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Die Gartenlaube (1854)/Heft 16

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 16. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Die Candidaten-Braut.
Von Amely Boelte.
(Fortsetzung.)

„Dein Vater ist recht schwach geworden,“ sagte Auguste, als der Präpositus das Zimmer verlassen hatte, und sah ihm mit einem sorgenden Blicke nach. – „Dein Bruder Wilhelm ist ihm nun als Gehülfe an die Seite gesetzt, und kann in den nächsten Tagen hier eintreffen. Du wirst ihn jedenfalls noch sehen.“

Am nächsten Morgen ging August zum Herrn Pastor Sommer, um diesem und seiner Gattin einen Besuch abzustatten. Er fand den Ersteren so hager und schwach, daß er ihm fast unkenntlich erschien; die Frau Pastorin dagegen hatte noch an Fülle zugenommen.

„Mein lieber junger Freund,“ sprach sie zärtlich und reichte dem Knaben beide Hände entgegen, „Sie sind mir wie ein Sohn willkommen und in gewissem Sinne betrachte ich Sie auch so!“

„Leonie!“ rief der Pastor vorwurfsvoll, „ich bitte Dich dringend, rede nicht so, es ist ganz unpassend!“

„Gott, warum denn aber? Denke doch an Dich und mich!“

„Eben weil ich daran denke,“ sagte er mit ungewöhnlich scharfer Betonung, „eben darum soll hier davon keine Rede sein. Sie haben Ihren Aeltern rechte Freude gemacht, lieber August;“ wandte er sich an diesen. „Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir von Ihrer Schule.“

Dies Thema war der Frau Pastorin zu trocken und sie verließ das Zimmer. Leonie wanderte indessen im Garten auf und ab. Sie war heute zu glücklich, den Freund ihrer Kindheit sich nahe zu wissen, um es im Hause aushalten zu können. Als August seinen Besuch beendet hatte, folgte er ihr hierher nach. Er war verlegen.

„Leonie,“ sagte er, „ich habe Deine Abschiedsgabe noch ganz bewahrt. Aber ich freue mich oft daran!“

„So?“ sagte sie, und sah ihn mit einem überglücklichen Gesichte an. – „Deine Mutter sagte vorhin, ich wäre ihr wie ein Sohn willkommen, Leonie! – Willst Du, daß ich ihr Sohn sein soll, so gieb mir die Hand. Aber treu und fest für das Leben.“

Sie reichte sie ihm. „Treu und fest für das Leben,“ flüsterte sie und sich plötzlich losmachend, eilte sie im Fluge dem Hause zu.

Es war nicht wieder die Rede hiervon. Beide vermieden es, allein zu sein und so schieden sie denn, ohne daß ein anderes Wort dies erste bekräftigt hätte. Es genügte ihnen, so wie es war, sie glaubten an einander und scheueten den Ausdruck dessen, was in ihnen vorging.

August strebte nun mit erneuertem Eifer seinen Studien nach. – Nach wie vor lebte er im Hause des Gewürzkrämers und besuchte seine Freitische; das letztere aber mit immer schwererem Herzen. Oft war es ihm beim Hinausgehen aus dem Hause, als möchte er den Staub von seinen Füßen schütteln, so innerlich gekränkt und geknickt fühlte er sich. – Der Sommer schwand indessen dahin, und als der Herbst die Blätter färbte, da schrieb ihm seine Mutter, der Pastor Sommer sei gestorben. – August war tief betrübt darüber. Leonie hatte nun keinen Vater mehr und mußte noch Jahre warten, bis sie auf seinen Schutz rechnen konnte. Das stimmte ihn lange sehr ernst.

Die Frau Pastorin sollte nun ein Wittwenhaus beziehen und sich mit einer kleinen Pension behelfen, und diese Lage theilte die Tochter. Das waren Veränderungen, mit denen der Mensch sich nur im Laufe der Zeit aussöhnen kann. – Dieser Winter brachte August aber noch Schlimmeres. Sein eigener Vater wurde täglich leidender; als der Frühling nahte, schloß sich sein müdes Auge und Auguste stand weinend an seinem Grabe. Sie betrauerte ihn wahrhaft, denn was sie an Glück kannte, das kannte sie ja einzig durch ihn. August wollte kommen und die Mutter aufrichten, aber sie verbat es sich. Sie wollte ihn in seinen Studien nicht unterbrochen wissen, sagte sie; eigentlich aber wünschte sie es zu vermeiden, ihn einen Blick werfen zu lassen in die pekuniär traurigen Verhältnisse, die seinen Aufenthalt in Rostock zu einer kaum bestreitbaren Ausgabe machten. Bevor sie nicht klar ihre Lage übersah und die Ueberzeugung hatte, daß ihr theurer Sohn seine Laufbahn fortsetzen könne, wollte sie ihn nicht wiedersehen, um ihm ja jede unnütze Sorge und Kränkung zu ersparen.

Leonie war ihre Vertraute in dieser Angelegenheit; mit dieser berieth sie Alles. Das Mädchen hatte den unverständigen Launen ihrer Mutter gegenüber einen tiefen Lebensernst gewonnen und war ihren Jahren an Reife weit voraus; sie konnte ihre Lage daher völlig übersehen. Sie wußte, daß in ihrer kleinen Wohnung kein Friede einkehren würde, sie sah voraus, daß ihre Mutter sich nirgends gefallen könne, wo sie auf Einschränkungen angewiesen sei und der langgewöhnten Geselligkeit entbehren müsse. Sie schlug Augusten vor, mit ihr gemeinsam eine Mädchenschule zu beginnen und den Ertrag August zuzuwenden, während der dadurch herbeigeführte Verkehr im Hause ihre Mutter zerstreue. – Dieser Plan war annehmbar und wurde vielfach besprochen. Für den Augenblick blieb derselbe aber noch unausführbar, indem jeder Wittwe noch ein Jahr gestattet blieb, in den alten Verhältnissen zu bleiben.

Die Folge dieses Aufschubs war, daß August nicht in seine Vaterstadt zurückkehrte, bis er sein achtzehntes Jahr zurückgelegt hatte und schon die Universität beziehen sollte. Da erst gelang [180] es ihm auf sein inständiges Bitten, die Einwilligung seiner Mutter zu einem Besuche in die Heimath zu erhalten. Wie sehr verändert fand er hier jetzt Alles. Sein Stiefbruder war in die Stelle des Pastor Sommer gerückt, ein neuer Präpositus war eingesetzt, und die beiden Wittwen lebten in einem Häuschen Thür an Thüre, ohne sich mehr zu sehen, als damals, wo Gatten und Kinder sie so eng zusammengeführt. August fand seine Mutter still und heiter wie sonst und glücklich im Anblick des zum Jüngling emporgeschossenen Sohnes. Leonie war nun siebzehn Jahre und prangte in Gesundheit und Jugendfülle; dazu hatte der Ernst ihres Wesens ihr eine gewisse Würde verliehen, die auf Achtung Anspruch machte. So trat sie August entgegen.

„Treu und fest für’s Leben!“ sagte sie bedeutungsvoll und bot ihm die Hand. – Sie verstanden sich, ohne daß es eines andern Wortes bedurfte. Auch der Mutter sagten sie nichts; doch mochte diese wohl errathen, was ihre Kinder sannen und träumten, denn manche ihrer Aeußerungen ließen schließen, daß auch sie sich im Stillen mit ähnlichen Gedanken beschäftigte.

Die Frau Pastorin Sommer traf er höchst grämlich an. Bei seinem Anblick brach sie sogleich in Thränen aus und beklagte ihr Schicksal, das sie so früh zur Wittwe gemacht. August versuchte, sie zu beruhigen.

„Schweigen Sie! Schweigen Sie, mein junger Freund!“ rief sie. „Für mich giebt es keinen Trost, als den, daß ich meinen unvergeßlichen Gatten im Himmel wieder finden werde, und auf diese Frage eine positive Antwort zu erhalten, ist mir bis heute nicht einmal gelungen. – Ich bitte Sie, recht eifrig Theologie zu studiren, damit Sie mich hierüber beruhigen können. Nicht zu wissen, ob ein armes gebeugtes Weib ihre verlorene Hälfte wiederfindet, nein, das ist zu arg! – Da benutzten unsere Großväter ihre Studien doch besser. Und in dieser schwankenden Ungewißheit, ob ich nicht jenseits wie ein einsamer verlassener Schatten wandele, soll ich nun der großen Ewigkeit entgegen gehen! – Das kann ich nicht! Das kann ich wahrhaftig nicht. – Ich sehe ja meinen Weg nicht.“

August wollte sie auf andere Gedanken lenken und fragte darum, ob sie sich häufig mit seinem Bruder darüber berathe?

„Ja, da hat man schön berathen!“ sagte sie heftig. „Er kommt oft genug; aber er hat keine Augen für mich, und rede ich mit ihm, so scheint er mich gar nicht zu verstehen. Er ist verliebt in das Kind, meine Leonie! Wie er nur daran denken kann! Ich begreife es nicht! Hätte er irgend Geschmack, so würde er nach einer Gattin aussehen, die seinem Hauswesen mit Würde vorstehen und in der Gesellschaft repräsentiren könnte; aber daran denkt er nicht. Seine Natur begehrt keinen Austausch der Seelen, wie ich ihn mit meinem verstorbenen Gatten gepflogen. Gott! Das war eine Ehe! Von der konnte man sagen, daß sie im Himmel geschlossen. Wie die Engel lebten wir beisammen. Der gute, talentvolle Gatte betete mich an!“ – Sie drückte ihr Tuch vor die Augen und schluchzte.

August stand auf und empfahl sich. „Sie wollen schon gehen, junger Freund? Das glaube ich gern, eine betrübte Wittwe ist keine Gesellschaft für die Jugend. – Mit Ihrer lieben Mutter ist es ein Anderes, sie betrauert nur einen väterlichen Freund, während mir das Selbst von meinem Selbst verloren ging!“ – Neue Thränen unterbrachen ihren Redestrom, und der junge Mann gewann unter wiederholten Verbeugungen die Thüre. Leonie harrte seiner im andern Hause.

„Du warst bei meiner Mutter?“ fragte sie ihn.

„Ich bitte Dich, sage mir nichts darüber. Es thut mir weh und ich leide ohnehin genug dabei.“

Sie blickte still vor sich hin auf ihre Arbeit, und August trat an das Fenster und sah auf die Straße.

„Mein Bruder Wilhelm bemüht sich um Dich?“ fragte er nach einer Pause.

„Sie hat es Dir gesagt? – Ja, August, dem ist so. Ich lasse ihm gewähren, weil ich es nicht ändern kann. Seine Besuche zerstreuen meine Mutter.“

„Und seine gute Stellung und Deine peinliche Lage verleiten Dich nicht, seiner Bewerbung Gehör zu geben?“

„Nein!“ sagte sie fest. „Die Art, wie er mich liebt, ist mir zuwider. So oft er mich ansieht, möchte ich meine Hand über seine Augen decken. Auch, abgesehen von allem Andern, hätte er keine Hoffnung.“

August verstand ihre Meinung und erwiederte nichts. Seine Mutter kam eben hinzu, man setzte sich um den Tisch und tausend Fragen nach seinem Leben und Treiben in Rostock wurden an ihn gerichtet, die er gerne beantwortete; denn er wußte, von welchem Interesse auch der kleinste Umstand seines Lebens für beide Frauen war, und das gab denselben auch in seinen Augen den Werth und die Bedeutung für eine Mittheilung. Es war beschlossen, daß er nach Ablauf der Ferien nach Rostock zurückkehren solle, um seine akademische Laufbahn zu beginnen. Seine Mutter wollte ihm senden, was in ihren Kräften stand; das Fehlende mußte er selbst gewinnen durch das Ertheilen von Privatstunden, denn mit den Freitischen hatte es jetzt sein Ende erreicht. Diese waren ihm zugesagt worden, so lange er das Gymnasium besuchte, und nachdem er vier Jahre dieser Wohlthat genossen, konnte er unmöglich eine Verlängerung des Termins begehren. Auch war er innerlich froh, dieser Gnade nicht mehr zu bedürfen. Es war ihm zu Muthe, als falle damit eine entsetzliche Bürde von seinen Schultern, als werde er nun erst ein freier Mensch und ein Mann. Mit vollem Vertrauen in seine Kräfte und seinen Willen sah er seiner Zukunft entgegen und zweifelte nicht, den Sieg über alle Hindernisse davonzutragen.

Am Vorabend seiner Abreise winkte er Leonie zu sich in eine Fensternische. „Leonie!“ sagte er mit weichem Ernst des Tones, „hier diesen kleinen goldenen Reif lass’ mich zur Erinnerung an diese glücklichen Tage an Deinen Finger stecken, – und Dir dabei das Versprechen abnehmen, daß Du ihn von Dir werfen willst in der Stunde, wo ich Deiner Achtung unwerth werde. Es wird mir ein Sporn sein auf der Bahn meines Lebens. mir zu sagen: sie trägt den Ring noch; oder: sie soll den Ring noch ferner tragen; darum gönne ihm diesen Platz.“

Sie hielt ihm stumm die Hand hin, während zwei große Thränen über ihr tief bewegtes Antlitz rollten. Er steckte den kleinen Reif daran, und hielt sie dann noch fest zwischen seinen beiden Händen; sie sah ihn an, sie sah die von Schmerz und Liebe bewegten Züge, sie schlang beide Arme um seinen Nacken, zog sein Haupt zu sich herab und ihre Lippen berührten leise seine Stirn, aber schnell hatte sein Mund den ihrigen gefunden, sein Arm umfing sie und ein langer Kuß besiegelte den Bund dieser Stunde.

Nach August’s Abreise erschien das Haus den beiden Frauen sehr öde; aber die Arbeit half die Lücke schnell ausfüllen. Ihre Schule trat nun in das Leben, und die gediegenen Kenntnisse, die Leonie besaß, thaten ihr hier vortreffliche Dienste. – Die Mädchen, welche ihrer Aufsicht anvertraut wurden, brachten nur vier Stunden täglich bei ihnen zu, denn eine langjährige Erfahrung hatte Augusten gelehrt, daß deren zarter Körperbau es nicht vertrage, so lange auf einem Flecke in einer Stellung zu verweilen. Dafür wurden sie in Feld und Wald und Garten hinausgeführt und erhielten hier die Belehrung, welche dem Menschen weit bildender ist, als bloßes Bücherwissen. – Bald strömten ihnen Schülerinnen von allen Seiten zu, der benachbarte Landadel wollte seine Töchter gern unter solcher Aufsicht wissen, und das kleine Haus faßte lange nicht mehr die Zahl von Personen, die es aufnehmen sollte. – Auguste war herzlich froh über diesen Erfolg, so beschwerlich er auch den Abend ihres Lebens machte. Sie konnte dem geliebten Sohne nun ohne Entbehrungen seinen Bedarf zufließen lassen und durfte nicht fürchten, ihn von eigenen Studien durch das Ertheilen zu vieler Privatstunden abgehalten zu sehen. Leonie dagegen sah diesen Erfolg ihres Bemühens mit weniger ungemischtem Vergnügen. Ihre Mutter hatte sich gleich Anfangs gegen diesen Plan erklärt. Ihre Tochter solle keine Schulmeisterin sein, erklärte sie, und wollte auf keine Weise begreifen lernen, daß ein geachteter Beruf weit ehrenwerther sei, als der Müßiggang anderer junger Mädchen.

„Niemand heirathet Dich nun!“ wiederholte sie ihr täglich. „Du wirst eine alte Jungfer werden, und Deine Mutter muß mit Schande in die Grube fahren. Hab’ ich Dich darum so sorgfältig erziehen lassen, damit Du keinen bessern Gebrauch davon machst, als in einer Schulstube damit zu glänzen? Wenn Dein herrlicher Vater das erlebt hätte!“

Bei dieser Erinnerung mußte sie einige Thränen vergießen, und Leonie benutzte die Minute, um ihren Geschäften nachzugehen. –

August hatte unterdessen bei sämmtlichen Professoren seine Aufwartung gemacht und seine Collegia gewählt. Ein so artiger [181] junger Mann, mit so hübschen geselligen Talenten, wurde in manchen Familienkreis gezogen und gerne gab er sich solchen Zerstreuungen hin, die ihn zu seiner angestrengten Geistesarbeit neu kräftigten. Durch Riekchen, des Gewürzkrämers Tochter, hatte er einige Musikstunden zu geben bekommen, die ihm sehr zusagten. Seine einfachen Bedürfnisse waren nun gedeckt und er konnte seinen Zweck in’s Auge fassen, und sich mit ganzem Eifer seinen Studien widmen. Ob ihm das Fach zusagte, auf das er sich vorbereitete, darüber hatte er nie nachgesonnen. Von frühester Kindheit hatte man ihm vorgesagt, daß er eines Tages die Kanzel besteigen würde, wie sein Vater sie bestieg, und die engzugeschnittene Sphäre eines Pfarrers in einem kleinen Orte kam ihm nie beschränkt vor, weil er über diesen Lebenskreis hinaus nichts kannte, und darum nichts suchte und begehrte. Jetzt erst, wo er als Student in die Gesellschaft trat, und hier mit Männern aller Wissenschaften verkehrte, wurde seinem Ideenkreis ein weiterer Horizont eröffnet, und es gab Momente, in welchen er sich sehnte, frei seinen Beruf wählen, frei hinaustreten zu können in die Welt der Gedanken und der Thaten, um sich sein Plätzchen darin zu erobern. Aber schon in der nächsten Minute sanken ihm seufzend die Flügel. Jedem Streben stellte sich ja die Sorge um die bloße Existenz entgegen, an allen Pforten sah er die Worte geschrieben: „Hier ist kein Einlaß für den, welcher den Zutritt nicht erkaufen kann.“ Ein bitterer Unmuth wollte sich dann seiner bemächtigen. Finsterer zog sich seine Stirn zusammen, unmuthig stampfte sein Fuß den Boden, und mit Verachtung blickte er auf Verhältnisse und Zustände, die ihm, wie er meinte, nie zu irgend einer Geltung kommen lassen würden. An eine christliche Demuth zu denken, lag ihm fern. Wie alle jungen Theologen der protestantischen Religion, wählte er seinen Beruf nicht aus Glaubenseifer, nicht weil es ihn drängte dem Herrn zu dienen und seine Heerde zu weiden, sondern einzig, einer weltlichen Versorgung halber. Der Predigerstand bietet die beste Aussicht zu schnellem Erwerb. Sind die drei Universitätsjahre vorbei, so bedarf der junge Candidat keiner weitern Unterstützung von seinen Aeltern, er tritt dann sogleich sein Lehreramt an, und verharrt in diesem, bis ihn eine Pfarre ruft. Der Jurist dagegen hat drei Examina zu bestehen und erst nach diesen darf er auf eine Anstellung rechnen, die auch dann noch problematisch ist und oft mit keiner, oder einer sehr geringen Besoldung anfängt. Der Arzt nun gar ist auf Glück und auf die Gunst des Publikums angewiesen, und die letztere ist oft eine launische und kärgliche Spenderin. Der Kaufmann, der Landmann, brauchen Capital, wollen sie es je zu einer Selbständigkeit bringen. Dem Sohne eines armen Vaters bleibt also nur die Theologie, will er sicher in einen Hafen einlaufen. August erkannte diese Wahrheit, so wie er begann selbständig zu prüfen: ob die Bahn, auf die ihn die Umstände unwillkürlich geleitet, auch die rechte für ihn sei, er erkannte, daß seine Mutter ihn nicht länger unterstützen könne, als höchstens während dieser drei Jahre, er erkannte, daß er es Leonien schuldig sei, auch für sie die Lebensstellung zu wählen, die ihn am Schnellsten zu Amt und Brot verhälfe. So resignirte er sich dann bei einem Berufe zu bleiben, der seinem Ehrgeiz keine Sphäre bot, und ihn vielleicht auf Lebenszeit zu dem kontemplativen Leben eines Landpfarrers hindrängte, eine Existenz, gegen die seine ganze Natur sich sträubte.

Die drei Universitätsjahre schwanden dahin. August kehrte während derselben nicht in seine Heimath zurück, denn seine Mutter konnte ihn der jungen Mädchen halber nicht bei sich aufnehmen, und nöthigte ihn das Geld, welches eine Reise zu ihr gekostet hätte, zu einer Fußwanderung zu verwenden. Sie hielt diese kleine Abwechselung in seinem Leben für unerläßlich; denn sie kannte ihn und seinen Jugendmuth, so wie den ungestümen Drang seiner Natur nach einem thätigen Leben und Wirken: sie kannte seine Abneigung gegen dies todte Wissen, das sich auf seiner Bahn nie verwerthen ließ; denn eine Predigt vor seinen Bauern erforderte solcher Vorbereitungen nicht. So nahm er denn seinen Wanderstab und besuchte in dem einen Jahre die Insel Rügen, in dem andern Berlin und das dritte sah ihn in den Schluchten des Harzgebirges umherstreifen. Frisch und freudig kehrte er von solchen Wanderungen heim und grübelte dann mit neuem Muthe über staubigen Büchern, deren Inhalt er sich eigen machen sollte, um der Stunde einer Prüfung willen, die sich selbst Zweck war. Das Nutzlose dieser Aufgabe widerte ihn an, aber mit dem eisernen Willen seiner Natur lieh er sich ihr mit Gründen, die seine Vernunft ihm als dringend vorstellte. So schwanden die Jahre dahin und endlich brach der Tag herein, an dem er Rechnung ablegen sollte von dem Gebrauche seiner Zeit während einer Periode seines Lebens, die für den Mann den Ausschlag giebt für sein ganzes künftiges Geschick. Er stand jetzt vor seinen Richtern, vor den Vätern der Kirche, den hohen Consistorialräthen und beantwortete die an ihn gerichteten Fragen; er stand da, in der Absicht und mit dem Bewußtsein, er habe hier auf sein Gewissen zu beantworten, ob er jene vom Staate vorgeschriebenen Glaubensartikel gläubig annehme und sie in demselben Sinne wieder zu lehren bereit sei. Die Herren sahen ihn verwundert an, als er vor sie trat. In seiner Erscheinung lag nichts von jener ängstlichen Befangenheit, die sie an den Kandidaten der Theologie gewohnt waren, selbst der Rang und die Würde dieser Männer schien ihm nicht zu imponiren. In stolzem Jugendmuth blickte sein leuchtendes großes Auge sie offen an, über seine hohe Stirn lockte sich sein reiches braunes Haar, und die schöne kräftige Gestalt des jungen Mannes erschien durch seinen aufrechten Gang noch höher, als sie war. Er hatte so eben erst sein einundzwanzigstes Jahr zurückgelegt; der Ernst seines Lebens, das Bewußtsein sich selbst vertreten zu müssen, hatte seinem Wesen eine gewisse Selbständigkeit verlieben, die ihn über sein Alter hinaus gereift erscheinen ließ. Die Prüfung nahm ihren Anfang und gewährte ein befriedigendes Resultat. So schien es wenigstens. Was während derselben in des Jünglings Seele vorging, das ahnten die gelehrten Herren wenig. Daß ihr Anblick, ihr Wesen, ihre eng zugeschnittene Auffassung der Dinge einen unverlöschlichen Eindruck auf ihn machten, konnten sie nicht vermuthen; daß es in seinem Innern dabei lauter und lauter rief: so willst du, so darfst du nicht werden! hätten sie nicht vermuthet.

Er reiste nun sogleich zu seiner Mutter ab und diese empfing ihn, wie sich erwarten läßt, mit dem ganzen Stolz und der ganzen Seligkeit, die das Wiedersehen eines solchen Sohnes in ihr erwecken mußte: sie sah der Zukunft nun mit heiterem Muthe entgegen, sie durfte hoffen ihn in den nächsten Jahren versorgt zu sehen, und noch Enkel auf ihren Knien zu wiegen. Sie war ganz Heiterkeit, ganz Glück! Auch Leonie begrüßte ihn tief bewegt; doch sprach sie ihre Freude nicht so unverholen aus, wie die Mutter, und nur der Strahl ihres Auges verrieth, was das Herz bewegte. Es war ein schönes Paar; wenn man sie so beisammen sah, mußte man sich sagen, diese scheinen für einander geschaffen. Auch in dem tiefen Ernst ihres Wesens glichen sich Beide. Man sah ihnen an, daß trotz ihrer Jugend das Leben ihnen schon seine Aufgaben gestellt, die sie zu einem beständigen Insichgehen zwangen.

Auguste hatte ihre Schülerinnen zu entfernen gewußt, während ihr Sohn bei ihr war, und stille Ruhe herrschte im Hause. Sie wollte das Glück dieses Wiedersehens ungetrübt genießen; denn wie lange schon hatte sie nicht von diesem ersehnten Augenblick geträumt, der für eine Mutter das Höchste ist, was die Erde zu bieten hat, – das einzige geliebte Kind an ihr Herz zu drücken! In der Mittagsstunde des nächsten Tages führte Leonie den jungen Mann zu ihrer Mutter. Sie geleitete ihn diesmal selbst: denn sie meinte ihr jetzt die Mittheilung machen zu können, daß ihr Schicksal unwiderruflich an das seinige gebunden sei. – Die Frau Pastorin Sommer saß in einem Armsessel am Fenster, durch das die Sonne freundlich schien; in der Vertiefung desselben hing ein Käfig, in dem ein Vogel schrillend pfiff, und zu ihren Füßen schlummerte auf einer warmen Decke eine alte und eine junge Katze. Sie selbst schien an Umfang noch bedeutend zugenommen zu haben, ihr Gesicht hatte den vorherrschenden Ausdruck der Neugierde, jenen Späherblick des monotonen Alterlebens angenommen, und ihre Hand hielt eine ungeheuere Decke, an der sie arbeiten mochte.

August begrüßte sie auf die verbindlichste und ehrfurchtvollste Art; denn sie war ja Leonie’s Mutter, und als solcher gebührte ihr dieser Respect. „Sie äußerten einmal gegen den Knaben,“ sagte er, „daß Sie ihn auch als Sohn betrachten möchten; so hoffe ich, daß Sie mich auch jetzt noch in dieser Eigenschaft annehmen!“

Sie sah ihn eine Minute fragend an. „Jetzt sehe ich wie die Sachen stehen!“ brach sie dann aus. „Das war es! Darum schlug sie Ihren Bruder aus, und darum auch wollte sie den reichen Pastor Röder durchaus nicht vor sich kommen lassen. Ich arme unglückliche Frau! Statt an meinem einzigen Kinde die Freude zu erleben, sie wohl versorgt zu sehen; statt daß ihr Herz [182] sie lehren sollte Blumen zu streuen auf den Pfad der einsamen, entbehrenden Wittwe; statt dessen wählt sie das Schicksal einer Candidaten-Braut. O, Schatten meines ewig unvergeßlichen Gatten, sei mir Zeuge, daß ich das nicht verdient habe um dies Wesen, welches ich Kind nenne.“ Sie brach in Thränen aus.

August zog sich tief beleidigt zurück und Leonie folgte ihm mit sorgend ängstlichem Blicke. Als sie zusammen in das Zimmer seiner Mutter traten, nahm sie seine Hand in ihre beiden und blickte bittend zu ihm auf: „Rechne ihr das nicht an, mein Guter!“ sprach sie innig. „Sie gehört zu denen, von welchen man sagen kann, sie wissen nicht was sie thun. Die Arme! Sie kann nur sich und Andere unglücklich machen, und ohne daß sie sich je gesteht, es sei dem so. Denke nicht weiter daran!“

„Es betrübt mich mehr um Dich, als um mich, Leonie! Diese Art, die Sache zu nehmen, stört unser Verhältniß, das jetzt der Billigung Deiner Mutter bedarf.“

„Warum jetzt, August? Es ist dazu noch Zeit genug, wenn wir derselben ernstlich bedürfen, und dann versagt sie sie nicht, dazu kennen wir sie ja genug.“

Er schwieg; doch verrieth sein träumerisch irrender Blick, daß er der Sache nachdachte. Jedoch wurde während seiner Anwesenheit keine Aeußerung laut, und beide Frauen hüteten sich sorgfältig, durch irgend ein Wort die Rede auf diesen Gegenstand zu lenken. – Sein nächster Schritt war nun, die Stelle eines Hauslehrers zu suchen, und diese hatte sich auch sogleich gefunden. Ein junger Mann, der Talente besitzt, ist stets eine werthvolle Acquisition für ein solches Amt und darf nicht fürchten, unbeschäftigt zu sein. Auguste sah ihn mit sorgendem Mutterblick dahin aufbrechen. Seine Füße unter einen fremden Tisch setzen, wie die gebräuchliche Phrase lautet, das mußte gerade ihm sehr schwer werden, fühlte sie; aber es ließ sich ja nicht ändern. War es doch das Schicksal aller jungen Theologen, wie konnte er, der unbemittelte junge Mann, der Sohn einer armen Predigerwittwe, für sich auf ein unabhängiges Loos Anspruch machen! – Ohne ein Wort zu sagen, nahm er die gebotene Stellung an und seine Mutter hütete sich wohl, ihm zu gestehen, daß sie voraussehe, er werde sich in dieser Lage sehr unglücklich fühlen. Im Gegentheile pries sie ihm sein Geschick, das ihn zu einer Familie führe, deren Protektion ihm bald zu einer Wahlpfarre verhelfen könne.

Beim Abschiede war August diesmal ungewöhnlich bewegt. Schon hatte er den Fuß auf den Tritt des Wagens gesetzt, der ihm von seinem künftigen Prinzipal, dem Kammerherrn von Rabenhorst, gesandt war, da kehrte er noch einmal unter die Thüre zurück und drückte Mutter und Braut abermals an sein Herz mit einem Ausdruck des Kummers, der Beiden tief in die Seele schnitt. Sie begriffen nicht, was ihn so sehr bewegte, und kamen in ihren Gesprächen häufig darauf zurück, bemüht, durch öfteres Wiederholen aller Umstände sich klar zu machen, was in seinem Gemüthe vorgegangen.

August erreichte indessen den Ort seiner Bestimmung und wurde von der Frau Kammerherrin von Rabenhorst, in Abwesenheit ihres Gatten, empfangen und in sein neues Amt eingesetzt. Sein Zimmer wurde ihm angewiesen, die beiden Söhne, Knaben von zehn und zwölf Jahren, präsentirten sich als seine Schüler, und da der Abend jetzt bereits hereinbrach, meldete man ihm, daß die gnädige Frau ihn zum Thee erwarte. Er stieg hinab; seine Lippe war eng zusammengepreßt, sein Fuß trat fest auf die Dielen, in seinem ganzen Wesen malte sich ein Etwas, das wie Kampf und Herausforderung aussah. Wurde es ihm etwa so schwer, das Brot der Abhängigkeit zu essen?

Die Frau Kammerherrin winkte ihm mit herablassender Freundlichkeit, ihr gegenüber am Theetische Platz zu nehmen, an welchem noch einige Damen saßen, die ihm nicht vorgestellt wurden. Mit dem Frageton eines Groß-Inquisitors richtete sie nun das Wort an ihn und glaubte sich berechtigt, jede Auskunft über sein Leben, sein Denken und Empfinden, seine Familienverhältnisse und seine Studien zu erhalten, während ihm nicht gestattet wurde, sich auf gleiche Art in einem Kreise zu orientiren, dessen Mitglied er auf längere Zeit zu sein berufen war. Seine Stirn zog sich düster zusammen, während er mit kalter Höflichkeit artige, aber kurze Antworten ertheilte. Er fühlte es, daß man ihm durch diesen Ton seine Stellung im Hause anzuweisen beginne, und sein Selbstgefühl empörte sich, auf solche Art Rede zu stehen.

Als die neunte Stunde schlug, bemerkte die Frau Kammerherrin, daß ihre Söhne um diese Zeit zu Bette gingen, und sie ihm sehr dankbar sein würde, wenn er genau darauf halte, daß sie sich pünktlich aus dem Salon entfernten und dann ohne Zögerung in ihr Schlafzimmer verfügten. Auch sei sie sehr ängstlich mit Licht, und wenn es ihn nicht zu sehr belästige, so würde sie es sehr erkennen, wenn er jedesmal selbst nachsähe, ob sie es ausgelöscht; denn einem Diener könne eine Mutter eine Sorge der Art nicht mit ganzer Beruhigung anvertrauen. August stand auf, stellte sich hinter seinen Stuhl und antwortete ihr mit einer stummen Verbeugung; dann entfernte er sich. „Er versteht noch nicht rückwärts aus der Thüre zu gehen;“ sagte Frau von Rabenhorst, als er fort war, „sonst ist er ein hübscher und für seinen Stand recht vornehm aussehender junger Mann.“

August Liebig wanderte indessen mit großen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, und so wandernd fand ihn noch die stille Mitternacht, als schon das ganze Haus in tiefes Schweigen begraben lag. Tiefe Seufzer entwanden sich seiner Brust. „Und das soll ich ertragen?“ murmelte er in sich hinein. „Der erste Knecht dieses Hauses soll ich sein! – O meine Mutter! Meine Mutter! Wärest Du nicht, wäre es nicht aus Schonung für Dich und Dein theures Leben, wie lange schon hätte ich den Wanderstab ergriffen und wäre hinausgezogen in die Welt, als ein freier Mensch! Aber so! So fordert die Sohnespflicht, daß ich leide und dulde und langsam untergehe. Tropfen nach Tropfen schlürfe ich das bittere Gift hinunter, und kann den Kelch nicht von der Lippe entfernen, die sich sträubt mir den Saft zuzuführen, der meinen Lebenskeim vernichtet. Leonie ahnt was in mir vorgeht, ihre starke Seele durchlebt mit mir die ganze Pein meiner Existenz, ohne daß wir diesem Verstehen Worte leihen. Mittheilungen der Art machen weich, sie entnerven, sie führen zur Selbstbespiegelung und weisen endlich auf das Mitleid an, das können wir nicht brauchen. Selbstachtung gehört bei uns zum Leben, und Selbstachtung muß uns auch im Tode nicht fehlen. Andere nennen das vielleicht Stolz. Gleichviel. – Jedenfalls findet dies Gefühl seinen Zielpunkt in uns selbst, wir leiten nichts von Außen her, wir suchen nicht Erhöhung desselben durch Beziehung zu der Welt. Es ist die sittliche Kraft in uns, welche jenes gesteigerte Selbstbewußtsein verleiht, das uns Jedem ebenbürtig gegenüber stellt, sei er wer er wolle; es ist diese sittliche Kraft, welche es unmöglich macht, Demjenigen gegenüber die Maske der Demuth zu tragen, der nicht das Ideal der Menschenwürde in unsern Augen repräsentirt. Darum auch taugen wir nicht in diese Welt des Scheins; darum auch werden wir nie einen Platz in derselben finden, der unserer würdig wäre, denn wir können Beide nicht heucheln. Und dabei habe ich mir selbst doch das Wort gegeben, Leonie’s schützender Genius zu sein, sie zu hegen, zu pflegen, zu lieben, wie diese Krone aller Frauen es verdient.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Königin des schwarzen Meeres.

Der zwischen Rußland und den Westmächten bevorstehende Krieg zeigt uns in den bisher von beiden Seiten getroffenen Vorbereitungen das eigenthümliche Bild, daß der eine Theil, Rußland, den Kern seiner Wehrkräfte in einer imposanten Landmacht vereinigt, und der andere Theil, Frankreich und England, eine kolossale Seemacht dagegen in’s Feld stellt. Die 50,000 Mann englisch-französischer Hülfstruppen, welche zu dieser Stunde bereits theilweise in der Türkei angelangt sind, ändern an diesem eigenthümlichen Bild wenig, da sie zur Führung eines nachdrücklichen Landkrieges eine viel zu geringe Zahl bilden. Schon vor Jahren sagte einmal ein geistreicher Publicist: „Ein Krieg zwischen Rußland und England käme einem Kampfe zwischen dem Löwen und Wallfische gleich,“ und so weit der gegenwärtige Krieg sich bestimmter gestaltet, findet man jenen Vergleich nur bestätigt. [183] Rußland – mit allen Mitteln zu Lande, die Westmächte – mit allen Mitteln zur See, solcher Art scheint der Charakter des Kampfes werden zu wollen.

Rußland befindet sich dabei insofern im Nachtheil, als es die blühenden Städte seiner Küsten in der Ostsee und im schwarzen Meere den Händen seiner Feinde, dem theilweisen Verderben Preis gegeben sieht, und daß es für jedes der schlechten Pfänder, die es etwa zu Lande nimmt, befürchten muß, an seinen Küsten doppelte Revanche genommen zu sehen. In der vorigen Nummer der Gartenlaube zeigten wir den Lesern das bedrohte Reval in der Ostsee, heute führen wir ihnen Odessa vor. Odessa, die Königin des schwarzen Meeres.

Odessa ist, wie das ganze Kaiserthum Rußland, eine Schöpfung der Neuzeit. Vor nicht viel mehr als fünfzig Jahren war es hier noch kahl und häuserleer, brandete das Meer an eine unbewohnte Strecke, die erst durch den Frieden von Jassy an Rußland abgetreten wurde. Die Kaiserin Katharina II. erkannte schnell die Wichtigkeit dieser Lage zwischen den Mündungen des Dniestr und Dniepr, und legte 1794 den Grund zu der Stadt Odessa.

Odessa.

Zu ihrer vollen Bedeutung erhob sich jedoch die schön und regelmäßig erbaute Stadt erst unter dem Kaiser Alexander, und zwar durch die Fürsorge des zum Gouverneur von Odessa ernannten Herzogs von Richelieu, der somit auch als der eigentliche Begründer Odessa’s betrachtet wird. Nicht minder als der Herzog von Richelieu ließ sich Fürst Woronzow die Wohlfahrt Odessa’s, wie überhaupt aller russischen Häfen am schwarzen Meere, angelegen sein. Unter ihm nahm Odessa einen unerwarteten Aufschwung, und er auch war es, durch dessen Sorge die öden Umgebungen der Stadt in zum Theil blühende Strecken umgeschaffen wurden. Gegenwärtig zählt Odessa mehr als 70,000 Einwohner, und erinnert uns in seinem allmäligen Aufsteigen an die Entstehungsgeschichte so vieler amerikanischer Städte.

In den von verschiedenen Festungswerken geschützten Häfen können bequem und sicher 300 Schiffe liegen; die Zahl der ankommenden und abgehenden Schiffe beläuft sich jährlich auf etwa 2000, und ist hauptsächlich seit 1817, wo der Hafen auf dreißig Jahre zu einem Freihafen erklärt wurde, bedeutend gestiegen. Die Bevölkerung Odessa’s bildet ein Gemisch der verschiedensten Nationen; Franzosen. Engländer, Deutsche, Italiener, Griechen, Armenier, Juden trifft man hier in Masse, und in ihren Händen befindet sich auch der gesammte Handel, der vorzugsweise in der Ausfuhr von Weizen nach allen Ländern Europa’s besteht.

Dieser Getreidehandel ist es ganz wesentlich, dem Odessa seine Wichtigkeit, sein Aufblühen, seinen Reichthum verdankt, und um ihn hier immer mehr zu concentriren, hat die russische Regierung kein Mittel unversucht gelassen. Die begünstigte Versandung der Sulinamündung, worüber die handeltreibende Welt seit vielen Jahren Klage führte, und die England zu zahlreichen Vorstellungen in Petersburg veranlaßte, gehört zu diesen Mitteln.

Die Getreideausfuhr längs der Donau herab aus Bulgarien, der Moldau-Walachei, und selbst Ungarn wurde dadurch ungemein erschwert, und Odessa wirklich auf gewaltsame Weise der Bestimmung näher gerückt, das einzige Entrepot für den Getreidehandel im schwarzen Meere zu werden. Im Jahre 1847 repräsentirte die Ausfuhr einen Werth von ca. 35 Millionen Silberrubel.

Der Krieg, des Handels und Verkehrs bitterster Feind, hat Odessa in seinen ersten Wirkungen bereits getroffen, indem die russische Regierung selbst alle Getreideausfuhr streng verboten hat; das von englischen und französischen Schiffen geladene Getreide hat sogar wieder ausgeschifft werden müssen, und alle Fahrzeuge sind mit Aufsichtswachen besetzt worden. Die so dem Handel zugefügten Nachtheile sind außerordentlich, und werden, wie in Odessa, so in allen Küstenstädten des russischen Reiches den Krieg verwünschen machen, der, wenn auch nicht mehr so barbarisch geführt, daß man offene Städte in Grund und Boden schießt, doch immer noch den Ruin derselben in seinem Gefolge hat. Mehr als je scheint Odessa in diesem Augenblicke bedroht, wo die wiederum in’s schwarze Meer eingelaufenen englisch-französischen Flotten, wie es heißt, der reichen Handelsstadt einen Besuch zugedacht haben.

[184]
Populäre Chemie für das praktische Leben.
In Briefen von Johann Fausten dem Jüngeren.
Dritter Brief
Die Verwitterung der Gesteine in ihrer Beziehung zum Ackerbau und den Gewerben.

Aehnlich wie in der Wissenschaft eine jede Entdeckung zur Quelle wird für eine Menge neuer Wahrnehmungen, indem an die Beantwortung der einen sich sogleich eine Menge neuer Fragen anreiht, die zur Lösung anspornen, daher neue Arbeiten veranlassen, die nun ihrerseits wieder Stoff zu andern liefern und so bis in’s Unendliche fort, – bieten auch mir meine Briefe reichlich Gelegenheit zu neuen, indem ich oft nur Andeutungen geben kann, die erst später zur Ausführung gelangen. Sogleich in den vordersten Zeilen meines ersten Briefes berührte ich im Vorübergehen die große Wichtigkeit, welche das Walten des chemischen Prozesses in der Natur noch heute ausübt. Ist man auch geneigt anzunehmen, daß die großen Umwälzungen, welche die Erde in ihrer Jugend erlitten hat, nicht wiederkehren, scheint auch die starke Kraft, welche das wilde Chaos ordnete, gebrochen, so ist nichts destoweniger doch eben so gewiß, daß unser Erdkörper, sowohl die einzelnen Mineralien, als ganze Gebirge, unausgesetzt von den Einwirkungen der Bestandtheile der atmosphärischen Luft, die bei ihrem Zerstörungswerke von dem Licht und der Wärme unterstützt werden. angegriffen wird. Und doch ist die zerstörende Kraft eine so schwache, daß wir die rastlose Thätigkeit derselben nur erst nach einem sehr langen Zeitraume wahrnehmen können.

Dieser Zerstörungsprozeß, der mit dem Namen „Verwitterung“ belegt worden, ist schon lange bekannt; eine nähere Untersuchung der Veranlassung und der Endproducte der Thätigkeit verdanken wir erst der neuesten Zeit. Auch hier war es die Chemie, welche die Mittel an die Hand gab, das geheimnißvolle Walten der Natur zu enthüllen.

Unter den Bestandtheilen der Luft sind es besonders der Sauerstoff wegen seiner ausgezeichneten Verbindungsfähigkeit mit allen übrigen Körpern, und mehr noch, trotz der geringen Mengen, in denen sie in der Luft enthalten sind, das Wasser, theils für sich allein, theils in Gesellschaft mit dem Sauerstoff, und die Kohlensäure, womöglich in Vereinigung mit dem Regen-, Schnee-, Fluß- und Quellwasser, die bei diesem in seinen Resultaten großartigen Vorgange die Hauptrolle spielen. Der Stickstoff, die bei Weitem größte Menge der Luft ausmachend, bleibt hierbei zwar nicht gleichgültig, doch tritt er nur insofern thätig auf, als er besonders die chemische Einwirkung des Sauerstoffs mildert. In diesem Vorgange spricht sich deutlich der Unterschied der unorganischen – unbelebten – und der organischen – belebten – Natur aus. Der Feind der einen ist der Freund der andern; Luft, Wasser, Licht und Wärme, ohne die Pflanzen, Thiere und Menschen nicht bestehen können, zerstören nicht allein einzelne Mineralien, sondern sogar ganze Gebirgsmassen und diese Zerstörung muß stattfinden, um dem organischen Leben die Bedingungen seines Seins zu gewähren. Denn zu diesen gehören nothwendig, außer den bereits angeführten, gewisse mineralische Stoffe, ohne die weder die Pflanzen, noch die Thiere und Menschen bestehen können. Die Asche, welche die Pflanzen beim Verbrennen zurücklassen, sind nicht zufällige oder unwesentliche Bestandtheile, wie man dies lange annahm, sondern durchaus für das Gedeihen erforderlich. Die Pflanze entzieht sie dem Boden einmal zu ihrem eigenen Nutzen, dann aber ist ihr auch die Aufgabe zu Theil geworden, diese Stoffe für die Aufnahme im thierischen Körper geschickt zu machen; und letzteres scheint der Hauptgrund für die Anwesenheit der mineralischen Bestandtheile in den Pflanzen zu sein. Ohne diese Verwitterung aber ist keine Ackererde denkbar.

Wie ist nun diese entstanden? Sind auch die Felsmassen, welche man das Knochengerüste unserer Erde nennen kann, dem Anschein nach fest und dicht, so findet das Wasser dennoch überall Eingänge und einmal eingedrungen, vermag selbst der größte Koloß der allmäligen Zerbröckelung durch diesen winzigen Feind nicht zu widerstehen. Theilweise ist die Wirkung eine mechanische, indem das Wasser sich beim Gefrieren beträchtlich ausdehnt und so kleinere oder größere Stücke absprengt, die in die Tiefe hinabrollen und hier demselben Geschick verfallen, bis sie gänzlich zerstört, zu Staub zerbröckelt sind. Andererseits aber ist die Wirkung auch eine chemische; schon an und für sich benagen die eben aufgeführten Feinde die bloßliegende Oberfläche der Gesteine und bereiten so das Eindringen des Wassers vor, indem sie die feste Masse auflockern und so die Pforten öffnen; dann aber sind in einem jeden Wasser Sauerstoff und Kohlensäure enthalten, die, in das Innere eingedrungen, einen Zersetzungsprozeß bedingen und so Gelegenheit geben, zur Bildung neuer Verbindungen, die dem Einfluß des Wassers leichter unterliegen; sie werden ausgewaschen und fortgeführt, das Gestein wird lockerer und das Wasser erhält um so mehr Macht, seine zerstörenden Wirkungen zu üben.

Auf Versuche gestützt, die der Chemiker freilich in einem sehr kleinen Maßstabe im Laboratorium anstellt, sagt er zwar, diese oder jene Substanz ist unlöslich in Wasser, aber er weiß sehr wohl, daß dieser Ausspruch nur in gewisser Beziehung richtig ist, bedingt durch die Beschränktheit der Mittel, die ihm zu Gebote stehen. Im großen Haushalt der Natur ist von einer Unlöslichkeit keine Rede; sie gebietet über mächtigere, wenngleich sehr einfache Mittel und diese sind: die Massen, die Zeit, starker Druck und hohe Temperatur. Die Macht dieser Bundesgenossen hat bereits auch der Chemiker erkannt und sie sich dienstbar gemacht, so weit seine geringen Mittel es zulassen.

Ist die Zerstörung durch die Einwirkung der Atmosphäre beendet, so werden die Trümmer theils von dem Regen fortgeschwemmt, theils von den Flüssen in’s Meer geführt, wo sie sich ablagern. Noch heute finden solche Ablagerungen in den Flüssen statt, sobald der rasche Lauf gemäßigt worden ist. Daß in früherer Zeit diese Zerstörung in einem weit großartigeren Maßstabe stattgefunden hat, dafür geben uns die geschichteten Bildungen unserer Erde, Absätze der verwitterten Gesteine aus dem Wasser, die später aus demselben hervorgehoben sind, Zeugniß. Mit ihrem Auftreten waren die Bedingungen des organischen Lebens erfüllt, das Erscheinen desselben vorbereitet.

Vermögen wir auch dem Werke der Zerstörung selbst mit unserem Auge nicht zu folgen, nehmen wir auch nicht wahr, daß sich die Gebirgsmassen im Laufe der Zeit auffällig vermindern, so lehren uns die Flüsse doch, daß die Einwirkung der Atmosphäre auf den festen Erdkörper ungehindert fortgeht. Die ganze Wirkung können wir nicht berechnen, da die nöthigen Grundlagen fehlen. Ueber die Massen, welche die Flüsse dem Meere zuführen, haben wir nur wenige und unsichere Angaben, die aber doch zeigen, daß diese Vorgänge gerade nicht unwesentlich sind, wenngleich die fortgeführten festen Theile, im Hinblick auf die ganze Erde, sich dem Raume nach nur winzig klein herausstellen. So z. B. führt der Rhein alle 5 Jahre ungefähr eine Kubikmeile Wasser in die Nordsee; die festen Bestandtheile betragen davon den tausendsten Theil, so daß er also in 5000 Jahren eine Kubikmeile davon in dem Meere absetzt. Hingegen gelangen mit den drei mächtigsten Strömen Asiens: Obi, Jenisei und Lena, die zusammen 37 Mal größer sind als der Rhein, in 500 Jahren 72/5 Kubikmeilen feste Masse in das Eismeer.

Hat die Verwitterung mit dazu beigetragen, den Boden für die Pflanze zu bereiten, so sorgt sie auch unausgesetzt dafür, daß es den Pflanzen nicht an Nahrung fehle. Das mit Kohlensäure beladene Wasser, nach allen Richtungen den Erdboden durchdringend, nimmt die Stoffe auf, welche die Pflanze zu ihrem Gedeihen bedarf und führt diese den Wurzeln zu. Neuere Untersuchungen eines amerikanischen Chemikers haben uns die große auflösende Kraft des Kohlensäure enthaltenden Wassers gegen Mineralien deutlich vor Augen geführt. Er unterwarf eine große Reihe dieser Gebilde der Einwirkung des in der Natur überall verbreiteten Auflösungsmittels und so gelang es ihm stets nicht unbeträchtliche Mengen des Aufgelösten nachzuweisen.

Gleichfalls von großer Bedeutung ist die Verwitterung der Gesteine auch für den Gewerbebetrieb. Hier bietet sich uns Gelegenheit einige Beispiele dieses merkwürdigen Vorganges näher in’s Auge zu fassen, durch die wir einen ausgedehnten und geordneten [185] Fabrikbetrieb der Natur kennen lernen werden; Fingerzeige, die der Mensch sich nutzbar zu machen gewußt hat.

Unter allen Schwefelmetallen ist besonders das in verschiedenen Arten unter den Namen Speerkies, Strahlkies, Kammkies, Leberkies und Haarkies in großer Menge in der Natur vorkommende Schwefeleisen geneigt durch den Einfluß des Sauerstoffs und der Feuchtigkeit eine Veränderung zu erleiden und in Eisenvitriol – schwefelsaures Eisenoxydul überzugehen. Auf dieses Verhalten hat man eine hüttenmännische Gewinnung des Eisenvitriols, der besonders in der Färberei und dann auch zur Darstellung der rauchenden Schwefelsäure viel gebraucht wird, begründet. Man überläßt ihn, in großen Haufen aufgeschichtet, sechs Monate hindurch der Einwirkung der Luft, in welcher Zeit die Umwandlung vollendet ist. Man zieht das neue Product einfach mit Wasser aus und dampft es ein, damit der Eisenvitriol in Krystallen anschieße. Oft hat man auch nicht einmal die Laugen zu bereiten, da diese sich in den Grubenwässern schon darbieten, die den Eisenvitriol aus dem Gesteine selbst ausgezogen haben. Die ganze Arbeit beschränkt sich hier auf das Verdampfen der Grubenwässer. Aehnlich ist der Vorgang beim Kupferkies – Schwefelkupfer. Hier bereitet man aus dem Grubenwasser entweder Kupfervitriol oder man schlägt aus ihnen dadurch, daß man altes Eisen hineinlegt, das Kupfer als Metall nieder, wobei das Eisen sich mit der Schwefelsäure verbindet und als Vitriol wieder gewonnen werden kann.

Die Umwandlung der Zinkblende – des Schwefelzinks – in Zinkoxyd, wobei der Schwefel durch den Sauerstoff der Luft abgeschieden und ersetzt wird, würde für die Bereitung des Zinks, das in neuerer Zeit vielfache Anwendung erfahren hat, von besonderer Wichtigkeit sein, wenn sie in einem ausgedehnteren Maßstabe stattfände, oder wenn die Bedingungen dieser Veränderung so genau erforscht wären, daß sie künstlich hervorgerufen werden könnten. Die Zinkblende gehört mit zu den am häufigsten vorkommenden Zinkerzen, das Metall selbst ist daraus aber so schwierig herzustellen, daß das Erz bis jetzt dazu nicht benutzt wird, während gerade andere Metalle z. B. Blei hauptsächlich aus den Schwefelverbindungen gewonnen werden.

Von besonderem Interesse ist die einfache Weise, auf welche die Natur Bittersalz – schwefelsaure Magnesia – fabricirt; sie wird uns klar durch einen Blick auf das geognostische Vorkommen zweier Mineralien: des Gypses – schwefelsauren Kalkes – und des Dolomits, Bitterspaths – einer Verbindung von kohlensaurer Magnesia und Kalk – und ihr Verhalten gegen Wasser. Besonders der fasrige Gyps tritt in der Natur auf entweder wechselweise geschichtet mit buntem Sandstein oder zwischen diesem und Muschelkalk, in allen diesen Gesteinen kommt nun Dolomit vor, der im Sandstein oft als Bindemittel dient, um die kleinen Quarztheilchen zusammen zu halten. Oft ist der Gyps hier auch unmittelbar von dolomithaltigem Mergel umgeben. Freilich ist das Auflösungsvermögen des Wassers für Gyps ein äußerst geringes, so daß erst 460 Theile Wasser im Stande sind, einen Theil Gyps aufzulösen, – aber doch immer beträchtlich genug, um diesen interessanten Zersetzungsprozeß durchzuführen.

Große Wassermassen, von der Oberfläche der Gewässer und der feuchten Erde als Dunst in die Luft aufgestiegen, fallen aus dieser als Regen auf die Erde nieder und durchdringen sie nach allen Richtungen; auch durch die Gypslager sickert es hindurch und beladet sich auf diesem Wege, so viel es vermag, mit Gyps. Gelangt es nun weiter in die dolomithaltigen Schichten, so macht die Schwefelsäure ihre größere Verwandtschaft zur Bittererde geltend. Sie verläßt den Gyps und bildet mit der Bittererde das bekannte und viel gebrauchte Bittersalz, während auf der andern Seite aus dem Gyps Kalkspath – kohlensaurer Kalk entsteht, der unlöslich ist und daher zurückbleibt. Auf gleiche Weise kann der Chemiker diese Umwandlung in kurzer Zeit ausführen, wenn er in Gypslösung kohlensaure Bittererde schüttet. Diese Thatsache erklärt uns die Entstehung des in der Natur vorkommenden Bittersalzes.

Die rastlose Bewegung des Wassers im Schooße der Erde läßt es nun wieder in feinen Spalten und Rissen zur Oberfläche aufsteigen und hier verfällt es der Macht der Sonnenwärme; das Wasser verdampft und das Salz bleibt zurück, namentlich im Sommer manche Gegenden wie mit einer Schneedecke bekleidend. Dem Menschen bleibt nur übrig zu sammeln, was die Natur für ihn fabricirt hat; er erntet, wo er nicht säete.

Auf keinem andern Grunde, als diesem schönen Beispiel des Kreislaufes gegenseitiger Bildung und Zerstörung in der Natur, der Grundlage des gesammten Lebens auf der Erde, beruht die Entstehung der geschätzten und weit bekannten Bitterquellen von Seidschütz, Sedlitz und Püllna in Böhmen und von Epsom in England. In Böhmen hat man der Natur das Geheimniß abgelauscht, man fabricirt das Mineralwasser auf die Weise, daß man Gruben in den Mergel gräbt, in denen sich nach und nach Wasser ansammelt und die Zersetzung einleitet. Je länger es darin steht, um so reichhaltiger wird es, weil das Wasser mit der Zeit verdampft. Dieser Umstand hat hauptsächlich mit zur Gründung der Fabrikation der künstlichen Mineralwasser, die jetzt in einem ausgedehnten Umfange zum Heile der leidenden Menschheit betrieben wird und auf die wir bei Gelegenheit einmal ausführlicher zurückkommen werden, mit beigetragen. Es bedurfte der Jahrtausende, um die Richtigkeit eines bereits von Aristoteles aufgestellten Satzes: „die Natur des Wassers hängt ab von den Erdschichten, durch die es gegangen“, darzuthun. Dies ist eines der unzähligen Beispiele, die dem Menschen Bescheidenheit predigen; es zeigt uns, wie wenig Ursache man hat, dem menschlichen Geiste maßlose Hymnen zu singen.

Es sollte mir leicht werden, von der natürlichen Industrie, die auf der Verwitterung beruht, eine noch viel reichhaltigere Musterkarte zu liefern; doch ich muß mich bescheiden, um den mir zugemessenen Raum nicht zu sehr zu überschreiten. Nur auf die Alaunerde und die Thone will ich hier noch eingehen, da sie für unsere Industrie von so großer Wichtigkeit sind. Die erstere bildet die natürliche Grundlage bei der Fabrikation des Alauns, der hauptsächlich in sehr großen Mengen in der Färberei und bei dem Farbendruck, in der Weißgerberei, bei der Fabrikation der Kerzen und des Kobaltblau gebraucht wird, und die letztere bei unserer sammten Thonwaaren- und Porzellanfabrikation.

In dem Alaunschiefer – Kieselsäure und Thonerde, gemengt mit reichlichen Mengen von Kohle – findet sich fein eingesprengt Schwefeleisen, aus dem sich durch die Einwirkung des Sauerstoffs und des Wassers, unter anderem auch freie Schwefelsäure bildet, die nun ihrerseits wieder auf den feinzertheilten Thon wirkt, und sich mit der Thonerde daraus verbindet. Bei diesen Vorgängen erzeugt sich so bedeutende Wärme, daß da, wo die Lager zu Tage ausgehen, oder wo sie bloßgelegt sind, – also dem Sauerstoff der Luft freier Zutritt gewährt ist, - Feuer ausbricht, welches in dem reichen Kohlenstoff hinlänglich Nahrung findet. Erdbrände dieser Art sind nicht selten. Hierauf gründet sich die künstliche Darstellung des Alauns, indem man die Alaunerze thonige Gesteine, als Alaunstein, Alaunschiefer, auch Thonschiefer, Stein- und Braunkohlen, welche die Bedingungen zur Bildung der schwefelsauren Thonerde in sich vereinigen, an der Luft verwittern läßt, dann das neue Gebilde mit Wasser auszieht und durch Zusatz von Aschenlauge, Pottasche oder Ammoniak enthaltendem Harn in Alaun umwandelt. Auch hier ist die Natur Lehrmeisterin des Menschen.

Im ausgedehntesten Umfange und als das wichtigste Produkt der Verwitterung tritt die Thonerde auf. Trotz der anscheinenden Festigkeit und der Krystallgestalt der zahlreichen Feldspatharten und verwandten Gesteine – Verbindungen von Kieselsäure, Thonerde und Alkalien, welche letztere oft ganz oder theilweise durch Kalk, Bittererde etc. ersetzt sind – unterliegen sie dennoch den unausgesetzten Angriffen der Kohlensäure und des Wassers; die Alkalien und deren Stellvertreter werden entführt, die regelmäßige Krystallgestalt zerstört und Kieselsäure und Thonerde bleiben in einem sehr fein zertheilten Zustande zurück, dem die Thone – denn dies sind im Allgemeinen die Zersetzungsprodukte, – ihre Bildsamkeit, die Eigenschaft mit Wasser einen Teig zu bilden, der einerseits weich genug ist, um sich selbst in die feinsten Vertiefungen einer Form eindrücken zu lassen, andererseits aber durchaus keine Elasticität besitzt, so daß er jeden einmal empfangenen Eindruck treu bewahrt, verdanken. Ebenso mannigfaltig, wie die Produkte, ist auch die Entstehung dieser Gebilde; es hat von Seiten der Wissenschaft eine eiserne Ausdauer erfordert, hier das geheime Walten der Natur zu enthüllen. Die meisten Thone sind verunreinigt durch eine Menge von Stoffen, die ihrem Ursprunge fremd sind und meistens, wie ihre ursprünglichen Gesellschafter, die Alkalien, gleichfalls durch die Gewalt des [186] Wassers dem Orte ihrer Entstehung entrückt und in Umgebungen versetzt, die keinen Schlüssel zu dem Räthsel der Thonbildung lieferten. Als man aber einige wenige Fundorte entdeckt hatte, wo die Reinheit der Produkte, die man in den verschiedenen Stadien ihrer Entstehung verfolgen konnte, und die umgebenden Gesteine wahrscheinlich machten, daß auch hier die Bildung vor sich gegangen, da gelang es dem angestrengten Studium auch hier, trotz der verwirrenden Mannigfaltigkeit, in der diese Zersetzung auftritt, Licht zu verbreiten und das Räthsel der Natur chemisch zu entziffern. Eben aus dem verschiedenen Verhalten dieser großen Klasse von Mineralien gegen die Verwitterung hat man nun weiter zurückschließen können auf ihre ursprüngliche Entstehung.

Besonders dem Landwirth ist zu empfehlen, sich bei der Natur Rath zu holen und sich eine genaue Kenntniß der Vorgänge bei der Verwitterung zu verschaffen, wenn er vorhat, die Ertragfähigkeit seiner Aecker zu verbessern. Einen Beleg von der Wichtigkeit einer solchen Einsicht liefert ihm der Mergel, der je nach seiner Zusammensetzung und seinem Verhalten gegen die Einwirkung der Atmosphäre auch eine ganz verschiedene Wirkung auf den Ackerboden ausübt. Während ein jeder Mergel besonders Wasser und Luft anzieht, einen schweren Ackerboden auflockert – der Luft und dem Wasser leichter Eingang verschafft – und einen lockeren verdichtet – den zu schnellen Durchgang des Wassers verhindert, – wirkt der Gypsmergel besonders chemisch auf den thierischen Dünger ein, zersetzt diesen und hält dann vorzüglich daraus den Stickstoff fest. – Durch die Beobachtung von Verwitterungsprodukten – Gyps – ist man in Böhmen auf eine sinnreiche Verbesserung der Vegetation gekommen. Um sich die angedeuteten Vortheile des Gypses zu verschaffen, begünstigt man seine Bildung auf den Aeckern dadurch, daß man sogenannte fressende Wasser – Lauge von Schwefelkies – darauf bringt.

Auch der Baumeister und Bildhauer müssen die Fingerzeige der Natur bei der Auswahl des Materials zu Bauwerken und Skulpturen beachten. Daß dies nicht immer geschieht, davon geben die häufig vorkommenden salzartigen Ausschläge der Mauern, die jedoch in den seltensten Fällen ihrem Namen – Salpeter – entsprechen, Zeugniß. Auch hier ist wieder der Schwefelkies meistens der böse Feind; um ihn und die durch seine Zersetzung veranlaßten leicht löslichen Gebilde zu entfernen, muß man den verdächtigen Thon, der zu Ziegeln und Geschirr verarbeitet werden soll, lange Zeit der Luft aussetzen. Ebenso sind Kochsalz, Kalk und Gyps enthaltende Materialien zu vermeiden, weil sich hier durch gegenseitige Zersetzung kohlensaures und schwefelsaures Natron erzeugen, die gleichfalls auswittern, d. h. sich an der Oberfläche bemerkbar machen. Auch bei den verschiedenen Thonschiefern, die zur Bedeckung der Dächer dienen, ist auf ihr Verhalten in der Natur zu achten.

Die Unfruchtbarkeit der Gehänge, da wo eisenfreier Dolomit auftritt, lehren dem Baumeister und Bildhauer, daß dieses Gestein den atmosphärischen Einflüssen einen unüberwindlichen Trotz entgegensetzt. Den großen Werth desselben kannten die Alten sehr wohl. Viele daraus gefertigte Statuen haben Jahrtausenden getrotzt und noch heute ist „der harte, griechische Marmor“ bei den Bildhauern Italiens in großem Ansehen. Während das von Talk- und Kalkbeimengungen freie Hornblendegestein öde Felswände bildet, auf denen nur auf den weniger abhängigen Flächen einige wenige verkümmerte Binsen und dürres Haidekraut angetroffen werden, gilt der Syenit – ein Gemenge von Feldspath und Hornblende – als Sitz einer üppig wuchernden Vegetation und hierin ist ihr Verhalten gegen die Verwitterung ausgesprochen. Ersteres ist unempfindlich gegen die Einflüsse der Atmosphäre, letzterer aber fällt ihrer Macht anheim. So sehen wir auf alten ägyptischen Bauwerken aus diesem Material die Schriftbilder auf der Wetterseite ausgelöscht, während sie sonst daran noch gut erhalten sind. Bei den Graniten deutet ein größerer Natrongehalt die Dauer des Gesteines an; dieser verleiht ihnen eine Unveränderlichkeit für die Ewigkeit. Dafür bürgen die Trümmer von Theben, zahlreiche Pyramiden und Bauwerke in alten Städten, der auf dem Lateransplatze zu Rom aufgerichtete Obelisk, auf Antrieb eines Königs von Theben 1300 Jahre vor unserer Zeitrechnung zu Syena ausgehauen, sowie auch der auf dem Petersplatze zu Rom – von einem Sohne des Sesostris vor mehr als 3000 Jahren der Sonne geheiligt.

Sehr empfindlich macht sich der Eisenspath – das kohlensaure Eisenoxydul – der oft in fast unsichtbaren Körnern in sonst schneeweißen Marmorarten eingesprengt ist, bemerkbar. Durch den Regen verliert er die Kohlensäure, nimmt dafür aber Sauerstoff und Wasser auf und tritt nun in gelblichen Flecken auf, die nach und nach eine bräunliche und schwärzliche Färbung erhalten und so oft die zierlichsten Bildwerke verunstalten. Auffallend zeigt sich diese Veränderung bei manchen alten Bauwerken, die zum Theil verschüttet waren; so geht diese Färbung z. B. bei dem Triumphbogen des Kaisers Septimius Severus zu Rom bis zu der Höhe, wohin der Schutt reichte.

Weiter ist die Verwitterung noch eine Quelle vieler anderer Erscheinungen; ich will hier nur erinnern an die wunderbaren Tropfsteingebilde in den Höhlen, die unser Staunen erregen, an den Schwefelgeruch, den manche Stein- und Braunkohlen verbreiten, durch den sie für die Feueranlagen und Geräthe nachtheilig wirken und endlich auch an den fast unerträglichen Gestank der Rinnsteine, der wohl jedem im Gedächtniß sein wird, der einmal zur Sommerzeit die Straßen von Berlin durchwandelt hat. Die Bedingungen zu letzterem sind reichlich gegeben in dem Eisen, welches sich von den Beschlägen der Räder und Pferde abnutzt, schwefelsaure Salze und organische Substanzen liefert der Rinnstein in hinreichender Menge. Es bildet sich Schwefeleisen und dieses giebt Veranlassung zu einer Schwefelwasserstoffgasentwickelung, einem jeden durch die faulen Eier bekannt. Wie energisch organische Substanzen schwefelsaure Salze in Schwefelverbindungen umwandeln, dafür zum Schluß noch ein Curiosum als Beleg. Eine Maus, die in eine Auflösung von schwefelsaurem Eisenoxydul gefallen, war in kurzer Zeit durchweg in Schwefelkies verwandelt.




Lebens- und Verkehrsbilder aus London.
Der höhere Bettlerorden.

Die Mission des Ordens. – Rührende Scene im Honigmonat. – Miß Caroline Johnson. – Ein Kirchenlicht. – Die Engel des Mitleids. – Die Deutschen als Ordensbrüder.

Man kann zwei Menschenalter hindurch alle Tage London gesehen, beschrieben, studirt und dreimal in- und auswendig, unten und oben besehen haben und dabei ein Solon, ein Humboldt sein, ohne die Existenz des Ordens, den wir eben schildern wollen, nur zu ahnen. Die Ausdehnung und Wichtigkeit jener respectabeln Corporationen ist uns erst nach einer langen Reihe von Beobachtungen, durch Privatmittheilungen und aus dem reichen Erfahrungsschatze deutscher und englischer Stadtmissionäre allmälig klar geworden. Daß wir selbst der mesmerischen oder sympathetischen Praxis dieser edeln Körperschaft mehr als einmal ausgesetzt waren, kommt uns in der Bestimmtheit und Genauigkeit unserer Schilderung gewiß zu Statten.

Jeder Mensch erblickt das Licht der Welt, wie man als guter Christ auch in Bezug auf Heiden und sogar Türken annehmen muß, mit einer bestimmten Mission. Die Aufgabe unseres Ordens ist es, so recht im Gegensatz zu dem Jesuiten-Orden, Humanität zu verbreiten, Wohlwollen und Wohlthun als das Wesen der Religion immer lebendig zu erhalten, das harte Herz des Geizigen zu erweichen und den Reichen, die bekanntlich mit besondern Schwierigkeiten kämpfen, wenn sie in den Himmel wollen, Mittel zu bieten, durch Wohlthätigkeit gegen ihre armen „Mitbrüder“ sich den Pfad der Tugend und in den Himmel zu erleichtern. Für diese wichtigen Lectionen, welche die Mitglieder des Ordens geben, nehmen sie nur freiwillige Belohnungen an, ohne je einen Preis zu bestimmen, ganz unähnlich dem Staate, der für seine Dienste, gleichviel ob sie der Unterthan braucht oder will, immer sehr hohe [187] Preise feststellt und in der Regel pränumerando und zwangsweise, einkassiren läßt. Selbst wenn Jemand gar nichts für diesen Unterricht in der Humanität giebt, macht man keinen Lärm und geht ruhig weiter.

Der Orden selbst in seinen unendlichen Verzweigungen und Spielarten läßt sich vorläufig nur an seinen Früchten erkennen. Das Werk der Wurzeln ist in Geheimniß gehüllt, wie in der Natur. Also Früchte, Thatsachen.

Wir waren eben von einer Honigmonat-Reise zurückgekehrt, erzählte mir ein junger englischer Ehemann, wobei wir bemerken, daß der anständige Engländer die ersten Wochen seiner Ehe allemal auf Reisen zubringt und sie Honigmonat-Reise nennt. Das ist wie beim Bäcker die Semmel. Ueber London brütete ein dumpfes Zwielicht, da sich der Himmel vergebens bemühte, wenigstens eine Karikatur auf’s Abendroth im Westen zu Stande zu bringen. Es war und blieb eine schmutzige Schinkenfarbe. Ich wanderte mit meiner jungen Gattin im Gärtchen hinter unserer neuen Villa auf und ab, als uns ein bescheidenes Klopfen an der Hausthür in unserem Zwiegespräche und Zwielichte aufstörte. Das Mädchen meldete uns, daß uns ein Gentleman seine Aufwartung machen, aber nicht fünf Minuten aufhalten wollte. Wir begaben uns in den drawing-room (der sich nicht anders mit Putz-, Gast- und Gesellschaftszimmer übersetzen läßt) und standen einem großen, aristokratisch-gekleideten Manne gegenüber, der sich tief verbeugte, tief seufzte und verzweiflungsvoll an den Wänden umherblickte, als suche er da Worte. Ich winkte ihm mechanisch, Platz zu nehmen. Mit viel Grazie versenkte er sich in einen unserer neuen Bequemlichkeits-Sessel, indem seine Brust ein neuer Seufzer hob und sein thränenvolles Auge und eine salbungsvoll zitternde Stimme den Segen des Himmels auf die „junge Frau“ herab beschwor, die ich selbst kaum Frau nennen gelernt hatte, ohne ein Erröthen auf ihre frischen Wangen zu rufen. Ich äußerte zum Theil im Sinne einer Entschuldigung, zum Theil vorwurfsvoll, daß wir nicht die Ehre seiner Bekanntschaft hätten, wenigstens daß wir uns nicht erinnerten. Dies öffnete nun plötzlich die Schleußen seiner Beredtsamkeit, einer schmerzensreichen Geschichte, länger als die des Aeneas vor Dido, überfließend in herzzerreißende Details häuslicher Leiden und Entbehrungen. Nicht lange und die schönen Augen meiner jungen Gattin füllten sich mit Thränen und meine Hand in der Tasche mit metallischen Substanzen, die über die ganze Erde unter verschiedenen Namen und mit den verschiedensten Mitteln und heroischen Anstrengungen göttlicher verehrt werden, als alle guten Gaben, die von Oben herabkommen. Ich selbst wurde warm, als er uns mit gebrochener Stimme die Leiden einer edeln Frau und Mutter von fünf Kindern ausmalte, die mit ihm bessere Tage gesehen und nun im stillen Grame u. s. w. Seine Lage sei unsäglich elender, wie edle Herzen wohl ahnen würden, wenn er hier vor zwei Fremden sitze, um solche Mittheilungen zu machen. – Kurz, wir fühlten eine Art Dankbarkeit gegen ihn, als er uns mit dem klingenden Segen aus unserer Privatcasse verlassen hatte, denn wir fühlten jetzt, daß es seliger ist zu geben als zu nehmen. Monate lang sprachen wir von dem unglücklichen Gentleman und bedauerten manchmal, daß er nicht wieder käme. Meine Frau hätte gar zu gern erfahren, wie es der edeln Mutter von fünf Kindern gehe, und sich gewiß reichlich mit der Seligkeit des Gebens auf’s Neue versorgt. Da er so oft vor unsern Augen gestanden, erinnerten wir uns seiner auch ganz genau, als er uns in einer ganz andern Gestalt wieder zu Gesicht kam, nämlich wie er unfreiwillig ein Rad drehte, nicht das der Glücksgöttin, sondern im Cold-Bath-Gefängnisse, das wir zufällig einmal besuchten. Er hatte sich diese feste Anstellung dadurch verschafft, daß er von der Praxis seines Ordens – der modernen Bettelmönche – abgewichen und bei einem reichen Deutschen, der nichts gegeben, eine Uhr mitgenommen hatte. Der reiche Deutsche ist freilich nicht ohne Schuld. Er ist durch Heirath selbst nach englischen Verhältnissen sehr reich geworden, dabei aber sprüchwörtlich geizig. So hatte er den Gentleman barsch abgewiesen. Dieser war in seiner Abwesenheit einmal zurückgekehrt, hatte das Dienstmädchen um ein Stück Papier gebeten, um einige Zeilen zu hinterlassen und, während diese danach ging, die Uhr eingesteckt, einen Akt, den er auf dem zurückgelassenen Papiere selbst als die verdiente Strafe für seinen Geiz bezeichnete. Durch eine Unvorsichtigkeit der Polizei kam dies heraus und der Mann an’s Gefängniß-Rad.

Eines Tages erzählt mir ein anderer Engländer aus den äußern Villa- und Cottage-Gegenden Londons, wird eine Karte auf meinen Tisch gelegt: „Miß Caroline A. Johnson.“ – „Führe Miß Johnson in den drawing-room.“ Miß Johnson erweist sich als eine lange, vornehme, schwarz angezogene, keusch verschleierte alte Jungfer von vierzig Jahren und noch mehr Tugenden. Zu letzteren gehörte auch eine sehr flüssige Beredtsamkeit. Sie erwartete mit Bestimmtheit, daß wir ihr Eindringen in den Privatkreis eines Gentleman entschuldigen werden, wenn wir die Veranlassung vernommen. „Sie kennen Codger-Fields, mein verehrter Herr?“ Leider kenne ich Codger-Fields, von wo zuweilen Rauch und Brandgeruch der großen Ziegeleien noch indiscreter in meine Wohnung dringen, als Miß Johnson. „Wohl, da ist der arme Bob von dem großen Ofen heruntergefallen, wobei er sich die Schulter ausrenkte, zweimal ein Bein brach und außerdem noch das furchtbare Schicksal hatte, bewußtlos auf einem Karren nach Hause gefahren zu werden, statt auf einer Trage, so daß ihm die Knochensplitter durch die Haut getrieben wurden. Jetzt ist er so schlimm, daß er in kein Hospital gebracht werden kann, ohne sein Leben zu gefährden, welches einigen Werth hat, wenn man bedenkt, daß der Unglückliche sehr viel Religion hat, außerdem ein braves Weib und fünf kleine Kinder (fünf ist eine heilige und offenbar sehr wirksame Zahl der modernen Bettelmönche). Was sollen jetzt die unglücklichen Leute anfangen, mein lieber Herr? Was soll aus ihnen werden, wenn nicht einige christlichgesinnte Mitbrüder in ihrer glücklichen Lage sich derselben annehmen? So hab’ ich denn beschlossen, keinen Stein ungerührt zu lassen, bis ich die brave, unglückliche Familie mit den nöthigsten Mitteln für die Zeit der Unfähigkeit des Mannes, seine Familie selbst zu ernähren, versehen haben werde. Sie sehen hier, wie ich’s mache. Hier ist mein Buch. Ich habe den Rath Sr. Ehrwürden So und So befolgt und als den höchsten Beitrag fünf Schillinge festgesetzt. Das ist das Maximum. Natürlich nehme ich jede geringere Summe, selbst sechs Pence. Der Plan gefällt mir, denn er giebt Jedem Gelegenheit zum Geben und – obgleich es nicht höflich klingen mag, so zu sagen, läßt Niemandem einen Grund zum Ablehnen.“ Sie übergiebt mir ihr Buch zur genauen Prüfung. Da seh’ ich allerdings die Handschriften mehrerer respectabeln Männer der Nachbarschaft mit ihren fünf Schillingen. Ich schäme mich in demselben Augenblicke, als ich eine halbe Krone schreiben und geben will, mache eine ganze daraus, sehe dieselbe in die Tasche der tugendhaften Jungfrau und diese dann selbst verschwinden und dann am nächsten Hause klopfen.

Einige Zeit darauf begegne ich unserm Doctor in der übelsten Laune. Mit dem größten Eifer hat er in Codger-Fields nach dem kostbaren Doppelbruche mit durchgetriebenen Knochensplittern (ein wahrer Schatz für den Doctor) Stunden lang gesucht. – Seine Frau hatte ja ebenfalls das „Maximum“ unterzeichnet und gegeben. Nach unendlichem Fragen und Suchen ist er zu der unumstößlichen Ueberzeugung gekommen, daß verrenkte Schulter, doppelter Beinbruch, durchgetriebene Knochen, edles Weib und fünf engelgleiche Kinder nirgends anders wohnen können, als in dem tugendhaften Gehirn der Jungfrau Caroline A. Johnson. Und so war’s auch. Miß Johnson ist ein sehr fähiges Mitglied der modernen höhern Bettelnonnen und der Ziegelbrenner Bob mit allen seinen schrecklich zugerichteten Gliedmaßen war nur eine wirksame Mythe, christliches Mitgefühl und „Kronen“ zu erwecken.

„Ein Gentleman wünscht Sie zu sehen.“ – „Lassen Sie ihn eintreten.“ Und herein tritt mit sanftem Schritt, Alles schwarz bis auf das schneeweiße Halstuch, ein wahres Kirchenlicht. Ich habe die Menschen im Allgemeinen noch ziemlich lieb, nur keinen mit einem weißen Halstuche. Und ist außerdem Alles schwarz, so hass’ ich ihn grimmig. Also das Kirchenlicht erfreut sich keines erfreulichen Empfanges, dessen ungeachtet öffnet er mir seine in Sammet gebundenen Bücher und sein Anliegen, „die afrikanische Mission zu unterstützen.“ Ganz aus Rand und Band fahr’ ich den Menschen an: „Gehen Sie zu dem Bischof und Lord, der ein ihm zur christlichen Fürsorge übergebenes Hospital um 20,000 Pfund betrogen hat, ohne bis jetzt bestraft oder seines Raubes entledigt worden zu sein[1] und befreien Sie damit schwarze, weiße, gelbe, braune Sclaven, die Farbe ist mir ganz gleich, und erlösen Sie Ihre Kirche von den Heuchlern und Betrügern, die im Namen der Religion wenigstens viel feiger handeln, als die Sclavenhändler [188] von Fezzan und Kuka ohne Religion und deshalb mindestens ohne „die Sünde gegen den heiligen Geist.“ Hier ging das Kirchenlicht beinahe aus vor Schreck und wollte wenigstens seinen unächten Wachskörper durch die Flucht retten. Aber ich drohte ihm mit Polizei und versprach ihm Stillschweigen nach gerichtlicher Seite hin, wenn er mich unterstützen wolle und zwar durch etwas Einweihung in die Geheimnisse seines Ordens. Ich sei ein Fremder im Lande und habe blos ein literarisches Interesse an der Existenz und Wirksamkeit seines Gewerbes. Und richtig, ich kam nach und nach mit ihm in eine vertrauliche Unterhaltung, aus der mir die Sache so klar ward, daß ich sie in allgemeinen Zügen deutlich bezeichnen kann. Diese modernen Bettelmönche wandern als christliche, hochkirchliche Engel des Mitleidens unter den höhern Ständen umher und halten unter den verschiedensten Formen so reiche Ernten, daß sie stets sehr vornehm und mit weißer Wäsche auftreten können, Bedingungen, die unerläßlich sind, um das Haus und das Herz des höhern Engländers zu öffnen. Dem wirklichen, zerlumpten, schmutzigen Bettler giebt er nichts, weil es unanständig ist, nur die geringste Notiz von Leuten zu nehmen, die unter ihm stehen. So ist das anständige, vornehme England, die „gute Gesellschaft“ Schuld, daß die Bettelmönche gedeihen. Weiße Wäsche, christliche Worte, gute Beziehungen, gut gewählte Gelegenheiten (z. B. Flitterwochen) und Worte und Gefühle verfehlen selten ihren Zweck auch bei schon Betrogenen. Der wirkliche hohlbäckige Bettler wird überall zurückgestoßen, sogar von den Thoren der Arbeitshäuser.

„Die Engel des Mitleidens“ umgeben tröstend alles Elend, das einen Theil der Menschen trifft, und die andern sympathetisch berührt. Rafft die Cholera ihre Opfer hin, der Engel des Mitleidens geht von Haus zu Haus, um für die „Hinterbliebenen“ zu sorgen. Keine große Ueberschwemmung kommt in die Zeitungen, ohne daß Engel folgen, welche einen Abzugskanal für deine Tasche bilden. Kein Haus und kein Mensch darf abbrennen, ohne daß ein durchgebrandter Spitzbube, kirchlich angeölt und salbungsvoll plärrend Dich so lange erbaut, bis Du ihm das Haus wieder aufbauen hilfst. Da aber unglücklicher Weise nicht genug Unglücksfälle von Bedeutung vorkommen (das Umkommen auf Eisenbahnen und Auswandererschiffen ist zu gewöhnlich und zieht nicht mehr), greift der Engel des Mitleidens zu tragischen Dichtungen und läßt Leute Hals und Beine brechen, Mütter mit fünf Kindern gräßlich leiden und die Schwarzen aus dem Innern Afrika’s als Statisten in seinen dramatischen Vorstellungen auftreten.

Wir brauchen nicht zu beweisen, daß dieses Gewerbe in moralischer Beziehung nicht eben sehr tugendhaft erscheint. Aber Jeder sieht wohl auch ein, daß in diesen höhern, modernen Bettlermönchen ein bedeutender Fortschritt gegen die alte Mönchbettelei zu erkennen ist.

Endlich erscheint es auch nicht nöthig, zu beweisen, daß sich dieses Gewerbe in die verschiedensten Formen kleidet. Mancher geht als ganz anständiger Mann in stillen, vornehmen, langen Straßen des Westends neben einem andern anständigen Herrn her, lobt den schönen Abend und erzählt dann eine lange Geschichte von einer Frau „mit fünf Kindern“, die auf ihn warten und sehr hungrig sind. Manchmal wird solch eine Unterhaltung plötzlich durch einen zufällig um die Ecke spazierenden Policemann gestört, bei welcher Gelegenheit der betreffende Herr oft eine hexereiartige Geschicklichkeit im Verschwinden entwickelt.

Von den fremden Baronen, Grafen, entthronten Fürsten Deutschlands und Polens (deren politische Geographie auch in der guten Gesellschaft Englands oft ein tiefes Räthsel bleibt, was denn hier diesen Fürsten auch sehr zu Statten kommt), welche sehr fein in „Cab’s“ angeflogen kommen, unverschämt anklopfen, den gepuderten Diener grob behandeln und Lord oder Sir So und So augenblicklich sprechen müssen, die dann der „augenblicklichen Verlegenheit“ (denn er hofft, daß die „confiscirten Güter“ mit der Zeit wieder herausgegeben werden) durch mindestens eine Zehnpfundnote (noch vornehmer durch einen „Cheque“ auf die Bank) enthoben, stolz wieder ab- und bei einem andern Lord vorfahren, ließe sich viel Romantik der höhern Gaunerkunst mittheilen, wenn sie uns nicht zu weit über unser Papier hinausführen würde.

Auch unsere deutschen Mitbrüder in „Klein-Deutschland“, das einen kleinen Theil Whitechepels im Osten Londons bildet, welche sich als Bettler-Gesellschaften etablirt haben, machen dem deutschen Stadt-Missionär viel zu schaffen, da sie die geschenkten Bibeln spottbillig verkaufen und Papier zu Bettelbriefen dafür nehmen. Sie wenden sich immer schriftlich an ihre Opfer, am liebsten Engländer, die Deutsch verstehen, haben jedesmal etwas „erfunden“ und sind in der Lage, um einen kleinen „Vorschuß“ zu bitten, damit sie zum Heile der mächtigen, englischen Industrie das Werk ihrer Nachtwachen und jahrelangen Nachdenkens ausführen können. Die Erfindung, daß sie etwas „erfunden“ haben, gründet sich wirklich auf viele Erfindungen, die halb verhungert aus Deutschland kommen und hier betteln gehen, bis sie in die Hände von Kapitalisten fallen, welche auf diese Weise bereits nicht selten den englischen Namen und das englische Capital bis zurück in den unbekannten Geburtsort des unbekannten Erfinders verwerthen. Auch in dieser Sphäre ist ein Fortschritt nicht zu verkennen. Früher verbrannte oder steckte man solche Erfinder ein: jetzt können sie doch in England und Amerika betteln gehen und zwar sehr oft mit Erfolg.




Von den Ufern der Ostsee.
Nr. 2. Finnland mit Aland.

Der Admiral Napier hat in einem Tagesbefehl an die von ihm befehligte Flotte den Beginn der Feindseligkeiten gegen Rußland angekündigt, und da die milde Witterung das Eis des Nordens früher als gewöhnlich gebrochen hat, so werden wir die englische Flotte nächstens an den russischen Küsten der Ostsee erblicken.

Angesichts der dort sich vorbereitenden Ereignisse führten wir unsere Leser schon in der vorhergehenden Nummer an die Gestade des baltischen Meeres, mögen sie uns heute nochmals dahin folgen, und zwar nach Finnland, das von besonders wichtiger Bedeutung zu werden verspricht.

Petersburg und Tornea bilden die beiden äußersten Häfen des finnischen und bothnischen Meerbusens, in welche Finnland wie in den aufgesperrten Rachen eines Alligators (das baltische Meer, die Ostsee) hineinragt. Der äußerste Vorsprung liegt der schwedischen Hauptstadt Stockholm gegenüber. Wenn die Schwedenkönige früher ihr geliebtes Finnland besuchen wollten, brauchten sie nur aus dem Schlosse herab unmittelbar in’s Schiff zu steigen. Aber wie Rußland nach dem schwarzen Meere hin schrittweise und unaufhaltsam seine Grenzen ausgedehnt hat, schritt es auch nach der Ostsee vor, und Finnland, einst der schönste Theil Schwedens, ist eine russische Provinz geworden.

Man fühlt sich auf das Angenehmste überrascht, wenn man nach der öden, trostlosen russischen Steppenreise von Petersburg an dem westlichen Endpunkte Finnlands den bothnischen Meerbusen anlangt. Der Distrikt Abo-Björneborg, der die Insel Aland im bothnischen Meerbusen in sich schließt, gewährt das anmuthigste Bild. Die Hauptstadt Abo mit 14,000 Einwohnern, 50 Meilen von Petersburg, hat einen bedeutenden Hafen vor sich, in welchem die größten Schiffe ankern können. Kleinere kommen dicht heran in der Mündung des Flusses Aurajoki. Abo hat eine alte, mit vielem Unglück verwobene Geschichte. Im Jahre 1827 brannte sie beinahe ganz nieder. Seitdem ist sie in großer Ausdehnung wieder erstanden, da fast alle Häuser einzeln stehen. Sie wird schon in der Mitte des 12. Jahrhunderts erwähnt. Das befestigte Schloß ist eben so alt und trotzte oft den Russen. Jetzt dient es als Gefängniß. Am 17. August 1743 mußte Schweden hier die Abtretung von Ingria, Liefland, Esthland und Kymmenegard mit den Festungen Fredrichsham und Wilmanstrand und der Hafenstadt Nyslot, unterzeichnen. Im Jahre 1809 kam durch den Frieden von Frederikshawn das übrige Finnland an Rußland.

Eine der reizendsten Wasserpartien bildet der bothnische Meerbusen zwischen Abo und Stockholm, ein dichtes Gedränge von kleinen Inseln, die mit Ausnahme eines geringen Theiles von offener See, wie Flußufer sich durcheinander schlingen, theils kahl und öde, theils grün und luftig mit schönen Landhäusern besternt. Dieser kleine Archipelagus, von den Finnen „Ahvenamnae“ genannt, [189] dehnt sich etwa 5 Meilen lang in einer Breite vor uns aus und besteht aus 60 bewohnten grünen und 200 unbewohnten, steinigen, kahlen Inseln und Inselchen. Die etwa 15,000 Bewohner treiben Fischerei und Viehzucht. Der Boden ist fast überall Granit, von der befruchtenden Zeit hier und da nur dünn mit Erde bedeckt, welche oft viel Mühe hat, die in ihr wachsenden Bäume zu halten. Die größte unter diesem Inselmeer Aland mit guten Häfen, etwa 56 Geviertmeilen groß, hat nur 8–9000 Bewohner. Der Hafen Ytternas an der Westseite soll die große russische Flotte und die Citadelle Bomarsund – blos 5 Meilen von Schweden – 60,000 Mann beherbergen können. Der bedeutendste Ort auf Aland ist Castelholm auf einem isolirten, großen, rothen Granitfelsen einer Landzunge. Aland war bis zu seiner Abhängigkeit von Finnland ein eigenes Königreich.

Einschiffung der Artillerie und Reiterei.

Im Jahre 1634 kam es mit Finnland zu Schweden und 1809 mit allen seinen kleinern 260 Collegen an Rußland. Diese Inseln gewähren der russischen Flotte sichere Häfen, welche von hier aus den Mälarsee und den schwedischen Küstenhandel an der Westseite des bothnischen Meerbusens beherrschen können. Nahe bei Aland gewann Peter der Große 1714 den ersten großen Seesieg gegen Schweden, dessen König nach der Schlacht bei Pultowa (1709) in der Türkei gefangen gehalten ward. Der Sieg war wegen dieser Abwesenheit des furchtbaren Soldaten- und Schlachtenkönigs Karl XII. freilich um so weniger ein Wunder, als es Schweden zugleich mit Preußen und Dänemark zu thun hatte.

Von den kleineren Städten Finnlands ist Tornea, am Flusse gleiches Namens, im äußersten Norden den bothnischen Meerbusens gelegen, von wo sich die russisch-schwedische Grenze hinunter zieht, voll eigenthümlicher Verkehrsbilder, da die 800 Einwohner der Stadt den Handelsmittelpunkt lappländischer Producte bilden. Die kleinen, gelben, schmierigen Lappen kommen hier weit aus ihrem öden, großen Lande zusammen, um gegen ihre Rennthierfelle, Salzfische u. s. w. Branntwein, Butter, Brot und sonstigen Luxus einzutauschen. Sie sehen in ihren spitzigen Pelzmützen und thierischen Kleidern (Fellen, oft blos um den Körper festgebunden) gar malerisch aus in einiger Entfernung. Zu nahe Berührung bringt freilich leicht die Geruchsnerven in Aufruhr, wenn es zufällig nicht sehr kalt sein sollte. Die durch den größten Theil des Jahres herrschende Eisluft verhindert dieses Menschenblüthen des Nordens wohlthätig am Duften.

Die Finnen sind ein eigener, schöner, gemüthlicher, tapferer Menschenstamm mit eigener Sprache, Literatur und Geschichte. Letztere weis’t sie patriotisch auf Schweden hin. Mit den Russen haben sie nichts gemein. Die „stahlbepanzerten“ Finnen bildeten unter Gustav Adolph die siegreiche Hauptmacht gegen „die Kaiserlichen“ des dreißigjährigen Krieges. Unter Karl XII. verdienten sie die meisten Lorbeeren bei Narva, und ihre unbeugsame Tapferkeit bewährte sich am Schönsten in der vergeblichen Anstrengung, den Todesstreich, der Schweden bei Pultowa von den Russen beigebracht ward, zu rächen. Sie sind ein gutmüthiges, offenherziges, zuthunliches Völkchen von unermüdlicher Höflichkeit und unbestechlicher Ehrlichkeit. Selten wird ein Reisender in der Welt mit Menschen zusammentreffen, die so treuherzig und zugänglich sind. Nirgends wird er sich so leicht mit fremden Menschen befreunden, als in Finnland und in Schweden.

Admiral Napier scheint die Insel Aland zum Mittelpunkt [190] für seine Operationen gegen Rußland ausersehen zu haben, und da ihm die Insel schwerlich streitig gemacht werden könnte, so soll die russische Regierung jetzt schon entschlossen sein, ihre Behauptung nicht zu versuchen. Die Besetzung Alands durch die Engländer würde übrigens noch kein folgenschweres Ereigniß sein. Mittlerweile dauert jedoch die Verstärkung der englischen Ostseeflotte, und die Einschiffung von Truppen und Kriegsmaterial ist in den Häfen Albions in vollem Gange. Ganz besondere Schwierigkeiten macht dabei der Transport von Pferden, für welche die Seekrankheit, der sie häufig erliegen, um so gefährlicher ist, als das Pferd von Natur aus nicht brechen kann. Auch das Ein- und Ausschiffen der Pferde, wovon wir heute dem Leser eine bildliche Darstellung geben, ist eine schwierige und umständliche Operation, obwohl durch die jetzt angewandte Verfahrungsweise ein Pferd binnen zwei Minuten vom Lande aus auf das Verdeck des Schiffes gebracht wird. Eine nähere Beschreibung dieses Verfahrens selbst halten wir für überflüssig, da unser Bild dasselbe hinlänglich veranschaulicht und erläutert.




Blätter und Blüthen

Unsere Mädcheninstitute. Eine Menge weiblicher Wesen in einem Lokale zu versammeln, ist eine Einrichtung, der wir zu erst in einem Kloster begegnen. Dort suchten fromme Frauen Aufnahme in dem mißverstandenen Glauben, dem Herrn der Schöpfung dadurch zu dienen, daß sie die schöne lachende Welt hinter sich ließen und durch Gebet und Fasten die Wünsche ihres Herzens zu bewältigen suchten.

Im Mittelalter war die Kirche der Hort der Wissenschaften; Bildung, Gesittung, Künste und Gelehrsamkeit hatten sich in ihren Schooß geflüchtet, und sie theilte der armen, verwilderten Menschenmasse davon mit, nach dem Maße des Verständnisses, das man derselben zutraute; denn damals stand sie in den wirklichen Verhältnisse einer Mutter zu ihrem Kinde, das aus Liebe und mit Liebe bewundert wird. Die ersten Schritte auf unserer Bahn von dem Zustande roher Barbarei zur Gesittung führte uns demnach die Kirche. Die Priester nannten sich die Lehrer des Volkes, die Schulen waren ihr Werk, nur die Geistlichen verstanden zu schreiben.

In der Folge übernahmen die Nonnen einen gleichen Antheil an der Bildung ihrer Laienschwestern, sie riefen die kleinen Mädchen aus der Umgegend herbei und unterwiesen sie in feinen Arbeiten und den Artikeln ihres Glaubens. So wie die untern Schichten der Gesellschaft diesen Schritt vorwärts gingen, verlangten die Reichen nun auch ihrerseits in demselben Maße diesen voranzugehen, und da das Haus damals einer Tochter keine Gelegenheit bot sich Geschicklichkeiten zu erwerben, so entstand die Einrichtung, dieselbe in ein Kloster zu bringen, wo sie blieb, bis sie erwachsen war. Die klösterliche Stille, die einfache Lebensweise, die Architektur des Gebäudes, die Sammlung des Gemüthes wirkten hier mächtig auf die junge Seele ein und gaben ihr jenen Schwung einer höhern Lebensauffassung, die veredelnd auf das ganze Wesen wirkt. Diese klösterliche Erziehung that daher viel für die Bildung und Gesittung des Menschengeschlechtes, in so ferne dieselbe durch die Frau und deren erhöhte Seelenstimmung gefördert wird.

Die Reformation machte hierin einen Bruch. Jetzt konnten nur noch Familien des katholischen Glaubensbekenntnisses diese Klostererziehung für ihre Töchter benutzen, und da die Protestanten ihren Kindern gleiche Vortheile der Bildung zu geben wünschten, so wurden Mädcheninstitute eingerichtet. Diese waren demnach das Resultat eines Zeitbedürfnisses. Die Frauen konnten im Mittelalter und auch später noch die Erzieherinnen ihrer Töchter nicht sein, denn sie verstanden selbst nicht immer zu lesen, weniger noch zu schreiben, sie konnten nur sticken und dem Haushalte vorstehen, und sollte die Tochter nun die Mutter an Bildung übertreffen, so bot sich dazu im Hause kein Mittel, so lange es keine Privatlehrer gab.

Die weibliche Bildung ist der Nachsommer der männlichen, sagt Jean Paul. Je mehr nun der Mittelstand eine Universitäts-Bildung suchte, um so viel weiter erstreckte sich auch für die Frau ein angemessener Unterricht in den Elementarwissenschaften, zu dem man bald noch Musik, dann eine Sprache, dann zwei und auch das Zeichnen fügte. Die Muttersprache richtig zu sprechen und zu schreiben, wurde daneben für nöthig erachtet, und eine Kenntniß unserer besten Dichter gefordert. Auf diesen Punkt angelangt, hätte eine Mutter die Erziehung ihrer Tochter selbst leiten können, denn wo ihr eigenes Wissen, oder ihre Talente nicht zureichen, gab es jetzt überall bereits geschickte Lehrer zur Aushülfe; aber nur in seltenem Falle unterzog eine Frau sich diesem Geschäfte, und die Zahl der Mädcheninstitute vermehrte sich mit reißender Schnelligkeit. Auch unter diesen trat nun eine Art von Rivalität ein. Jede Vorsteherin einer Anstalt suchte durch neue Prospekte die übrigen zu überbieten. Wunderdinge wurden gelehrt, französische und englische Gouvernanten waren engagirt, ein Dutzend Lehrer ertheilten in allen Zweigen Unterricht, und jede Kunst wurde bis zur Vollkommenheit getrieben. Die Einzelne, die ein wenig Talent hatte, mußte die Anstalt vor der Welt damit rechtfertigen, und um jeden Preis etwas zu leisten angeleitet werden; alle Gefährtinnen blickten mit Neid auf diese Bevorzugte, sie selbst aber trat in die Gesellschaft ein mit der Prätension, daß man auf sie Acht haben müsse.

Auf diesem Punkte weiblicher Civilisation angelangt, machen wir eine kleine Pause und sehen, wohin uns unser Weg geführt. – Daß eine eigentliche Bildung in einem Institute nicht gefördert werden kann, ist begreiflich. Die Vorsteherin vermag es bei dem besten Willen nicht, sich mit der Einzelnen zu beschäftigen; beachtet sie, wie sie sich äußerlich giebt, so hat sie gethan, was sie leisten kann. Ein junges Mädchen, das sich stets von einer Menge ihrer Altersgenossen umgeben sieht, kommt zu keiner Sammlung, geht nie in sich, sinnt nie, an ein Leben mit sich selbst ist da nicht zu denken, selbst das Abendgebet ist ja in Gesellschaft Vieler zu verrichten. Ein beständiges Plaudern, Kichern, Scherzen, ein stetes sich Ausgeben, macht unsere lieben, flatterhaften Kinder noch flatterhafter, und jeder Ernst des Lebens wird ihnen lästig. So vorgebildet treten sie in die Welt, wo ihnen vielleicht schon im ersten Jahre ein Mann begegnet, der sie auffordert, die schönsten, heiligsten Pflichten der Menschheit gegenüber zu übernehmen. Was wissen sie von diesen? Was kennen sie davon? Ein Familienleben ist ihnen ja selbst seiner äußern Gestaltung nach fremd geblieben. Alle kleinen Gewohnheiten, die in eine Frauenexistenz gehören, ein eigenes Zimmer, mit seiner Ordnung, Sauberkeit und manchem kleinen Schmucke, das besaß sie ja nie! – Das Leben den jungen Mädchens war das eines Soldaten in einer Kaserne. Sie kannte nur die Disciplin und wie froh wird sie sein, derselben zu enteilen? – Wie gefährlich es ist, ein Mädchen den Beziehungen eines Familienlebens zu entfremden, wird Jeder ermessen, der sich mit dem Frauenleben beschäftigt hat. Die Gewohnheit ist unsere zweite Natur. Einmal dem entfremdet, was im häuslichen Kreise zu den kleinen Leiden und Freuden des Tages gehört, deren Wechsel ja das sind, was wir gemeinhin Glück nennen, wächst man nicht wieder in diese kleinen Details hinein, ohne sich von denselben gelangweilt und wie erdrückt zu finden. – Sind Aeltern gezwungen, durch Verhältnisse, durch den Ort ihres Aufenthaltes, eine Tochter dem sichern Hort des väterlichen Hauses zu entziehen und sie ferne von sich aufziehen zu lassen, so sollten sie sehen, dieselbe in einer Familie unterzubringen, und sie nur die Lehrstunden in irgend einer Anstalt theilen lassen, nie aber wagen, sie in Lebensverhältnisse zu bringen, die sie von dem emancipiren, was die nothwendige Zugabe einen Frauenlebens ausmacht.
Amely Boelte. 




Das Tulpenfest in Konstantinopel. Von allen Blumen ohne Ausnahme, selbst die vielgefelerte und vielbesungene Rose mit einbegriffen, die in der letztern Beziehung übrigens gewaltige poetische Sünden zu verantworten hat, erlangte keine so große Wichtigkeit und Bedeutsamkeit, als die Tulpe, und das dürfte um so mehr zu verwundern sein, da sie des Reizes süßen Wohlgeruches entbehrt, den viele andere Blumen mit nicht minderer Farbenpracht vereinigen. Wahr ist es freilich, daß die Tulpe nicht nur die schönsten und lebhaftesten, sondern auch die mannigfaltigsten Farben zeigt, die Cultur durch die Hand des Gärtners hat das Geheimniß entdeckt, die Farbe der Tulpe durch alle Schattirungen bis in das Unendliche zu vervielfältigen, von dem Ponceauroth geht die Schattirung allmählig durch kaum merkbare Abstufungen bis zu dem matten Weiß herab; in Beziehung auf die andern Hauptfarben, Blau, Grün, Gelb, finden die Uebergänge auf gleiche Weise bis zu gänzlich unentschiedenen Färbungen statt. Auf diese einfarbigen Tulpen folgen die gestreiften, gefleckten, getupften, geflammten, mit buntem Rande umsäumten, und wie die unzähligen Abarten genannt werden mögen, die übrigens es wohl verdienen, die Aufmerksamkeit und Bewunderung des Blumisten auf sich zu ziehen.

Ohne die Liebhaberei der Tulpen so weit zu treiben, wie die Holländer, pflegen auch die Türken, welche die wahren Liebhaber schöner Blumengärten sind, die Tulpen mit besonderer Sorgfalt. Da der Himmel so milde und durchsichtig über den schönen Lande Konstantinopels schwebt, feiert man dort schon in den ersten Tagen des Frühjahrs das herrliche und prachtvolle Tulpenfest. In den glänzenden Sälen des Harems, unter den ungeheueren Bogengängen, welche die Gärten umringen, führt man amphitheatralisch Stufengerüste auf, welche man mit den köstlichsten Teppichen bedeckt. Auf diesen symetrisch geordneten Stufen stellt man in dreifacher Reihe Krystallgefäße auf, aus denen Tulpen in den glänzendsten Farben emporragen. Zwischen diesen Krystallgefäßen werden Kästen mit wohlriechenden Sträuchern aufgestellt, und von Strecke zu Strecke sprudeln Springbrunnen Strahlen von Rosenwasser empor, damit dem Geruche zugleich mit dem Gesichte geschmeichelt werde.

Am Abend wird das ganze Serail mit Tausenden buntfarbiger Lampen erleuchtet und in der Mitte dieser glänzenden Illumination erscheint der Sultan in dem blendenden Glanze von Gold und Edelsteinen und begleitet von einem Gefolge, dessen Luxus jeden Glauben übersteigt. In dem Augenblicke, wo er aus dem für ihn errichteten Throne Platz nimmt, ertönt herrliche Musik, und süße Frauenstimmen ergießen sich in weichen Melodien. Plötzlich dringt dann ein wohlgeruchathmender Strom junger Odalisken durch die Menge der Zuschauer, um, die Stirne mit Blumen bekränzt und das Lächeln auf den reizenden Lippen, Tänze und Gruppirungen auszuführen, durch die man versucht werden könnte, an die Wahrheit der lieblichen Mährchen von tausend und eine Nacht zu glauben.


  1. Lord und Bischof Gullford.