tacte rasch hinzu. „Davon sehen Sie hier eine Probe.“ Sie winkte ihm in das angrenzende kleine Stübchen, das sie ihr eigenes nannte, und hier saßen die beiden Kinder, und bemüheten sich, auf einer Tafel Figuren zu zeichnen.
„Welche Poesie den Lebens!“ brach der Pastor unwillkürlich aus. „Eine sanfte, sinnige Mutter, die ihre Kinder die ersten Schritte führt auf des Geistes Pfaden! Glücklicher Lebensmorgen, der unter solchen Auspicien hereinbricht! – Ich beneide diese Kleinen!“
„Mein lieber Freund!“ fiel Auguste mit ernster Würde ein. „Sie dürfen vor diesen Kindern nicht den Dichter reden lassen; nur der Mensch, der besonnene, einsichtsvolle Vater darf hier lobend oder tadelnd ein Wort anbringen; denn wir sind hier sehr ernst. Haben wir es ja doch mit einer Aufgabe für das ganze Leben zu thun. – Was wir hier säen, das soll die Mitwelt einst ernten.“
„So darf ich an diesem Werke Theil nehmen? Sie gestatten es mir?“
„Wie dürfte ich den Vater hindern, sein Kind zu erziehen,“ sagte sie lächelnd. „Es ist ja nur eine Gunst, daß mir erlaubt ist, meinem August diese Gefährtin zu geben! – Denn ohne Gemeinsamkeit ist dem Kinde keine Freude an einer Sache abzugewinnen.“
„Ich wußte ja nicht einmal, was hier geschah! Meine Gattin sagte mir kein Wort davon.“
„So bitte ich Sie, auch ihr kein Wort davon zu sagen! Die Sache ist zu unbedeutend, um viel davon zu reden. Glauben Sie mir, man schadet damit.“
„Ich verstehe Sie!“ sagte der Pastor bedeutsam. „Ich werde schweigen und meinem Kinde sein Glück gönnen. – Wo sind denn Ihre übrigen Kinder? Die lernen nicht mit?“
„Ich überlasse es dem Vater, zu bestimmen, wie sie erzogen werden sollen. – Sie sind jetzt in der Schule. Elise wird Ostern confirmirt, dann hilft sie im Haushalte, bis wir sie irgendwo unterbringen können. So geht Eins nach dem Andern fort, bis auch meinen August die Reihe trifft. Wenn die Vögel flügge sind, verlassen sie das Nest.“
„Welch ein schönes Leben Sie führen, verehrte Freundin!“ sagte der Pastor, in ihr milde leuchtendes Antlitz blickend. „Hätte doch meine Leonie einen Gedanken von einem solchen Frauendasein!“
„Ich bitte sie um Gott, Herr Pastor, stellen Sie keine Vergleiche an, loben Sir mich überhaupt nie, weder hier noch vor Andern,“ bat Auguste mit wahrer Seelenangst. „Das erregt mir nur Mißwollen und kann mir mehr Schaden bringen, als sie ahnen. Um von meinen Mitschwestern die Erlaubniß zu erhalten, so still für mich hin auf meine eigene Weise leben zu können, muß ich von Ihnen beklagt werden; sonst treffen mich ihre Vorwürfe, und diese sind an einem so kleinen Orte, und in meiner Stellung als Stiefmutter nicht ohne bittern Schmerz hinzunehmen. – Das Mißwollen Anderer kränkt immer, selbst das unverdiente.“
Der Pastor schied und Auguste nahm sich vor, ein Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden. Wie konnte sie überdem der kleinen Leonie verbieten, ihrer Mutter nicht zu erzählen, daß der Vater dagewesen, und eine geheime Ahnung sagte ihr, daß ihre Nachbarin dies nicht gut aufnehmen würde. Sie hatte richtig vermuthet. Nach Kinderweise berichtete die Kleine Alles beim Mittagsmahle, und von der Mutter später allein vorgenommen, wußte sie auch manches Wort, das gesprochen worden, zu wiederholen, denn sie liebte Auguste mit der ganzen Zärtlichkeit ihres jungen Herzens, und jedes Wort des Lobes, das ihrem Vater entfallen, hatte bei ihr einen goldenen Boden gefunden. Sie begriff nicht, weshalb ihre Mutter sie unwillig von sich stieß, als sie ausgebeichtet, und eilte eingeschüchtert hinaus in die Küche zu der Magd, bei der sie, sobald sie zu Hause war, ihre Zeit verbrachte. Denn ihrem Vater war sie eine Störung, wenn sie zu ihm in das Zimmer kam; so oft er allein war, beschäftigte er sich mit Dichtungen, [168] und dabei war das Geplauder seines Kindes ihm hinderlich, denn er besang weit lieber sein Vaterglück, als daß er es einfach genoß. Und zu ihrer Mutter konnte Leonie gleichfalls nicht flüchten, denn diese las einen Roman, wenn ihre Freundinnen verfehlten, sich mit ihr um einen Kartentisch zu versammeln. – Indessen die Kleine neben der Dienerin auf einem Fußbänkchen hockte und ihr ein Gemüse auf den nächsten Tag vorrichten half, stürmte die Frau Pastorin zu ihrem Gatten in das Zimmer und ließ Magd und Kind zu denken übrig, was der Gegenstand ihres laut und heftig geführten Wortwechsels sein möchte. –
Als ein paar Tage darauf Auguste Liebig im Garten beschäftigt war um ein Wintergemüse schneiden zu lassen, trat der Herr Pastor an die Hecke, die ihr Gebiet von dem seinigen trennte, und ihr durch dieselbe die Hand bietend, sagte er mit seiner stets etwas belegten Stimme: „Nur so darf ich Sie jetzt noch begrüßen, theure Nachbarin; denn ich bin mit meiner Frau vor den Tisch des Herrn getreten und habe das heilige Abendmahl darauf genommen, daß ich nie wieder Ihr Zimmer betreten wollte, sobald Sie dort mit unsern Kindern allein wären.“
Auguste bedauerte, daß es zu neuen Erörterungen gekommen, deren unschuldige Veranlassung sie war. Daneben gewährte es ihr aber zugleich eine Beruhigung, daß ein heiliges Gelübde ihren Nachbar jetzt verpflichtete, sich aller unvorsichtigen Aeußerungen zu enthalten, und ihr durch sein Lob keine Dornen auf ihren Pfad zu säen, an denen ihr Fuß sich täglich erneuerte Wunden ritzen mußte. – Die Kinder blieben indessen ungestörte Gefährten und das äußere Vernehmen beider Familien litt gleichfalls auf keine Weise. So oft die Frauen zusammenkamen, und das geschah freilich nur höchst selten, überschüttete die Frau Pastorin ihre Kollegin mit den größten Lobeserhebungen und Schmeicheleien und konnte der Worte nicht genug finden, um ihr Dankgefühl auszudrücken. Unter den Männern war keine Rede von diesen Dingen. Der Herr Präpositus gab nicht Acht auf solche Kleinigkeiten und Auguste trug ihm nie vor, was er nicht besonders zu wissen begehrte. Er wurde überhaupt schon älter und abgestumpft gegen manche Dinge. Sein Amt und seine Sonntagspredigt waren Leistungen, die ihm schwer wurden, und die Rede ging von einem Adjunctus, eine Anordnung, gegen die er sich aber noch aus allen Kräften sträubte; denn er hoffte einen seiner Söhne, der Theologie studirte, einzuschieben und ihm auf die Art zu einem Amte zu verhelfen. –
Die Jahre schwanden dahin, ohne daß in beiden Familien irgend eine Veränderung vorgegangen wäre, außer daß die Kinder größer wurden. – August war nun nicht mehr der kleine August, er war ein stattlicher Knabe, der seine freien Stunden nicht allein einem Mädchen widmete, sondern mit Gefährten seines Alters Ballschlagen und Schlittschuhlaufen ging, und es an körperlichen Uebungen zur Entwicklung seiner Kräfte nicht fehlen ließ. Seine Mutter bestärkte ihn gerne darin. Der Körper sollte der Träger des Geistes sein, wie also konnte man diesen als eine Nebensache betrachten? – Sie hatte den Emil von Rousseau aufmerksam gelesen und sich danach einen Plan für seine Erziehung entworfen, in dessen Ausführung sie mit großer Konsequenz verfuhr. Der Knabe erwarb daher manche Kenntnisse der praktischen Dinge des Lebens, der Handwerke und mechanischen Beschäftigungen, die sonst den Kindern fremd bleiben, die dem Gelehrtenstande bestimmt sind. Leonie theilte jede Unterweisung der Art mit ihm. Was er lernte, das wünschte auch sie zu wissen, und wieder war es ihm die größte Befriedigung, sich ihr gegenüber geschickt und anstellig zu zeigen, damit sie durch sein Beispiel besser noch belehrt werde, als durch irgend eine Anleitung. Beide Kinder liebten sich zärtlich. Der stärkere ältere Knabe drückte seine Zuneigung dadurch aus, daß er sie beschützte; sie dagegen blickte zu ihm auf, wie zu einem höhern Wesen, dem sie Verehrung schuldig war, und was sie that und leistete, geschah meistens in dem Sinne, ihm zu gefallen.
Auguste Liebig hatte die Zeit herannahen sehen, wo sie ihrem Sohne nicht mehr alleinige Lehrerin sein durfte und sich darauf vorbereitet, dies Amt zu theilen. Sie suchte und fand einen tüchtigen Hauslehrer und es gelang ihr, einige andere Knaben im Orte dafür zu gewinnen, den Unterricht desselben zu theilen, so daß die Kosten nur in einem kleinen Maße auf sie fielen. Der Herr Präpositus ließ ihr hierin ganz freie Hand, denn sie hatte sich in dem Dutzend von Jahren ihrer Ehe so durchaus als brav und zuverlässig bewährt und ihm so Manches durch Ersparung eingebracht, daß er unmöglich ihren Wünschen in Bezug auf ihr einziges Kind eine Grenze ziehen konnte. – Der alleinige Punkt, der ihr bei dieser Veränderung in ihrem Erziehungsplane Schwierigkeiten machte, war Leonie. – Sie hatte das Mädchen lieb wie eine eigene Tochter und mochte nicht daran denken, sie zu entfernen; und andererseits sah sie ein, wie wenig dann für das Kind geschehen würde. Sollte sie nun vorschlagen, sie an einem Unterrichte Theil nehmen zu lassen, der ganz in das Gebiet streifte, welches einem männlichen Wissen als Vorbereitung dient? – Sie that es. Nach reiflicher Ueberlegung schien es ihr, als könne daraus kein bedeutender Nachtheil erwachsen, während er im andern Falle gewiß war. So wurde Leonie denn mit vier Knaben in die Schulstube des Lehrers hinaufgesandt und lernte mit ihnen, was sie lernten.
Bevor diese Einrichtung getroffen wurde, nahm Auguste natürlich Rücksprache mit der Frau Pastorin; diese erklärte sich jedoch völlig einverstanden mit jedem Plane, der ihre Tochter in so guten Händen ließ. Sie fand es zu bequem, die Sorge für deren Erziehung auf andere Schultern zu wälzen, um hier einschreiten zu wollen.
„Es ist doch wunderbar, Ludwig!“ sagte sie zu ihrem Gatten, „welcher Opfer eine Mutter fähig ist! – Dies einzige Kind, dieser theure Theil von meinem Selbst, dieser Trost meiner Augen, den entferne ich aus meiner Nähe, weil mir sein Wohl höher gilt, als mein eigenes Glück! – Meine Leonie erhält eine Bildung, wie sie nur selten einem Mädchen zu Theil wird; was ich dafür entbehre, darf ich nicht in Anrechnung bringen!“
Der Pastor Sommer freute sich so schöner Worte. Sie klangen seinem Ohre wohlthuend und ihr Sinn veranlaßte ihn zu einem neuen Sonett. – Seine Verse waren ja längst schon seine einzige Lebensfreude und je leidender seine Gesundheit wurde, je mehr bedurfte er des Trostes, sein innerstes Empfinden in stillen Stunden dem Papiere zu vertrauen. – Die Schätze, die sein Pult ihm verwahrte, die waren ja das einzige Leben, das er lebte, und die Dankbarkeit, die er auf dem Papiere aussprach für sie, die die eigentliche Mutter seines Kindes war, und die ihm durch so manche kleinen, still heimlichen Aufmerksamkeiten wohl that, ruhte dort, wie in einem verschwiegenen Grabe. – August hatte seinen vierzehnten Geburtstag gefeiert und sollte zum nächsten Osterfeste confirmirt werden. Damit war zugleich die Zeit herangekommen, wo er eine öffentliche Schule besuchen mußte und mit stillem Schmerze sah seine Mutter den Augenblick herannahen, wo sie ihr theures Kind den Wellen des Lebens zu übergeben gezwungen war. – Der Präpositus blieb diesmal kein stummer Zuschauer; er legte seine Lebenserfahrung in die Waagschale und bestimmte, daß der Knabe das Gymnasium in Rostock besuche, wohin er auch seine älteren Söhne gesandt; denn zahlreiche Verbindungen aus seinem eigenen Jugendleben befähigten ihn, den Knaben dort mit Empfehlungen zu versehen, die ihn in Familien einführten und ihm zu so genannten „Freitischen“ verhalfen, wodurch seine Existenz pecuniär sehr erleichtert wurde. Auguste hätte gern Einwendungen gemacht. Erstlich war die Schule dort nur mittelmäßig, und ihr Sohn hatte von der Zukunft kein anderes Kapital zu erwarten, als sein Wissen; und dann kränkte es sie in ihrer Seele, daß er in manchem Sinne das Brot der Gnade essen sollte. Sie hatte dem Knaben den Stolz der Unabhängigkeit anerzogen, der Niemand etwas verdanken will, als sich selbst; sie hatte ihn stets darauf hingewiesen, daß er der Schöpfer seines eigenen Glückes sein müsse und daß Entbehren schöner sei, als auf eine unwürdige Weise genießen. Und nun sollte sie den lachenden Uebermuth des Knaben dadurch brechen, daß sie ihn anwies, an einem fremden Tische sein Mittagsmahl einzunehmen, wo man ihn nicht als Gast empfing, sondern mitleidig als den armen Sohn eines armen Vaters beköstigte? – Sie seufzte schwer, wenn sie an den Moment dachte, wo ihrem Kinde dies Brot der Gnade gereicht würde. Sie seufzte schwer, aber ändern konnte sie hier nichts. Sie durfte nicht einmal äußern, daß sie ändern möchte, daß diese Einrichtung nicht ihren Beifall habe. – Alle ältern Söhne hatten denselben Pfad betreten, wie durfte sie gestehen, daß ihrem Kinde diese Art und Weise demüthigend sei? – Sie fügte sich daher in das Unabänderliche und waffnete sich mit Resignation. –
[169] Indessen rückte der Tag immer näher, an welchem der Knabe von dem älterlichen Hause scheiden sollte. Seine kleine Ausstattung war besorgt. Wäsche und Bücher hatte sein eigener, neuer Koffer aufgenommen, auf dem eine Messingplatte mit den Buchstaben A. L. prangte, und der Knabe saß ernst daneben, und betrachtete mit dem Gefühle des Eigenthumsrechts, was er sein nannte, und jetzt als Besitzer gegen jeden Begehrenden vertheidigen sollte. – Leise öffnete sich die Thüre und Leonie trat ein. – Sie hatte geweint und die Spuren kaum verwischter Thränen waren noch sichtbar auf den rosigen Wangen.
„Da, August!“ sagte sie, und hielt ihm mit abgewandtem Gesichte ein Päckchen hin. Er nahm es, ohne sie dabei anzusehen.
„Was ist das?“ fragte er, nur um etwas zu sagen.
„So öffne es doch nur und sieh selbst!“ begehrte sie, und setzte sich auf den Stuhl am Fenster, scheinbar, um auf die Straße hinab zu sehen.
Langsam löste er das Papier ab. Da fielen ihm entgegen Bücher und daneben ein Schreibkasten, in welchem er ein Petschaft mit seinem Namen fand, und unter dem bunten Briefpapier entdeckte er endlich wieder ein kleines zusammengerolltes Päckchen. – Er entrollte auch das langsam, wie das Uebrige, und fragte dabei mit möglichst passivem Tone: „Von wem kommt denn dies Alles?“
„Von meinem Vater, meiner Mutter und – von mir!“ sagte Leonie mit immer leiser werdendem Tone.
„Von Dir?“ fragte der Knabe wie befremdet. „Was ist denn von Dir dabei?“
„Das!“ sagte sie nur und deutete auf das Päckchen in seiner Hand, das er eben enthüllte. Eine Geldbörse kam zum Vorscheine und in dieser waren mehrere Goldstücke, die August, als er sie öffnete, entgegenfielen.
„Was soll das!“ rief er aus. „Woher hast Du das?“
„Aus meiner Sparbüchse hab’ ich es genommen.“ sagte das Mädchen schüchtern. „Du wirst es in der großen, fremden Stadt brauchen.“ Sie schwieg und blickte wieder durch das Fenster.
Der Knabe hielt die Börse in seiner Hand und ließ die Stücke langsam durch seine Finger gleiten. Sein Mund verzog sich dabei seltsam; nach und nach perlten große Thränen über seine Wangen, bis er endlich Alles von sich warf und in ein lautes Schluchzen ausbrach. Leonie störte ihn darin durch kein Wort; sie weinte nur still mit.
So fand die Mutter Beide, als sie endlich dazu kam, um nachzusehen, ob Alles fertig sei, und den Koffer dann mit eigener Hand zu verschließen. Sie führte sie mit sich hinab in das Wohnzimmer und suchte sie sanft zu zerstreuen. Leonie blieb den Abend da, und wurde nach Kinder Art wieder heiter, und unter mancherlei Gesprächen verging die Zeit. Endlich schlug es zehn und sie mußte nach Hause. August begleitete sie bis an die Thüre. Er gab ihr die Hand und drückte die ihrige kräftig.
„Ich werde Dir das nicht vergessen, Leonie!“ flüsterte er, während seine Mutter sich umwandte. „Mein ganzes Leben lang nicht. Du sollst schon sehen.“ –
Das Mädchen wandte den Kopf ab, aber ihr Gesicht strahlte.
Sie wußte nun, daß es ihn gefreut hatte. Mehr wollte sie ja nicht, und sie dachte schnell an die nächste Weihnacht und an das, was sie ihr bringe auch ihrem Spielgefährten gewidmet sein sollte.
Früh bei Tagesanbruch rollte August im Postwagen seinem neuen Wohnorte zu. – Er mußte die Reise allein machen, denn die beschränkten Geldverhältnisse der Aeltern erlaubten es nicht, daß Jemand von ihnen mitging. Man scheuete ohnehin schon die Ausgabe, wie viel mehr also die doppelte. – Auguste begleitete ihn bis an den Wagen, und sah ihn mit Muttersorge ziehen.
Wie einsam war ihr nun ihr Haus, wie lang der Tag, wie leer jede Beschäftigung. Leonie kam um die gewohnte Stunde. Sie setzte sich still und stumm neben sie hin und lehnte, ohne ein Wort zu sagen, ihr Haupt an Augustens Brust.
„Sie werden mich nun nicht mehr haben wollen, seit August fort ist,“ sagte sie endlich wie resignirt.
„Doch, Kind! – Du wirst jetzt mein Trost und meine Stütze sein, denn Du allein vermißt ihn ja mit mir.“
„Und darf ich denn wirklich noch alle Tage kommen, wie sonst?“
„Ganz so. – Ich setze den Unterricht mit Dir fort. Das ist mir ja eine liebe Gewohnheit geworden. Im Wissenschaftlichen freilich kann ich den Lehrer nicht ersetzen, da müssen Deine Aeltern sorgen.“
„Wenn ich nur bei Ihnen sein kann, dann ist mir Alles recht,“ sagte Leonie, und schmiegte sich noch zärtlicher an sie. „Ich weiß nicht, wie ich jetzt noch ohne Sie leben könnte!“
„Sprich nicht so, Leonie! Du hast ja Deine guten Aeltern, und Dein Vater besonders hat Deiner Liebe so nöthig. Ich fürchte, Du wirst ihn nicht lange mehr haben.“
„Ich habe ihn sehr lieb, Tante Auguste; aber er vermißt mich nie.“
„Das scheint so, Kind! Glaube mir aber, Du dürftest seinem Leben nicht fehlen, ohne daß er sehr unglücklich wäre. Suche daher ihm noch recht viele Freude zu machen!“
„Gerne, Tante Auguste! Sagen Sie nur, was ich thun soll, und ich will es genau befolgen. Was Sie mir heißen, das ist immer gut.“
„In solchen Dingen muß Dein Herz die Lehrmeisterin sein, Kind! Und Dein Herz ist gut; darum höre nur recht genau zu, was es sagt.“
August Liebig war indessen in Rostock angelangt. Es war seine erste Fahrt über die Grenzen seiner kleinen Vaterstadt hinaus, und die Reise war für ihn daher voll neuer und überwältigender Eindrücke. In Wismar war man zu Mittag, und die Stunde Aufenthalt benutzte er schnell zu einem Spaziergang nach dem Hafen, um das Meer und ein Schiff zu sehen, ein Anblick, der ihn mit Staunen und Wunder erfüllte. Er vergaß Speise und Trank darüber, wanderte dann noch mit weit geöffneten Augen durch die Stadt, die ihm eine riesenhafte Ausdehnung zu haben schien, weilte staunend vor den spitzen Giebelhäusern der alten Hansestadt, und wurde schließlich auf dem Markte durch die Parade der Soldaten und die Militärmusik wie bezaubert festgehalten. Erst als er das Blasen des Postillons vernahm, riß er sich los und eilte dem Wagen zu, der ihn einem noch größern und weit belebteren Orte zuführen sollte. Der Präpositus hatte seinem Sohne durch einen Bekannten ein Zimmer besorgen lassen, welches von der Familie eines Gewürzkrämers um einen billigen Preis vermiethet wurde. Hier stieg August also bei seiner Ankunft ab. Butter und Brot sollte er selbst einkaufen zu Frühstück und Abend, und in einer kleinen Blechkanne auf Spiritus durfte er sich früh beim Aufstehen eine Tasse Kaffee machen. Dies war die ganze Einrichtung für seinen Haushalt. – Heute bei seiner Ankunft war er müde und suchte sein Lager, wo er nach den Strapazen dieser für ihn ungeheuren Reise den süßesten Schlummer fand. Am folgenden Morgen zog er seine Sonntagskleider an und ging zu dem Herrn Schuldirector, um sich als neuangekommener Schüler zur Prüfung zu melden. Von hier begab er sich nach einander zu den sieben Familien, die ihm Freitische zugesagt hatten, gab an jede einen Brief von seinem Vater ab, wurde im Wohnzimmer empfangen und nach ein paar artigen Worten entlassen. Damit waren seine gesellschaftlichen Pflichten abgethan und er kehrte in seine Wohnung zurück, um heute mit seinem Wirthe zu speisen, der ihn freundlich und wohlwollend gebeten hatte, am ersten Tage in seiner Familie vorlieb zu nehmen. Er fand hier auch die Ladenbursche, von denen der jüngste ihm an Alter gleich kam, und eine Tochter, ein Mädchen von achtzehn Jahren, die sich seiner sehr freundlich annahm. – Dennoch war er sehr befangen und wußte sich in dieser ihm fremden Umgebung nicht recht zu benehmen. Nach dem Essen ging er auf sein Zimmer und schrieb an seine Mutter. Dabei wurde ihm recht wehmüthig zu Sinn, und er wischte manche verstohlene Thräne aus dem Auge. – Er kam nicht recht weiter mit seinem Briefe; schon dämmerte es und immer noch saß er da mit der Feder in der Hand und dem Bewußtsein, daß er noch so vieles sagen möchte, und doch eigentlich nicht finden konnte, worin es bestehen sollte. Da klopfte es und Riekchen, die Tochter, trat ein.
„Ich komme Sie zu holen, lieber August!“ sagte sie freundlich. „Wir gehen gleich zu Tische und Sie können den ersten Abend nicht so einsam hier auf Ihrem Zimmer sitzen.“
„Ich bin noch nicht fertig mit meinem Briefe,“ sagte er kleinlaut.
„So beendigen Sie ihn nachher, dann können Sie gleich hinzusetzen, wie Ihnen unsere Biersuppe geschmeckt hat,“ sagte sie und nahm seine Hand, um ihn mit fortzuziehen. Er folgte gerne. Es war ihm gar einsam und unheimlich zu Muthe, und die Beschreibungen [170] vom Heimweh, die er gelesen, ließen ihm ahnen, daß auch in seinem Gemüthe diese böse Krankheit im Anzuge sei.
Am folgenden Mittage speiste er beim ersten Bürgermeister der Stadt. Als er um die bestimmte Stunde dort eintrat, traf er noch drei Genossen, die gleichfalls Freitisch hier hatten, aber schon längere Zeit auf der Schule waren und den angehenden Tertianer mit einer gewissen Herablassung betrachteten. Da der Schule halber im Allgemeinen die größte Pünktlichkeit erforderlich war, so stand auch heute der Tisch gedeckt, und mit dem Glockenschlage trat der Bürgermeister ein und die Familie setzte sich. – Die Knaben zeigten trefflichen Appetit, und man reichte ihnen so viel sie mochten, wobei man zugleich dann und wann ein Wort der Unterhaltung versuchte, das aber einen spärlichen Boden fand. – Nach beendigtem Mahle faltete jeder Schüler seine Serviette zusammen und steckte sie in einen Ring, der ihm eigen gehörte. Auch August Liebig erhielt einen solchen, und – wurde damit der kleinen Gesellschaft einverleibt. – Sie standen dann auf und so wie die Andern sich verbeugten, verbeugte auch er sich und schritt der Thüre zu; da wurde er aber gewahr, daß die Frau Bürgermeisterin vom Büffet verschiedene kleine Päckchen nahm und jedem Knaben ein solches in die Hand gab. Er zögerte nun, um auch an sich die Reihe kommen zu lassen, weil er glaubte, daß das so in der Ordnung sei. – Mit diesem Päckchen zog er nun von dannen und erst als er in seinem Zimmer angekommen war, öffnete er dasselbe und musterte neugierig den Inhalt. Zu seinem großen Erstaunen enthielt es nur geschnittene Butterbemmen. – Als ihm Riekchen später auf der Treppe begegnete, fragte er diese, wie die Frau Bürgermeisterin dazu komme, ihm dieselben mitzugeben. Das Mädchen lächelte.
„Das ist einmal so Sitte hier, und die Bemmen werden Ihnen ganz gut schmecken, lieber August.“
Am nächsten Tage widerfuhr ihm dasselbe, und so wieder am nächsten und er sah wohl, daß er sich an diese Einrichtung gewöhnen müsse, die überdem seiner Kasse zu gut kam; nur daß ein Etwas in seiner Natur sich dagegen sträubte, er wußte selbst nicht warum. – Jedesmal, wenn die Dame vom Hause ihm das Päckchen hinhielt, ergriff er es verlegen mit dem Gefühl einer Beschämung, zu der doch scheinbar kein Grund vorhanden war.
Der Sommer verging und auch der Winter, und erst nach Ablauf eines Jahres durfte August als Unter-Secundaner in das älterliche Haus zurückkehren. Viele Nächte zuvor kam kein Schlaf in seine Augen, und als er nun gar den rothen geraden Thurm erblickte, der so hoch und hehr über die kleine Stadt hervorragte, da jubelte sein Herz so laut vor Freude, daß es in seinem ungestümen Pochen zu zerspringen drohte. – Gepäck und Alles ließ er zurück und eilte mit Sturmesschritten dem älterlichen Hause zu. Bleich vor Freude und innerer Bewegung hieß ihn die Mutter mit zitternder Stimme willkommen, und als er sich aus ihren Armen loswand, gewährte er, daß noch Jemand wie ein Schatten hinter ihr stand und sich leise verbarg.
„Leonie!“ rief es in seinem Herzen, und er wollte die Gespielin seiner Jugend stürmisch an sich ziehen. Plötzlich aber hielt er inne, blieb scheu stehen und bot ihr die Hand. Sie war so groß geworden, sie war kein Kind mehr; er hätte sie kaum wiedererkannt. –
„August!“ sagte sie, und sah ihn mit freudestrahlenden Augen an. –
Auch der Präpositus kam jetzt hinzu und lobte den Sohn wegen seiner vortrefflichen Zeugnisse. „Mein Benjamin macht mir Ehre,“ sagte er freundlich und klopfte den hochgewachsenen Sohn auf die Schulter; dann aber stieg er langsam die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, denn er hielt es jetzt nicht lange mehr unten aus, wo ihm Alles zu geräuschvoll war.
Schon einmal, in Nr. 35 des vorigen Jahrganges der Gartenlaube, boten uns die russisch-türkischen Verwickelungen, wie man damals, wo noch kein Schuß gefallen war, noch sagen konnte, Anlaß, die Blicke der Leser von der Donau weg nach der Ostsee zu lenken. Wir wiesen beim etwaigen Ausbruch eines Krieges zwischen Rußland und den Westmächten auf die Wichtigkeit des Sundes und der Ostsee hin, wo wie im schwarzen Meere die Küsten Rußlands den Angriffen seiner überlegenen Feinde zur See ausgesetzt blieben. Seitdem sind sechs Monate verflossen, während welcher sich die europäischen Großmächte, wenn auch mit Widerwillen, Woche um Woche dem Kampfe näher zugedrängt sahen, und heute endlich segelt eine englische Flotte, mächtiger als je eine vorher die Küsten Englands verließ, in der Ostsee. Ein neuer Schauplatz eröffnet sich damit für unsere bildlichen Darstellungen aus der Tagesgeschichte, ein Schauplatz, von welchem her bald blutige Nachrichten zu uns gelangen dürften, da dort die englische Flotte von einem Manne befehligt wird, dessen Auftreten bei früheren Anlässen zeigte, daß er kein langes „Federlesen“ macht.
Aus der Reihe der von den Engländern zunächst bedrohten Städte führen wir heute unsern Lesern Reval, die Hauptstadt des Gouvernements Esthland, vor, das wie sämmtliche an die Ostsee grenzenden russischen Provinzen durch kürzlich erschienene kaiserliche Ukasen bereits in Kriegszustand versetzt ist. Reval, Helsingfors mit Sweaborg und Kronstadt sind die drei Häfen im finnischen Meerbusen, welche der russischen Kriegsflotte zu Stationen dienen; sie beherrschen dadurch den finnischen Meerbusen, diesen vierzig Meilen langen und 51/2 bis 44 Meilen breiten Seearm, die Wasserstraße aus der Ostsee nach St. Petersburg.
Durch seine Lage der Ostsee am Nächsten gerückt und dadurch auch früher vom Eise befreit als die weiter rückwärts im finnischen Meerbusen gelegenen Kriegshäfen, dürfte Reval einem ersten Angriff der englischen Flotte ausgesetzt sein. An einem schnellen Handeln Admiral Napier’s ist dabei nicht zu zweifeln, indem es für ihn von Wichtigkeit ist, die Vereinigung der in Reval, Sweaborg und Kronstadt vertheilt liegenden russischen Kriegsflotte, die dann keinen zu verachtenden Gegner bilden würde, zu verhindern. Wie die von dem in Reval commandirenden russischen General Berg getroffenen Maßregeln beurkunden, macht man sich auf einen solchen Angriff gefaßt; alle Festungswerke sind vollständig auf den Kriegsfuß gestellt, die Beleuchtung der Leuchthürme findet nicht mehr statt. Vorkehrungen zum Löschen im Fall eines Bombardements werden bereits getroffen und viele Einwohner denken wohl schon selbst an Flucht aus der bedrohten Stadt in das Innere des Landes.
Die anderthalbtausend Feuerschlünde, welche Napier mit sich führt, sind allerdings keine erfreuliche Aussicht, allein damit ist noch immer nicht gesagt, daß ein Angriff auf Reval ein ganz leichtes Stück Arbeit sei. Die Stadt ist mit gewaltigen Festungswerken versehen, große kasemattirte Batterien decken den Hafen, vor dem sich im Meere die berühmten Kesselbatterien befinden, und mörderische Kreuzfeuer erwarten den kühnen Angreifer. Die ebenfalls vor dem Hafen liegende Insel Nargö ist mit besondern Vertheidigungswerken versehen, die das Annähern feindlicher Flotten noch mehr erschweren.
Ungleich stärker noch als Reval ist das ihm acht Meilen weiter nördlich gegenüberliegende Sweaborg, mit Recht das nordische Gibraltar genannt, welches den Hafen von Helfingfors deckt. Die in Felsen gehauenen oder von Granit-Quadern gebauten und meist kasemattirten Batterien der Festung Sweaborg umfassen sieben kleine Inseln. Diese Werke enthalten zwei bis drei Reihen Kanonen übereinander, im Ganzen zusammen 2000 Stück Geschütz. Der von den Schweden, die damals noch Herren Finnlands waren, 1748 unternommene Bau erforderte zehn Jahre, und Sweaborg galt für unüberwindlich. Gleichwohl fiel es 1808 nach kurzer Belagerung [171] in die Hände der Russen, so daß man, in Anbetracht der Stärke der Festung, sich nicht des Gedankens an einen Verrath Seitens des schwedischen Commandanten Kronstedt erwehren kann.
Um auf Reval zurückzukommen, so dürften seine, wenn auch im Vergleich zu Sweaborg schwächern, so doch immer noch starken Festungswerke zuletzt gleichwohl nicht hinreichen, Reval vor dem Schicksale Sinope’s zu schützen, und ihm einen jener harten Schläge zu versetzen, unter denen es schon mehrmals in frühern Kriegen empfindlich gelitten hat. In seiner höchsten Blüthe stand Reval zur Zeit als die deutsche Hansa, der es angehörte, in den nordischen Wässern ihre unbestrittene Macht übte; jetzt beträgt die inzwischen wieder gestiegene Zahl der Einwohner etwa 24,000, die sich meistens vom Handel nähren, da Reval noch immer einer der bedeutendsten Handelsplätze der russischen Ostseeküsten ist. Esthland, obwohl nicht zum Besten angebaut, liefert dennoch einen bedeutenden Ueberschuß von Landesproducten, namentlich Getreide, das über Reval ausgeführt wird. Die Einwohner gehören den verschiedenen Nationen an, unter deren Herrschaft Reval wechselsweise stand. Der Großhandel (und die Großhändler spielen in Reval die erste Rolle) ist in den Händen der Deutschen und Schweden; den Kern des Handwerkerstandes bilden ebenfalls Deutsche und Schweden nebst Dänen; die Stammbewohner des Landes, die Esthen machen die niedrigsten Schichten der Bevölkerung aus; das russische Element, stark durch das Beamtenthum, findet sich endlich in allen Schichten vor.
Angesichts der Ereignisse, die sich in der Ostsee vorbereiten, und die uns noch öfter Gelegenheit bieten dürften, unsere Leser an die Gestade derselben zu versetzen, halten wir einige kurze Notizen über die russischen Ostseeprovinzen nicht für überflüssig. Man begreift darunter Kurland, Livland und Esthland, die jetzt jedes ein russisches Gouvernement bilden, und zusammen an Flächenraum etwa den drei deutschen Königreichen Baiern, Sachsen und Würtemberg gleich kommen, dabei aber nur eine Bevölkerung von höchstens 2 Millionen Seelen zählen.
Das Schicksal dieser drei Provinzen war von Alters her ziemlich ein gemeinsames. Bremer Kaufleute besuchten im zwölften Jahrhunderte zuerst diese Gegenden, ihnen folgten die Dänen, welche das Land eroberten und der Bevölkerung den christlichen Glauben aufzwangen. Im 13. Jahrhundert, wo die deutschen Ordensritter sämmtliche baltische Länder besaßen, erwarben sie durch Kauf die ein Jahrhundert früher von Dänemark gemachten Eroberungen und nahmen ihre sämmtlichen Besitzungen, Kurland, Livland und Esthland inbegriffen, vom Kaiser und Reich in Lehen. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts an begannen die Angriffe der Russen auf die Ostseeländer, die Macht des deutschen Ordens war gebrochen, und die bedrängten Völker wandten sich um Schutz an Schweden, das auch die Herrschaft antrat, bis von Peter den Großen an die Vereinigung mit Rußland bewerkstelligt wurde.
Im Jahre 1848, wo so viel von einem einigen großen und freien Deutschland gesprochen und geträumt wurde, tauchte in einzelnen Köpfen wohl auch der Gedanke auf, die Grenzen des deutschen Reichs müßten am finnischen Meerbusen sein. War doch das Land einmal von Kaiser und Reich in Lehen gegeben worden, hatten doch Reval und Riga zur deutschen Hansa gehört! Und richtig ist es auch, daß die russischen Ostseeprovinzen seit Jahrhunderten durch deutsche Kultur und Wissenschaft im Verbande mit Reval der civilisirten Welt erhalten blieben, daß Alles was dort von Bildung vorhanden ist, deutsch ist, daß die Städte wesentlich deutsche Elemente in sich schließen, und der Grundbesitz fast ganz in Händen deutscher Familien ist.
Dies ist Alles richtig, allein als wirklich deutsche Länder möchten diese Provinzen darum nicht zu betrachten sein, da eigentlich nur die wohlhabendern Klassen und der Adel deutschen Ursprungs sind. Letzterer, der das Land eroberte, ist auch einziger Grundbesitzer, und hat seine Bauern zumeist in Zuständen zu erhalten gewußt, gegen welche die in Pommern bestehenden noch sehr erfreuliche genannt werden können. Unter den deutschen Bewohnern der Städte herrscht hinwiederum im Durchschnitt jener Zopfgeist, wie wir ihm bei den Spießbürgern ehemaliger deutscher Reichsstädte so häufig begegnen. Kurz, die Ostseeprovinzen sind in ihrem Kulturgange hinter Deutschland so gewaltig zurückgeblieben, daß das Band nationaler Sympathien zwischen beiden zerrissen ist, und so wenig als man in Deutschland ernstliche Gelüste nach jenen Provinzen irgendwie verspürt, ebensowenig sehnen diese sich nach dem Verbande mit Deutschland; Kurland hängt [172] noch am meisten an Deutschland. Die Anstrengungen Rußlands, alle diese gewonnenen Provinzen so viel wie möglich zu russificiren, haben reichliche Früchte getragen, und in den Gesinnungen dieser Völker dürfen die Feinde Rußlands keinen Beistand gegen das gewaltige Reich zu finden hoffen. Als Befreier würden hier die Engländer nirgends empfangen werden. Der Standpunkt, welchen die den Ton angebenden Klassen des Landes einnehmen, wird ganz richtig durch das von ihnen selbst gebrauchte Sprüchlein bezeichnet:
Rußland, um uns zu schützen,
Der Bauer, um uns zu nützen,
Deutschland, um dort zu sitzen. [1]
„Aber das Land der Schwarzen,“ fuhr Moritz fort, „kann für die Weißen nicht taugen und Sie sehen, daß auch die Schwarzen sich nicht leicht daran gewöhnen, bei uns zu leben, weil sie so gerne den Weg in’s Gebirge einschlagen. Dadurch, daß sie die Höhen der Insel aufsuchen, entdecken sie in der That hübsche Orte, und diese Palmenebene, von wo wir sie eben verjagten, wäre für sie ein Paradies geworden, wenn man sie in Frieden gelassen hätte. Von der ersten Station verjagt, zogen sie sich auf eine höhere zurück, die besser geschützt war, indem sie sich ohne Zweifel Hoffnung machten, daß sie dadurch, daß sie unsere Verfolgung in die Länge zogen, uns die Lust zu solchen Expeditionen benehmen würden. Indessen sie nach allen Seiten flohen, verfolgten wir sie ruhig und in Ordnung, in einer Linie entfaltet, und durchsuchten die Gebüsche und Felsenhöhlungen. Die Pflanzenwelt wurde spärlicher und das Land wilder. Schon trafen wir kein „Apfelholz“ mehr; rings um die Felsen, die sich in der Form von Zuckerbroten erheben, verbreiteten die „schwarzen Bäume“, die in dichte Gruppen geschlossen sind, reichlichen Schatten; diese Bäume keimen immer in Gesellschaft empor, selbst aus dem Gesteine. Wenn man sie von der Ebene aus an der Seite des Gebirges sieht, würde man sie für kleine Pflanzen halten, ähnlich denen, die vor dieser Grotte wachsen.
„Die flüchtigen Schwarzen verstecken sich unter ihrem Schatten, und wenn sie nur Feuerwaffen hätten, wie – frage ich Sie, könnte man sie von da vertreiben. Zudem ist das Terrain oft durch Brüche durchschnitten und durch Felsenmassen unzugänglich gemacht, und das Gras verbirgt tiefe Löcher, in welche man der Länge nach auf Steine fällt, die Flinte auf die eine Seite, den Hut auf die andere. Währenddem versetzt Ihnen der Schwarze, den Sie verfolgen, einen Schlag, oder er macht sich wenigstens davon.
„Wir umzingelten eines der Gehölze, worin sich die Flüchtlinge gesammelt hatten; sie entglitten uns dort aus den Händen, stiegen eine Bergwand hinab, an deren Fuß ein Fluß fließt, und wir verfolgten sie im Schnellschritt, ohne zu wissen, wo diese Treibjagd zu Ende gehen würde. Je weiter wir vorrückten, um so mehr Kraft verlieh uns der Zorn, und je weniger hatten wir Aussicht, die Ausreißer zu fassen; zuletzt wurde es wahrscheinlich, daß wir Einige von ihnen mit Flintenschüssen niederstrecken würden. Vornehmlich lief der Malaye, der im Lager der Hochebene Lärm geschlagen hatte, Gefahr, eine Kugel zu bekommen. Auf der ganzen Insel verabscheute man ihn wegen der seiner Race natürlichen Wildheit und wegen seiner eigenen Missethaten; des Mords überwiesen, war er aus dem Kerker entflohen, und benahm sich nun wie ein wahrer Bandit, der nichts zu scheuen hat. Von schmuggelnden Sklavenhändlern, die man des Seeraubs bezüchtigte, jung in die Colonie gebracht, brachte er, kühn in seiner Macht, Verwirrung und Unordnung hervor. Mit dergleichen Sclaven könnte man niemals sicher leben. Gott sei Dank, sie sind nicht zahlreich! Die Farbe des Malayen, weniger dunkel, als die seiner Gefährten, verrieth ihn selbst im Schatten, der die andern verbarg; aber seine unglaubliche Beweglichkeit und die Schnelligkeit seiner Füße schirmten ihn vor Gefahren, denen er sich nach Lust aussetzte.
„In diesem vorläufigen Asyle schienen sich die Schwarzen an einem einzigen Punkte zu vereinigen, um über den Gießbach zu setzen, bevor wir ihnen den Weg verlegen konnten. Ein über die Schlucht geworfener alter Baum diente ihnen zur Brücke; aber da dieser Baum wurmstichig war, so mußten sie ihn Einer nach dem Andern überschreiten, aus Furcht, ihn zu zerbrechen. An beiden Ufern bedeckten hohe Farrenkräuter den Boden und die Feuchtigkeit der Bäche, die Wasserfälle am Abhänge bilden, erhält fast bis zum Gipfel der Abdachung eine üppige Vegetation. Unter diese Holzmassen liefen die Neger und verschwanden vor unsern Augen, und wir mußten wohl oder übel einem Punkte zusteuern, der nicht immer entdeckt werden konnte. Der Malaye, der zuerst an’s andere Ufer gelangte, schien, anstatt seinen Weg fortzusetzen, seine Gefährten zu erwarten; diese zogen fröhlich, Mann für Mann, dahin, beeifert, sich in die Dickichte zu werfen, wo sie hoffen konnten, sich zu zerstreuen, um sich unsern Nachforschungen zu entziehen, und so Zeit zu gewinnen, um in die benachbarten Berge, andere unzugängliche Lager, zu gelangen. Wie Einer von ihnen den Fuß auf’s andere Ufer der Schlucht setzte, schien er frische Kraft zu gewinnen; alle diese abschüssigen, wilden und mit Gebüschen bedeckten Wände, über welche dicke Bäume ihre theils todten Zweige aufrichten, waren für diese aufgelöste Bande das wahre Land der herumschweifenden Unabhängigkeit. Einmal da, waren die Flüchtlinge zu Hause. Wir gaben Feuer, obwol aus ziemlicher Entfernung, und bei dem Geräusche des von den Echo’s der Felsenwände wiederholtem Getöse sahen wir den, der über dem Abgrund schwebte, zittern und wanken; aber der Vogel, nach dem man in zu weiter Entfernung im Fluge schießt, senkt seine Flügel vor Schrecken, dann schwebt er von Neuem und entfernt sich, ohne nur eine Feder fallen zu lassen.
„Während die Einen verlorene Kugeln von der Höhe absendeten, rückten die Andern so schnell als möglich durch die Zweige, und der durch den Brückenübergang veranlaßte Verzug brachte uns den Flüchtlingen nahe. Sie Alle, die nicht wußten, ob sich hinter ihnen ein verspäteter Kamerad befand, und außerdem noch durch unsere Flintenschüsse getrieben wurden, stürzten sich schreiend und ohne umzuschauen in’s Gehölz; deshalb wurde die Brücke nicht abgebrochen. Im Augenblicke, wo wir selbst sie überschreiten wollten, ordneten wir die Reihe des Zuges; zuerst ging ein alter Creole, ein tüchtiger Jäger, hinüber, der die Gebirgspfade besser kannte als die Andern. Er war besonders auf diesen dämonischen Malayen aufgebracht, den er beschuldigte, seine Gewürznelken vernichtet zu haben, und wir bestritten ihm das Recht nicht, sich zu rächen, wenn er Gelegenheit dazu fand.
„Das Geheule der Schwarzen ertönte noch, aber man sah keinen mehr von ihnen. Der alte Jäger schwang sich kühn auf die Brücke, indem er sich seiner Flinte dazu bediente, um das Gleichgewicht zu halten. Er durchlief mit seinen langen Beinen diesen über das Wasser gelegten Baumstamm, und schon wollte ihm einer meiner Gefährten folgen, als ein heftiger Stoß gegen diese zerbrechliche Brücke, sie mit schrecklichem Getöse in den Abgrund stürzte; der Malaye, der in den Farrenkräutern versteckt war, hatte sie mit der Ferse kräftig getroffen, aber ein wenig zu spät, denn der Creole konnte in dem Augenblicke, wo der Baum unter ihm nachgab, den Baum noch überschreiten, der ihn von Ufer trennte. Indem er auf die Erde sprang, ergriff er den Malayen, und ein heftiger Streit entspann sich zwischen ihnen, ein wahrer Kampf, Leib an Leib. „Schießt, Ihr Anderen, schießt,“ rief der Creole, „ich bin unten!“ Der Gießbach, der mit vielem Geräusche floß, hielt uns ab, seine Worte deutlich zu verstehen, und im hohen Grase sahen wir nur die verzweifelten Bewegungen der beiden Gegner. Wir zauderten auf die Gruppe dieser beiden Männer, der Eine Freund, der Andere Feind, die sich so nahe bei uns das Leben zu entreißen suchten, zu feuern; jeder forderte seinen Nachbar auf zu schießen und Niemand wagte es, zu diesem Aeußersten zu schreiten. Endlich drang ein so durchdringender Schrei zu uns, daß mein Vater sich entschloß, auf den Kopf des Malayen, sobald [173] er ihn klar unterschied, anzulegen. Zweimal richtete er seinen Flintenlauf wieder in die Höhe, zweimal senkte er ihn, blaß und zitternd in die Richtung der seine Blicke folgten. Der Schuß ging los und ein entsetzliches Gebrüll, das darauf antwortete, machte uns schaudern. Ohne Zweifel war der Malaye verwundet; wir sahen ihn aufspringen und mit den Zähnen in den Arm seines Gegners beißen, der ihm die Gurgel zudrückte, seine Füße in die seinigen schlingen und ihn an den Rand des Abgrundes ziehen. Mein Vater zerbrach wüthend seine Flinte und in diesem Augenblicke schloß ich meine Augen.
„Als ich sie wieder öffnete, bückten sich alle meine Gefährten über den Abgrund, ohne ein Wort auszusprechen; ich streckte auch meinen Kopf vor und unterschied nichts, als den Schaum des kochenden Wassers und hörte nichts, als das Rauschen des hinabstürzenden Wasserfalls. Wir blieben noch einige Zeit da, um unserem Gefährten Lebewohl zu sagen, und kehrten dann in unsere Quartiere zurück. Wir durchzogen traurig die Ebenen, die Schluchten und beschwerlichen Pfade, die wir die vorhergegangenen Tage mit fröhlichem Eifer durchlaufen hatten. Derjenige, den wir im Felde verloren, hinterließ keine Familie, aber es war ein guter Kamerad, einer jener alten Creolen von den Höhen von St. Benoit, die in den Buchten und den tiefen Flußbetten eben so gut zu fischen verstehen, wie in den Bergen die Ziegen aufzuspüren. Als wir dem Dorfe näher kamen, trennte man sich, um sein eigenes Dach zu erreichen. Mein Knie schwoll zusehends und dennoch hinderte mich weder Schmerz noch Ermüdung meine Schritte zu beschleunigen, als ich dem Ziele meines Weges mich näherte. Für uns, meine Herren, die wir niemals große Reisen machen, wiegt ein Zug in die Höhlen dieser unbewohnten Gebirge einen weiten Feldzug auf, und die Abwesenheit dünkt uns lange. Als ich im Sonnenschein auf der Mitte des Abhanges die unter Bäumen und Gärten zerstreuten Dorfwohnungen dem funkelnden Meere gegenüber bemerkte, schwoll mein Herz vor Freude. Dann fiel mir ein, daß sich während unserer Abwesenheit Vieles hätte ereignen können und in die Freude meiner Heimkehr mischte sich eine Unruhe, die ich nicht überwinden konnte. Eine halbe Stunde vor dem Dorfe begegneten wir einem unserer Nachbarn, der meinen Vater anredete; sie plauderten miteinander und ich benutzte diesen Augenblick, um hübsche Blumen zu pflücken, die im Grase wuchsen, im Schatten der Hecken. Ich machte einen Strauß daraus, den ich unter meine Weste versteckte.“
Hier liebkoste nun der Creole seinen Hund mit nachdenklicher Miene, wie ein Mensch, der plötzlich in die Erinnerungen eines andern Lebensalters zurückversetzt wird. „Warum versteckten Sie diese Blumen, Moritz?“ fragte ich ihn ungezwungen, und sah ihn dabei an, um die Spuren eines sanfteren Gefühls zu entdecken, was sich unter seiner ehernen Haut halb verrieth.
„Ich versteckte sie,“ antwortete er, „weil ich nicht haben wollte, daß sie von Jemand anders gesehen würden, als von ihr, für die ich sie bestimmte; ich wollte noch schöne bengalische Rosen dazu thun, die um die Wohnungen herumblühen, längs des Wegs, und dann hätte ich sie noch an demselben Abende zu einem Nachbar getragen, einem Kaffeepflanzer, der sechs Sclaven, ein großes Landgut und ein vierzehnjähriges weißes und blondes Mädchen hatte … Mein Vater errieth vielleicht was ich im Walde machte, aber er that, als wenn er nicht darauf Acht gäbe. Als ich wieder zu ihm kam, sagte er mit ziemlich trauriger Stimme: „Mein Junge, Du kennst doch den Malgache, den unser Freund am Bord der Diana kaufte?“ Ja, ein Kamerad des unserigen! „Nun, er ist flüchtig geworden, und ich möchte wetten, daß mein Arbeiter mit ihm ging!“
„Wir beschleunigten unsern Schritt; wenn man an ein Unglück glaubt, beeilt man sich die Wahrheit zu erfahren. Die Hausthüre war geschlossen; wir riefen nach Cäsar, unserem Malgachen; Cäsär antwortete nicht. Wir liefen um den Garten herum, aber Alles schien so still und so verlassen, daß man hätte glauben können, die Wohnung stehe seit einem Monate leer. Mein Vater ging in’s Dorf, um Erkundigungen einzuziehen, und ich, ohne zu wissen was ich that, ging an den Strand hinab. Ich setzte mich an die Bucht, wo die Diana geankert hatte, um ihre Schwarzen zu landen und warf weinend meinen Strauß in’s Meer. … Cäsar hatte meine Mitgift mit in’s Gebirge genommen!“
„Ich war ruinirt,“ fuhr Moritz fort, „und was noch schlimmer ist, ruinirt, ohne vorher das Vergnügen genossen zu haben, reich zu sein. Man mußte verzichten und die flüchtigen Sclaven, von denen man nie mehr etwas erfubr, als verloren ansehen. Die auf der letzten Expedition so hart gejagten Flüchtlinge hielten sich auf allen Punkten ruhig. In kleinen getrennten Lagern wohnend, blieben sie im Herzen der Insel verschanzt, in jenen wilden Gegenden, die aus spitzigen, holzbedeckten Höhen bestehen, aus Abgründen, aus bald ausgetrockneten, bald angefüllten Gießbächen und endlich aus Flächen in verschiedenen Höhen, theils terrassenförmig in die Thäler herabhängend, theils stachlicht durch jene Pflanzen die wir Pfeifen heißen. Amerikanische Freibeuter sollen aus ihren Kolonien dieses Wort herübergebracht haben, mit welchem wir ein Schilf bezeichnen, das zehn bis zwölf Mal länger ist, als meine Flinte und an jedem Knorren von einem Doppelblatte umfaßt ist, das sich unaufhörlich im Winde bewegt, und in jene grünen festen Stengel ausläuft, die wir als Pfeifenrohre benutzen. Diese Pfeifen wachsen nur in bedeutender Höhe, und die Schwarzen, die im Gebirge keine Waffen haben, höhlen diese Schilfe wie einen Flintenlauf aus, und stecken wilde Körner hinein, mit denen sie nach kleinen Vögeln werfen, um sie zu tödten.
„Als ich eines Tages damit beschäftigt war eine von Cäsar begonnene Pirogue zu vollenden, ein hübsches Fahrzeug, das ein Segel tragen konnte, fragte mich mein Vater, ob ich auf der Brust dieses Schwarzen eine kleine Narbe bemerkt habe. Ich erinnerte mich derselben sehr gut. Nun! fügte mein Vater hinzu, der andere Malgache hatte dieselbe, deshalb sind sie miteinander davon; sie haben sich zu Brüdern gemacht! Und er erklärte mir diesen Gebrauch von Madagaskar, diesen Blutschwur, diese zwischen zwei Personen geschlossene Verbrüderung, die sie verpflichtet, sich bis zum Tode einander zu helfen. Wenn sich zwei Freunde auf diese unauflösliche Weise miteinander verbinden wollen, so bringen sie sich in der Magenhöhle eine kleine Wunde bei und tauchen in das Blut, das derselben entfließt, einige Stücke Ingwer und der Eine ißt das vom Blut des Andern gefärbte Stück. Die Zeugen wenden dabei noch verschiedene Ceremonien an; der Aelteste berührt die beiden neuen Brüder mit einer Zagain und läßt sie einen schrecklichen Eid schwören, dessen letzter Satz in folgender Weise abgefaßt ist: „Der von uns zuerst sein Versprechen verletzt, werde vom Donner vernichtet; die Mutter, die ihn geboren, werde von Hunden verzehrt!“ Es giebt Weiße, die auf diese Art mit den Häuptlingen der Insel den Bruderbund geschlossen, und dieses Bündniß rettete ihnen mehr als einmal das Leben. …
„Die Besorgniß, daß uns die entflohenen Neger angreifen würden, hielt uns in fortwährendem Alarme und täglich machten wir uns darauf gefaßt, die unsichtbar gewordenen Flüchtlinge wieder erscheinen zu sehen. Während wir nun in unsern Häusern kaum schliefen, lebten der Malgache Cäsar und sein Adoptivbruder friedlich hier in dieser Grotte. Niemand kannte sie damals noch, oft war man auf Treibjagden in ihre Nähe gekommen, aber die Flüchtlinge, die sie bewohnten, gelangten, anstatt von der Seite hereinzugehen und sich durch das Zusammentreten des ringsum wachsenden Grases zu verrathen, durch die dichten Schlinggewächse herein. Sie hingen sich an diese natürlichen Seile, an diesen Pfeiler, der ganz expreß für sie gewachsen ist, glitten daran Abends in die Höhle und kehrten auf demselben Wege Morgens wieder zurück, wenn der letzte Stern über den Gipfeln der Berge erlosch. Auf den Felsen ließen ihre Füße nicht die geringsten Spuren zurück. Der alte Quinola, der weißhaarige Malgache, den man nirgends zu fassen wußte, hatte ihnen diese so sichere Zufluchtsstätte gezeigt. Nachdem er sich selbst einige Jahre lang darin verborgen gehalten hatte, ohne einen Schwarzen von den Banden mit sich hierher zu nehmen, hatte er Cäsar zu sich gerufen, weil dieser zu seiner Familie gehörte, und Cäsar’s Adoptivbruder, der andere Malgache, hatte das Recht auf ein Asyl bei ihm.
„Ich weiß nicht gerade, ob Quinola ein Zauberer war, wie die Sclaven seines Vaterlandes behaupteten, aber er hatte geschworen, nicht auf der Insel zu sterben. Als die Regenzeit anfing Gewölke über die Berge anzuhäufen und die Pfade unwegsamer zu machen, führte er die beiden jungen Neger in eine Waldschlucht, mitten im Gebirge, nicht weit von der Stelle, wo jetzt die Kranken das Quellwasser von Salazes trinken. Dort zeigte er ihnen [174] einen dicken Baum von schönem Wuchse, von glatter, feiner Rinde, ohne Moos, der am Rande des Abhangs stand; er setzte ihnen in den Kopf, eine Pirogue daraus zu machen. „Darauf,“ sagte er zu ihnen, „fahren wir in unser Geburtsland. Wir verlassen diese Insel, wo man uns wie Schakale umstellt; ich bin sehr alt, meine Kinder, die Kräfte fehlen mir, aber ich habe noch einen guten Kopf und werde Euch führen. Die Sterne, die um die Berge kreisen, erleuchten auch unsere Hütten; sie werden uns führen. Ich bin in drei Tagen von Madagaskar hierher gekommen! …. In drei Tagen aus diesem Kerker, aus diesem Gehölze, das wir nicht verlassen können, aus dieser kleinen Insel, auf der wir keine ruhige Nacht haben, in drei Tagen von hier nach der großen Insel zu unsern Familien! Für Euch, ein Weib und Kinder; für mich, ein Platz neben meinen Söhnen, die reich und verehrt waren!“
„Der alte Schwarze sprach noch besser als so; es war ein Gelehrter seines Landes. Bevor er in die Gebirge entfloh, dichtete er Lieder, die die Malgachensclaven heut zu Tage noch singen, wenn sie das Zuckerrohr abschneiden. Die zwei Bruder antworteten nichts, sie gehorchten. Mitten im Rauschen des Passatwindes, der Donner und Regen bringt, fällten sie den großen Baum, befreiten ihn von seinen Zweigen, maßen die Länge einer Pirogue für drei Personen ab und begannen sie muthig auszuhöhlen. Das war eine harte Arbeit. Gezwungen, fern von dieser Höhle, die ihnen Schutz gegen die schlechte Jahreszeit gewährte, zu übernachten, bald unter feuchten Felsen, bald in wassergetränktem Grase, genöthigt, Tag und Nacht gegen jede Ueberraschung auf der Hut zu sein, sich vor den Blicken der Verräther und Spione und vor denen ihrer hie und da im Gebirge wohnenden Kameraden zu verbergen, beeilten sie sich sehr. Cäsar hieb mit großen Axtschlägen das Boot zu, sein Bruder höhlte das Innere mit Feuer aus und der Greis feuerte sie durch seine Erzählungen an. Das Alter machte ihn geschwätzig; es lag etwas Wahnsinn in seinen Erzählungen und Liedern, die er Nachts wiederholte, während die jungen Leute den dicken, noch grünen Baum in ein kleines Fahrzeug umwandelten, das sie alle drei in ihr Vaterland bringen sollte, aber sie ehrten ihn wie einen Vater. Sie hörten ihm achtungsvoll zu, bedeckten ihn mit ihren Kleidern, aus Furcht, er möchte frieren und litten gerne für ihn. Im Grunde glaubten sie vielleicht nicht an das Gelingen ihres Unternehmens. Sagen Sie mir, meine Herren, ob Cäsar es nicht viel angenehmer bei uns hatte? Wir behandelten ihn gut; nach einigen Jahren konnte er sich loskaufen und für seine Rechnung arbeiten; er hätte mit der Freiheit geendigt und ich hätte mit Glück angefangen.
„In kurzer Zeit war die Pirogue fertig, sie war nicht gerade so wie die unsrigen gemacht, aber aus dem Groben herausgearbeitet und tauglich zum Fahren. Zudem hatten sie keine Zeit zu verlieren; Quinola fühlte, daß es mit ihm auf die Neige ging und sagte oft zu ihnen: „Muth, Kinder. Ihr werdet mich nicht hier sterben lassen!“ Als das Boot fertig war, handelte es sich darum, es an jene Stelle zu schaffen, wo der Fluß anfängt schiffbar zu sein, und das bei Nacht durch kothige Pfade, Sümpfe und Dickichte. Die beiden jungen Schwarzen hatten harten Frohndienst; aber wenn man für sich arbeitet, beklagt man sich nie. Der Neger, so faul von Natur, daß er unter Gewürznelken, die er pflückt und beim Schneiden des Zuckerrohrs einschläft, fürchtet keine Mühe, wenn er seinem Herrn und Befehlshaber Adieu sagt. Schritt für Schritt, in kleinen Tagesreisen zogen die Malgachen dem Flusse entlang, schleppten die Pirogue zu Lande nach, trugen sie auf ihren Schultern und legten sie umgekehrt unter die Farrenkäuter, um sich darunter zu schützen. Den alten Zauberer, der sich schon auf dem Wege nach Madagaskar sah und dem der Kopf schwindelte, führten sie an der Hand. Er sang wie ein Kind, so daß die beiden Brüder oft zu ihm sagten: „Nicht so laut, Vater, nicht so laut, wir sind einem Dorfe nah, die Hunde kläffen.“ Endlich brachte Cäsar sein Fahrzeug zitternd in den Fluß, er versuchte es und fuhr mit dem Ruder hin und her; das Wasser trug die Pirogue aus grünem Holze ganz gut. Quinola setzte sich an das eine Ende, unser alter Sclave auf das Vordertheil und ruderte ganz sanft; der andere Sclave folgte ihnen zu Lande und sah mit großer Freude zu, wie das kleine Fahrzeug wie ein Schatten an den Binsen vorüberglitt, das streng genommen gut dazu war, um auf diesen friedlichen Bächen zu fahren. Gelangweilt durch das Laufen am Ufer, sprang er in’s Wasser und begleitete im weitausgreifenden Schwimmen den jungen Malgachen, der kräftig sein Ruder handhabte und den weißköpfigen Greis, der den Himmel schweigend betrachtete.
„Die ziemlich reißende Strömung brachte die Pirogue bald an die Kieselbänke, welche die See zur Fluthzeit an die Mündung des Flusses treibt. Es war gegen Mitternacht, die Flüchtlinge waren der ersten Gefahr entgangen, indem sie gewandt durch die Felsen glitten, die über das Strombett herein hangen. Die Gewölke, die sich dem Rauche gleich über den Bergen zusammenrollten, bedeckten nur einen Theil des Himmels, und es war hell genug auf dem Wasser, daß ein Schiffer die Richtung halten konnte und finster genug auf dem Lande für den Fall, daß man ihnen dort Fallen legte. Wenn sich ein Fischer dort befunden hätte, der in der stürmischen Nacht seine Netze legte! Schon sagte die am Strande murmelnde See zu den Malgachen, daß sie ihrer Freiheit entgegengingen.
„Ehe sie in das „große Gewässer“ fuhren, erfüllten die beiden jungen Leute eine vaterländische Ceremonie; der Steuermann, das heißt Cäsar, that Wasser in ein Ravenola-Blatt, ging bis an die Knie in’s Meer, besprengte den Rand der Pirogue und flehte zu den Wogen mit gefalteten Händen, daß sie sie ohne Unfälle an ihre Insel bringen möchten, daß sie sie beschützen gegen Sclavenhändler, Klippen und Seeungeheuer. Nachdem dies geschehen, begrub er das Blatt, dessen er sich bedient, im Sande und stieß mit seinem Ruder in die See. Dieser Ravenola, den man den Baum des Reisenden heißt, ist in den Augen der Malgachen heilig, weil er eine große Menge trinkbaren Wassers enthält, selbst wenn er auf sumpfigem, halb salzigem Boden wächst.“
„Das ist eine Mähr,“ sagte der Doctor, der seit einiger Zeit zu schlummern schien, „ein Musa, er vereinigt im höchsten Grade die zwei charakteristischen Zeichen dieser Classe und ist wesentlich aquosus und fungosus.“
„Eine Pirogue ist sehr niedrig im Wasser,“ begann Moritz wieder, „und es genügte für die drei Malgachen einige Meilen entfernt von der Küste zu sein, um sich als gerettet ansehen zu können. Als die Sonne aufging, erschien ihnen die Insel wie Ein Gebirge, grün am Fuße, grau am Gipfel, am Ufer mit einem Schaumgürtel umgeben, mit einem Thronhimmel von Wolken über seinen Bergen. Die Flüchtlinge aus den Hochebenen schwatzten vielleicht gerade von dem alten Zauberer, indem sie nach diesem schwarzen sich entfernenden Punkte starrten, aber wenn man sich mit Quinola noch in den Pflanzungen beschäftigte, wo er sich furchtbar gemacht hatte und in den Lagern der Schwarzen, wo er von Zeit zu Zeit wie ein außergewöhnlicher Mensch erschien, so sprach er selbst kein Wort mehr seit dem Augenblicke, wo ihn Cäsar in die Pirogue gesetzt hatte.
„In der schlechten Jahreszeit um unsere Insel zu fahren, ist für große Schiffe nicht leicht; wie hätte nun eine kleine Pirogue, kaum aus dem Groben heraus gearbeitet, dem Meere widerstehen können? Bald bemerkten die beiden Ruderer, daß das zu schwere grüne Holz immer mehr und mehr sank. Beim ersten Windwehen besprützte das Salzwasser ihre Mundvorräthe. Da sie nicht mehr wußten, nach welcher Richtung sie steuern sollten, so ließen sie das Fahrzeug im Winde der Insel gehen: das war nicht der Weg, der nach Madagaskar führte! Das kleine Fahrzeug schwamm nach einem Tage Schifffahrt so wenig, daß die jungen Malgachen, aus Furcht es möchte untergehen, es abwechselnd schwimmend begleiteten. Ihre Kräfte erschöpften sich, der Sturm trieb sie hin und her, und Regenströme stürzten von der Höhe des Himmels auf sie, und die See schlug sie wie das Seegras, welches die Fluth den Buchten zuführt. Einige Zeit nach ihrer Abfahrt begegnete ihnen ein Schiff, der, welcher in der Pirogue war, ruderte nicht mehr, der andere, an’s Hinterdeck geklammert, erhob mit Mühe den Kopf über das Wasser. Als man sie anrief, schienen sie zu erwachen. Sie drückten sich die Hände und tauchten dann unter. Die Matrosen des Schiffs erwarteten sie bald wieder erscheinen zu sehen, aber sie erschienen nicht mehr an der Oberfläche des Wassers.
„Der alte Quinola blieb allein in der Pirogue und der Capitän des Schiffs schickte einen Kahn zu ihm, weil er denen, die ihn anriefen, nicht antwortete, und sie hätten lange nach ihm rufen dürfen. Als die Anderen untertauchten, war Quinola gestorben, wohl gestorben, nicht auf Madagaskar wie er gehofft, aber wenigstens außerhalb der Insel, wie er es durchaus gewollt hatte.“
[175] „Und wer erzählte Ihnen diesen letzten Theil der Geschichte?“ fragte ich den Creolen.
„Ein flüchtiger Neger, der Quinola einige Dienste erwiesen hatte; als er abreiste, vermachte er Ihm seine Grotte. Seit vielen Jahren besucht dieser Ausreißer das Gebirge und die Verstecke; sein Herr lebt nicht mehr und man läßt ihn friedlich herumschweifen. Ohnedem sieht man ihn nur, wenn er will; wenn wir da oben jagen, redet er uns manchmal an und bietet seine Dienste als Führer an. Er war es ohne Zweifel, den wir heute Abend von hier verscheuchten, weshalb ich in die Luft schoß, aber es war klug, Feuer zu geben, denn es giebt noch Andere in der Nähe.“ –
„Die Vorsehung,“ bemerkte der Doctor, „setzte auf Euere Insel weder Schlangen noch wilde Thier; den Europäern war es vorbehalten, eine Menschenklasse hier hervorzubringen, die ich gerne Waldmenschen nennen würde.“
Die Insekten-Verwandlung.
Würdest Du nicht, lieber Freund, für die meisten meiner heutigen Figuren die Vorbilder vielmehr im Pflanzenreiche als in der Thierwelt suchen? Bei dem Worte Ei denken wir an die schlichte gerundete Gestalt, welche die Eier der Vögel, Fische und Amphibien so allgemein haben, daß die Eiform zum allgemein verständlichen Erklärungsmittel geworden ist. „Dies oder jenes Ding hat die Form eines Eies.“ Mit diesen Worten sind wir vollkommen aufgeklärt. Aber nun sieh unsere Figuren an! Sollte Fig. 8 nicht vielmehr einen zierlichen Blattpilz darstellen? Sind Fig. 3 nicht vielmehr Pflanzenknöllchen, Fig. 6 und 7 nicht etwa Pflanzensaamen?
Ich will dasjenige, was ich in einem kurzen Briefe über diesen reichen Stoff zusammendrängen kann, an meine Figuren anknüpfen.
Fig. 1 ist ein Schmetterlingsei und zwar von der bekannten Kupferglucke, Gastropacha quercifolia. Die Schmetterlinge haben in der Gestalt des Eies nichts eben sehr Abweichendes; nur in der Anordnung derselben nach dem Ablegen und wie sie dieselben vor den Witterungseinflüssen und vor den Nachstellungen ihrer Feinde zu sichern suchen, zeigen sie oft auffallende Erscheinungen. Die aschgrauen runden Eier der Kupferglucke zeigen zierliche stahlgrüne Ringe. Sie finden sich frei an Baumstämmen abgelegt.
Unsere gemeinen Heuschrecken bergen ihre Eier (Fig. 2) in förmliche Packete vereinigt (siehe die Figur rechts) unter der Erde. Dazu haben sie eine aus zwei Klappen gebildete säbelförmige Legscheide. Als Kind unterschiedest Du daran die stummen Weibchen von den singenden Männchen, wenn Du Dir diese Feldmusikanten für die Graspferdhäuschen einfingst.
Aber großartige Anstrengungen muß der Käfer machen, dessen Eier uns Fig. 3 (rechts ein einzelnes davon) in Vergrößerung zeigen, ehe er sie ablegen kann. Mit vollstem Recht hat dieser Käfer (Necrophorus) davon den Namen des Todtengräbers erhalten. Während er selbst auf Pflanzen lebt, wohnte er als Larve in stinkendem Aas, was auch deren Nahrung ausmacht. Lege einmal wenn es Sommer wird, einen kleinen todten Vogel oder eine Maus auf ein Gartenbeet. Nach einigen Tagen wirst Du ihn an derselben Stelle begraben und mit Erde bedeckt finden. Ein für uns Menschen unbegreiflich feines Spurvermögen wehete mit der Luft diesen Käfern die Kunde zu, daß hier ein noch unbestatteter Leichnam liege. Sie flogen herbei und legten ihre Eier aus und in denselben und erledigten dann eine Arbeit, größer als es uns sein würde, ohne Werkzeuge, blos mit unsern Händen, einen Elephanten zu begraben. Sie unterwühlten den Leichnam bis er in die Erde sank, worauf sie ihn mit Erde bedeckten.
Fig. 4 zeigt Dir das Blatt eines Grases, am Rande eines Baches gewachsen. Der schwarze gegitterte Fleck darauf ist ein Eierhaufen einer Köcherjungfer (Phryganea), die wir bei dem Larvenzustande als geschickte Arbeiterin kennen lernen werden. Die Eier sind durch eine Gallerte in sehr regelmäßiger Anordnung verbunden, wie Dir ein vergrößerter Theil des Eierhaufens links zeigt. Das Insekt, ein Ordnungsverwandter der bekannten Libellen, schwärmt in Menge in der Nähe der Gewässer und seine in düstere Farben gekleideten vier Flügel, die es sitzend aufwärts zusammengeschlagen trägt, gleichen in der Form etwas denen der Schmetterlinge. Da das Insekt seiner Lebensweise zufolge seine Eier auf solche Pflanzentheile legt, welche unmittelbar am Wasser stehen, so gelangen die auskriechenden Lärvchen leicht in dieses ihr Element, wo wir ihnen später begegnen werden.
An dem Zweigstückchen Fig. 5 sehen wir, durch unauflöslichen Kitt zu einem festen Ringe verbunden, die Eier eines Schmetterlings (Gastropacha neustria), dessen Raupe unter dem Namen Ringel- oder Bandraupe allgemein bekannt und als ein Feind unserer Aepfelbäume gefürchtet ist. Man kann den festen Eierring oft leicht von dem Zweige abziehen. Wenn die Meisen und andere Singvögel im Winter und Spätherbst in unseren Obstgärten von Baum zu Baum schlüpfen, so sind sie beschäftigt, uns von diesen und den Eiern anderer schädlicher Schmetterlinge zu befreien.
Wenn wir das verborgene Leben auf dem Grunde eines Sumpfes oder Teiches der Aufmerksamkeit werth halten, die es, wie die ganze uns umgebende Natur verdient, so finden wir dort auch ein häßliches, aschgraues, abenteuerlich gestaltetes Insekt mit ganz plattgedrücktem Leibe und sonderbaren Fangarmen. Es ist der Wasserskorpion (Nepa cinera), der seine Eier zu langen Schnüren verbunden legt, von denen jedes am obern Ende sieben Borsten hat, womit es in der Schnur das vordere umfaßt. Ein einzelnes Ei und ein Stück Eierschnur siehst Du in Fig. 6 dargestellt.
[176] Aehnlich gestaltet, aber nicht zu Schnüren verbunden sind die Eier der Schmalwanze (Ranatra linearis) Fig. 7. welche als nächste Verwandte des Wasserskorpions mit diesem auch, wiewohl seltener, an denselben Orten gefunden wird.
Diese letzt beschriebenen beiden Eierarten sehen manchen Pflanzensamen täuschend ähnlich, besonders den Samen mancher Körbchenblüthler, wohin z. B. Sonnenrose und Löwenzahn gehören, und mancher Scabiosen.
Zu den sonderbarsten Formen des Insekteneies aber gehören die Eier der schönen Florfliegen (Hemerobius), welche Dir sicher, wenn auch nicht unter diesem Namen, bekannt sind. Sie sind Ordnungsverwandte der Libellen und haben vier ziemlich breite, gleich große, zarte Flügel mit einem äußerst zierlichen und feinmaschigen Adernetz. Sie halten sich gern in unsern Zimmern, namentlich in selten geöffneten, an den Fenstern auf und fliegen uns Abends nicht selten in die Flamme unseres Lichtes. Sie zeichnen sich aus durch halbkugelig am Kopfe bervortretende Augen, welche in wunderschönem Goldgrün glänzen. Diese Thiere heften ihre Eier truppweise zusammen auf langen haarfeinen Stielchen an Pflanzenblätter fest und sind diese daher lange selbst von den Naturforschern für Blattpilze gehalten worden (Fig. 8). Die daraus auskriechenden Larven jagen dann auf den Pflanzen nach Blattläusen, die sie aussaugen und deren Bälge dann an dem mächtig bepuderten Leibe der Larven hängen bleiben.
Als ich einst bei Triest auf einem Steine festgeklebt ein solches Ding fand, wie Dir Fig. 9 in natürlicher Größe zeigt, wußte ich Anfangs selbst nicht, wofür ich es halten solle. Es ist ein wunderliches gelblich graues wie aus Hausenblase gemachtes blättriges Gebilde, was man, wenn es trocken ist, leicht nach den Blättern zerbrechen kann. Inwendig findet man dann, siehe rechts den Durchschnitt, eine Menge längliche Eier. Sie gehören der im südlichen Deutschland vorkommenden Heuschrecke, mit dem sonderbaren Namen der Herrgottanbeterin (Mantis religiosa), an. Indem das Weibchen die Eier ablegt, baut es zugleich um dieselben aus einem, schnell zu einer derben Haut erhärtenden, Schleime die sonderbare Hülle, die man leicht selbst für ein selbstständiges aus Schildern regelmäßig zusammengesetztes Wesen halten könnte.
Sind auch meine Eifiguren hier am Ende, so würde doch die Insektenwelt für viele andere Stoff bieten. Oft wahrhaft staunenerregend sind die Anstrengungen und Arbeiten, welche die weiblichen Insekten übernehmen, um ihre Eier so unterzubringen, damit es nachher die auskommenden Lärvchen behaglich finden. Eine kleine Wespe baut z. B. für jedes einzelne Ei, deren sie doch wenigstens nach und nach zwanzig legt, eine kugelrunde haselnußgroße Höhle, die sie im Freien an Mauern, zwischen Steinen, an Felsen u. s. w. anbringt, und dann, bevor sie dieselbe verschließt, daß sie eine hohle Kugel ist, zu dem Ei einige lebendige Räupchen sperrt, welche dann ihrem Larvenkinde zur Nahrung dienen.
Denke an die Bienen und gemeinen Wespen, die für jedes einzelne Ei eine so kunstvolle sechseckige Zelle bauen, als hätten sie Zirkel und Maaß dabei angewendet. Belausche den bekannten schneeweißen Schmetterling, den Goldafter (Liparis chrysorrhoea), wie er seine goldbraunen Afterhaare mit den Flügeln auf den eben gelegten Eierhaufen herunterbürstet und diesen dadurch vor den scharfen Augen der Singvögel doch nicht gut genug verbirgt. Ein wunderbarer Instinkt lehrt, die Pferdebremse (Ostrus equi), ihre Eier an diejenigen Theile des Pferdeleibes zu legen, wo diese sich lecken kann, damit sie von dem Pferde verschluckt und in den Magen befördert werden, wo die Bremsenlarven allein ihren gedeihlichen Entwickelungsort finden. Die grausamen Schlupfwespen oder Ichneumoniden suchen andere Insekten auf, am häufigsten Schmetterlingsraupen, denen sie ihre Eier auf den Leib heften, aus denen dann die Lärvchen dem armen Schlachtopfer sich unter die Haut bohren und von dessen Lebenssäften zehren. Eines dieser Thierchen, die Gattung Teleas, ist so klein, daß es gegen zwölf seiner unendlich kleinen Eierchen in ein Schmetterlingsei legt, dessen Inhalt dann ausreicht, die Teleaslärvchen wenigstens eine Woche lang und zwar bis zur Verpuppung zu nähren! Bis endlich die Gallwespen als Meister der wahrhaften natürlichen Magie aus ihrem Reiche heraus einen kühnen Griff in das Pflanzenleben thun und durch ein unaussprechlich winziges Tröpfchen eines mit dem Ei in das Eichenblatt gebrachten Saftes dieses zwingen, als Wiege und Speisekammer zugleich um das Gallwespenlärvchen den Gallapfel zu bauen.
Ueberall das ganze Jahr hindurch sind zahllose Eier dieser Thierklasse, die eine unausdenkbar wichtige Rolle im Naturhaushalte spielt, wenn auch meist für uns unsichtbar verbreitet. Erinnere Dich an die als „Landplage“ sprüchwörtlichen Heuschrecken. In einer Gemeinde sammelte man 1833 bei Marseille 3808 Kilogramm Heuschreckeneier, was nach einer Schätzungszählung über 300,000,000 Eier beträgt. Gewiß sind dort mindestens doppelt so viel dem Auge der Sammler entgangen.
Mein nächster Brief soll Dir Einiges von dem Larvenzustande der Insekten berichten.
Gleich von Beginn des russisch-türkischen Streites an, der jetzt ganz Europa in ängstliche Spannung versetzt, waren Aller Augen erwartungsvoll auf das englische Kabinet gerichtet, von dessen Haltung die Entscheidung der großen durch den Kaiser von Rußland herauf beschworenen Frage abhing. Die Leiter der französischen Politik, so weit es deren neben dem Kaiser Ludwig Napoleon giebt, flößten als politische und diplomatische Parvenus bei weitem nicht das Vertrauen ein, wie die Männer der englischen Regierung. Erstlich ist man bei den Franzosen stets an etwas Abenteuerlichkeit gewöhnt; sodann hat das erst seit wenigen Jahren bestehende und unter außerordentlichen Verhältnissen entstandene Kaiserregiment noch nicht jenen stets fester wurzelnden Bestand für sich, den die Länge der Zeit verleiht; ferner mußte man hier allenfalls Entschlüssen entgegen sehen, die vielleicht nur um des die Franzosen stets blendenden Nationalruhms willen gefaßt werden mochten; so konnte man letzte Zwecke der französischen Kaiserregierung vermuthen, und daher ihren ersten Mitteln gleich mißtrauen.
Bei dem englischen Kabinet war dies ganz anders: in ihm saßen gereifte Männer, Männer, die mehr oder weniger über ein Vierteljahrhundert lang die Zügel der Regierung in Händen gehalten, und eingeweiht in die geheime Politik Europa’s waren. Die Entschlüsse, die sie faßten, wurden nicht ohne schweren Widerstreit gefaßt; es war ein gewissenhaftes Abwägen, ein harter innerer Kampf, ein bedächtiges Zuwerkegehen; und wenn endlich auch sie mit der Erklärung endigten: „Wir können nicht anders!“ so kann dies selbst dem entschiedensten Friedensgesellschaftler eine Garantie sein, daß die durch Rußland herbeigeführte Lage keine andere als gewaltsame Entscheidung mehr übrig ließ.
Als das gegenwärtige englische Kabinet im December 1852 an’s Ruder gelangte, taufte man es das Kabinet der Kapacitäten. Neben Lord John Russel bestand es aus Aberdeen als Premierminister, Gladstone, Graham, Palmerston, Newcastle, Molesworth und andere. Einer bestimmten Parteifarbe, wie dies sonst in England der Brauch ist, entbehrte diese Zusammenstellung: das gemäßigt-conservative, das liberale und selbst das radicale Element (durch Molesworth) fand sich vertreten, die Parteifarbe fehlte diesem Ministerium, alles Andere nicht. Was England an, durch Talent, Genie, Erfahrung, staatsmännische Gelehrsamkeit und Popularität, hervorragende Persönlichkeiten aufzuweisen hatte, erschien in dem Rathe der Krone. Keine Stimme erhob sich gegen die Weisheit und Befähigung der neuen Minister, und doch wurde allgemein an der Dauer dieses Kabinets gezweifelt, weil die verschiedenen Mitglieder sich nicht auf ein und demselben politischen Standpunkte befanden. Jene Befürchtung ist unerfüllt geblieben, gewiß ist aber, daß der Umstand, der sie hervorrief, die Ursache des bedächtigen Vorangehens Englands war.
Lord John Russel erhielt in dem neuen Kabinet das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten und die Führung des Unterhauses. Ersteres, das er überhaupt nur provisorisch übernommen, trat er schon nach sieben Wochen an Lord Clarendon ab, um sich nur mit der letztern Stellung zu begnügen, was, [177] da er nunmehr ohne Portefeuille im Kabinete saß, von seinem uneigennützigen Patriotismus zeigt.
Während seiner langen politischen Laufbahn hat Lord Russel mehr als jeder andere englische Minister in der Politik und Diplomatie die Ehre und Freiheit Altenglands vertreten. Geboren 1792[2], begegnen wir ihm schon 1819 im Unterhause als feurigen Bekämpfer alter Mißbräuche der englischen Verfassung, und in diesem Kampfe für die fortschreitende Entwickelung der Charte ist sich Lord Russel beharrlich treu geblieben, mochte er nun bloßes Parlamentsmitglied sein oder Minister. So oft er in’s Ministerium trat (1830 zum ersten Male), galt es als Zeichen, daß die Principien des Fortschritts gesiegt, und seit der Durchführung der berühmten Reformbill im Jahre 1831 ehrte ihn die Nation mit dem Namen „Vater der Reform.“ In der Beständigkeit der Grundsätze ist John Russel gewissermaßen der Antipode Palmerston’s, den man zu verschiedenen Zeiten die Farben wechseln sah.
Dem ministeriellen Führer des Unterhauses, welchen Amt Lord John Russel gegenwärtig bekleidet, liegt die allgemeine Vorbereitung der Regierungsmaßregeln und ihre Vertheidigung im Parlamente ob. Der Führer muß mithin alle jene Rednergaben besitzen, welche im Stande sind, Eindruck auf eine Versammlung hervorzubringen. Lord John Russel versteht dies. Das Parlament besitzt kaum einen zweiten, ihm ebenbürtigen Redner, der in gleichem Maße Wohllaut des Organs mit Adel der Mimik verbindet, und dabei zugleich in seinen Gründen so klar, in seinen Beweisen so logisch und in seinen Redebildern so anmuthig ist. Um den nicht seltenen Stürmen im Unterhause Trotz zu bieten, bedarf der ministerielle Führer desselben noch der Jugend volle Kraft, und Lord John Russel war der erste in so hohem Alter, der jene schwierige Aufgabe übernahm.
Was die Haltung Lord John Russel’s in dem russisch-türkischen Konflikt anbelangt, so brachte es das ihm im Ministerrathe zugefallene Amt mit sich, daß er auf die Führung der auswärtigen Angelegenheiten in erster Reihe keinen Einfluß hatte. Lord Palmerston, als Minister des Innern, befand sich in derselben Lage. Als jedoch durch Rußlands Beharren auf dem einmal eingeschlagenen Wege die Lage von Woche zu Woche verwickelter wurde, wußte die Fraktion Russel-Palmerston im Kabinet durchzudringen und eine entschiedenere Politik gegen Rußland zur Geltung zu bringen. Den Gang dieser Politik, der endlich mit der Kriegserklärung gegen Rußland endigte, dürfen wir wohl als unseren Lesern aus den öffentlichen Blättern hinlänglich bekannt voraussetzen. Der zweiundsechszigjährige Russel hat das volle Feuer der Jugend wieder gefunden, wenn er im Parlamente die kriegerischen Maßregeln der Regierung ankündigt oder bei antirussischen Banketten den Vorsitz führt. Er auch war es, der mit seinen Freunden im Kabinet die Ernennung Napier’s zum Befehlshaber der Ostseeflotte, ungeachtet lebhaften Widerstandes, durchzusetzen wußte.
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Künstliche Perlen. Die Chinesen sind seit einiger Zeit auf sehr schlaue Weise verfallen, künstliche Perlen durch die Perlenmuschelaustern erzeugen zu lassen. Sie öffnen dieselbe, ein wenig und werfen Stückchen Holz, welche ein Budhabild darstellen, hinein. Die Auster sucht darauf den ihr fremden Körper dadurch zu beseitigen, daß sie ihn mit ihrem Saft überzieht, d. h. ihn zur Perle macht. Auf diese Weise kommen die Chinesen zu einer ganz neuen, für sie sehr schätzbaren Art Perlen, die ihnen ihren Gott in kostbarer Glasirung darstellen. Die Kunst überhaupt, künstliche Perlen zu erzeugen, hat schon Linné entdeckt. Die Auster erzeugt nämlich die Perle, um sich dadurch gegen den Angriff eines ihr feindlichen Krebses, der sie zu durchbohren sucht, zu schützen. Jede Perle ist eine Palisade, die sie gegen ihn aufwirft. Macht man also denselben Prozeß künstlich, bohrt man die Perlenauster an, so erhält man auch Perlen. Diese Kunst wird jedoch wenig ausgeübt, da in den Gegenden, wo Perlenmuschelbänke sind, die Austern in solcher Menge gefunden werden, daß es sich nicht verlohnt, sich erst diese Mühe zu geben. Dieser Muschelfang ist namentlich bei der Insel Ceylon bedeutend. Dort ist er Eigenthum der englischen und holländischen Regierung, und es kommen dabei häufig sehr komische Scenen vor. Die Sclaven suchen bei dem Oeffnen der Auster, zuweilen Perlen zu verschlucken; sobald dies aber bemerkt wird, oder nur der Verdacht entsteht, daß es geschehen ist, wird der Apotbeker geholt und dieser muß dem Sclaven von Staatswegen eine Laxanz eingeben. Manche Perle, die den Hals einer schönen Gräfin oder geldstolzen Banquiersfrau schmückt, mag daher schon einen sonderbaren Weg gemacht haben!
Der Kranich. Lütke, der Kranich, spielt zwar in Reineke Fuchs eine ganz respektable Rolle, und man muß ihn dort mindestens als Hofrath ansehen, aber im wirklichen Leben erweist man ihm in Deutschland lange nicht Ehre genug. Die Japanesen, die überhaupt in vielen Stücken sehr gescheut sind, wissen ihn besser zu ehren. Er bildet den höchsten Schmuck ihrer Tempel und Paläste, und Niemand darf ihn tödten, weil sie wissen, wie nützlich er ihnen auf den Feldern und Wiesen ist, indem er diese von schädlichem Gewürm und Nagethieren befreit, und dabei der Jagd und dem Geflügel lange nicht so gefährlich ist, wie der weit räuberischere Storch. Das weiß man auch in Scandinavien, denn dort bedient man sich seiner bereits als Hausthier. Als solches ist er höchst amüsant. Lloyd schildert einen solchen, den er selbst drei Jahre lang besaß. Im Allgemeinen war er harmlos, einen Knaben konnte er jedoch nicht leiden. Dieser mußte ihm einmal etwas gethan haben, denn wo er ihn sah, verfolgte er ihn. Einmal überraschte ihn der Vogel beim Bade. Er wollte rasch an Ufer, der Vogel schnitt ihm jedoch den Weg ab und trieb ihn in’s Wasser zurück. Nicht eher, als bis ihm Beistand geworden, konnte er an’s Land und sich anzieben. Ehe er jedoch die Thür erreicht hatte, überfiel ihn der Kranich und brachte ihm mehrere Bisse bei. Damit war seine Rache aber gestillt, von diesem Tage an that er dem Knaben nichts mehr. – Dahlson, Landbesitzer in Ferna-Bruck erzählte, daß ein zahmer Kranich fünfzig Jahre lang am Leben geblieben sei. Er war ganz zahm und aß Alles, was man ihm gab. Im Herbst und Frühling sah er seine Brüder, die wilden Kraniche, mit größter Ruhe über sich hinwegziehen, und machte nie einen Versuch zu fliehen. – Auf einem andern Hofe hielt man ein Paar. Das Weibchen wurde sehr groß und machte sich’s zum Geschäft, die Hühner, Gänse und Enten des Hofes zu überwachen, die es allgemein fürchteten. Des Morgens ging es regelmäßig in die Küche und bat sich sein Frühstück aus. Kamen die Knaben mit Butterbrot, so zerrte es diese so lange an den Knöpfen, bis sie ihm ein Stück gäben oder auch das Brot fallen ließen, das es dann rasch verschlang. Es fürchtete sich weder vor Hunden noch Katzen. Den Kuhjungen konnte es gut leiden, weil dieser mit ihm spielte. Den Gärtner haßte es dagegen, weil dieser es aus dem Garten jagte, wenn es nach Grünem suchte. Es aß auch Kartoffeln, und sehr komisch war es, wenn es den Schnabel in diese zu stark gepickt hatte und ihn nicht wieder auseinander bringen konnte. Dann ließ man es gewöhnlich eine Weile umhertanzen, bis man es befreite. Sein Gehör war sehr scharf. Wenn es auch so weit ab war, daß man es nicht mehr sehen konnte, so kam es auf den Ruf des Hausherrn augenblicklich herbei. Auch aus hoher Luft hörte es ihn. Fisch aß es gern, aber noch lieber Fleisch, flog aber damit immer erst an’s Wasser, wusch es ab und wälzte es dann im Sand. „Sand reinigt den Magen,“ muß es wohl dabei gedacht haben.
Von einen andern Kranich in Westgothland wird erzählt: Er war fünfzehn Jahre dort und der Liebling des ganzen Hauses. Es war ein Weibchen, und am liebsten mit Frauen zusammen. Je mehr beisammen waren, desto lustiger war er. Vor der Herrin des Hauses hatte er eine besondere Hochachtung. Sobald sie im Hofe erschien, machte er ihr seine Aufwartung, und es genügte ihm auch schon, daß sie sich in der Thüre zeigte oder daß er ihre Stimme hörte, sogleich war er da. Wenn das Futter gestreut war, und ihm die Hühner nicht aus dem Wege gingen, nahm er sie bein Kopf und tauchte sie in eine Wassertubbe. Aeußerst versessen war er auf’s Tanzen, aber nicht mit Jedem mochte er tanzen. That er es, so sprang er mit ausgespreizten Flügeln hoch in die Luft und suchte alle Schritte seines Partner nachzumachen. Sein Gehör war ungemein scharf. Wenn im Hause Klavier gespielt wurde, hörte er eine Weile still zu, dann ging er, auch wenn Besucher dort waren, in’s Zimmer und stellte sich neben das Instrument. Er unterschied offenbar die Töne. Wenn ein Adagio gespielt wurde, hielt er seinen Kopf nieder oder drehte ihn leise umher, als wäre er traurig. Wurde dagegen eine Polka oder ein anderes lustiges Stück gespielt, so stand er ganz aufrecht da, drehte Kopf und Augen schnell umher und bezeugte sein Vergnügen auf alle Weise, die ihm zu Gebote stand. Sehr gern besah er sich im Spiegel und nahm vor diesem allerlei Stellungen an; namentlich war das der Fall, wenn er vor dem Trumeau stand, wo er sich in seiner vollen Größe bewundern konnte. Während der Zugzeit riefen ihm seine Kameraden vergebens zu, er möge ihnen folgen. Nur einmal ließ er sich verlocken, mit einem derselben den Tag auf einer Wiese neben dem Hause zuzubringen; als ihn derselbe aber Abends einlud, ihm zu folgen, sagte er ihm Lebewohl und flog nach Hause. Eines Morgens fand man ihn an seinem gewöhnlichen Ruheplatze todt, ohne daß man eine Ursache seines Todes kannte. Die ganze Nachbarschaft trauerte um ihn. – Ein Pärchen, das ganz jung auf den Hof eines Gutsbesitzers kam, zeigte eine merkwürdige Anhänglichkeit an einander. Wenn eines sich entfernt hatte, rief das andere gleich mit lautem Geschrei nach ihm. Als das Männchen verwundet war, war das Weibchen untröstlich, verließ jenes keinen Augenblick und duldete nicht, daß ihm irgend wer zu nahe kam. Als später das Weibchen starb, war das Männchen ganz außer sich. Es zog seinen Herrn zu dem todten Weibchen hin, und drückte auf jede Weise seinen Schmerz aus. Nachdem der todte Vogel fortgenommen war, rannte das Männchen im ganzen Hause umher, pochte an jede Thür und suchte in jedem Zimmer umher, in das man es einließ. Dann stand er drei Tage lang unbeweglich in jammervollem Zustande auf dem Felde und nur allmälig nahm er wieder Antheil an den Freuden des Lebens. Jetzt übertrug er seine Liebe auf die Thiere des Hofes, vorzüglich auf einen Bullen, an dessen Brüllen er sich erfreute. Ihn schien er als seinen Herrn und Meister zu betrachten, denn er begleitete ihn überall hin und tanzte um ihn und verbeugte sich vor ihm, wenn er still stand, auf die komischste Weise. Das Federvieh hielt er in strenger Zucht, bewieß aber mehr Nachsicht gegen die Hennen und Enten, als gegen die Gänse und Truthühner. Bei den Schafen versah er die Dienste des Schäferhundes. Das Jungvieh konnte er ganz allein auf die Weide und von da heimtreihen. Fremdes Vieh jagte er vom Hof oder aus den Feldern. Wurden die Pferde angeschirrt, so stand er als Schildwache dabei; waren sie unruhig, so schlug er mit den Flügeln, schüttelte den Kopf und schrie laut. Nur die Schweine würdigte er keines Blicks, sie schien er tief zu verachten. Auch Bettler und schlecht gekleidete Leute konnte er nicht leiden und ließ sie nicht in’s Haus. Vor Schornsteinfegern fürchtete er sich, und ebenso hatte er Mühe, sich an schwarze Hunde oder Truthühner zu gewöhnen. Eine Beleidigung vergaß er nicht leicht und behielt sie lange im Gedächtniß. Wenn er hungrig war, ging er in die Küche und bat sich mit einem besonderen Schrei zu essen aus. Sollte er Abends nach seiner Lagerstätte gehen, so versteckte er sich vor der Magd, fand ihn diese jedoch, so ging er ruhig zu Bett. – Einmal brachte er sich von seinen Ausflügen ein Weibchen mit, dieses hielt aber nicht aus, sondern flog gleich wieder weg. Als man ihm darauf ein ganz junges Weibchen gab, empfing er es mit vieler Zärtlichkeit, führte es überall hin und lehrte es tanzen; betrug es sich jedoch widerspenstig, so bestrafte er es mit seinem Schnabel. In einem milden Winter, wo eine Menge Kraniche lange dort blieben, besuchte er diese häufig, kehrte aber fast immer mit zerrissenen Federn und blutend zurück. Er mußte also wohl mit ihnen gekämpft haben. Zuweilen war er Tage lang fort, kam aber immer wieder.
Hydraulische Dampfschiffe. Das neue Princip, Schiffe zu treiben, ist in England schon in mehreren Formen patentirt worden. Die eine Art, mit welcher man schon 40–50 englische, d. h. 10 deutsche) Meilen in der Stunde zurücklegte, patentirt dem Erfinder Mr. Gwynne, besteht im Einsaugen des Wassers durch eine Röhre am Bug den Schiffes vermittelst zweier Centrifugalpumpen, welche zugleich das Wasser mit furchtbarer Gewalt am Hintertheile heraustreiben, so daß das Schiff zugleich gezogen und getrieben wird. Die dadurch erzielte Schnelligkeit und Sicherheit übertrifft Alles, was man jetzt mit Rädern und Schrauben erreicht hat. Eine ganze Kompagnie von Kapitalisten führt jetzt eine noch vollkommnere Art, die Mr. Higginson patentirt worden ist, im Großen aus. Das erste Schiff der Gesellschaft soll bald in See gehen, und man hat schon gemeldet, daß es mehr als 10 deutsche Meilen in der Stunde zurücklegen werde.
Republikanische Negerzeitung. In die Neger-Republik Liberia an der Westküste Afrika’s (etwa unterm 8° nördl. Breite, mit der Hauptstadt Monrovia, erscheint jetzt die erste Neger-Zeitung unter dem Namen „Liberia Herald“. Redacteur, Mitarbeiter, Drucker, Setzer, Leser – alle sind Neger. Der Inhalt macht ihnen alle Ehre, da Leitartikel, Berichte über Versammlungen der Ständekammer u. s. w. ganz gebildet geschrieben sind. Die Bewohner sind ursprünglich befreite Sklaven, die besonders von den Engländern dorthin gebracht wurden. Diese Zeitung ist vielleicht ein wichtigeres Zeichen der Zeit, als sich viele Weißhäute in ihrer Weisheit träumen lassen.