Die Bergfeste Lesseillon an der Straße über den Mont Cenis in den Alpen
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an der Straße über den Mont Cenis in den Alpen.
Es liegt in der Natur des Kleinen und Gemeinen, daß es alles Große und Außerordentliche, zu dem es sich nicht erheben kann, zu sich herabzuziehen sucht. Bis zum Höchsten, was die Menschheit ehrt und die Geschichte kennt, hat die Schlange der Verleumdung sich kriechend und schleichend hinaufgewunden, um es mit ihrem Gifte zu bespritzen. Für die Wahrheit dieses Satzes Zeugen aus allen Zeiten aufzurufen, wäre ein Leichtes. Hier sey nur Einer genannt: – Napoleon. –
Als dieser Herkules der Neuzeit das wilde Roß der Revolution bestiegen und von ihm herab der erstaunten Welt die Commandoworte zudonnerte, welche so viele Jahre lang ihren Gang leiteten und dem Strome der Geschichte sein Bett anwiesen: wie sank da Alles um ihn, vom Fürsten bis zum Bettler, in den Staub und ehrte ihn wie einen Gott. Und als er, Unerreichbares zu erklimmen trachtend, herabgestürzt wurde von Gotteshand – wie hat man ihn dann behandelt! Aber so ist und so war er immer, der gemeine, schlechte Haufen in Lumpen und in Purpur. Er kennt keinen andern Götzen, als den Erfolg. Nach solchem betet er an, oder ruft Kreuzige! – Nicht so der edlere Mensch. Dieser richtet seine Mitmenschen nach ihrem Streben und nach den von ihnen dabei angewendeten Mitteln; er wägt ihre Thaten auf der Wage der Tugend und des Rechts und spricht darnach sein Urtheil. Vor einem solchen Richter erscheint Napoleon groß im Beginn, klein und verwerflich im [128] Glück, ein Heros im Unglück. Aber über den höllischen Irrthum, welcher Napoleon seinen Messiasberuf für die Völker verkennen ließ, weint er bittere Thränen, und die Trauer darüber begleitet ihn bis in’s Grab.
Napoleons Geist ist der Erde entrückt. Ueber drei Lustren schon heulen Sturm und Wogen um sein einsames und leeres Felsgrab, seit drei Jahren brennen die Kerzen an seinem Sarge im Dome der Invaliden: – doch tausend Denkmäler zeugen von seinem Leben uns wie den fernsten Geschlechtern. Zu dem dauerndsten unter allen gehört auch das, welches der Stahlstich versinnlicht. Von den vier großen Alpenstraßen, durch welche Napoleon Frankreich, die Schweiz, Savoyen und Italien verknüpfte, indem er die festesten und höchsten Scheidewände niederriß, welche die Natur, Völker und Reiche trennend, aufgerichtet hat, ist, nächst der Simplonstraße, die, welche über den Mont Cenis führt, die bewundertste, die herrlichste. Sie geht von Chambery, Savoyens Hauptstadt, über Langlebourg nach Susa und Italien, durch einen wilden, an pittoresken Naturscenen reichen Strich der Alpen. Der Nacken des Mont Cenis ist ihr Hochpunkt; derselbe liegt 5900 Fuß über dem Meere, nicht fern von der Grenze des ewigen Eises. Früher war der Alpenübergang von dieser Seite lebensgefährlich und nur in der günstigsten Jahreszeit möglich; über die steilsten Strecken mußte sich der Reisende auf Tragsesseln fortschaffen lassen, oder sich dem Rücken des kletternden Maulthiers anvertrauen: – jetzt befahren die größten Lastwagen den prachtvollen Heerweg und steigen auf und ab mit wenig Beschwerde, oft auf langen Mauerterrassen an den schauerlichen Abgründen hin, oft durch ausgehöhlte dunkle Gänge und Gallerien, oft auf kühn gesprengten Brücken und Viadukten.
Unser Bild hält uns eine der schönsten Partieen dieser Napoleonsstraße vor’s Auge. Nähert man sich auf der Route von Chambery nach Turin dem Mont Cenis jenseits der kleinen Stadt St. Michel, so windet sich der Weg durch ein langes, schmales Defilé, dessen Tiefe die reißende, den Gletschern des Mont Iseran entströmende Arc durchbraust. Hinter dem Dorfe Moduna klettert die Straße im Zickzack an der Bergwand hinan und erhebt sich endlich hoch über die schwarze Schlucht. Auf dieser Stelle bietet sich eine prachtvolle Vista auf die Alpenwelt dar. Wie die erstarrten Wogen eines sturmbewegten Meeres erheben sich Berggipfel hinter Berggipfeln, knüpfen sich Thäler an Thäler. Die ganze Kette der savoy’schen Hochalpen – links von des Montblancs glänzendem Haupte, rechts vom Mont Genièvre begrenzt, gerade vor sich des Mont Cenis königliche Pyramide – breitet sich in einem Halbkreise von 30 Stunden Länge vor dem Wanderer aus. Das Blendende der beschneieten Alpenhörner und der sonnigen Matten wird noch gehoben durch das dunkle Grün des Tannen- und Kiefernwaldes, welcher an der Bergwand, an der die Straße hinzieht, hinaufgewachsen ist, und durch die finstere, sehr tiefe Schlucht unter ihm. Jenseits ragt Felsgebirg, und auf dessen breiten Rücken lagern sich, furchtbar und schreckend, die Werke des Forts Lesseillon mit ihren in acht Batterien [129] terrassenförmig über einander geschichteten Feuerschlünden. – Es ist auch ein Bau Napoleons und seines Riesengeistes würdig.
Die Veste wurde angelegt, um für Frankreich als ein Bollwerk auf der Straße zu dienen, welche nach dem Herzen des Reichs führt. In Sardiniens Händen ward ihre Bestimmung eine andere. Jetzt ist die Festung ein gegen Frankreich gerichteter Schild; er deckt eine fremde Brust und macht den Paß selbst zu einem Thore im Süden Frankreichs, welches der Nachbarstaat nach Gefallen öffnen und verschließen kann. So kehren sich oft die Mittel, welche der Mensch ergreift, in der Hand des Schicksals entgegengesetzten Zwecken zu und das, womit er sich zu nützen gedachte, gereicht ihm oft zum Nachtheil, manchmal zum Verderben.