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Der Teufel

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Autor: J. D. H. Temme
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Titel: Der Teufel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 478–480
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzungsroman in 6 Teilen // Heft 30–35
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[478]
Der Teufel
1.

In den schönen Promenaden der Stadt N. machte ein einzelner Herr seinen Nachmittagsspaziergang. Es war ein warmer Octobertag, die Sonne stand schon nicht mehr hoch am Himmel und die Promenaden waren nur noch schwach besucht. Für die eigentlichen gewohnheitsmäßigen Spaziergänger war die Stunde ihres regelmäßigen Ausganges schon vorüber, und der einzelne Herr gehörte wohl auch nicht zu ihnen. Von den wenigen Personen, die ihm begegneten, sahen die meisten ihn fremd an und zugleich neugierig, wer der Fremdling sein möge. Andere, die ihn kannten, grüßten ihn dann freilich mit einer fast an Ehrerbietung grenzenden Förmlichkeit.

Die Stadt war die Hauptstadt der Provinz, groß, mit nahe an hunderttausend Einwohnern, der Sitz der Civil- und Militärbehörden der Provinz. Der einzelne Herr, ein hoher, schlanker Mann, vielleicht im Anfange der vierziger Jahre, hatte ein vornehmes Wesen; mit diesem und zugleich mit einer verbindlichen Herablassung erwiderte er die ehrerbietigen Grüße, die ihm gebracht wurden. Er hatte das Ende einer Allee erreicht und wollte in ein kleines Bosket einbiegen, als er plötzlich erschrak, als wenn er auf eine Viper getreten hätte. In dem Bosket stand, zwanzig Schritte von ihm, ein buckliges Männchen. Er wollte im ersten Augenblick umkehren, aber der kleine Bucklige hatte ihn gesehen und mit dem ersten Blicke seiner klugen, stechenden, grauen Augen erkannt und war nun auch schon mit behenden Füßen auf dem Wege zu ihm, ihn zu begrüßen; freilich nicht förmlich oder gar ehrerbietig, wie die anderen Spaziergänger gethan hatten. Vielmehr ging das Männchen sehr ungenirt und sehr zutraulich auf ihn zu, wie auf einen alten Bekannten und genauen Freund. Er sah übrigens sehr reputirlich aus, der kleine, buckelige Mann; er war elegant, nach der neuesten Mode gekleidet, trug über der Brust ein paar schwere, goldene Ketten für Uhr und Lorgnette, und auf dem Kopf einen hohen Cylinder, um größer zu erscheinen, als er war.

„Ei der Tausend, Herr von Römer!“ rief er. „Wahrhaftig, Römer, Du bist es!“

Herr von Römer hatte nicht mehr umkehren können, er mußte Stand halten und auch diesen Gruß erwidern; mit jener leichten, verbindlichen Herablassung geschah es allerdings nicht.

„Ah, Brand, Du hier?“ sagte er steif und zugleich sauersüß genug.

Er hatte es auch wohl vornehm sagen wollen, aber wie er sich dazu aufrichtete, sah der Buckelige mit seinen grauen, stechenden Augen ihn so eigenthümlich, so listig, so höhnisch und zugleich so blitzend an, daß der vornehme Herr von Römer sichtlich erschrak und sich einer Gewalt und einem Zwange hingab oder unterwarf, denen er sich nicht entziehen zu können schien.

„Ja wohl bin ich es,“ erwiderte ihm lächelnd der Kleine. „Sebastian Brand! Wer ihn einmal gesehen hat, behält ihn für immer im Gedächtniß, und nicht blos um seinen Buckel und hohen Cylinder. Und wir Beiden waren sogar Freunde, intime Freunde. Ich denke, Römer, wir sind es noch.“

[479] Mit den Worten reichte er dem Herrn von Römer die Hand hin. Der vornehme Herr mußte sie nehmen; freilich legte er nur seine Fingerspitzen hinein, und auch das mit einem Ausdruck des Gesichtes, als wenn er einen Frosch oder gar eine Kröte berühre, Sebastian Brand aber faßte mit seinen langen Fingern voll die zarten des Herrn von Römer und drückte und schüttelte sie, als wenn er vor Freude, einen alten Freund wiedergefunden zu haben, ganz außer sich sei, und lächelte dabei so listig und so höhnisch und so boshaft, wie eine Kreuzspinne, wenn sie lachen könnte, über einen recht fetten Fang in ihrem Netze lachen würde.

„Und nun vor allen Dingen,“ sagte er dann zu dem wiedergefundenen Freunde, „sei mir willkommen in meiner Vaterstadt. Du weißt doch, daß ich hier zu Hause bin?“

„Ich glaube mich zu erinnern,“ erwiderte der Herr von Römer.

„Ah, Du glaubst nur! Dann ist Dir auch wohl meine Carrière nicht mehr genau erinnerlich, und Du erlaubst wohl, daß ich Dich näher damit bekannt mache, da wir doch nun einmal längere Zeit werden zusammenleben müssen.“

Den Herrn von Römer durchzuckte es, als wenn er etwa von der Viper, auf die sein Fuß vorhin getreten habe, gestochen sei.

Der Buckelige fuhr fort: „So müssen wir doch gegenseitig wissen, was aus den alten Universitätsfreunden geworden ist. Ganz haben wir uns zwar seit den Universitätsjahren nicht aus den Augen verloren, indeß –“

Er brach ab, um zu sehen, welchen Eindruck die Worte auf den wiedergefundenen Freund machten.

Herr von Römer schlug mit einer Resignation, der man fast eine Angst seines Innern ansah, die Augen gen Himmel, niederschlagen konnte er sie nicht; sein Blick hätte gerade in den des Kleinen treffen müssen, der da unten vor dem hohen, vornehmen Herrn stand.

„Daß ich die Rechte studiren mußte,“ fuhr der Buckelige wieder fort, „wirst Du Dich noch erinnern. Es war, weil ich Sebastian Brand hieß, und daher den Namen des berühmten Klagespieglers führte, der sich freilich mit dt schrieb. Nun, nach vollendeten Studien machte ich meine drei Examina – dafür studirt man ja bei uns drei Jahre – dann arbeitete ich eine Zeit lang bei den Gerichten in der Residenz. Dort fanden wir uns ja wieder, Freund Römer!“

Herrn von Römer durchzuckte es wieder. Der Kleine sprach weiter:

„Darauf kehrte ich in meine Vaterstadt zurück, wo ich mich als Advocat niederließ. Als solcher lebe ich hier noch. Das Geschäft geht gut; ich bin wohl situirt, habe nicht Kind und nicht Kegel, wie man zu sagen pflegt, das heißt: nicht Frau und nicht Kind, und lebe fort in meiner alten Weise, die Du kennst, zur Freude und zum Aerger der Menschen, einer Weise, für die der Advocatenstand eigens geschaffen zu sein scheint. Und damit genug von mir, alter Freund. Laß uns jetzt von Dir und Deinen brillanteren Schicksalen sprechen, eigentlich ist es nur eins. Aber bleiben wir hier nicht stehen. Du warst auf Deiner Promenade und bist es noch; ich war und bin es auch. Gehen wir also weiter, und dabei ein Vorschlag. Du bist erst seit kurzer Zeit hier; früher warst Du nie hier. Da sind Dir die Dinge bei uns noch unbekannt, namentlich auch die Schönheiten unserer Gegend. Erlaube, daß ich für den Rest Deiner heutigen Promenade Deinen Führer mache.“

Herr von Römer wurde verlegen. Sein leichtes, glattes, vornehmes Wesen konnte er dem buckeligen Männchen gegenüber noch immer nicht wieder gewinnen.

„Ich danke Dir,“ sagte er, „aber –“

„Aber?“ sah ihn der Kleine funkelnd an.

„Ich habe in der That keine Zeit.“

„Keine Zeit, wo es Naturschönheiten giebt? Du schwärmtest doch sonst für alles Schöne, sogar für jede Schöne. Bah, wir gehen, ich bitte Dich.“

Die Bitte des Kleinen war ein Befehl für den Herrn von Römer, der ihr nur jene ängstliche Resignation entgegenzusetzen hatte.

„So gehen wir denn. Es wird doch nicht weit sein?“

„Sieh’, das Schöne liegt so nahe!“ recitirte Sebastian Brand mit seinem höhnischen lächeln und führte den Freund tiefer in das Bosket, in dem sie standen, aus diesem dann in eine Kastanienallee, welche sich eine Anhöhe hinanzog. Die Stadt hatte in der That eine überaus reizende Lage. Am Fuße eines Berges, aber noch immer auf einer Hochebene gelegen, schaute sie weit in das Land vor sich hinein; auf ihrer Rückseite war sie mit Palästen und Villen, mit Parkanlagen, Gärten und Waldungen bekränzt, die bis fast an die Mitte des hohen Berges auf jedem seiner vielen Vorsprünge hervortraten, aus jeder seiner Schluchten herausblickten. Den Berg hinauf führte der Buckelige den Herrn von Römer, eigentlich nur einen mäßigen Seitenabhang desselben hinauf, hinter welchem, wie es schien, ein reizendes Thal sich öffnen, oder eine jener anmuthigen Schluchten sich verbergen mußte.

„Also nun von Dir, Freund Römer,“ sagte der Buckelige im Gehen, und es war, als wenn der Herr von Römer bei den Worten einen schweren Seufzer unterdrücken müßte. „Du bist hier Consistorialpräsident geworden?“

„Ja.“

„Eine hübsche und rasche Carrière. Ich sehe Dich schon als Minister.“

Der Consistorialpräsident schwieg. Der Andere fuhr fort: „Nun, das Verdienst muß belohnt werden. Du arbeitetest bisher im Polizeiministerium?“

„Ja.“

„Von der Polizei zur Kirche! Hast Du Deine Familie schon hier?“

„Sie kam mit mir.“

„Deine Frau lebt noch?“

„Gewiß.“

„Ist sie noch immer leidend?“

„Sie hat sich in neuerer Zeit erholt.“

„Du hast eine brave Frau, und sie war Dir auch immer eine treue Frau, wenngleich sie Dich eigentlich nie liebte.“

„Brand!“ fuhr Herr von Römer auf.

Der Buckelige lachte.

„Ah, verzeihe! Sie liebte Dich also?“

„Sprechen wir von etwas Anderem.“

„Von den Todten?“ fragte der Kleine.

Der Präsident von Römer schwieg. Er war etwas blaß geworden.

Qui tacet, consentire videtur (Wer schweigt, ist einverstanden),“ sagte der Buckelige. „Also von meiner armen Cousine, die Du betrogst, schändlich betrogst, um ihre Ehre, um ihr Leben.“

Herr von Römer hatte sich aufgerafft, die Gewalt, die der Buckelige über ihn ausübte, von sich zu schütteln. Ohne ein Wort zu sagen, kehrte er um; er wollte den Gefährten verlassen und allein zur Stadt zurückgehen. Der Kleine stellte sich vor ihn.

„Du gehst nicht,“ sagte er ruhig befehlend, aber indem seine grauen Augen zornig funkelten. „Du bleibst, ich habe noch viel mit Dir zu sprechen. Ich habe lange auf diesen Augenblick geharrt. Ich hatte auch da hinten in dem Bosket auf Dich gewartet. Ich wußte den Tag, die Stunde Deiner Ankunft hier in der Stadt. Ich war von da an der Spion, der Dir auf Schritt und Tritt folgte, ohne daß Du es ahntest. Ich mußte Dich einmal allein haben. Seit Jahren hatte ich darauf gewartet; seitdem Du Dich nicht mit mir schießen wolltest, die Polizei, Deine Polizei gegen mich ausriefest. Jetzt endlich habe ich Dich. Ich lasse Dich nicht wieder los. Du bist vollständig, ganz und gar in meiner Gewalt. Als Polizeimann warst Du es nicht so. Die Polizei muß Menschen mit eiserner Stirn haben, auch Geheimeräthe. Aber als Präsident des Consistoriums! Zumal in dieser frommen Provinz! Das war ein dummer Streich, daß Du zur Kirche übergingst, und noch dümmer war es, daß Du an mich nicht dachtest. Ich habe alle Beweise Deiner Schlechtigkeit in Händen, die von Deiner Hand gefälschten Documente. Sie müssen Dich in’s Zuchthaus bringen. Geschah es bisher nicht, so war es zugleich um Deiner armen Frau willen. Auf die nehme ich auch jetzt noch Rücksicht, Du möchtest mich denn mit Gewalt herausfordern. Und das, alter Freund Römer,“ setzte der Buckelige wieder mit seinem ganzen verzweifelten Humor hinzu, „das thätest Du, wenn Du jetzt allein, ohne mich, nach Hause gingest. Setzen wir unsere Promenade fort.“

Der Consistorialpräsident wischte sich den Schweiß von der Stirn.

[480] „Was willst Du von mir?“ fragte er.

„Mit Dir von vergangenen Zeiten sprechen. Weiter nichts.“

„Kannst Du es nicht auf dem Rückwege zur Stadt?“

„Nicht eigentlich!“

„Wohin führst Du mich denn?“

„Spazieren.“

Herr von Römer hatte sich etwas besorgt umgesehen. Sie hatten den Kamm der Anhöhe schon vor einiger Zeit erreicht und gingen jetzt auf deren anderer Seite in eine enge Schlucht hinunter. Der Bucklige hatte mit seinem Begleiter einen schmalen Fußpfad eingeschlagen, der in gerader Richtung in die Tiefe der Schlucht führte, in welcher es schon zu dunkeln begonnen hatte. Die Sonne war untergegangen, als die beiden Spaziergänger noch nicht den Kamm der Anhöhe erreicht hatten.

In die dunkele Tiefe der Schlucht schaute bedenklich der Consistorialpräsident, aber er folgte schweigend seinem Führer; er wollte oder durfte keine Furcht zeigen. Der Kleine schritt ruhig in dem schmalen Pfade der Tiefe zu, im Gehen wieder sprechend:

„Also zurück zu den vergangenen Zeiten! Erinnerst Du Dich noch des Lieutenant Hille?“

Herr von Römer schwieg.

„Du mußt Dich seiner erinnern,“ fuhr der Bucklige fort. „Er stand bei den braunen Husaren. Er war der große, schöne blasse, melancholische junge Mann, der wildeste Reiter im Regiment, der tapferste Officier in der Armee und der Geliebte Deiner Frau.“

Der Präsident fuhr nicht wieder auf; in seinem Inneren mochte, mußte es wüthen, rasen, wohl schon lange. Aeußerlich war er vollkommen ruhig geworden, denn ein Mann wie er mußte sein Aeußeres beherrschen können und kann es. Mit dieser Selbstbeherrschung sagte er:

„Mensch, Du bist der größte Bösewicht, den die Sonne bescheint.“

Der Bucklige sagte mit derselben Ruhe, mit der sein Begleiter gesprochen hatte:

„Ihr nanntet mich ja schon auf der Universität den Teufel, und Dein Teufel will ich werden, bin ich schon.“ Dann fuhr er fort: „Er, nämlich der Lieutenant Hille, war der Liebling aller Damen, und es war kein Frauenherz, das nicht rascher, nicht höher geschlagen hätte, wenn er auf seinem schlanken, langgestreckten, stolzen und wilden braunen Araber vorüberflog, oder wenn das Pferd sich bäumte, fast kerzengerade auf den Hinterfüßen stand, den Leib schüttelte, den schnaubenden Kopf und den Nacken zurückwarf, um den Reiter herabzuschleudern, und der blasse stolze Officier so ruhig da saß, als wenn er irgendwo angenehm geschaukelt werde. Er hörte nicht das Schnauben, fühlte nicht das Schütteln, das Stoßen, das Herumwerfen, wußte von keiner Gefahr, er schaute mit den melancholischen Augen nur in sein Inneres, in das wunde Herz in der mit Narben bedeckten Brust. Sie mußten sich dann erzählen, wie er als Knabe von vierzehn Jahren sich bei dem nächsten Officier seines Heimathdorfes gemeldet und gebeten hatte, den Krieg gegen die Franzosen mitmachen zu dürfen. Es war im Jahre 1813. Die Franzosen waren aus Rußland verjagt und die Deutschen wollten sie auch aus Deutschland hinausjagen. Der Knabe wurde angenommen; es war unmöglich, ihn mit seinen dringenden Bitten zurückzuweisen. Schon in der Schlacht bei Leipzig erwarb er sich das eiserne Kreuz, bei Laon ernannte ihn Blücher auf dem Schlachtfelde zum Officier, und bei Waterloo erhielt er den Orden pour le mérite. Und er war nicht einmal von Adel. Aber er war, wo es Muth und Unerschrockenheit galt, immer der Erste und der Kaltblütigste gewesen, und sein Körper trug fast unzählige Wunden, die das bezeugten. Und für Wunden, für Muth, für Orden und Uniformen und wilde Pferde und unerschrockene Reiter haben Frauenherzen ein Faible. Und dabei erzählten sie sich denn gar weiter, wie ihm auch das Herz so wund sei, ein paar glühende, dunkelschwarze französische Augen hätten es ihm angethan.

Bei Waterloo war er verwundet worden. Er hatte nicht darauf geachtet, und war mit der Armee weiter gezogen auf Paris zu. An der Seine hatte es ihn aber niedergeworfen, und man hatte ihn zurücklassen müssen, in einem stolzen alten Schlosse, wo eine mitleidige junge Dame den Kranken gepflegt hatte, um ihn mit ihren Augen und ihrer Liebe auf den Tod zu verwunden. Die stolzen Eltern hatten sie entfernt, aber sein Regiment gehörte zu denen, die noch ein paar Jahre in dem besiegten Frankreich Quartier machen mußten. Im Jahre 1817 führte ein Zufall ihn mit der Geliebten wieder zusammen; sie lebten Beide wieder auf, um nach wenigen Tagen in den Herzenstod der ewigen Trennung zu gehen. Er mußte mit seinem Regiment nach der deutschen Heimath zurückkehren; sie mußte in Paris irgend einem Marquis oder Vicomte ihre Hand reichen. Das war seine Herzenswunde, seine Melancholie, sein Schmerz. Und wo wäre eine Frau, die sich nicht berufen fühlte, eine solche Herzenswunde zu heilen, den Schmerz in laute, helle Liebeswonne umzuwandeln? Freilich kann es nur ein Engel. Aber ein Engel war Franziska von Wangen, und er erkannte den Engel mit dem reinsten, dem edelsten Herzen, und sie heilte sein verwundetes, und wenn er Rittmeister wurde, wollten sie heirathen. Premierlieutenant war er schon lange, der älteste im Regiment, allein er war bürgerlich, gar eines Bauern Sohn und nur auf dem Schlachtfelde zum Officier gemacht. Da konnte er kein Rittmeister im Regimente werden, überhaupt nicht in der Armee. In der Gensd’armerie boten sie es ihm an, aber das wollte er nicht, denn Gensd’arm ist nicht Jedermann gern. Als Lieutenant konnte er nicht heirathen; er war arm, hatte nur seine Lieutenants-Gage und Franziska von Wangen war arm wie er; ihr Vater, allerdings ein höherer Beamter, hatte gleichfalls nur seinen Gehalt und viele Kinder. Auf Eins rechneten sie noch. Der alte Blücher war zwar todt, aber Gneisenau lebte noch und Nostiz, und sie kannten den Muth und die Verdienste des Lieutenants Hille. Sie verwendeten sich auch für ihn, allein an maßgebender Stelle zuckte man über die alten Herren die Achseln und sprach mit Friedrich dem Großen: ,Ces anciens militaires finissent par radoter! (Diese alten Militärs werden schließlich albern.) Sind die Herren verrückt? Sprechen von Dankbarkeit für in schweren Zeiten geleistete Dienste! Von Pflichten! Wollen gar verlangen, daß in einem Husarenregimente ein bürgerlicher Campagne-Officier eine Schwadron bekomme, in der nur adelige Lieutenants stehen!‘

So standen die Sachen zu der Zeit, da mein braver Freund Georg von Römer als Regierungsrath in die Stadt versetzt wurde, in welcher das Regiment Hille’s in Garnison lag. Seine lebhaften, für alles Schöne empfänglichen Augen sahen Franziska von Wangen, das schönste Mädchen, das sie je erschaut hatten. Sein Herz, oder was man so nennt, war voll Gluth und Verlangen, sie mußte sein werden. Er machte ihr den Hof; er schmeichelte ihrem Vater und wußte sich Eingang in das Haus zu verschaffen. Er wurde ihr Anbeter, ohne den man sie nicht mehr sah. Er konnte es so werden, da Hille und Franziska, denen jede Aussicht zum baldigen Heirathen fehlte, nur heimlich verlobt waren, sich öffentlich nur selten und nur als fremde Personen sahen. Das Fräulein wies den überflüssigen Anbeter zwar zurück, kalt, frostig, stolz, doch es half nichts. Sie behandelten ihn dann mit der übermüthigsten Laune, und er kam immer wieder, nach den schwersten Demüthigungen. Er war reich, aus vornehmer Familie, sich der höchsten Laufbahn im Staatsdienste bewußt, und er hatte die Gunst des Vaters. Mein Freund Georg von Römer kam zu seinem Ziele. ‚Geht’s mit dem Himmel nicht, geht’s mit der Hölle!‘ sprach er mit dem Dichter.“

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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Der Teufel
aus: Die Gartenlaube 1868, Heft 31, S. 494–496
Fortsetzungsroman – Teil 2

[494] „Franziska war krank geworden,“ fuhr der kleine Bucklige fort; „eigentlich krank nicht, sie hatte ein starkes Schnupfenfieber, oder ein Zahngeschwür, oder wie ähnliche prosaische Indispositionen heißen, die den Menschen an Stube und Bett fesseln, ohne ihm herzhaft oder gefährlich zuzusetzen, die man aber gleichwohl Krankheiten nennt. Zu diesem Zustande erhält sie eines Tages ein anonymes Billet, in welchem ihr mitgetheilt wird, der Lieutenant Hille habe seit einigen Tagen Besuch von einer jungen fremden Person mit einem Kinde von etwa einem Jahre. Er sei über die plötzliche Ankunft der Fremden in hohem Grade erschreckt, könne sich ihrer aber nicht entledigen und habe sie heimlich in einem obscuren Gasthofe, zum Bären, glaube ich, einquartiert, wo er sie nur des Abends heimlich in Civilkleidern besuche.

Franziska gerieth außer sich und wurde wirklich ernsthaft krank. Sie phantasirte mehrere Tage in heftigem Fieber. Als sie wieder zu klarem Bewußtsein kam, sah sie sonderbar theilnehmende Gesichter um sich.

‚Muß ich denn sterben?‘ fragte sie.

‚Nein, nein, Du Theure. Der Arzt hat Dich im Gegentheil außer aller Gefahr erklärt. In drei Tagen kannst Du wieder aufstehen, in acht Tagen ausgehen.‘

‚Aber was ist es denn, was Ihr habt?‘

Sie sagten es ihr nicht, sondern sie wandten verlegen die Gesichter ab. Sie ahnte, was es war, denn woran man selbst immer und immer wieder denken muß, das glaubt man auch in den Augen Anderer zu lesen. Aber auch sie konnten es nicht sagen.

Eine Mutter hatte sie nicht mehr. Sie war die älteste der Geschwister, ihre jüngere Schwester ein Kind von vierzehn Jahren. Das Kind hatte vorher nicht die Vertraute ihres Herzens sein können; sie durfte es auch jetzt nicht dazu machen, wenngleich sie sah, daß auch das Kind etwas wußte. Der Vater war kalter Geschäftsmann und niemals der Vertraute der Tochter gewesen. Franziska hatte es für ihre Pflicht gehalten, ihm ihr geheimes Verhältniß zu dem Lieutenant zu entdecken, ihn um seine Einwilligung zu der Verbindung zu bitten. Er hatte sie widerwillig gegeben; er liebte die Officiere überhaupt nicht, die armen bürgerlichen erst recht nicht. So hatte er zur Bedingung seiner Einwilligung gemacht, daß das Verhältniß nach wie vor geheim bleibe, der Lieutenant Hille eben so wenig wie früher in das Haus komme, kurz, äußerlich Alles bleibe, wie es war, bis der Lieutenant Rittmeister werde. Vater und Tochter hatten seitdem einander noch ferner gestanden.

Eine alte Tante war noch im Hause und stand seit dem Tode der Mutter dem Haushalte vor. Sie war gutmüthig, aber der Adelstolz in der Familie; sie haßte daher den Lieutenant Hille, seitdem sie wußte, daß er der Verlobte ihrer Nichte war. Franziska mit ihrer Geburt, ihrer Schönheit, ihrem Geiste mußte künftig eine höhere Stellung im Leben einnehmen, als die Frau eines Gensd’armerierittmeisters in einer kleinen Stadt zu werden. Das Fräulein kannte die Avancementsgrundsätze in der Armee. Das Verhältniß zwischen Franziska zu Vater und Tante war fast ein gespanntes geworden, als mein alter Freund, der Regierungsrath von Römer, in das Haus gekommen, der Anbeter Franziska’s geworden, von ihr kalt und launisch und höhnisch aus der Thür gewiesen, aus dem Hause geworfen worden war und doch in seiner zärtlichen und treuen Liebe, oder, wie man es auch übersetzen kann, in seiner selbstsüchtigen und herrschsüchtigen, zuletzt geradezu rachsüchtig gewordenen Leidenschaft immer und immer wieder kam und zu ihren Füßen schmachtete.

So hatte Franziska im Hause Niemanden, dem sie sich entdecken und mittheilen durfte. Sie genas, wie der Arzt es gesagt hatte, allein sie konnte das Bett nicht verlassen. Sie magerte täglich mehr zum Skelet ab und fühlte sich täglich matter. Der Arzt schüttelte den Kopf, da doch die Krankheit beseitigt war. Tante Leonore spionirte, fand das zerknitterte, vielleicht hundert Mal von der Kranken gelesene anonyme Billet und sprach darüber mit dem Arzt.

‚Die Ungewißheit würde sie tödten; sie muß Alles wissen,‘ entschied der Arzt.

Die Tante sprach mit Franziska offen und ehrlich.

‚Franziska, während Du gestern schliefst, habe ich das Zettelchen gelesen, welches Du unter Deinem Kopfkissen hältst.‘

In das schneeweiße Gesicht Franziska’s ergoß sich die dunkelste Röthe.

‚Es ist leider Alles wahr,‘ fuhr die Tante fort. ‚Die Person ist noch da mit dem Kinde. Der Lieutenant Hille geht noch jeden Abend heimlich zu ihr. Es ist ein Scandal. Die ganze Stadt spricht davon. Wir durften es Dir lange nicht sagen, Du armes Kind. Aber endlich –‘

Die Tante wollte trösten. Franziska unterbrach sie.

‚Ich danke Dir, liebe Tante. Verlaß mich jetzt; ich muß allein sein.‘

Sie sprach es bittend, aber in einer entschlossenen Weise, der nicht zu widerstehen war. Die Tante ließ sie allein und horchte draußen an der Thür. Sie hörte ein unterdrücktes Weinen, das in seiner Heftigkeit plötzlich gewaltsam und laut durchbrach. Zu der Tante hatte sich die jüngere Schwester Emma gesellt.

‚Sie weiß Alles?‘ fragte das Kind.

‚Was wußtest Du denn?‘

Das Kind antwortete nicht. Das Herz wollte ihm bersten, denn es liebte die ältere Schwester. Es stürzte zu der Kranken.

‚Du arme, arme Franziska! Es ist Alles wahr.‘

‚Was weißt Du denn?‘ fragte auch Franziska, aber in welch’ einem anderen Tone!

‚Sie sprechen schon in der Schule davon,‘ sagte das Kind.

‚Erzähle mir, was sie in der Schule sprechen.‘

Emma erzählte. Es war dasselbe, was in dem Billet stand und was die Tante mitgetheilt hatte. Das Kind wußte nur noch Einzelnheiten. Als sie mit ihrer Erzählung zu Ende war, hatte Franziska ihre Thränen getrocknet.

‚Verlaß mich,‘ bat sie auch das Kind.

Als man Franziska nach einer Stunde wiedersah, war eine auffallende Veränderung mit ihr vorgegangen. Sie war ruhig, klar, entschieden; ihr Auge blickte hell, ihre Züge hatten jeden Ausdruck von Schmerz verloren. Sie mußte einen ebenso entscheidenden, wie starken und festen Entschluß gefaßt haben.

Am nächsten Tage konnte sie das Bett verlassen, am zweiten in das Gärtchen hinter dem Hause in die warme, milde, stärkende Frühlingsluft hinaustreten, in den Duft des Flieders und der Rosen. Und Frühlingsluft und Frühlingsduft stärkten sie von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Am fünften Tage fragte sie den Arzt, ob sie schon in die Abendluft gehen dürfe.

‚Wenn Sie sich in Acht nehmen.‘

‚Ich werde es.‘

Als es Abend geworden war, nahm sie den Arm der Schwester.

‚Gehen wir in die Vorstadt zum Bären.‘

Sie gingen hin. Der Gasthof zum Bären lag an der Landstraße, die durch die Vorstadt lief. Ihm zur Seite war ein großer Garten; in denselben führte ein in der dichten Hecke halb verstecktes Pförtchen, zu dem man durch einen sich zwischen Gärten hinziehenden schmalen Weg gelangte. Auf diesem Abends menschenleeren Pfade gingen die beiden Schwestern zu dem Pförtchen.

‚Vor halb neun Uhr kommt er nicht?‘ fragte Franziska die jüngere Schwester.

‚Niemals früher.‘

Auf den Thürmen der Stadt schlug es acht, als sie durch das Pförtchen in den Garten traten. Es war ein großer Obst- und Gemüsegarten und es befanden sich mehrere Lauben darin; eine von ihnen lag dicht an einer Seitenhecke, Franziska zeigte nach ihr.

‚Dort soll sie sein?‘

‚Dort kommen sie jeden Abend zusammen.‘

Sie gingen zu der Laube. Sie mußten leise und vorsichtig gehen, denn der Mond schien hell. Aber zu der Laube führte ein dunkler Gang, den auf der einen Seite die hohe, dichte Gartenhecke, auf der anderen Spaliere von Aepfel- und Birnbäumen einfaßten. Sie kamen in die Nähe der Laube, es war still darin, doch auf ihrer anderen Seite bewegte sich ein langsamer Schritt hin und her.

‚Dort ist sie,‘ flüsterte die jüngere Schwester, ‚sie wartet auf ihn.‘

Der Schritt kam näher und schien um die Laube herumkommen zu wollen. Die beiden Schwestern drückten sich in die Hecke, denn hinter der Laube her kam Jemand zum Vorschein; es war eine Frauensperson in ländlicher Tracht. Der Mond beschien sie hell. [495] Es war eine große, volle, schöne Gestalt, man unterschied frische, anmuthige Gesichtszüge. Sie trug ein Kind auf dem Arme und blieb wenige Schritte von der Laube stehen; dann schaute und horchte sie nach dem Pförtchen hin, durch welches die beiden Schwestern eingetreten waren. Als sie nichts wahrnahm, kehrte sie zurück, langsam, wie sie gekommen war; jenseits der Laube ging sie wieder auf und ab.

‚Gehen wir,‘ sagte Franziska zu der Schwester.

Sie sagte es mit der vollen Ruhe, die sie seit fünf Tagen hatte. Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren, allein nur bis an das Pförtchen, denn nicht weit von diesem war ebenfalls eine Laube; in diese begaben sie sich, Franziska wollte darin die Ankunft des Lieutenants erwarten.

Emma sagte ängstlich: ,Wenn er zufällig hierher käme und uns fände!’

‚Und was sollte das?‘ erwiderte Franziska mit ihrer Ruhe.

‚Was würdest Du ihm sagen?‘

,Ueber meine Lippen würde kein Wort kommen, aber der Mond scheint hell, und er würde in meinen Augen lesen.’

Nach zehn Minuten öffnete sich leise das Pförtchen. Jemand trat rasch in den Garten. Franziska blickte nach ihm durch eine Oeffnung der Laubenwand.

,Er ist es!’ sagte sie.

Es war der Lieutenant Hille, der zu der Laube ging, an welcher die Frauensperson mit dem Kinde auf ihn wartete. Die beiden Schwestern glaubten bald dort leises Geflüster zu hören.

,Gehen wir,’ sagte Franziska wieder. Sie sagte es mit jener Ruhe, die jetzt eine unzerstörliche geworden war. Sie hatte ja jetzt Gewißheit, volle, zweifellose Gewißheit. Am andern Morgen -“ der Erzähler wurde unterbrochen.

„Wozu,“ fragte der Herr von Römer, „willst Du mir Dinge mittheilen, die ich kenne, vielleicht besser kenne, als Du?“

„Ah,“ sagte der Buckelige, „auch was ich bisher erzählte, war Dir schon bekannt.“

„Was Du vom Lieutenant Hille sprachst, war eben Stadtgespräch.“

„Und der anonyme Brief? Man sagte, er sei von Dir!“

„Es war erlogen.“

„Und was das Stadtgespräch betrifft, wer hatte es gemacht?“

„Weiß ich es?“

„Ich werde es Dir sagen –“

„Sage mir vorher, wie weit und wie lange Du mich in dieser finsteren Schlucht noch führen wirst?“

„Wir sind bald am Ziele.“

„Und wo ist dieses Ziel?“

„Bei einer Leiche.“

Es war eine Auskunft, die der Consistorialpräsident wohl nicht erwartet hatte. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Du fürchtest Dich?“ fragte Sebastian Brand.

„Nein,“ erwiderte der Präsident kurz.

Sie setzten ihren Weg fort und der Buckelige sprach weiter: „Ich bin auch bald mit meiner Erzählung zu Ende, doch ehe ich sie fortsetze, eine Frage. Wo war Deine Frau, als Du das Haus verließest?“

„Wozu die Frage?“ sagte der Herr von Römer.

„Sie könnte zur Sache gehören.“

„Zu welcher Sache?“

„Alle Wetter, Römer, zu Deiner. Antworte mir.“

„Meine Frau war vor mir ausgegangen.“

„Wohin?“

„Zu einer Freundin.“

„Hm. Und wie lange wollte sie ausbleiben?“

„Sie ließ zurück, der Bediente solle sie um neun Uhr mit der Laterne abholen.“

„Wir werden jetzt bald halb sieben haben. Aber kommen wir auf meine Erzählung zurück. Am anderen Morgen also schrieb sie drei Zeilen an Dich:

‚Mein Herr, ich ersuche Sie, mir heute um zwölf Uhr Ihren Besuch zu schenken.
     Franziska von Wangen.’

Du kamst. Flogst Du auf Flügeln der Liebe oder der Angst des Verbrechers hin? Merke wohl auf, ich spreche nicht von der Angst des Gewissens; Menschen, wie Du, kennen die nicht. Du kamst. Du fandest sie in Gesellschaft ihres Vaters. Sie hatte zu ihm gesagt: ,Vater, ich bitte Dich, Punkt zwölf in meinem Zimmer zu sein. Herr von Römer wird zu mir kommen.’

‚Was will er?’ hatte der Vater gefragt.

,Du wirst es erfahren.’

Mit dem Glockenschlag zwölf warst Du da. Das Herz bebte Dir doch; Du warst sogar sehr blaß. Sie empfing Dich mit den Worten:

,Herr von Römer, Sie baten mich mehrmals um meine Hand.’

‚Gnädiges Fräulein –’

‚Wünschen Sie meine Hand noch?’

Du machtest eine banale Phrase über höchstes Glück, Seligkeit des Himmels, über Deine Liebe bis zum Tode, und dergleichen Dinge. Sie reichte Dir ihre Hand hin, Du bedecktest sie mit Küssen; der Vater sprach gerührt seinen Segen, und Ihr wart Verlobte. Der Lieutenant Hille nahm vier Wochen später seinen Abschied und verließ die Stadt. Gensd’armerierittmeister hatte er auch jetzt nicht werden wollen. Vier Wochen nachher war Franziska von Wangen Frau von Römer.

Und jene Geliebte Hille’s mit ihrem Kinde? Sie war seine Schwester, eine ehrliche, verheirathete Bäuerin. Sie war mit ihrem Kinde hinten aus der Provinz Westphalen gekommen. Sie war gut situirt und hatte die Reisekosten daransetzen können, um einmal nach langen Jahren den Bruder wieder zu sehen. Sie hatte auch noch ein Anliegen, das sie ihm mündlich an’s Herz legen wollte. Der jüngste Bruder sollte Soldat werden; er war schwach und engbrüstig, da sollte der Bruder Premierlieutenant ihn frei machen. Die wohlhabende Bauernfrau hatte die Reise mit der Post gemacht, denn Eisenbahnen gab es damals noch nicht. Unterwegs war sie mit einem älteren Officier zusammengetroffen und eine Strecke zusammen mit ihm gereist. Dem hatte die hübsche, frische westphälische Bauernfrau mit dem offenen, natürlichen Wesen gefallen, und sie hatte ihm erzählen müssen, wohin sie wolle. Sie hatte ihm Alles mitgetheilt, auch ihre Freude, den Bruder wiederzusehen, der damals, als sie ihn zum letzten Male gesehen, Pferdejunge gewesen sei und nun bald Rittmeister werde und sich wundervoll ausnehmen müsse, wenn er in der braunen, silberbetreßten Uniform an der Spitze seiner Escadron reite. In Münster habe sie die grünen Husaren mit den goldenen Tressen gesehen, aber sie habe sich sagen lassen, daß die braunen noch besser aussähen. Wenn sie nun so an der Seite des vornehmen Officiers in der Stadt einhergehe, sie, die einfache Bauerfrau mit der altmodischen Bauerntracht, wie würden sich da die Leute verwundern, und auch die anderen Herren Officiere. Da hatte der alte Officier im Postwagen bedenklich den Kopf geschüttelt.

‚Meine liebe Frau, ich kenne Ihren Herrn Bruder nicht. Aber wenn Sie wissen, daß er Rittmeister werden soll, so sprechen Sie ihn doch zuerst ohne Zeugen, bevor Sie offen zu ihm oder gar mit ihm gehen.‘

Die Frau hatte gestutzt. ,Wie denn das sei?’

‚Wie das sei? Bürgerliche Officiere sehe man überhaupt ungern in der Armee, zumal in den höheren Chargen, und wenn ihr Bruder sich einmal öffentlich mit einer Bäuerin zeige und man höre, daß es seine Schwester sei, so würden seine Cameraden, die adeligen Herren Officiere, so viele Witze darüber machen, daß es mit seinem Avancement für immer vorbei sei.’

Die arme Frau weinte über diese Entdeckung ihre bitteren Thränen. Umkehren konnte sie nicht mehr; sie war nahe an dem Ziele ihrer Reise. Aber ihr Entschluß war gefaßt. Sie bat ihren Reisegefährten, Niemandem zu sagen, was sie ihm mitgetheilt hatte, und dieser versprach es ihr. Er fuhr weiter, sie stieg in dem Gasthof in der Vorstadt ab, entdeckte keinem Menschen, wer sie war, spähete die Wohnung ihres Bruders aus, schlich sich Abends im Dunkel zu ihm, weinte sich vor Freude aus, ihn wiederzusehen, und theilte ihm dann die Worte des alten Officiers und ihren felsenfesten Entschluß mit, nur unter der Bedingung zu bleiben, daß kein Mensch hier erfahre, daß sie seine Schwester sei. Er mußte einwilligen; er that es auch wohl im Hinblick auf das, was er seiner heimlichen Verlobten schuldig sei. Daß die Bosheit der Welt ihren Verkehr mit dem Bruder dennoch erfahren und ihm eine andere Bedeutung, die giftigste von der Welt, geben könne, daran hatten die beiden arglosen Menschen nicht gedacht. Ein Schurke gab sie ihm. Erst Frau von Römer erfuhr die Wahrheit. Sie war die Frau des raschen, aber auch des energischen, festen Entschlusses. Niemals hast Du auch nur eine Ahnung davon haben können, daß sie Deinen Schurkentrug kannte. In dieser Stunde hörst Du es zum ersten Male. Und ich bin nun [496] am Ende meiner Erzählung, und dort liegt auch das Ziel unserer Wanderung vor uns.

Siehst Du das trübe Licht dort unter den Bäumen? Aber gehen wir langsamer; tritt leise auf, Wir müssen im rechten Moment eintreffen und dürfen vorher nicht stören. Oder noch besser, setzen wir uns hier, denn wenn ich auch mit meiner Erzählung zu Ende bin, so habe ich Dir doch noch einige Eröffnungen zu machen.“

Sie waren noch immer in der engen Bergschlucht, um sie her lag die vollständige Finsterniß der Nacht. Sie waren vorangegangen auf einem Pfade, den sie nicht sahen, den sie aber auch nicht verfehlen konnten, da fast unmittelbar zu ihren beiden Seiten nur Berg und Felswand sich befanden. Der Pfad führte unter dicht belaubten Bäumen. Menschen waren ihnen nicht begegnet; an Häusern waren sie nicht vorbeigekommen. Kein Laut hatte ihr Ohr getroffen. Die Finsterniß und die Stille herrschten noch um sie her. Nur in einiger Entfernung von ihnen sahen sie durch die Zweige der Bäume das Licht, von dem der Bucklige gesprochen hatte. Es war unten in der Schlucht und schien aus einem Hause zu kommen und seinen trüben Schein durch ein Fenster zu ebener Erde zu werfen.

Am Wege lag ein umgehauener Baumstamm. Der Bucklige setzte sich auf ihn und lud seinen Gefährten ein, sich neben ihm niederzulassen. Herr von Römer setzte sich zu ihm. Er war in diesem Augenblick wohl mehr in der Gewalt einer großen Neugierde und Spannung, als in der des Buckligen, der schon auf der Universität den Beinamen „der Teufel“ geführt und der noch vor kaum einer halben oder Viertelstunde erklärt hatte, er wolle sein, des Consistorialpräsidenten, Teufel sein, er sei es schon.

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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Der Teufel
aus: Die Gartenlaube 1868, Heft 32, S. 508, 510–511
Fortsetzungsroman – Teil 3

[508] „Stehen wir auf, Freund Römer, und gehen wir zu Deiner Frau,“ sagte der kleine Buckelige, nachdem sie eine Zeit lang auf dem umgehauenen Baumstamms ausgeruht hatten.

„Zu meiner Frau willst Du mich führen?“ rief der Herr von Römer.

„Ja.“

„Du sprachst von einer Leiche!“

„Auch davon.“

Sie erhoben sich und schritten auf das Licht zu, das noch immer seinen trüben Schein durch die Zweige und Blätter der Bäume und Sträuche der Schlucht warf. Sie gingen schweigend neben einander, langsam, vorsichtig, mit leisem Schritt. Der Buckelige hatte es so von dem Präsidenten verlangt, damit sie keine vorzeitige Störung verursachten, dem Herrn von Römer aber schien hieran noch mehr gelegen zu sein, als seinem Führer; er sollte ja seine Frau finden. Sie waren noch wenige Schritte von dem Lichte entfernt und standen vor einem kleinen niedrigen Hause. Soviel man in der Dunkelheit erkennen konnte, schien es leicht und freundlich wie ein Schweizerhäuschen gebaut zu sein; an den Mauern rankten Weinreben hinauf, und die Fenster waren mit Jalousieen verschlossen, die man an einem der ersteren, an dem, durch welches der Lichtschein drang, zurückgelegt hatte. Man vernahm in dem ganzen Hause keinen Laut; auch in dem Gemache, in dem das Licht war, schien sich nichts zu bewegen.

„Treten wir näher hin,“ flüsterte der Buckelige dem Präsidenten zu. „Aber verräthst Du durch irgend einen Ton unsere Anwesenheit, es wäre ein Verrath, den jene Strafe treffen würde, die Du kennst.“

Auch diese Mahnung des Buckeligen war unnöthig. Sie schlichen auf den Fußspitzen an das zu ebener Erde gelegene, erleuchtete niedrige Fenster.

„Blicken wir hindurch, doch vorsichtig, damit wir nicht gesehen werden können.“

Sie blickten durch die Scheiben und sahen in ein freundliches Stübchen. Eine helle Tapete bedeckte die Wände, auf Consolen standen weiße Büsten, und in der Mitte befand sich ein runder Mahagonytisch. An der inneren Wand stand ein Sopha, nur vor dem einen Ende des Sopha ein Fauteuil, neben welchem eine Frau an der Erde kniete. Auf dem Sopha lag ein Mann in der Uniform der Officiere der braunen Husaren, und vor diesem lag die Frau auf ihren Knieen. Sie hielt seine beiden Hände in den ihrigen. Ihr Gesicht ruhte auf seinem Gesichte. Das Alles beschien eine Lampe, die auf dem runden Tische stand, aber die Lampe beschien keine Bewegung. Der Officier auf dem Sopha lag regungslos da, wie ein Todter; die knieende Frau vor ihm schien völlig leblos zu sein.

„Sind sie Beide todt?“ fragten die Augen des Herrn von Römer seinen Begleiter.

Der Buckelige hatte von einer Leiche gesprochen. Waren zwei da? Sebastian Brand antwortete auf die Frage nicht, sondern fragte seinerseits:

„Kennst Du die Frau?“

Auch der Präsident antwortete nicht.

„Es ist die Deinige,“ sagte der Buckelige. „Auch über den Officier kannst Du nicht in Zweifel sein.“

„Sind sie todt?“ fragten jetzt die Lippen des Herrn von Römer.

„Hm,“ erwiderte der kleine Buckelige, „eine gemeinschaftliche Vergiftung? Aber still, es regt sich etwas.“

Es regte sich in der That etwas, aber nicht in dem Gemach, es schien vielmehr an eine Thür geklopft zu werden. Man mußte es auch in dem Gemache hören, wenn dort Jemand war, der hören konnte. Der Officier und die Frau rührten sich nicht; da wurde noch einmal geklopft, und jetzt an die Thür des Gemachs. Die Frau bewegte sich; sie erhob das Haupt, das auf dem des Officiers geruht hatte. Das Gesicht des Officiers wurde frei, es war das bleiche Gesicht eines Todten. Die Augen waren ihm geschlossen. Die Frau beugte sich noch einmal darüber hin und drückte Küsse auf die Lippen des Todten. Dann erhob sie ihre ganze hohe, edle Gestalt, und, wie sie sich wandte, sah man in ihr schönes, edles Gesicht, das bleich war, wie das des Todten. Zu diesem mußte sie sich noch einmal wenden, noch einmal mußte sie sich zu ihm niederbeugen, ihre Lippen auf die seinigen pressen. Eine Thür in dem Gemache öffnete sich, und eine verschleierte Dame erschien darin.

„Franziska!“ sprach sie bittend.

Die edle Frauengestalt erhob sich noch ein Mal von dem Todten und schwankte zu der verschleierten Dame. Diese zog sie sachte aus dem Gemache. Der Todte war jetzt allein.

„Hast Du ein Messer bei Dir?“ fragte Sebastian Brand Herrn von Römer.

„Wozu die Frage?“

„Teufel, Mensch! Sie war treu bis in den Tod. Aber [510] ihm, dem Geliebten, nicht ihrem Manne. Hast Du kein Messer bei Dir?“

„Nein.“

„So habe ich einen Dolch. Ich steckte ihn aus Vorsorge zu mir, für Dich, wenn Du kein Messer hättest. Ein Dolch ist zudem poetischer, romantischer. Hier, nimm!“

Der Buckelige zog in der That einen Dolch hervor, den er Herrn von Römer hinhielt, welcher ihn jedoch nicht nahm.

„Ah, hast Du keine Ehre, keine Galle, keinen Muth mehr? Sie soll leben? Zum Teufel, Du verdirbst mir eine große Freude. Ich bin eine poetische Natur. Wir hätten die Beiden zusammen begraben, die beiden Särge in Ein Grab gelegt, die beiden treuen Herzen – Da kommen sie, Du willst also nicht? Noch ist es Zeit. Die Welt meint, sie habe sich selbst den Todesstoß gegeben, um den Geliebten nicht zu überleben. Auf Dich fiele kein Verdacht. Nun?“

„Satan!“ knirschte Herr von Römer.

„Treten wir zurück,“ sagte der Buckelige.

Mau hörte vom Hause ein Geräusch. Sebastian Brand und sein Begleiter traten zurück, hinter Bäume, die zur Seite standen. Die Thür des kleinen Hauses öffnete sich, und ein alter Diener mit einer Laterne schritt heraus; ihm folgten zwei tief verschleierte Damen. Alle drei gingen in die Schlucht hinein, der Stadt zu.

„Gute Nacht, Freund Römer,“ sagte der Buckelige zu seinem Begleiter. „Ich halte Wache bei dem armen Todten, der seliger entschlafen ist, als er es sich in seinem Leben wohl hätte träumen lassen.“


2.

Das Leichenbegängniß war vorüber. Es war ein doppeltes gewesen, freilich nicht ganz so, wie der buckelige Advocat Sebastian Brand es sich gedacht, oder wie er doch davon zu seinem Freunde, dem Consistorialpräsidenten von Römer, gesprochen hatte. Wohl waren zwei Särge zu gleicher Zeit zum Kirchhofe gebracht, auch zu dem nämlichen Kirchhofe; sie waren zwar nicht in das nämliche Grab gelegt, aber die armen müden Entschlafenen fanden doch ihre letzte Ruhestätte nahe beisammen.

Der Buckelige hatte für das Alles so gesorgt. Er war ein alter Freund des verstorbenen Lieutenants gewesen; sie hatten sich in der Garnisonsstadt des Lieutenants kennen gelernt, als der Buckelige dort bei einem Gericht gearbeitet hatte, und waren, wie verschieden in so Manchem ihre Naturen sein mochten, innige Freunde geworden. Als der Lieutenant später seinen Abschied nahm, lud der Advocat ihn ein, zu ihm in seine Vaterstadt zu kommen; der Buckelige hatte hier eine hübsche ländliche Besitzung, nahe bei der Stadt, es gehörte dazu jenes reizende kleine Schweizerhaus am Ende der schmalen Schlucht, an größere Gartenanlagen dort sich anschließend. Die Schlucht hieß die Sebastiansschlucht, schon seit alter Zeit, da ein Vorfahr des Advocaten, der gleichfalls den Vornamen Sebastian führte, die Anlagen am Ende der Schlucht geschaffen hatte.

Das Häuschen räumte der Buckelige dem Freunde ein, und sie verlebten darin und in den schönen Anlagen daneben manche stille, das Herz des so schwer geprüften Officiers tröstende Stunde, bis dieser darin starb. Der Advocat hatte für das Begräbniß seines Freundes schon die Vorbereitungen getroffen, als auch die Präsidentin von Römer starb. Jetzt hob er alle seine Veranstaltungen wieder auf.

Erst als das Begräbniß der Frau von Römer angeordnet war, nahm er die Sorge für das des Freundes wieder auf. Er kaufte mit theuerem Gelde eine Begräbnißstätte neben dem Grabe der Präsidentin und ließ den Leichenzug aus dem Sterbehause zu einer Stunde abgehen, daß beide Züge zu gleicher Zeit auf dem Kirchhofe eintreffen mußten. Sie trafen auch zu gleicher Zeit ein, der der Präsidentin, welcher aus einem glänzenden Gefolge bestand, wenige Minuten früher. Hinter dem hohen, reich und schwer mit weißen und grünen Kränzen geschmückten, von vier Pferden gezogenen Trauerwagen mit dem Sarge der Präsidentin gingen der Präsident von Römer und in seiner tiefen Trauer der greise, gebeugte Vater der Verstorbenen, der Geheimrath von Wangen; in ihrer Mitte führten sie den sechsjährigen Knaben der Verblichenen. Hinter ihnen kam, gleichfalls zu Fuße, Alles, was an höheren Beamten in der Stadt und an Adel in der Stadt und Umgegend war; auch die Generalität der Hauptstadt der Provinz und die höheren Officiere der darin garnisonirenden Regimenter fehlten nicht, und eine Anzahl von Trauerwagen schloß sich an.

So bewegte der lange Zug sich glänzend und stolz auf den Kirchhof, hinter dem Sarge einer unglücklichen Frau, die ein paar Jahre glücklicher, stiller Liebe genossen hatte, um dann das Leben an der Seite eines Elenden zu vertrauern, bis ein entsetzlicher Tod – Aber bleiben wir bei den Leichenbegängnissen.

Dem glänzenden und stolzen Zuge folgte ein einfacher, bescheidener; der schwarze Sarg war nur mit einem alten Husarensäbel geschmückt und wurde nicht gefahren, sondern sechs Männer trugen ihn; als erste Leidtragende folgte ihm eine Bäuerin an der Seite des kleinen, buckeligen Advocaten.

Es war wohl ein sonderbares Paar, aber wer die Beiden sah, dem wollte das Herz doch recht schwer werden. Die Bäuerin war eine so schöne stattliche Frau, und ihre schwarze, eng anliegende, einfache Trauerhaube umschloß einen so tiefen Schmerz, dem die Ehre, die dem verstorbenen Bruder erwiesen wurde, nur neue Thränen der Rührung verleihen konnte. Und das Gesicht des kleinen Advocaten blickte mit einem so finstern, fast wilden Schmerz drein, daß die, welche es sahen, ein Grausen überlaufen wollte.

Den Beiden folgte ein langer Zug, ein längerer, als der war, der zuerst den Kirchhof beschritten hatte. Es waren Alles einfach und meist altmodisch gekleidete Männer, wie auch jene Sechs, die den Sarg trugen. Alle zeigten den stillen, den ruhigen, aber desto innigeren Schmerz braver muthiger Cameraden, die den Bravsten und Muthigsten von ihnen zum Grabe geleiten. Drei alte Invaliden und drei junge Landwehrleute trugen den Sarg, Invaliden und Landwehrleute folgten ihm in unabsehbarer Reihe. Die Invaliden sämmtlich in ihren alten, abgeschabten und längst aus der Armeemode gekommenen Uniformen, die Landwehrleute in ihren einfachen, unscheinbaren Litewken. Wie stachen jene glänzenden Uniformen der Generäle und Obersten in dem andern Zuge dagegen ab! Aber jene alten, abgeschabten und einfachen Röcke waren in der Feldschlacht gewesen, im Pulverdampf, im Kugelregen, im wilden, heißen Schwerterkampfe; und die neuen glänzenden, mit Gold und Silber betreßten Uniformen hatten nur Paraden und andere Hoffeste und Bälle und Soiréen gesehen.

Der doppelte Leichenzug hatte Tausende von Neugierigen aus der großen Stadt zu dem Kirchhofe gezogen. Den Glanz und Stolz des ersten hatte die Menge mit einer Neugierde angestarrt, von welcher eben Glanz und Stolz jede Theilnahme zurückhielten. Dem Sarge und Gefolge des Lieutenants wandte sich eine mehr als gewöhnliche Theilnahme, vielmehr jene innige, herzliche, zahlreich anerkennende und bewundernde Trauer zu, die das Volk den Männern widmet, welche ihm durch ihr Leben, durch ihre Thaten angehören. Es gab sich diese Theilnahme namentlich auch in den Gesprächen der vielen Zuschauer kund, die wieder und immer wieder die Verdienste des braven Officiers hervorhoben. Hinsichtlich des anderen Leichenzuges war es dagegen hauptsächlich das Plötzliche des Todes selbst, worauf sich das allgemeine Interesse lenkte. Die Einen wollten wissen, die Präsidentin sei in Folge eines Schlaganfalles so jäh aus dem Leben gerufen worden, Andere sprachen gar von einem Selbstmorde, der hier vorliege. –

Das doppelte Leichenbegängniß war vorüber: die Invaliden und Landwehrmänner, die dem Lieutenant Hille das letzte Geleite gegeben hatten, verließen paarweise still den Kirchhof; die vornehmen Herren, welche der Leiche der Frau von Römer gefolgt waren, bestiegen die Trauerwagen, und der Advocat Sebastian Brand führte die Schwester des begrabenen Officiers zu seiner Wohnung in der Stadt.

„Sie bleiben bis morgen hier, liebe Frau Schulze Mersmann, ich führe Sie nachher in die Sebastiansschlucht und zeige Ihnen die Plätze, an denen unser verstorbener Freund in Liebe gelitten und in seinem Schmerze sich wieder erhoben hat. Ich zeige Ihnen auch einen anderen Platz, an dem jene andere Verstorbene, an deren Seite unser Freund ruht, von allen ihren Leiden erlöst wurde, und erzähle Ihnen dabei, wie Ihr Bruder um diese Frau und die Frau wieder um Ihren Bruder starb.“

Die Frau Schulze Mersmann sah ihn verwundert, fragend an, er aber hatte keine Antwort für sie. Die Trauerwagen fuhren an ihm und der Bäuerin vorüber, er hatte in einen von [511] ihnen hineingeblickt und es zuckte plötzlich heftig in ihm, dann wandte er sich zu seiner Begleiterin.

„Hören Sie einmal, Frau Schulze, wenn Ihr Vater Ihre Mutter ermordet hätte, möchten Sie es lieber wissen oder nicht wissen?“

„Um Gotteswillen, Herr Doctor!“ rief die Frau.

„Antworten Sie mir, liebe Frau Schulze.“

„Aber wie kommen Sie zu solch’ einer Frage?“

„Hm, sie lag mir nahe. Ihre Antwort?“

Die Frau sann lange nach. „Es wäre schrecklich!“ sprach sie für sich, dann war sie mit sich klar geworden. „Ich möchte es um Alles in der Welt nicht wissen.“

„Ja, ja, ich kann es mir denken,“ sagte der Advocat, „aber – Hören Sie weiter, Frau Schulze, ein Mord muß bestraft werden, nach göttlichen, wie nach weltlichen Gesetzen.“

„In der Bibel,“ bemerkte die Frau, „steht: ,wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden!’“

„Hm, hm, Frau Schulze, Christus hat das wohl nicht gesagt, indeß lassen wir hier die Bibel. Wenn also der Mord, also der Mörder bestraft werden muß, so muß das die Welt erfahren und mithin auch die Kinder des Mörders, und Recht muß sein, Frau Schulze.“

„Der liebe Gott wird es am besten wissen, Herr Doctor.“

„Sie meinen, der Zufall!“ sagte der Advocat und schüttelte bei den Worten fast zornig den Kopf.

Die Frau verstand seine Worte und sein Kopfschütteln nicht. Sie gingen schweigend weiter.

In dem Wagen, in den der Advocat geblickt hatte, saßen der Präsident von Römer und sein Schwiegervater, der Geheimrath von Wangen. Sie saßen schweigend nebeneinander, doch dem Blick des Advocaten war der des Präsidenten begegnet, und Herr von Römer war plötzlich erblaßt. Der Geheimrath bemerkte es, sagte zwar nichts, aber er schien darüber nachzugrübeln. Nach einer Weile sprach er zu seinem Nachbar: „Herr Sohn, Sie schrieben mir in Ihrem ersten Schmerze sehr eilig. Sie konnten mir daher nur mit wenigen Worten den schnellen Tod Franziska’s melden. Meine Geschäfte erlaubten mir nur erst vor wenigen Stunden hier einzutreffen, und so weiß ich noch nichts über die näheren Umstände des schmerzlichen Ereignis. Dürfte ich Sie um deren Mittheilung bitten?“

„Es wird mein Herz zerreißen, dessen Wunden noch so heftig bluten,“ erwiderte der Präsident.

„Ich denke es mir. Aber würde es später weniger so sein?“

Der Präsident mußte erzählen:

„Ein unglücklicher Fall von einem Felsenstücke raubte ihr das Leben.“

„Das schrieben Sie mir. Aber die Umstände?“

„Am vorigen Dienstag machte sie einen Spaziergang. Ich hatte sie gebeten, nicht auszugehen, denn da ich zu arbeiten hatte, konnte ich sie nicht begleiten. Sie war jedoch in einer sonderbaren Aufregung, wie sie schon seit mehreren Tagen unruhig gewesen, ohne daß sie mir den Grund mittheilte, ohne daß ich ihn errathen konnte. Da trat sie am Dienstag gegen Abend in mein Zimmer, angekleidet zum Ausgehen, und sagte mir kurz, sie werde eine Promenade machen; wenn sie spät wiederkomme, so möge ich mich nicht ängstigen. Ich fragte sie, ob sie allein gehen werde, oder mit wem.

,Allein,‘ antwortete sie.

,Und wohin?’ fragte ich.

,Das wisse sie noch nicht.‘

Ich bat sie, nicht zu gehen, sie sei ja fast gar nicht bekannt in der Stadt, in der wir erst seit wenigen Wochen waren; der Abend werde dunkel, die Kinder und wir Alle würden uns ängstigen, wenn sie lange ausbleibe. Sie erwiderte mir nur, sie müsse gehen, es dulde sie im Hause nicht mehr. Es war wohl so. Ich entschloß mich deshalb, sie zu begleiten, und sagte es ihr. Darauf entgegnete sie mir, dann gehe sie nicht; sie müsse allein sein. Sie kennen, Herr Vater, das bestimmte Wesen, das sie hatte; ihren einmal gefaßten Entschluß brach nichts. Ich gab ihr nach, zumal da ich eine sehr dringende und wichtige Arbeit vor mir hatte.“

Der Geheimrath unterbrach seinen Schwiegersohn.

„Haben Sie Streit mit ihr gehabt, Herr Sohn?“

„Kein böses Wort war zwischen uns gefallen.“

„Und Sie haben keine Ahnung, was sie beunruhigte, aufregte?“

Der Präsident entfärbte sich ein wenig.

„Nein – Indeß, kommen wir nachher darauf zurück.“

Der Geheimerath schwieg.

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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Der Teufel
aus: Die Gartenlaube 1868, Heft 33, S. 526–528
Fortsetzungsroman – Teil 4

[526] Nach einer kurzen Pause fuhr der Präsident von Römer in seiner Erzählung fort: „Franziska ging, um ihre Promenade zu machen, aber als sie kaum fort war, überfiel mich eine unbeschreibliche Unruhe. Ich konnte nicht mehr arbeiten, es litt auch mich nicht mehr im Hause. Ich kleidete mich also an und folgte ihr, denn ich hatte eine Vermuthung, wohin sie gegangen sein könne. An die Stadtpromenade schließt sich fast unmittelbar die sogenannte Sebastiansschlucht an, eine enge dunkle, aber durch ihre vielen romantischen Partien anziehende Felsenschlucht. Ich wußte, daß Franziska schon einige Male mit einer Jugendfreundin, die sie hier wieder fand, da gewesen war, und bei ihrer Aufregung und bei ihrem Wunsche, allein zu sein, dachte ich mir, ja hielt ich es für unzweifelhaft, daß sie ihren Weg zu der finsteren, einsamen, romantischen Schlucht genommen habe. Ich wandte mich also zu der Gegend der Promenade, in welcher an diese die Schlucht stößt. In der Stadt konnte ich Niemanden nach ihr fragen, auf der Promenade jedoch traf ich einen Bekannten, den Regierungsrath Amberg, den ich fragte, ob er meine Frau nicht gesehen habe. Er antwortete mir, sie habe vor etwa zehn Minuten den Weg nach der Sebastiansschlucht eingeschlagen. Ich wollte Franziska und mich nicht compromittiren, indem ich daher Herrn von Amberg dankte, setzte ich hinzu, ich sei also auf dem richtigen Wege, meine Frau erwarte mich in der Schlucht, und ich eilte in diese. Jetzt hatte ich die Gewißheit, Franzika nicht zu verfehlen. Um so schwerer fiel die Ahnung eines Unglücks auf mich; sie sollte zur Gewißheit werden, ich sollte zu spät kommen, das Unglück geschehen sein, bevor ich ankam, es sollte in entsetzlicher, in gräßlicher Weise sich fast vor meinen Augen zutragen!

Ich schritt in die Schlucht, und es war schon Abend geworden, als ich die Mitte derselben erreicht hatte; in dem engen tiefen Einschnitt des Gebirgs herrschte völliges Dunkel. Niemand war mir begegnet, ich hatte keinen Laut vernommen, der mir die Gegenwart eines Menschen außer mir angezeigt hätte. So kam ich zu einer Stelle, wo die Schlucht sich erweitert, namentlich wo auf der rechten Seite die Felsen weiter zurücktreten, aber zugleich auch höher und schroffer werden. In demselben Augenblicke gewahre ich oben auf einer scharf vorspringenden Felsenkante eine dunkle Gestalt und glaube ein menschliches Wesen zu erkennen. Franziska! will ich rufen, das Wort erstirbt mir auf den Lippen. Die Gestalt da oben schwankt, beugt sich vor, stürzt nieder, verschwindet in dem Dunkel der Schlucht. Aber entsetzliche Laute dringen in mein Ohr. Der Fels hat vorspringende Spitzen und Zacken, auf jede Spitze, auf jede Zacke höre ich einen Körper fallen, rasch, mit reißender Schnelle, und doch schwer, dumpf, bis unten in die Tiefe hinunter, und bei jedem Fall höre ich ein unterdrücktes Wimmern, das Wimmern einer Frau. Es war zehn, fünfzehn Schritte vor mir. Ich stürze hin. Franziska! kann ich jetzt rufen. Ich bekomme keine Antwort. Ich erreiche die Stelle, wo der niedergestürzte Körper liegen muß. Ich sehe keine Bewegung; ich vernehme keinen Laut. Aber Franziska lag da, meine arme, unglückliche Frau, mit furchtbar zerschmettertem Körper, mit gräßlich entstelltem Gesicht. Sie war todt. Es war ein Glück für sie. Soll, kann ich Ihnen meinen Schmerz schildern, Vater? Dann meine Angst bei dem Gedanken an meine armen Kinder, welche die Mutter vermissen, ihren Tod erfahren mußten? Erlassen Sie mir das Weitere.“

Der Präsident schwieg.

„Denken Sie an einen Zufall oder an einen Selbstmord, Herr Sohn?“ mußte der Geheimrath dennoch fragen.

„Wie könnte ich an einen Selbstmord glauben?“ rief der Präsident. „Was könnte sie zu einem solchen veranlaßt haben?“

Der Wagen war an dem Hause des Präsidenten angelangt. Schwiegervater und Schwiegersohn stiegen aus.

„Sie entschuldigen mich auf eine Stunde, Herr Vater,“ sagte der Präsident. „Sehr wichtige Amtsgeschäfte nehmen mich auch heute in Anspruch, und die Kinder sehnen sich so sehr nach dem Großvater, von dem sie in jeder Stunde seit der Trennung von ihm sprechen.“

Damit ging der Präsident in sein Arbeitszimmer. Der Geheimrath begab sich in das Wohnzimmer, in dem seine Enkel auf ihn warteten; wie Herr von Römer zu dem buckeligen Advocaten gesagt hatte, zwei Mädchen und ein Knabe.

Die Mutter war eine brave und gewissenhafte, aber eine unglückliche Frau gewesen, der Vater ein Mann von Ehrgeiz, der jede hohe Stellung, welche er einnahm, immer nur als eine Stufe zu der höchsten im Staate und in der Gesellschaft betrachtete, der daher stets ebenso voll Bewußtsein, wie voll Rücksicht war. So hatten die Kinder eine ihr Inneres wie ihr Aeußeres sorgfältig bildende Erziehung genossen, durch welche jedoch ihre Eigenthümlichkeiten nicht verwischt waren. Mathilde, die älteste, war ein feines, sanftes, zum ernsten Nachdenken geneigtes Mädchen, Fanny, die zweite, hatte das rasche, entschlossene Wesen der Mutter. Der Knabe war still, ruhig, mehr ein beobachtendes als mittheilsames Kind; wenn er sprach, so war das kurz, entschieden, etwas derb. Sie liebten alle Drei den Großvater.

Der Präsident hatte bis zu seiner Versetzung auf seinen gegenwärtigen Posten in jener andern Provincialhauptstadt gelebt, in welcher auch der Geheimrath von Wangen angestellt war. So waren die Kinder unter den Augen des Großvaters aufgewachsen und seine kleinen Lieblinge geworden. Sie hatten ihn heute nur flüchtig gesehen, da er bald nach seiner Ankunft mit dem Vater zu dem Leichenbegängniß der Mutter hatte fahren müssen.

Die Mädchen hatten an diesem keinen Theil nehmen dürfen, erst am Abend sollten sie das Grab der Mutter besuchen, um Kränze darauf zu legen, an denen sie jetzt unter Aufsicht der Erzieherin arbeiteten.

Die Gouvernante verließ das Zimmer, als der Präsident eintrat. Sie wollte den Gefühlen, die auf beiden Seiten sich aussprechen mußten, keinen Zwang auflegen. Mathilde saß bei ihrer Arbeit mit stillen Thränen, die auf die Blumen fielen. Fanny arbeitete mit einem fast hastigen Eifer. Der Knabe reichte ihnen still die weißen Immortellen und die grünen Epheuranken zu.

Bei dem Eintreten des Großvaters standen sie auf, ihm die Hände zu reichen, die beiden Mädchen stumm. Der Knabe sagte kurz: „Guten Tag, Großvater.“ Sie mußten sich wieder an ihre Arbeit setzen, und der Großvater setzte sich zu ihnen. Alle hatten sie in ihrem Schmerz keine Worte, auch der Großvater nicht. Er küßte nur schweigend die weinende Mathilde auf die Stirn.

„Arme Kinder!“ sagte er dann leise für sich.

„Ja, Großvater,“ rief Fanny fast zornig, „und das Schlimmste ist, wir haben die Mutter nicht einmal wiedersehen dürfen!“

„Der Vater wollte uns den Schmerz ersparen,“ bemerkte beschwichtigend Mathilde. „Ihr Anblick soll ein gar zu trauriger gewesen sein.“

„Und jetzt muß ich ihn mir nur desto schrecklicher denken,“ sagte die Jüngere.

Der Geheimrath suchte von dem Gegenstande abzulenken.

„Das Unglück geschah am Dienstag Abend!“

„Und erst am Mittwoch theilte man es uns mit,“ fiel Fanny ein.

Mathilde aber sagte: „Es war ein sehr schwerer Tag für uns. Schon am Abend vorher, am Montag, war es so schrecklich. Die Mutter war am Nachmittag ausgegangen, zu einer Freundin, der Majorin von Hake. Gegen Abend ging auch der Vater aus, eine Promenade zu machen. Er kam zuerst zurück, aber ich erschrak, als ich ihn sah. Sein Gesicht war leichenblaß, und seine Augen, o Großvater, kann Dir nicht sagen, wie sie waren. Ich konnte nicht hineinblicken, mir wurde so angst. Und doch mußte ich ihn ansehen, er war so krank, so müde, und dann auf einmal wieder so schrecklich, daß es mir heiß über den ganzen Körper lief, wenn ich ihn sah. Er hatte kein Wort gesprochen, als er kam, hatte sich nur ermüdet auf das Sopha gesetzt. Ich fragte ihn, was ihm fehle. Er antwortete mir nicht. Als ich ihn nochmals fragte, winkte er mir mit der Hand, daß ich ihn verlassen möge. Eine Stunde später kam die Mutter. Der Vater hatte nicht nach ihr gefragt. Sie war fast bleicher, als der Vater, und ihre Augen waren verweint. Auch sie sprach kein Wort. Sie setzte sich in eine Ecke des Zimmers und weinte da wieder. Der Vater war in seine Stube gegangen. Ich war allein mit ihr. ,Mutter, Mutter, was fehlt Dir?’ fragte auch ich sie. Auch sie [527] antwortete mir nicht, sie mußte nur heftiger weinen, und ich weinte mit ihr. Ich sah ihr an, daß sie so recht unglücklich war. Ich sagte ihr, auch der Vater sei so zurückgekommen. Es fiel ihr auf, und ich mußte ihr erzählen. Sie saß dann eine Zeit lang sinnend; aus einmal stand sie rasch auf und ging zu der Stube des Vaters. Wir Kinder sahen sie Beide den Abend nicht mehr. So mußten wir zu Bett gehen. Aber ich konnte nicht schlafen, und ich mußte immer nach dem Schlafgemache der Eltern hinhorchen, welches durch ein Zimmer von Fanny’s und meinem Schlafzimmer getrennt ist. Die Thüren waren verschlossen. Ich konnte dennoch hören, wie die Mutter weinte und der Vater mit ihr sprach. Erst lange nach Mitternacht hörte ich nichts mehr.“

Der kleine Fritz war während der Erzählung der Schwester aufgestanden und nahte sich geheimnißvoll dem Großvater.

„Großvater, ich kann Dir sagen, was der Vater und die Mutter sprachen; ich schlief bei ihnen in der Stube und war in der Nacht aufgewacht.“

Die beiden Schwestern sahen den Knaben verwundert an.

„Was wolltest Du gehört haben? Du hast ja kein Wort davon gesprochen“

„Ich sage es nur dem Großvater,“ erwiderte der Kleine.

„So sage es ihm.“

„Nachher, wenn ich allein mit ihm bin. Erzähle Du ihm jetzt weiter.“

Mathilde erzählte weiter:

„Am anderen Morgen mußten wir Kinder den Kaffee allein mit der Gouvernante trinken; der Vater frühstückte, wie immer, in seinem Arbeitszimmer, die Mutter aber, sagte das Fräulein, könne nicht aufstehen, sie habe Kopfschmerzen. Der Vater war dann in die Sitzung gegangen, aus der er vor Mittag nicht zurückkommen konnte, zu der Mutter mußte ich mich nachher hinschleichen; sie saß auf ihrem Bett und weinte. Sie mußte die ganze Nacht geweint haben, und ich fragte sie nochmals, was ihr fehle.

‚Ich bin unglücklich, tief unglücklich,‘ war ihre Antwort.

Ich fragte sie, was sie so unglücklich mache? Sie antwortete mir nur, sie könne es mir nicht sagen, ich verstehe das nicht.

‚Mögest Du es nie erfahren!‘ setzte sie hinzu.

Bei Tische erschien sie nicht; auch der Vater nicht, er ließ sagen, die Sitzung daure heute länger. Als er später kam, aß er allein auf seinem Zimmer. Unsere arme Mutter sahen wir gar nicht wieder, den Vater erst spät am Abend, als das Unglück geschehen war.“

Die Erzählerin wurde von der jüngeren Schwester unterbrochen.

„Aber ich hatte sie noch miteinander sprechen gehört,“ sagte die Kleine, „und ich muß es Dir sagen, Großvater.“

„Fanny!“ rief Mathilde, um sie zurückzuhalten.

Das Kind ließ sich nicht irre machen.

„Ich muß es dem Großvater erzählen; er muß Alles erfahren, und er soll es. Höre mir zu, Großvater. Der Vater und die Mutter hatten etwas miteinander gehabt; der Vater sah so schrecklich aus, wie schon Mathilde sagte, die Mutter weinte nur. Ich mußte wissen, was es war, ich paßte ihnen auf. Am Nachmittage hörte ich, wie der Vater zu der Mutter ging; er verschloß die Thür hinter sich, ich schlich ihm nach, stellte mich an die Thür und hörte den Vater sprechen, aber leise, daß ich kein Wort verstehen konnte; er redete lange und rasch, die Mutter erwiderte ihm nichts oder nur einzelne Worte, sie redete langsam und noch leiser, als er. Plötzlich sprach der Vater mit lauter Stimme, er mußte auf einmal böse geworden sein.

,Du wirst mit mir gehen!’ rief er.

Er sprach es so zornig, daß es mir durch das Herz fuhr, ich fühlte, wie mir das Herz klopfte. Ich war neugierig, was die Mutter antworten werde, ich konnte ihre Antwort verstehen, denn sie sprach auch lauter, die Worte des Vaters hatten sie wohl verdrossen.

,Ich werde nicht mit Dir gehen!’ sagte sie, und ich hörte ihr an, daß das ihr fester Wille war.

Ich hätte es auch so gesagt. Der Vater rief:

,Ich werde Dich zwingen!’

Die Mutter antwortete ruhig: ,Ich werde es erwarten.‘

Dann redeten sie wieder leise, und ich verstand kein Wort weiter. Eine Viertelstunde nachher ging die Mutter doch aus, aber allein, zehn Minuten später jedoch folgte ihr der Vater. Was ich Dir erzählt habe, Großvater, ist die volle Wahrheit.“

Der kleine Fritz war während der Mittheilung der jüngeren Schwester unruhig geworden; Niemand hatte auf ihn geachtet, desto aufmerksamer war er jedem Worte gefolgt.

„Großvater,“ hob er auf einmal an, „nun ich das von der Schwester Fanny gehört habe, können diese auch hören, was ich weiß.“

Den alten Geheimerath schien es bei diesen Worten des Kindes heiß und kalt zu überlaufen. Schon das, was er bis jetzt vernommen, hatte unzweifelhaft wenigstens Keime eines schweren Verdachts in seine Brust senken müssen, und jedes fernere Wort des Kindes mußte dem Verdachte neue Nahrung geben. Sollte er die eigenen Kinder zu Anklägern gegen ihren Vater machen? Sollte er sich selbst jener entsetzlichen, barbarischen Gewissenlosigkeit schuldig machen, als deren Träger bis zu jener Zeit nur die französischen Staatsanwälte sich gezeigt hatten? Seit neuerer Zeit, seitdem alles Schlechte, was die französische Strafrechtspflege aufzuweisen hat, auch in deutschen Gesetzen und Gerichtshöfen Boden gefunden hat, wird auch das Rechtsgefühl des deutschen Volkes oft genug verletzt und empört durch jene selbst von den rohesten Zeiten des heimlichen Inquisitionsprocesses verschmähte Verfolgungssucht, welche Kinder, selbst im Alter von sieben Jahren, zwingt, Ankläger gegen ihre Eltern zu werden.

„Du sollst es mir nachher erzählen, mein Knabe,“ sagte der Geheimerath zu dem Kinde.

„Nein, nein, jetzt!“ rief das Kind.

Und Fanny trat ihm in ihrer Heftigkeit bei: „Laß ihn! Du mußt Alles wissen, Großvater. Erzähle, Fritz, was Du gehört hast.“

Dem Knaben war nicht zu wehren.

„Ich wurde wach,“ erzählte er, „und da hörte ich den Vater zu der Mutter sagen: ,Du bist ein ehrvergessenes, ein ehrloses Weib!’ Und das ist, das war die Mutter nicht!“ setzte das Kind zornig hinzu. „Meine todte Mutter war brav; sie hat jeden Abend mit mir zu Gott gebetet, auch für den Vater –“

Der Knabe mußte laut weinen und schluchzen. Seine Schwestern weinten mit ihm.

Der Geheimerath aber sagte zu den Kindern: „Sprecht nie wieder über diese Geschichte; nie, nie wiederholt Euch die Worte, die Ihr von Euren Eltern gehört habt. Lasset die Ruhe Eurem Vater auf Erden und Eurer Mutter im Grabe. Gebt mir die Hand darauf.“

Sie gaben ihm weinend die Hände; auch der Knabe.

„Ich kann schweigen, Großvater,“ sagte er entschlossen.

Der Geheimerath entließ die Kinder; er mußte allein sein.

„Selbstmord?“ fragte er sich und grübelte lange über dem Gedanken.

„Ein ehrvergessenes, ein ehrloses Weib hat er sie genannt. Und sie hatte diese stolze Ehre! Und diesen rasch entschlossenen, leidenschaftlichen Charakter! Konnte sie den Vorwurf ertragen? Aber war sie nicht eine Schuldige, wenn sie ihn nicht ertragen konnte? Wenn sie sich unschuldig fühlte, war dann nicht eben ihre Unschuld, ihre Ehre, war ich nicht da? Und doch, sie war keine Schuldige. Was hätte sie je verbrechen können? – Und – und – er leugnete ab, mit ihr Streit gehabt zu haben. Er wollte sie nicht anklagen, wenn sie schuldig war, und wenn sie unschuldig war, nicht sich und seine ungerechten Vorwürfe gegen sie, als Veranlassung ihres Selbstmordes. Aber behauptete er nicht auch, sie habe ausgehen wollen, allein, ohne, gegen seinen Willen, sie sei aller seiner Bitten ungeachtet gegangen? Und das Kind hat gehört, deutlich vernommen, wie er von ihr verlangte, sie solle gehen, mit ihm gehen. ,Du wirst mit mir gehen!’ hat er ihr zugeherrscht. ,Ich werde dich zwingen!’ Und dann ist sie allein gegangen, und er ist ihr wenige Minuten nachher gefolgt.“

„Ein Verbrechen?“ sprach der grübelnde Vater. „Ein Mord? Ein Gattenmord?“

„Und die Kinder!“ rief er dann entsetzter. „Die drei armen, ahnungslosen Kinder! Er war immer der liebevoll zärtliche Vater gegen sie. Wenn sie auch heute ihm zureden, in dem ersten Schmerze über die todte Mutter, die er in ihren letzten Stunden ungerecht, hart behandelt, angefahren habe – der Schmerz macht ungerecht, Kinder nehmen immer Partei für die weinende, für die schwächere Mutter; sie werden vergessen, der rasch von dem Schmerze aufgeregte Zorn wird eben so rasch verschwinden; [528] es war ja auch mehr nur ein kindischer Trotz. Sie werden sich Vorwürfe über ihn machen und um so mehr den Vater wieder lieben. – Und dann sollen sie hören, der Vater habe ihre Mutter ermordet; er wird als gemeiner Mörder von ihrer Seite gerissen! Dann soll ihm der Criminalproceß gemacht werden. Er wird öffentlich hingerichtet. – Die armen, armen Kinder! Aber soll der Mörder um der Kinder willen seiner Strafe entgehen? Soll der Gerechtigkeit ihr Recht nicht werden, weil die Ehre, der Name, die Gefühle der Angehörigen des Verbrechers dadurch leiden würden? Was wäre dann die Gerechtigkeit auf dieser Erde? – Doch kann er leben, kann er die Kinder wieder ansehen, wenn er ein Mörder, wenn er der Mörder ihrer Mutter ist?“

„Aber ist er denn ihr Mörder?“ rief er dann wieder.

„Und wenn er es dennoch wäre, und wenn er mit jener Frechheit, mit jener kalten Ruhe des verdorbensten, verhärtesten Verbrechers schon gegen mich den Heuchler machen könnte! Und er sollte dennoch ohne Strafe, ein Hohn auf die Gerechtigkeit, umhergehen, frei die mit dem Kainszeichen gebrandmarkte Stirn zeigen?“

Der Greis wurde in seinen beängstigenden Gedanken unterbrochen. Der Bediente des Präsidenten meldete: „Herr Doctor Brand bittet, den Herrn Geheimenrath sprechen zu dürfen; es sei eine wichtige Angelegenheit.“

Dem Geheimenrath war der Name des Angemeldeten unbekannt, da aber von einer wichtigen Angelegenheit die Rede war, glaubte er, den Besuch nicht zurückweisen zu dürfen.

„Ich lasse den Herrn Doctor bitten, einzutreten,“ sagte er.

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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Der Teufel
aus: Die Gartenlaube 1868, Heft 34, S. 537–539
Fortsetzungsroman – Teil 5

[537] Herr Sebastian Brand trat zu dem Geheimerath in das Zimmer, das kleine Männchen mit dem großen Buckel, den listigen, stechenden und blitzenden Augen. War jener schon überrascht durch die Erscheinung, so sollte er es noch mehr durch die Worte des kleinen Mannes werden.

„Herr Geheimerath, ich bin Advocat hier,“ begann der Eintretende.

Der Geheimerath verbeugte sich schweigend.

„Ich bin ein Bekannter Ihres Herrn Schwiegersohnes, schon von der Universität her,“ fuhr der Buckelige fort.

Der Geheimerath konnte auch darauf nur schweigen.

„Ich komme in einer Angelegenheit, die ihn betrifft,“ sprach der Advocat weiter.

„Darf ich fragen, was es ist?“ sagte der Geheimerath, der ungeduldig zu werden schien.

„Der Tod Ihrer Frau Tochter,“ antwortete Herr Sebastian Brand.

Der Geheimerath mußte unwillkürlich den kleinen, buckeligen Mann sich genauer ansehen. Er glaubte, in den grauen, stechenden Augen Bosheit zu lesen und doch wieder den Ausdruck der Wahrheit und Ehrlichkeit zu finden.

„Theilen Sie mir mit, was Sie mir zu sagen haben,“ bat er.

Der Kleine sah sich darauf auch den Geheimerath an. „Herr Geheimerath,“ sagte er dann, „der plötzliche und schreckliche Tod Ihrer Tochter hat Sie hart getroffen; was ich Ihnen mitzutheilen habe, wird Sie noch schwerer treffen, könnte Sie niederwerfen. Erlauben Sie, daß wir uns setzen; im Sitzen kann der Mensch mehr aushalten, als im Stehen.“

Der Geheimerath hatte seinen Besuch bisher zum Sitzen noch nicht eingeladen, er schien nicht recht gewußt zu haben, was er an dem sich allerdings etwas sonderbar einführenden Manne mit dem seltsamen Aussehen habe. Jetzt bot er dem Advocaten einen Stuhl an und setzte sich selbst.

„Herr Geheimerath,“ fuhr Brand fort, „die Ehe Ihrer Tochter war keine glückliche, Sie wissen es, Sie wissen auch den Grund. Ihr Herz gehörte einem Anderen, einem braven, einem muthigen, hochherzigen, edlen Manne; sie mußte ihre Hand einem elenden, heuchlerischen Schurken schenken, der –“

„Mein Herr,“ rief der Präsident, „Sie vergessen, wo und mit wem Sie sprechen.“

Der Buckelige blieb ruhig.

[538] „Im Gegentheil, Herr Geheimerath ich bin mir dessen vollkommen bewußt. Dieser Schurke, von dem ich sprach und spreche, hatte die Hand des treuen Herzens nur dadurch gewinnen können, daß er dieses Herz auf das Niederträchtigste betrog. Sie wissen es, Herr Geheimerath, wollen Sie es bestreiten?“

„Wenn ich es wüßte,“ erwiderte der Geheimerath, „warum soll ich es noch aus Ihrem Munde hören?“

„Sie werden es erfahren, wenn Sie mir ferneres Gehör schenken,“ sagte der Kleine und fuhr ohne Weiteres fort: „Die Unglückliche erfuhr, wie und von wem sie betrogen war. Ihr Herz war zerrissen, aber dieses Herz war edel und ihr Charakter war fest, eisern. Nie hat sie ihrem Manne nur ahnen lassen, daß sie seine Schurkerei kannte. Sie litt still, litt erhaben, vierzehn volle, lange Jahre. Da wurde ihr Mann vor wenigen Wochen hierher versetzt. Er fand hier einen hohen Posten, eine glänzende Stellung, sie eine vertraute Jugendfreundin wieder, die Majorin von Hake, und den Geliebten ihrer Jugend –“

„Den Lieutenant Hille?“ rief der Geheimerath.

„Ihn, Herr Geheimerath, und es ist Ihnen nicht entgangen, daß heute auf dem Kirchhofe zwei offene Gräber auf ihre Beute warteten und sie aufnahmen. Die zweite Leiche war die des Lieutenants Hille.“

Der Geheimerath mußte sich an die Lehne seines Stuhles zurücklegen.

„Ah, mein verehrter Herr Geheimerath,“ sagte der Buckelige, „es war doch besser, daß wir uns setzten.“

„Der Lieutenant Hille,“ erzählte der Buckelige ruhig weiter, „fand Ihre Frau Tochter indeß erst am vorigen Montage wieder. Ich bitte Sie, Herr Geheimerath, genau auf den Tag zu achten. Am vorigen Montage sah sie ihn zum ersten Male wieder, erfuhr sie überhaupt zuerst, daß er hier sei. Am Tage darauf, am Dienstag, fand die Arme ihren Tod. Lieutenant Hille war mein alter Freund; er war junger Officier, ich junger Referendarius, als wir uns kennen lernten. Er kam zu mir, als er nach jener Katastrophe seinen Abschied nahm, und wir trennten uns nicht wieder. Ich besitze hier, nicht weit von der Stadt, ein kleines Landhaus, das ich ihm einräumte. Er war menschenscheu geworden, er ging ungern in die Stadt. Dort hinten in der Sebastiansschlucht –“

Der Geheimerath fuhr bei dem Namen zusammen.

„Fällt das Wort Ihnen auf?“ fragte der Buckelige.

„Ich bitte, erzählen Sie weiter.“

„In der stillen, einsamen Schlucht,“ setzte der Advocat seine Mittheilungen fort, „lebte er ruhig, zufrieden. Er sah nur mich, und am Tage, am Abende, in der Stunde seines Todes die edle Geliebte, die –“

„Franziska?“ rief entsetzt der Geheimerath.

„Sie! Sein Herz hatte ihr immer seine Liebe bewahrt, auch als er noch nicht wußte, wie sie betrogen war. Daß man sie betrogen habe, hatte er geahnt. Er erhielt die Gewißheit von mir; ich hatte sie durch die Frau von Hake erfahren, die ich kenne, seitdem sie hier ist. In den Zeitungen las er dann, daß Herr von Römer hierher versetzt sei. Er sprach nichts darüber, denn er war schon krank. Seine Wunden – unter ihnen ist ein Schuß durch die Brust –, die frühen Kriegsstrapazen des fast noch knabenhaften Körpers, die späteren Seelenleiden des Mannes zehrten an seinen Körperkräften; ein schleichendes Fieber warf ihn auf das Krankenlager. Am Montag fühlte er das Herannahen seines Todes. Bis zum Abend könne er noch leben, hatte mir der Arzt gesagt. Da kam auf einmal ein wilder Gedanke über mich. Mein armer Freund mußte in den besten Jahren des Mannes ein Opfer des Todes werden, gemordet durch einen niederträchtigen Betrug. Und der Betrüger, der Mörder blieb straflos! Ich kannte das schlechte, feige Innere dieses Elenden, welcher zu jenen Menschen gehört, die zu eigentlichen, wirklichen Mördern prädestinirt sind; er durfte seinem Schicksale nicht entgehen.

‚Ich sterbe heute, ich fühle es,‘ hatte der Kranke zu mir gesagt.

‚Wir kennen,‘ erwiderte ich ihm, ,nicht den Willen des Himmels, nicht die geheimen Gesetze der Natur. Sagt Dir aber eine Stimme in Deinem Innern, daß dieser Tag Dein letzter sein werde, so bitte ich Dich, an ihm noch eine heilige Pflicht zu erfüllen. Laß Franziska von Deinen Lippen vernehmen, daß Du ihr verzeihest, daß Du ihr immer verziehen, ihr keinen Augenblick gegrollt hast.‘

Der Gedanke überraschte ihn, ergriff ihn dann.

,Sie weiß das, sie muß das wissen,‘ sagte er im ersten Augenblicke. Dann wurde er unruhig. ‚Freilich, sie hat mich nie wiedergesehen, vielleicht nicht einmal wieder etwas von mir erfahren. Aber würde sie zu mir kommen wollen? Hierher?‘

,Dafür werde ich sorgen,‘ erwiderte ich ihm.

,In welcher Weise?‘

,Laß mich machen.‘

Ich sah die helle Freude in seinem blassen, abgemagerten Gesicht glänzen und schrieb drei Zeilen an Frau von Hake. Gegen Abend kamen die beiden Damen tief verschleiert in der Sebastiansschlucht an. Ich war bei dem Kranken, der auf dem Sopha lag, sah durch das Fenster sie kommen und sagte es ihm.

,Sie wird mir die Augen zudrücken,‘ rief er. ,Welche Seligkeit des Himmels wird mir noch auf Erden!‘

Ich verließ ihn, um Franziska zu ihm eintreten zu lassen. Ich führte sie nicht zu ihm hinein. Die Beiden mußten ganz allein sein; es war ja eine heilige Stunde für sie Beide, die heiligste ihres Lebens. Da durfte kein Mensch in der Welt sie stören. Die Frau von Hake bat ich, in einem anderen Zimmer zu warten, und meinem alten Diener trug ich auf, die beiden Damen, wenn sie zurückkehren wollten, zur Stadt zu begleiten. Dann ging ich, Ihren Herrn Schwiegersohn herbeizuholen.“

Der Geheimerath unterbrach den Advocaten; er hatte ihm zuletzt nur mit einem Unwillen zuhören können, dem er endlich Worte geben mußte.

„Mein Herr, wie konnten Sie in solcher Weise die Ehre meiner Tochter compromittiren?“

„Die Ehre Ihrer Frau Tochter,“ erwiderte der Buckelige ruhig, „war nicht im Mindesten compromittirt, konnte gar nicht compromittirt werden. Nur drei Menschen wußten von der Sache, die Frau von Hake, die treueste Freundin Ihrer Tochter, mein alter Diener, der verschwiegener ist, als das Grab sein kann, und ich, dessen Lippen sich nur Ihnen und keinem Dritten gegenüber öffnen werden, wenn Sie, mein Herr Geheimerath, nicht selbst etwas Anderes von mir verlangen sollten.“

„Aber, mein Herr,“ rief der Geheimerath, „sind Sie nicht der Mörder meiner armen Tochter geworden? Mußten Sie sich nicht vorher sagen, daß der Schritt, zu dem Sie die Unglückliche verleiteten, von den unheilvollsten Folgen für sie sein müsse?“

Der buckelige Advocat blieb unerschütterlich ruhig.

„Mein Herr Geheimerath,“ antwortete er, „Ihr Herr Schwiegersohn durfte seinem Schicksale nicht entgehen, so hatte ich schon vorhin die Ehre, Ihnen zu sagen.“

„Mensch,“ fuhr der Greis auf, „Sie opferten mit vollem Bewußtsein, mit Absicht mein Kind? Um einen solchen Zweck zu erreichen? Vielleicht, um eine alte Rache zu befriedigen?“

„Alle Wetter,“ sagte der Advocat, „Sie kommen da nahe an eine Wahrheit heran. Aber verschieben Sie Ihr Urtheil, bis Sie mich zu Ende gehört haben.“

Der Geheimerath schwieg. Der Buckelige erzählte weiter:

„Ich verließ das Haus und ging auf die benachbarte Stadtpromenade. Ihr Schwiegersohn besuchte sie täglich zu einer bestimmten Stunde, die jetzt eben gekommen war. Ich traf ihn an der Stelle, an der ich ihn erwartet hatte, und führte ihn in die Sebastiansschlucht, zu meinem Landhause. Es war dunkel, als wir es erreichten. Das Zimmer, in dem der Kranke lag, war zu ebener Erde; es brannte ein Licht darin. Ich führte ihn an das Fenster. Auf dem Wege hatte ich ihm seine Geschichte erzählt, seine volle Niederträchtigkeit ihm vorgehalten. Ich hatte dazu das Recht und die Gewalt über ihn. Sie hatten soeben nicht Unrecht, ich hatte noch eine alte Angelegenheit mit ihm abzumachen. So hatte ich ihn bis an das Fenster geführt und forderte ihn nun auf, in das Zimmer zu blicken. Der Schein des Lichtes zeigte ihm wohl Alles, was sich darin befand und was sich darin begab. Mein armer Freund war nicht mehr unter den Lebenden; er mußte wenige Augenblicke vorher gestorben sein.

Franziska kniete vor ihm. Sie drückte ihm die Augen zu und hielt dann seine Hände, bis sie in den ihrigen erkalteten. Nachdem sie einen Kuß auf die todten Lippen gedrückt, erhob sie sich und verließ mit Frau von Hake und meinem alten Diener das Gemach, das Haus, die Schlucht. Als sie fort waren, ging ich in das Haus, bei dem todten Freunde Wache zu halten; Herrn von Römer ließ ich mit seinen Gedanken und Plänen [539] des Mordes zurück. Ich kümmerte mich nicht ferner um ihn, denn ich hatte das Meinige gethan, und er mußte das Weitere thun, um sein Schicksal zu vollenden.

Die arme Franziska war durch das erschütternde Ereigniß krankhaft aufgeregt. Sie war ja nicht mehr gesund gewesen seit jenem anderen Ereignisse in dem Garten des Gasthofs zum Bären, da sie, halb schon betrogen, ganz sich selbst betrog. Ihr Nervensystem war seitdem unheilbar zerrüttet; die Scene in der Sebastiansschlucht führte nur früher eine Krisis herbei, die unausbleiblich war, und verkürzte somit die Leiden der Unglücklichen.“

„Sie wollen,“ bemerkte der Geheimerath, „auf solche Weise Ihr Gewissen beschwichtigen?“

„Hm,“ versetzte der buckelige Advocat, „wenn ich ein Gewissen hätte, es bedürfte solcher Beruhigungsmittel nicht. Ich hatte mich indeß unrichtig ausgedrückt. Nicht so sehr das Ereigniß in der Schlucht selbst hatte die Krisis herbeigeführt, als vielmehr deren unmittelbare Folge. Herr von Römer, in der Wuth seiner Eifersucht, seines tödtlich gekränkten Hochmuths, seines elenden, schwachen Charakters, hatte seine Frau, als sie nach Hause zurückkehrte, brutal empfangen, gemein behandelt; in welcher Art, kann ich Ihnen nicht sagen, sie selbst hat sich nicht überwinden können, es Frau von Hake mitzutheilen. Aber die arme Frau muß eine furchtbare Nacht durchlebt haben, die ihr den Todesstoß gab, geben mußte!“

„Hatten Sie nicht auch die ihr bereitet?“ fragte der Geheimerath.

„Lassen Sie mich fortfahren, Herr Geheimerath. Am anderen Morgen ging sie zu ihrer Freundin. Frau von Hake entsetzte sich über ihren Anblick. Leichenblaß, ermüdet zum Umsinken, mit fliegenden Haaren, mit keuchendem Athem, mit fast irrem Geiste, hatte sie nur einen Gedanken, nur eine Bitte: die Freundin solle am Abend wieder mit ihr in die Sebastiansschlucht gehen; sie wolle dort auf den Sarg des Todten einen Lorbeerkranz legen, sie selbst, sie müsse es; sie müsse noch einmal Abschied nehmen von dem Manne ihres Herzens, ihrer Liebe. Die Freundin suchte es ihr auszureden. Die Unglückliche hatte ihr zugleich erzählt, daß ihr Mann bereits Verdacht gehabt habe, ihr schon am gestrigen Abende nachgegangen und Zeuge ihres letzten Beisammenseins mit dem Todten geworden, daß die fürchterliche Nacht darauf gefolgt sei. Die Frau von Hake stellte ihr vor, wie ihr Mann auch heute Abend, wenn er sie vermisse, ihr von Neuem folgen werde, wie dann nothwendig ein Unglück entstehen müsse, zu welchem sie in keiner Weise in irgend eine Beziehung treten könne. Sie redete vergebens.

,Ich habe lange genug meinen Mann gefürchtet,‘ entgegnete ihr Frau von Römer, ,jetzt habe ich nur noch Verachtung für ihn.‘

Frau von Hake erinnerte sie an das Urtheil der Welt, an ihre Kinder.

Krank an Körper, krank an Geist, war die Arme für keine Vorstellungen, für keine Bitten empfänglich.

,Ich muß hin. Begleitest Du mich nicht, so gehe ich allein.‘

Frau von Hake blieb fest; sie war es der Freundin wie ihrer eigenen Ehre schuldig. So trennten sie sich. Franziska hatte von der Stunde gesprochen, in der sie gehen werde. Als die Stunde kam, wurde es der Freundin doch angst. Sie kannte den festen Willen Franziska’s, der jetzt zudem krankhaft zähe war, und es schien ihr unrecht, die Unglückliche auf ihrem schweren Gange allein, ohne Schutz gegen einen etwaigen Unfall oder gar Ueberfall zu lassen. Berathen konnte sie sich mit Niemanden, da ihr Mann verreist war. Sie schwankte lange; zuletzt entschloß sie sich zu gehen. Freilich zu spät, denn Franziska war früher gegangen, als sie gesagt hatte.

Als Frau von Hake die Mitte der Schlucht erreicht hatte, hörte sie durch die Stille des Abends leises Sprechen einer gewaltsam unterdrückten Stimme. Es war vor ihr, oben an einer der Wände, welche die Schlucht einschließen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Auf einer vorspringenden Felsenplatte sah sie zwei menschliche Gestalten, einen Mann und eine Frau, wie sie meinte; sie konnte sie in der Dunkelheit nicht näher unterscheiden. Eine Ahnung, ein Schreck durchfuhr sie. In dem nächsten Augenblicke vernimmt sie die unterdrückte Stimme des Herrn von Römer.

‚Elende!‘ ruft er.

In dem nämlichen Momente hört sie einen Angstschrei der Frau von Römer und zugleich sieht sie die Unglückliche oben von der Platte des zackigen Felsen niederstürzen, von Zacke zu Zacke. Der Frau von Hake vergehen die Sinne. Als sie wieder zu sich kommt, vernimmt sie unten an dem Felsen eine Bewegung; sie überzeugt sich, daß Herr von Römer dort ist. Sprechen hört sie nicht. Der Präsident muß bei der Leiche seiner Frau sein. Sie entflieht mit unhörbarem Schritt.

Ich bin mit meiner Erzählung zu Ende, Herr Geheimrath, und Sie haben die Wahl: Zufall, Selbstmord, Mord? Sie haben die Wahl! Doch bevor Sie diese treffen, noch Eins. Herr von Römer war seiner Frau nachgegangen. Auf dem Wege war ihm ein glaubhafter Mann begegnet, der Regierungsrath Amberg. Dem Mann war aufgefallen, daß der Präsident ihm anfangs hatte aus dem Wege gehen wollen, dann aber, als er sich erkannt gesehen, auf ihn zugetreten war und ihn gefragt hatte, ob er nicht seine Frau gesehen. Herr von Amberg hatte ihm gesagt, die Frau Präsidentin sei nach der Sebastiansschlucht zu gegangen. Jetzt, mein Herr Geheimrath, entscheiden Sie.“

Der alte Geheimrath versenkte sich in tiefes, schweres Nachdenken.

„Was es auch sei,“ sagte er dann, „Sie, mein Herr, tragen die schwerste Mitschuld, Sie sind der erste Schuldige. Sie wollten Herrn von Römer zum Mörder machen.“

„So denunciren Sie mich,“ rief der Buckelige. „Ja, ich wollte ihn zum Mörder machen. Es war sein Schicksal, er hatte es verdient; es mußte sich erfüllen.“

„Sie sind ein fürchterlicher Mensch!“

„Bah! Ich war nur ein Stück Repräsentation der göttlichen Gerechtigkeit hier auf Erden.“

„Durch einen Mord an meiner unschuldigen Tochter?“

„Zum –! Herr Geheimrath, macht es die göttliche Gerechtigkeit anders, besser? Werden denn nur Verbrecher gemordet? Und glauben Sie nicht an eine göttliche Vorsehung, ohne deren Willen kein Haar von unserem Haupte fallen kann? – Aber sprechen wir ernsthaft. Entschieden haben Sie sich. An einem Morde können Sie nicht mehr zweifeln, zweifeln Sie nicht mehr. Wozu haben Sie sich entschlossen?“

Der Geheimrath hatte keine Antwort.

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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Der Teufel
aus: Die Gartenlaube 1868, Heft 35, S. 557–559
Fortsetzungsroman – Teil 6 und Schluß

[557] „Der Entschluß fällt Ihnen schwer, Herr Geheimerath,“ sagte der Buckelige; „ich kann es mir denken. Die glänzenden Namen der Aristokratie dürfen durch keinen Mörder aus ihrer Mitte verdunkelt werden. Die hohe Beamtenwelt gar, die das Gesetz aufrecht erhalten soll, wie könnte ein Mord aus ihr hervorgehen? Gar ein Consistorialpräsident des Mordes gegen die eigene Frau angeklagt! Man müßte gegen den Ankläger oder Denuncianten einen besonderen Haß- und Mißvergnügen-Erregungs-Paragraphen erfinden. Sie schweigen, Herr Geheimerath?“

„Mein Herr,“ erwiderte der Geheimerath, „meine Stimmung ist eine viel zu ernste, als daß ich Ihnen auf so etwas antworten könnte. Sie haben kein Herz, mein Herr; herzlos haben Sie mir die Tochter, meinen Enkeln die Mutter geraubt, herzlos wollen Sie den Armen nun auch den Vater, gar dessen Andenken, die eigene Ehre, die Ruhe und Zufriedenheit des Lebens rauben.“

Auch der Buckelige wurde ernsthaft.

„Mein Herr,“ sagte er, „das Herz Ihrer Tochter war längst zerrissen ohne mich, es wäre auch gebrochen ohne mich. Am Tage nachher hätte sie den Tod des Lieutenants Hille erfahren müssen, durch die Blätter der Stadt, durch das Stadtgespräch. Meinen Sie, die Vorwürfe, welche die Unglückliche sich selbst machte, das Leben an der Seite des Elenden, der sie betrogen, hätten [558] nicht unter den schwersten Leiden und Qualen den kranken Körper bald aufgerieben, oder gar ihren Geist mit dem Schrecken des Wahnsinns umdunkeln müssen? Der Tod, den sie gefunden hat, war eine Wohlthat für sie, er war zugleich in derselben Weise, und vielleicht noch mehr, eine Wohlthat für ihre Kinder. Und was diese Kinder ferner betrifft, dem Vater gegenüber, den übrigens zu seiner That wahrlich nicht das Bedürfniß, irgend Jemand eine Wohlthat zu erzeigen, sondern die gemeinste Gesinnung des Hasses und der Rache antrieb, so, mein Herr, bedenken Sie nur das Eine, die Kinder erführen oder erhielten auch nur eine Ahnung davon, daß ihr Vater der Mörder ihrer Mutter sei! Und wie leicht kann ein einziges unbedachtes, unvorsichtiges Wort es ihnen verrathen! Setzen Sie einmal den Fall, ich träte über kurz oder lang vor sie und sagte ihnen: ,Eure Mutter ist nicht durch einen unglücklichen Zufall um’s Leben gekommen, sondern durch die Hand eines elenden Mörders, und dieser Elende war Euer Vater!‘“

„Sie wären im Stande dazu,“ sagte der Geheimerath.

„Nein!“ versetzte der Buckelige kurz und kalt. „Aber,“ fuhr er dann fort, „Sie, Herr Geheimerath, sind ein Mann von Herz und Ehre. Gestatten beide es Ihnen, Ihre Enkel in den Händen des Mörders Ihrer Tochter zu lassen? Und unter welchem Vorwande wollen Sie dem Vater die Kinder, und gar den Kindern den Vater entziehen? Sie müßten, namentlich den Kindern gegenüber, zu einer Lüge sich hergeben.“

Der Geheimerath war unruhig geworden; er mußte aufstehen und im Zimmer umhergehen. Der Buckelige verfolgte ihn mit seinen listigen Blicken.

„Sie haben Ihre Kräfte wieder, Herr Geheimerath,“ sagte er.

„Das Sitzen ist Ihnen kein Bedürfniß mehr; so werden Sie auch die Kraft zu einem Entschlusse haben. Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen empfehle.“

„Ein Wort noch, mein Herr,“ hielt ihn der Geheimerath zurück, „was wollen Sie thun?“

„Nichts, bis ich Ihren Entschluß kenne.“

„Und dann? Was haben Sie für den einen oder den anderen Fall vor?“

„Ich weiß es noch nicht.“

Der Geheimerath verbeugte sich und der Buckelige ging. Aber er hatte nur mit einem stillen Vorbehalt gesagt, daß er vor der Hand nichts thun wolle. Als er das Zimmer des Geheimeraths verlassen hatte, suchte er den Bedienten des Hauses auf.

„Melden Sie mich bei dem Herrn Präsidenten, gleichfalls in einer dringenden Angelegenheit.“

Der Buckelige mußte lange warten, bis der Diener zurückkam. Dieser öffnete ihm dann schweigend die Thür, und der Buckelige trat ein. Der Präsident stand in der Mitte des Zimmers und erwartete ihn, vornehm, kalt, fremd, wie ein hoher Beamter, der Audienz ertheilt.

„Du hast mich lange warten lassen,“ sagte der Advocat zu ihm. „Du warst wohl zweifelhaft, ob Du mich annehmen sollest? Die Furcht vor mir entschied; ich habe Dich in meiner Gewalt.“

Der Präsident verzog keine Miene.

„Was willst Du von mir?“ fragte er, ganz so kalt und vornehm, wie er da stand.

„Ich komme von Deinem Schwiegervater,“ antwortete der Buckelige.

Der Präsident entfärbte sich.

„Hättest Du vielleicht einen Auftrag von ihm?“ fragte er höhnisch.

„So ist es. Wir sind Beide übereingekommen, daß Deine Frau ermordet ist und daß Du ihr Mörder bist.“

„Elender!“ wollte der Präsident auffahren, aber das Wort erstarrte ihm auf den Lippen.

„Sprich es ganz aus,“ sagte der Kleine. „Es ist in diesen Tagen oft aus Deinem Munde gekommen, gegen Dein armes Opfer.“

Der Präsident suchte sich zu fassen, doch gelang ihm dies nur halb.

„Hast Du mir sonst noch etwas zu sagen?“ fragte er.

„Hm, ja,“ erwiderte der Buckelige. „Ich will Dein Geständniß, daß Du der Mörder bist.“

„Du hast Dich vergebens zu mir bemüht, Freund Sebastian Brand.“

„Ich denke nicht, denn ich habe Dich in meiner Gewalt.“

„Durch die jämmerlichen Drohungen mit Deiner sentimentalen Cousine? Es ist lächerlich, mehr als lächerlich. Aus Furcht vor dem Eclat einer alltäglichen Liebesgeschichte soll ich einen Mord auf mich nehmen!“

„Du bist im Irrthum, Freund Römer,“ sagte der Buckelige. „Die Drohungen mit meiner Cousine waren nur Scherz. Sie ist längst eine glücklich verheirathete Frau. Solche weiche Herzen sind wie knarrende Wagen: sie halten sich am längsten; zerbrechen ist ihre Sache nicht. Ich würde nur ihr Glück zerbrechen, wenn ich Deine Niederträchtigkeit gegen sie proclamirte.“

Der Präsident hatte seine Fassung wiedergewonnen; er konnte wenigstens die Miene annehmen, als sei es so.

„Ich denke,“ sagte er, „Du verlässest jetzt mein Haus, damit ich nicht gezwungen werde, Dich durch die Domestiken hinauswerfen zu lassen.“

„Alle Wetter,“ lachte der Kleine, „ich würde mit Polizei und Gensd’armen zurückkommen, um Dich zum Criminalgefängniß abführen zu lassen.“

Der Präsident mußte zum zweiten Male erblassen, trotz des Lachens des Kleinen, vielleicht gerade deshalb; er kannte ja seinen buckeligen Freund, den sie schon auf der Universität den Teufel geheißen und der ihm geschworen hatte, sein Teufel zu werden.

„Versuche es,“ nahm er sich zusammen.

„Ich sehe noch keine Domestiken hier,“ versetzte der Buckelige ruhig, „und so kann ich ja auf meine Bitte, oder eigentlich auf mein Verlangen, zurückkommen. Nun, wirst Du mir eingestehen, daß Du Deine Frau ermordet hast?“

„Du bist ein Narr, – ein Schurke, – ein Satan, – ein Wahnsinniger!“ rief in steigender Wuth der Präsident.

Es giebt auch eine Wuth der Angst, sie steigt und wächst mit dieser eine Zeit lang.

„Sprechen wir vernünftig, Freund Römer,“ sagte der Buckelige.

„Dein Geständniß muß ich haben, darum bin ich hergekommen, und kommst Du nicht willig damit heraus, so brauch’ ich Gewalt – ich gehe zum Criminalgericht. Aber damit Du hinterher nicht sagen kannst, Du seiest überrumpelt, so erkläre ich Dir, daß, wenn ich Dein Geständniß habe, mir der Weg zum Gericht auch noch offen steht. Also, wirst Du bekennen, daß Du der Mörder Deiner Frau bist?“

„Willst Du mich zwingen, Dich hinauswerfen zu lassen?“ fragte der Präsident zurück.

„Nicht sogleich,“ sagte der Buckelige. „Du warst sonst für Gründe empfänglich, höre sie auch heute an.“

Der Präsident besann sich.

„Sprich!“ sagte er.

„Setzen wir uns,“ sagte mit seinem listigen Blick der Kleine.

„Nimm Dir einen Stuhl.“

„Ah, Dir fehlt wohl die Ruhe zum Sitzen? Ja, das Gewissen! Nun, ich kann stehen, und an Dich wird das Sitzen schon kommen, wenn auch ohne die Ruhe. So höre mir zu. Deine Frau ist am Dienstag Abend plötzlich gestorben, durch einen Fall, oder durch einen Sturz von dem Nadelfelsen in der Sebastiansschlucht. Du hast gesagt, durch einen Fall, Du hast keine weiteren Beweise dafür, als eben Deine nackte Behauptung. Dafür aber, daß sie von Dir, und zwar vorsätzlich und gar mit Vorbedacht, hinuntergestürzt ist, sprechen folgende Beweise. Ich hatte Dich am Montag, am Abend vor der That, an jenes Sterbelager geführt und Dich zum Augenzeugen gemacht von dem Abschiede, den Deine Frau von dem sterbenden Geliebten nahm. Du hattest so die erforderliche Portion von Eifersucht, Haß, Rache, Zorn und Wuth in Dich aufgenommen, um den Mord zu begehen. Ich bezeuge damit das Motiv zur That. Du lachst höhnisch dazu? Darüber, daß ich als Zeuge gegen Dich auftreten werde? Es sind noch andere Zeugen da.“

Der Präsident konnte in der That noch einmal lachen.

„Deine Anwesenheit am Orte der That,“ fuhr der Buckelige fort, „hast Du eingeräumt; sie verdächtigt Dich in sofern nicht. Um so mehr verdächtig wird sie dadurch, daß Du sie hattest verbergen wollen, und erst, als Dir dies mißglückte, gezwungen sie zugestandest. Du warst Deiner Frau heimlich gefolgt und hattest Wege eingeschlagen, die damals menschenleer waren. Nur ein einziger Mensch begegnete Dir. Du suchtest Dich vor ihm zu verbergen, doch es war zu spät. Als Du gewahrtest, daß er Dich gesehen hatte, [559] gingst Du auf ihn zu, fragtest ihn nach Deiner Frau und logst ihm vor, sie erwarte Dich in der Schlucht. Dem Regierungsrath Amberg war Dein Benehmen schon sofort aufgefallen, doch von der Lüge wußte er nichts. Er wird der zweite Zeuge gegen Dich sein.“

Der Präsident war nachdenklich geworden.

„Dritter Zeuge gegen Dich ist die Majorin von Hake. Sie war unmittelbare Augenzeugin des Mordes selbst. Deine Frau hatte sie gebeten, auch am Dienstag Abend mit ihr in die Schlucht zu gehen; sie hatte jedoch nicht gewollt. Nachher überfiel Frau von Hake eine Angst; sie ging Deiner Frau nach und – kam zu spät, freilich nur um den Mord zu hindern. Sie sah Dich mit Deiner Frau oben auf dem Felsen. Du sprachst mit zornig unterdrückter Stimme zu ihr. Dann riefst Du: ‚Elende!‘ und ergriffst die Unglückliche. Ein Angstruf entfuhr ihr; von Deinem Arm hinuntergeworfen, stürzte sie von Zacke zu Zacke an dem Felsen hernieder; unten war sie leblos. Frau von Hake entfloh.“

Der Präsident war leichenblaß geworden; die Kniee schienen ihm zusammenbrechen zu wollen.

„Willst Du Dich nicht setzen?“ fragte der buckelige Advocat.

„Satan!“ knirschte der Präsident.

„Kannst Du damit Frau von Hake zur Lügnerin machen?“ fragte der Advocat. Dann fuhr er fort: „Ich wollte Dein Geständniß, ich habe es schon. Dieses erdfahle Gesicht, der kalte Schweiß auf Deiner Stirn, die schlotternden Kniee – was will ich mehr? Sie werden aber auch Deinen Richtern Beweis sein, wenn ich sie ihnen bekunde. Adieu, ich gehe zum Gerichte.“

„Mensch, Unmensch!“ rief der Präsident.

„Sollen die Worte mich zurückhalten?“

„Bleib’!“

„Was hättest Du mir zu sagen?“

„Du hast mich erschrecken wollen. Du hast gelogen.“

„Gehen wir zur Frau von Hake.“

„Sie hat sich geirrt.“

„Worin?“

„Sie muß sich geirrt haben.“

„Darin, daß sie Dich oben bei Deiner Frau sah, daß sie das Wort ‚Elende‘ hörte, daß sie dann sah, wie Du die Frau ergriffst, hinunterstürztest? Höre, Freund Römer, Du hast Deine Sache schlecht eingerichtet. Du hast nun einmal gesagt, Du seiest nur unten, gar nicht oben gewesen. Du hattest nicht daran gedacht, daß Gott Dir einen Zeugen geschickt haben könne. Hättest Du daran gedacht, so könntest Du sagen: sie wollte sich von der Höhe stürzen, ich wollte sie zurückhalten, wir rangen mit einander; sie riß sich von mir los, so geschah das Unglück. Die Frau von Hake konnte in der Dunkelheit nicht genau sehen; sie konnte Dir nicht widersprechen. Es war kein Beweis gegen Dich da. Das Alles ist jetzt vorbei. Du hast aller Welt gesagt, Du seiest gar nicht oben, nur unten gewesen. Es war eine Dummheit von Dir. Sie ruinirt Dich, bringt Dich auf das Schaffot. Die Gerichte müssen Dich verurtheilen; die Gesetze fordern es unabweislich. Ich bin Jurist, Vertheidiger; wenn ich Dich zu vertheidigen hätte, ich gäbe Dich verloren. Du kennst selbst die Gesetze, Du kannst Dir keine Hoffnung machen, und ich sehe es Deinem verstörten Gesichte an, daß Du Dir keine machst. An Begnadigung wäre noch zu denken, aber einen Consistorialpräsidenten, der wegen Mordes, gar wegen Gattenmordes verurtheilt ist, zu begnadigen, das geht nicht. Wärest Du blos von Adel, oder mit einem andern Amte, es ginge an; der Adel hat einmal das Privilegium für solche Fälle; allein Chef einer so hohen geistlichen Behörde – das ist zu Deiner Dummheit das Unglück. Gerade die hohe Geistlichkeit ist ja immer gegen die Begnadigungen der Regenten, seit langen Zeiten schon. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut muß wieder vergossen werden, halten sie den Königen vor, in echt mildem, christlichem Sinne, nämlich mit dem Zusatze: das unschuldige, wie das schuldige Blut würde sonst auf Euere Majestät und auf Euerer Majestät Kinder und Kindeskinder kommen! Hast Du mir noch etwas zu sagen, Freund Römer?“

Der Präsident hatte schon lange während der boshaften, wie freilich auch überzeugenden Worte des buckeligen Advocaten sich setzen müssen, und er saß mit einem nicht blos verstörten, sondern mit einem völlig vernichteten Gesichte da. Jedes der Worte, die er anhören mußte, war für ihn ein Dolchstoß der Wahrheit und der Verurtheilung geworden.

„Bleibe noch,“ stöhnte er.

Auf den boshaften Lippen des Advocaten schwebte die höhnische Frage: „Willst Du mir Dein Geständniß ablegen?“ Aber er unterdrückte sie. „Man muß dem Feinde manchmal goldene Brücken bauen,“ sagte er für sich.

„Ich werde Dich nicht verrathen,“ sprach er dann laut, „Du kennst mich. Auch Frau von Hake wird es nicht; ich stehe für sie ein. Nur wir Zwei sind die Zeugen gegen Dich, Herr Amberg für sich allein kommt nicht in Betracht. Aber Dein Geständniß muß ich nun einmal haben. Du kennst den Teufel auch darin.“

„Satan!“ fluchte der Präsident, aber er murmelte es leise; dann nahm er sich zusammen, in seiner Ohnmacht. „Nun ja! Du hast es.“

„Was habe ich?“ fragte listig der Buckelige.

„Mein Geständniß.“

„Du bist also der Mörder Deiner Frau?“

„Ja!“

Das Ja war kaum hörbar. Der buckelige Advocat hatte es gehört. Er war damit befriedigt.

„Adieu!“ sagte er.

„Du giebst mir Dein Ehrenwort?“ rief ihm der Präsident noch nach.

„Zum Teufel, ja!“ rief der Buckelige zurück. Und lachend verließ er das Zimmer. „Der Narr!“ lachte er noch draußen für sich dann kehrte er zu dem Geheimenrath von Wangen zurück.

„Herr Geheimerath, ich komme von Ihrem Schwiegersohn. Er ist unschuldig.“

„Ihr Blick sagt das Gegentheil,“ versetzte der Geheimerath.

„Herr Geheimerath, mein Blick bricht nicht mein Ehrenwort.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Was ich nicht sagen darf. Genug, Herr Geheimerath, Ihr großväterliches Herz darf sich beruhigen. Ihre Enkel können den Vater ansehen, ohne an Mord und Mörder zu denken. In Ihrem Hause darf man von Gattenmord sprechen, ohne das Sprüchwort in Gefahr zu bringen, daß man im Hause des Gehenkten nicht vom Stricke reden darf. Ihr Herr Schwiegersohn kann Minister werden. Er wird es werden, denn er ist von dem Holze, aus dem manchmal Minister geschnitten werden, wenigstens geschnitten werden können. Und nun noch Eins, Herr Geheimerath, Ihre Augen sprechen eine Frage aus, die Sie schon einmal an mich richteten: wozu das Alles, das Verbrechen, das Andere? Sie wissen wohl nicht, daß ich auf der Universität schon von meinen Freunden den Beinamen ‚der Teufel‘ erhielt. Der Teufel aber säet nach der Bibel Unkraut unter die Menschen, und nach der Volkssage hilft er zuweilen dem lieben Gott, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Geheimerath!“

J. D. H. Temme.