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Der Richter (Temme)

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Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
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Titel: Der Richter
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 1–4
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzungsroman in 5 Teilen // Heft 1–5
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[1]
Der Richter.
Nach brieflichen Mittheilungen. 0Von J. D. H. Temme.


1.0 Der Ruf der Nachteule.

In einem anmuthigen Bergkessel, nicht weit von dem freundlichen Friedrichshafen am Bodensee, liegt das kleine Dorf Schönthal. Die Berge umher, die es einschließen, sind nicht zu hoch und dachen sich meist allmählich ab. So scheint die Sonne schon früh des Morgens in das Dörfchen hinein, und ihre letzten Strahlen verschwinden erst wieder, wenn auch jenseits der Berge der Abend bald anbrechen will. Das Dörfchen ist wohlhabend; seine hellen hübschen Häuser, die freundlichen Gärten vor und neben diesen zeigen es. Ein klarer Bach rauscht an dem Orte vorüber und verliert sich dann zwischen Weiden und Gebüsch in die grünen Wiesen, die sich ringsum ausbreiten. Die Berge sind mit Waldung bedeckt und die Bäume ziehen sich bis unten in die Schlucht hinein, wo sich buntes Buschwerk anschließt. Ersteigt man die Berge, so hat man oben auf der Höhe die reizendste Aussicht und weiß nicht, soll man den Blick lieber wenden in die stille Schlucht mit den hellen Häusern, den freundlichen Gärtchen, den grünen Wiesen, dem blauen Bache, der zwischen dem Allen sich hindurchschlängelt, oder hinaus in die weite Ferne jenseits der Berge, zurück in die fruchtbaren Ebenen und holzreichen Gebirge des Württemberger Landes, vorwärts auf den mächtigen grauen Bodensee, über ihn hinweg in die hoch zu den Wolken hinaufragenden Alpen und Schneefirnen der Schweiz, in das Glarner und Appenzeller Land, in das Toggenburg bis weit hinten nach Graubünden hinein.

Zu Ende des Dörfchens in der Schlucht liegt auf einem kleinen Hügel die Kirche, um dieselbe herum der Friedhof, zu dessen Füßen das Pfarrhaus, welches von dem freundlichsten Gärtchen des Dorfes umgeben ist. An einem hellen und warmen Nachmittage des Mai saßen in diesem Gärtchen an der Vorderseite des Hauses der Pfarrer und seine Frau. Es waren ein paar alte Leute. Das lange, etwas lockige Haar des Pfarrers war silberweiß, unter der Mütze der Pfarrerin sahen weiße Löckchen hervor. Sie waren Beide noch rüstig; man sah ihnen die stille Zufriedenheit an, die das lange, ruhige und zufriedene Leben in dem stillen Thale ihrem Innern gegeben hatte. Der Pfarrer las seine Zeitungen und rauchte seine Pfeife. Die Pfarrerin strickte und ließ über das Strickzeug hinweg die Augen durch das Gärtchen, über Dorf und Schlucht zu den Bergen hinaufschweifen. Beide tranken sie ihren Thee; Brod und Himbeeren und Johannistrauben lagen in Schüsseln daneben. So saßen sie an dem kleinen Tische unter dem Schatten eines Kirschbaums, dessen rothe Frucht zu ihnen herunter hing.

Aus dem Hause trat ein junges Mädchen zu ihnen, das siebenzehn bis achtzehn Jahre zählen mochte. Sie war das schönste und reizendste Bild dieses Alters; hoch und schlank gewachsen; die Züge regelmäßig und edel geformt; das ganze Gesicht weiß wie die Blüthe und roth wie die Frucht der Kirsche; die großen dunklen Augen voll träumerischer Gluth - Alles an ihr freundlicher Liebreiz, unbewußter Adel und das selige Glück eines Kindes. Sie war die Tochter des alten Pfarrerpaares; das einzige Kind, das ihnen der Himmel erst in später Ehe geschenkt hatte, war sie zugleich der Augapfel, das Glück der Eltern.

„Darf ich meinen Spaziergang machen?“ fragte sie.

„Wohin heute?“ fragte der Vater nur zurück.

„Zu dem Ahornberge nach dem See hin.“

Der Vater nickte.

„Du bleibst doch nicht zu lange?“ fragte die Mutter.

„Vor Sonnenuntergang bin ich wieder da, Mütterli.“

Sie kehrte in das Haus zurück, um Hut und Tuch zu dem Spaziergange anzulegen. Die beiden Eltern sahen ihr mit dem vollen Glücke ihrer Herzen über das liebliche Kind nach.

„Wie schön sie ist!“ sagte die Mutter.

„Und wie brav!“ sagte der Vater.

„Und wie freundlich und kindlich und liebevoll gegen uns!“ sagten sie alle Beide.

„Wenn sie einmal von uns müßte, Vater! Wenn ein Mann sie in die Fremde holte!“

„Sie ist noch jung.“

„Aber sie kann alle Tage heirathen.“

„Sie könnte auch hier bei uns bleiben, Mutter.“

„Wer wäre in diesem Dorfe ein Mann für sie?“

„Mein Nachfolger zum Beispiel. Ich bin alt, ich könnte mir einen tüchtigen jungen Geistlichen adjungiren lassen.“

Die Pfarrerin antwortete nicht; sie sah auf ihre Stricknadeln nieder, aber mit einem eigenthümlichen Ausdrucke ihres Gesichts. Und dieser Ausdruck schien zu sagen: „Das Kind ist so besonders schön, ist so brav und edel, hat die vortreffliche Ausbildung in der Pensionsanstalt zu Canstatt erhalten und sollte als Pfarrerin in dem kleinen Dorfe, in der engen Schlucht versauern!“

Sie selbst hatte als Pfarrerin in dem kleinen Dorfe und in der engen Schlucht ein langes Leben voll Glück und Zufriedenheit verlebt; aber das Mutterherz hat seine besonderen Pläne und Hoffnungen und Träume. Sie wurde in ihren Hoffnungen und Träumen unterbrochen. Aus einem der Berge, die das Thal umgaben, ertönte der schrille Schrei einer Eule; die länger gezogenen [2] melancholischen Töne des Vogels der Nacht folgten. Es dauerte nur ein paar Secunden; dann war Alles still. Der Pfarrer blickte unmuthig in die Gegend, aus der die Töne kamen.

„Das ist nun schon seit vierzehn Tagen,“ sagte er verdrießlich.

„Und so früh, noch am hellen Tage,“ sprach die Pfarrerin; aber weniger verdrießlich.

„Das Thier ärgert mich,“ fuhr der Pfarrer fort. „Ich bin nicht abergläubisch, aber der Schrei der Nachteule war mir immer widerwärtig.“

„Mich ängstigt er,“ meinte die Frau; „aber nur des Nachts, wenn Alles still ist, oder wenn der Wind heult.“

Sie sprachen nicht weiter darüber. Der Pfarrer las, die Pfarrerin strickte wieder. Sie sah aber auch wieder über das Strickzeug hinweg, und da gewahrte sie etwas, worüber ein neues Gespräch der alten Leute sich entspann. Oben an der Kirche über dem Pfarrhause stand ein junger Mann in der eleganten Kleidung der Touristen; es war eine hohe Gestalt, von stolzer Haltung.

„Da ist der fremde Herr wieder,“ sagte die Pfarrerin. „Wer er nur sein mag? Er muß nun schon seit vier bis fünf Wochen in der Gegend sein.“

Auch der Pfarrer sah den jungen Mann.

„Er wohnt unten am See in dem Heusser’schen Landhause,“ sagte er.

„Aber wer er sein mag?“ wiederholte die Frau.

„Er nennt sich Bormann.“

„Ja, ja! Aber hinter dem simplen Bormann muß mehr stecken. Er hat das ganze Haus für sich allein gemiethet. Er hält sich Bedienten, Kutscher, Wagen und Pferde; er hat seine Gondeln auf dem See. Alles für sich ganz allein. Er muß sehr reich sein.“

„Er soll ein Kaufmannssohn aus Hamburg sein,“ meinte der Pfarrer, „und in Hamburg sind sehr reiche Kaufleute.“

„Das mag sein. Aber er hat so etwas besonders Vornehmes, Stolzes! Wie ein Fürst!“

„Auch die Hamburger Kaufleute werden vornehm und stolz sein können.“

Sie wurden in ihrem Gespräche unterbrochen. Das schöne Mädchen kehrte aus dem Hause zurück. Sie war jetzt in Hut und Shawl und schien eilig zu sein, ihr Gesicht war etwas geröthet. Es war eine so feine Röthe in dem feinen Gesichte. Der weiße runde Hut, den sie trug, warf mit seinem breiten Rande einen so wunderbaren Schatten gegen die Abendsonne darauf. Das Mädchen war wunderbar schön. Sie war eilig; sie machte dennoch den Umweg zu den Eltern, um Abschied von ihnen zu nehmen. Nur für eine Stunde. Zum Sonnenuntergang wollte sie zurück sein. Die Sonne schien nur noch kaum über die Berge der Schlucht herüber; in einer Stunde mußte sie auch schon jenseits, da hinten über dem oberen Bodensee, untergegangen sein.

„Bis nachher,“ sagte sie freundlich.

„Bis nachher, Johanna,“ sagten freundlich die beiden alten Leute.

Sie ging. Sie ging so glücklich.

„Du bleibst doch nicht zu lange?“ rief ihr die Mutter noch nach. Die besorgliche Frau hatte es ihr schon vorhin gesagt.

„Nein, nein, lieb Mütterli!“

Und das schöne Mädchen wandte sich noch einmal um, während sie diese Worte rief. Und sie sahen noch einmal das schöne, blühende Gesicht, die dunklen Augen, die in diesem Momente nicht träumten, sondern hell glänzten in Glück, in Ahnung, in Verlangen.

„Wie schön und brav sie ist!“ sagte die Mutter noch einmal.

„Mein Gott, wenn wir das Kind verlieren müßten!“ rief auf einmal die Mutter. Sie war blaß geworden.

„Mutter, wie kommst Du auf den Gedanken?“

Die Pfarrerin antwortete nicht, aber sie war blaß geblieben. Und so war sie noch lange und suchte es dem Manne zu verbergen. Sie wußte ja selbst nicht, was es war; sie hatte wohl eine Ahnung, aber auch für diese keinen Grund.

Der Pfarrer ging in das Haus, um noch an seiner Predigt für morgen zu studiren, denn es war Sonnabend. Die Pfarrerin saß allein in dem Gärtchen. Der Gedanke: wenn wir das Kind verlieren müßten, wollte sie nicht wieder verlassen und machte ihr das Herz schwerer und schwerer.

Die Sonne war untergegangen. Unten in der Schlucht war es schon dunkel. Der alte Pfarrer in seinem Studirstübchen arbeitete schon bei der Studirlampe. Die Pfarrerin saß noch unter den rothen Kirschen in dem Gärtchen vor dem Hause. Die Stricknadeln ruhten vor ihr auf dem Tische. Sie blickte zu dem Abendhimmel hinaus, an dem noch einzelne goldene Wolken ruhten. Sie sah den Weg hinunter, den ihre Tochter zurückkommen mußte. Die Sonne war schon untergegangen und noch vor Sonnenuntergang hatte das Mädchen zurück sein wollen. Es wurde dunkler; die Wolken hatten nur noch oben einen hellen Saum. Die Pfarrerin wurde unruhig.

„Wo das Kind bleiben mag?“

Die Wolken oben am Himmel waren grau geworden, unten in der Schlucht lag der volle dunkle Abend. Die Pfarrerin litt es nicht mehr auf ihrem stillen, einsamen Platze. Sie ging in das Haus, in das Studirstübchen ihres Mannes.

„Vater, die Johanna ist noch nicht wieder da.“

Der Pfarrer war noch am Studiren. Seine Gedanken waren in seinen Büchern.

„Sie wird schon kommen,“ sagte er.

Die Frau wagte nicht, ihn weiter zu stören. Sie ging in die Küche zu den Mägden, in die Scheune zu dem Knechte.

„Habt Ihr die Johanna nicht gesehen?“

Niemand hatte sie gesehen. Sie kehrte in das Gärtchen vor dem Hause zurück und ging bis an das Pförtchen. Sie sah, sie horchte in den Weg hinein, den das Mädchen vorhin gegangen war, den es zurückkommen mußte. Sie sah, sie hörte nichts. Es wurde ihr heiß.

„Mein Gott, wo bleibt das Kind? Es ist ihr doch nichts zugestoßen? Dort, in dem dunklen Wege!“

Sie ging wieder in das Haus, in die Küche, in die Scheune, zu den Mägden, zu dem Knechte.

„Das Kind ist noch immer nicht wieder da. Geht doch in das Dorf, nach ihr zu fragen, ob kein Mensch sie gesehen hat. Sie wollte zum Ahornberge und schlug den Weg dahin ein.“

Die Leute gingen in das Dorf. Sie selbst ging in die nächsten Nachbarhäuser, aber sie fand Niemanden, der ihr Kind gesehen hatte. Die Domestiken kehrten zurück. Im ganzen Dorfe hatte kein Mensch von dem Fräulein etwas gesehen oder gehört. Sie ging wieder zu ihrem Manne hinauf.

„Vater, die Johanna ist noch immer nicht wieder da. Im ganzen Dorfe weiß kein Mensch von ihr.“

Die Gedanken des Pfarrers verließen seine Bücher.

„Unser Kind? Johanna? Es ist ja neun Uhr! Sie hätte seit zwei Stunden zurück sein müssen!“

„Ja, Vater, und ich habe eine so entsetzliche Angst. Wenn das Kind nicht wiederkehrte!“

„Wie kommst Du auf den Gedanken, Mutter?“

„Schon seit einigen Tagen war es mir so besonders. Vorgestern war ich mit ihr oben an der Kirche. Wir sahen auf den Kirchhof herunter, auf die Gräber, die vor uns lagen, auch auf die Ruhestätte, die wir beiden alten Leute für uns bestimmt haben. Da wurde es mir auf einmal so schwer auf dem Herzen. ‚Johanna,‘ sagte ich, ,Deine Liebe sollte uns dahin geleiten. Wenn nur fremde Menschen an unserem Sarge stehen, zu dem Grabe da unten uns das Geleite geben müßten, unser Kind dort nicht für uns beten dürfte?’

‚Dürfte, Mutter?‘ rief sie. ‚Wie wäre das möglich?‘

Sie war mir seit einiger Zeit so sonderbar vorgekommen. Sie hatte etwas auf dem Herzen und wollte es mir manchmal sagen. Sie konnte es nicht. Darüber hatte ich nachdenken müssen, als ich zu den Gräbern hinunterblickte. Da hatte ich ihr das Wort gesagt. Es erschreckte sie.

‚Mutter, wie wäre das möglich?‘ rief sie.

‚Sieh mich an, Johanna,‘ sagte ich. ‚Hast Du etwas, das Du mir nicht sagen kannst?‘ Sie konnte mich nicht ansehen. Sie war blaß geworden. ‚Johanna, was ist es mit Dir?‘ fragte ich sie. Sie fiel mir weinend an die Brust.

,O meine liebe Mutter,’ sagte sie, ‚vertraue mir, vertraue Deinem Kinde, das immer Gott und seine Eltern vor Augen haben wird.‘

Ich konnte nicht weiter in sie dringen. Hätte ich es gethan!“

„Du hast mir nichts davon erzählt, Mutter,“ sagte der Pfarrer.

[3] „Ich wollte Dich nicht beunruhigen. Und jetzt ist unser Kind fort, und wir haben die Todesangst.“

Sie erzählte, wie sie es vergeblich gesucht habe. Er warf sich in die Kleider.

„Ich werde sie selbst suchen, mit dem Knecht.“

Er ging mit dem Knecht, sein Kind zu suchen. Sie erstiegen den Ahornberg und fanden sie nicht; sie fanden keine Spur, daß sie dagewesen sei.

„Johanna! Johanna, mein Kind!“ rief er in den Berg, in die Schlucht, in die Berge umher hinein.

„Fräulein Johanna!“ rief der Knecht.

Sie erhielten keine Antwort. Sie durchirrten den Berg auf allen seinen Seiten. Sie erstiegen die benachbarten Berge und riefen: „Johanna, Johanna, mein Kind!“ „Fräulein Johanna!“ Sie erhielten keine Antwort; sie fanden keine Spur der Verschwundenen und kehrten endlich zum Dorfe zurück.

„Biete das ganze Dorf auf, sie zu suchen,“ sagte der Pfarrer zu dem Knechte. Ihn selbst hatten Angst und Anstrengung erschöpft. Der alte Mann sah aus wie eine Leiche. Seine Füße trugen ihn nicht mehr.

Der Knecht geleitete ihn nach Hause, bot dann das Dorf auf, das Kind des Pfarrers zu suchen. Die Leute liebten den Pfarrer und sein Kind. Das ganze Dorf machte sich mit dem Knecht auf, in die Nacht, in die Berge, die Verlorene zu suchen. Die Pfarrerin saß in ihrem Stübchen vor einem Gebetbuche. Der leichenblasse Greis trat zu ihr ein.

„Unser Kind ist fort, Mutter.“

Er fiel in seiner Erschöpfung nieder. Die schwache Frau tröstete den Mann.

„Vater, es lebt ein Gott im Himmel. Er wird uns unser Kind wiedergeben.“

Die beiden alten Leute saßen die ganze Nacht, verzagend und hoffend, hoffend und verzagend. Kein Schlaf kam in ihre Augen. Als der Morgen anbrach, erhielten sie Nachricht. Ein Mann vom See kam in die Pfarrei.

„Sie suchen Ihre Tochter, Herr Pfarrer. Vielleicht kann Folgendes Sie auf die Spur führen. Ich bin Nachbar des Heusser’schen Landhauses, in dem der fremde, reiche, junge Herr wohnt, Bormann soll er heißen, und aus Hamburg soll er sein. Gestern Abend, als es schon dunkel war, sah ich, wie der Bediente des Herrn dessen kleine Segelgondel, die er unterm Hause in der Bucht liegen hat, fertig machte. Ich fragte ihn, wohin er noch im Dunkeln fahren wolle. Er sagte, sein Herr wolle noch eine Spazierfahrt auf dem See machen. Er legte Kissen zum Sitzen hinein, machte die Segel zurecht, legte ein paar Ruder hinzu, für den Fall, daß kein Wind sei. Als er fertig war, ging er in’s Haus. Ich blieb, weil ich nichts zu thun hatte, in der Nähe stehen. Es dauerte lange, bis Jemand wiederkam; und da kam der junge Herr nicht allein, es war ein Frauenzimmer bei ihm. Erkennen konnte ich sie nicht; es war dunkel und ich mochte nicht nahe herangehen; ich glaubte nur zu sehen, daß sie eine große Gestalt war. Sie gingen zu dem Schiff; er sprang zuerst hinein; dann reichte er ihr die Hand und sie folgte ihm. Sie sprachen, soviel ich hören konnte, nichts mit einander. Die Beiden waren ganz allein. Er nahm die Ruder, stieß vom Lande ab und ruderte mitten in den See hinein. In der Finsterniß und in dem Nebel, der schon auf dem Wasser lag, kamen sie mir bald aus den Augen. Ich dachte noch darüber nach, wer das Frauenzimmer gewesen, und wohin er am späten, dunklen Abende mit ihr gefahren sein könne, als der Diener wiederkam, der den Nachen zurecht gemacht hatte. Er schien aus Neugierde hergekommen zu sein. Ich trat an ihn heran. ‚Wer war das Frauenzimmer, mit dem der Herr abfuhr?‘ Auch er wußte es nicht.

„Der Herr, erzählte er mir, war nach Dunkelwerden nach Hause gekommen. Niemand hatte ihn ankommen sehen. Er hatte dem Diener befohlen, das Segelschiff zu einer Spazierfahrt zurecht zu machen. Als der Diener zurückkam, fand er die sämmtlichen Leute des Hauses um den Herrn versammelt. Er theilte ihnen mit, daß er nach einer am Abend erhaltenen Botschaft auf der Stelle abreisen müsse und nicht wiederkehren werde. Er bezahlte ihnen Allen ihren Lohn aus und empfahl ihnen die Sorge für das Haus, dessen Eigenthümer morgen kommen und es wieder in Besitz nehmen werde. Die Miethe für Haus und Mobiliar war schon für den Monat vorausbezahlt. Dann nahm er Abschied von den Leuten. Er werde in dem Segelschiff abfahren; er werde selbst fahren; Niemand solle ihn zu dem Schiff begleiten. Damit war der Herr gegangen. Niemand war ihm gefolgt. Nur ein Stubenmädchen hatte ihm nachgesehen. Er war zuerst wieder in sein Zimmer gegangen. Aus diesem war er fast unmittelbar darauf zurückgekehrt; aber nicht allein; es war eine Dame in Hut und Shawl mit ihm gewesen. In der Dunkelheit hatte das Mädchen sie nicht näher erkennen können. Mit der Dame hatte er das Haus verlassen.“

Das hatte der Diener dem Manne vom See erzählt; das erzählte dieser dem Pfarrer und der Pfarrerin wieder.

„Der fremde Herr,“ setzte der Mann noch hinzu, „muß unermeßlich reich gewesen sein; er war auch nichts weniger als geizig. Aber dennoch war er bei Keinem von seinen Leuten beliebt. Er war hochmüthig, herrisch, er war hart gegen sie; sie sagen, er habe kein Herz. Ich mußte Ihnen das Alles mittheilen, Herr Pfarrer,“ schloß der Mann. „Was Sie sich daraus entnehmen wollen, müssen Sie wissen.“

Die unglücklichen Eltern wußten es. Sie hatten den Fremden in der Nähe des Pfsarrhauses, sie hatten ihn dann wartend oben an der Kirche gesehen, sie hatten jenes auffallende Eulengeschrei gehört, jetzt ahnten sie, daß es das Signal gewesen war, welches ihrem Kinde galt. Ihr unschuldiges, reines Kind freilich, seine Unbefangenbeit –! Aber wer mag unthätig zurückschauen, wo das schleunigste Handeln zur Rettung Noth thut? War ihr Kind zu retten?

Sie verfolgten die Spur, die sie gefunden hatten. Sie war freilich in demselben Augenblicke wieder verloren. Aber sie fanden sie bald wieder, in Schaffhausen. Am frühen Morgen war das kleine Segelschiff dort angekommen, mit einem Herrn und einer Dame. Der Herr hatte das Schiffchen dem ersten besten Schifferburschen geschenkt, war dann mit der Dame zum Eisenbahnhof gegangen und hatte hier mit ihr gefrühstückt. Mit dem ersten Zuge der Eisenbahn waren sie weiter gefahren. Damit war ihre Spur völlig verloren.

Der Pfarrer schrieb nach Hamburg. Man wußte dort nichts von einem Herrn Bormann, welcher der junge, reiche Fremde gewesen sein konnte. Auch keine andere Kunde kam von den Entflohenen, keine einzige; kein Brief, keine Zeile, kein anderes Lebenszeichen der Tochter an ihre verzweifelnden Eltern.


2. Die Nacht in der Buchhauser Linde.

Fünf Monate später, an einem kalten, dunklen Octoberabend, hielt im mittleren Deutschland vor einem einsam an der Chaussee gelegenen Wirthshause eine mit vier Pferden bespannte Extrapost. Es war ein eleganter, fest verschlossener Reisewagen. Der Postillon stieg vom Pferde, ging an den Wagen und rief zu dem Fenster desselben, das nicht geöffnet wurde, hinauf:

„Wir sind an der Buchhauser Linde!“

„Gut!“ wurde aus dem Innern des Wagens von einer männlichen Stimme geantwortet.

Der Postillon ging in das Wirthshaus, das man die Buchhauser Linde nannte. Er war bekannt in dem Hause; er fuhr den Weg oft. In der Wirthsstube unten traf er den Wirth.

„Kann heute Nacht eine Herrschaft bei Euch logiren, Lindenwirth?“

„Warum nicht? Dafür ist die Buchhauser Linde da.“

„Aber es ist etwas Vornehmes!“

„Desto besser. Wie viele sind ihrer?“

„Ein Herr und eine Dame. Es sind junge Leute; sie scheinen mir auf der Hochzeitsreise zu sein; und vornehm sind sie auch, denn sie befehlen und bezahlen gehörig. Der Herr wenigstens. Donner, was kann der commandiren, und immer oben vom höchsten Stock herab. Dann wirft er aber auch mit den Thalern nur wieder so um sich. Die arme Frau freilich –“

„Was ist es mit der Frau?“ fragte der Wirth.

„Die saß immer still vor sich hin. Sie hat eigentlich kein Wort gesprochen. Nun, sie ist auch krank, oder unwohl, wie der Herr sagt. Sie hatte den ganzen Weg über Kopfweh; sie war damit schon auf der Station angekommen. Darum mußte ich langsam fahren, und darum halten wir auch hier an und machen hier Nachtquartier. Vor einer halben Stunde schon fragte mich der Herr, ob wir nicht bald an ein ordentliches Wirthshaus kämen, [4] wo man zu Nacht bleiben könne; seine Frau halte es bis zur nächsten Station nicht mehr aus. Ich sprach ihm von der Buchhauser Linde. Ich mußte ihm über Alles Bescheid geben, wo das Haus liege, ob die Wirthsleute ordentliche Leute seien, ob man hier gut logire. Und als er Alles wußte, befahl er mir, hier zu halten und Nachtquartier zu bestellen. Ich soll mit den Pferden bleiben, damit es morgen früh gleich weitergehen kann!“

„Wie heißt die Herrschaft?“ fragte der Wirth noch. „Und wo sind sie her?“

Der Postillon wußte es nicht.

„Der Name steht in meinem Begleitezettel; aber ich habe wahrhaftig nicht danach gesehen. Es wird ja auch nicht darauf ankommen, Lindenwirth, wenn sie nur bezahlen.“

So mochte auch der Lindenwirth meinen. „Nummer eins und zwei heizen,“ befahl er einer Magd.

„Oben doch?“ fiel der Postillon ein. „Dem Herrn war besonders daran gelegen, daß seine Frau in der Nacht nicht durch das geringste Geräusch gestört werde; wenn sie an ihren Kopfschmerzen leide, so könne sie nicht vertragen, wenn nur Jemand in ihrer Nähe spreche.“

„Seid ohne Sorgen, Schwager,“ sagte der Wirth. „Sie sind allein da oben, und die ganze Nacht soll sich keine Maus rühren.“

Wirth und Postillon gingen hinaus zum Wagen. Der fremde Reisende war unterdeß ausgestiegen, wohl ungeduldig über das Ausbleiben des Postillons. Er kam den Beiden entgegen.

„Bekomme ich Quartier?“ frug er kurz.

„Zu Befehl, Euer Gnaden.“

„Sind keine Fremden im Hause?“

„Kein Mensch.“

„Ich darf unter keinen Umständen heute Nacht gestört werden!“

„Euer Gnaden dürfen unbesorgt sein. Es werden schon zwei Zimmer für Sie geheizt, die ganz allein liegen.“

„Ich bedarf nur eins.“

„Wie Euer Gnaden befehlen.“

Ein Knecht kam aus dem Hause mit Licht, um zu leuchten.

„Das Licht fort!“ befahl der Fremde. „Es schmerzt meine kranke Frau.“

Der Knecht ging mit dem Lichte wieder in das Haus. Der Reisende kehrte zu dem Wagen zurück. Der Wirth wollte ihm folgen.

„Sie können am Hause bleiben,“ wurde ihm befohlen.

Der Wirth ging zum Hause zurück. „Alle Hagel, der ist wahrhaftig vornehm,“ sagte er für sich, indem er sich in Gedanken berechnete, wie viel es ihm eintrage.

Der Reisende hatte jedes Wort kurz, befehlend, in fast absichtlich verletzender, hochfahrender Weise gesprochen. In den Wagen sprach er mit milderer Stimme hinein; kurz und befehlend schien freilich sein Ton, wie sein ganzes Wesen immer zu sein.

„Wir werden hier bleiben. Darf ich Dich bitten?“

Es erhob sich Jemand im Wagen. Man hörte Seide rauschen. Auf den Arm des Reisenden gestützt, stieg eine Dame aus dem Wagen. An seinem Arme ging sie mit ihm zum Hause. Sie mußte leidend sein; sie schritt schwer und mühsam neben ihm. Sie gingen Beide schweigend. In der Hausthür trat ihnen der Wirth entgegen. Hinter ihm stand der Knecht mit dem Lichte. Der Wirth war wohl neugierig, sich die beiden Fremden anzusehen.

„Zurück mit dem Lichte! Ich befahl es schon einmal!“ rief strenge der Reisende.

Der Knecht trat wieder zurück. Der Wirth hatte aber auch vorher wenig gesehen. Der Fremde war in einen weiten, langen Reisepelz gehüllt; eine Pelzmütze mit langem, breitem Schirm verdeckte das ganze Gesicht und ließ nur einen Theil eines schwarzen, krausen Bartes sehen. Die Dame trug gleichfalls einen weiten Pelz, der mit schwerer schwarzer Seide überzogen war. Ihr Gesicht wurde von einem schwarzen Schleier verborgen. Herr und Dame waren ein paar hohe Gestalten. Der Herr schien schlank zu sein; seine Bewegungen waren rasch, leicht, stolz. Haltung und Bewegungen der Dame zeigten nur, daß sie leidend war.

Das war Alles, was der Wirth beobachten und wahrnehmen konnte. Er führte die Fremden in das für sie bestimmte Zimmer, welches im ersten Stockwerke lag.

„Es liegt nach hinten,“ sagte er zu ihnen. „Da werden Sie nicht gestört werden. Vorn hätten Sie nicht so ruhig schlafen mögen. In der Nacht wird oft auf der Chaussee gefahren.“

„Gut!“ erwiderte der Fremde kurz.

Das Haus lag an der Chaussee; es hatte zwei Stockwerke. In dem oberen waren nur Fremdenzimmer, unten zu ebener Erde war die Wirthsstube, wohnten und schliefen der Wirth und seine Leute. Der Wirth wollte mit in das Zimmer treten.

„Sie bleiben zurück,“ befahl ihm der Fremde.

Der Wirth blieb zurück.

„Befehlen Euer Gnaden noch etwas?“ fragte er.

„Nachher!“

„Aber Ihre Sachen?“

„Nachher!“

Damit schloß der Fremde dem Wirth die Thür vor der Nase zu. Im Zimmer war Licht; geheizt wurde es von außen. Der Wirth kehrte nach unten in die Wirthsstube zurück. Wohl hatte er für das vornehme, hochfahrende Wesen des Fremden schon seine Rechnung gemacht, dennoch aber mußte er den Kopf schütteln. Aber er schlug wohl auch etwas auf die Rechnung hinzu. Nach zehn Minuten kam der Reisende in die Wirthsstube. Er kam in Pelz und Pelzmütze; man sah von seinem Gesichte wieder nichts, als den glänzend schwarzen, krausen Vollbart.

„Meine Sachen hinauf,“ befahl er dem Wirth. „Sodann Thee für meine Frau. Für mich später Abendbrod – was Sie haben, und eine Flasche Wein. Auch frisches Wasser. Rufen Sie den Postillon hierher!“ befahl er dann.

Der Postillon kam.

„Morgen früh um fünf muß angespannt sein,“ befahl er dem Postillon. „Mit dem Glockenschlage werden wir fahren.“

Er verließ das Zimmer. Er hatte immer gleich, in dem nämlichen kurzen, herrischen, hochfahrenden Tone gesprochen. Und es war nichts Gemachtes darin, Ton und Wesen schienen dem Manne durch lange Gewohnheit zur andern Natur geworden zu sein; durch Gewohnheit von früher Jugend an wenigstens. Denn er konnte noch nicht alt sein. Die gerade Haltung, die Elasticität seiner Bewegungen, die frische Stimme ließen auf einen noch jungen Mann schließen; auch der glänzend schwarze Bart sprach hierfür.

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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Der Richter
aus: Die Gartenlaube 1865, Heft 2, S. 17–20
Fortsetzungsroman – Teil 2


[17] „Habt Ihr sein Gesicht nicht gesehen, Schwager?“ fragte der Wirth den Postillon.

„Ich konnte nicht dazu kommen,“ sagte der Postillon. „Gott weiß, wie es war. Das Gesicht der Frau sah ich einmal. Sapperment, das war ein schönes, feines Gesicht, und noch blutjung; aber blaß war sie, recht blaß.“

„Und der Name?“ fragte der Wirth nochmals.

Der Postillon hatte seinen Begleitzettel bei seinen Sachen und bei den Pferden im Stalle. So konnte er den Namen auch diesmal nicht sagen. Nachher hatten er und der Wirth nicht weiter daran gedacht. Die Sachen der Reisenden wurden in ihr Zimmer geschafft. Es waren zwei große neue Reisekoffer. Der Wirth und sein Sohn, ein Bursch von sechzehn Jahren, trugen sie hinauf.

„Da muß ich doch etwas von ihnen sehen,“ dachte der Wirth.

Er sah nichts, auch sein Sohn nicht. In dem Zimmer standen zwei Betten; beide waren mit Vorhängen versehen und mit denselben dicht und fest umzogen. Die Frau mußte darin liegen, denn man sah sie nicht im Zimmer. Man sah sie aber auch hinter den Vorhängen nicht in dem Bette. Der Mann saß an dem Bette der Frau. Er war auch von Pelz und Mütze befreit, die jetzt auf einem Stuhl lagen; aber er hatte sich hinter dem Vorhange über das Bett gebeugt. So sah man wieder nichts von seinem Gesichte; man erkannte nicht einmal seine Gestalt. Er sprach nichts; man vernahm auch keinen Ton der Frau.

Eine Viertelstunde später brachte die Frau des Wirths den Thee und eine Flasche frischen Wassers in das Zimmer. Auch sie sah nichts, denn die Vorhänge des Bettes der Frau waren fest zugezogen. Der Mann stand hinten im Zimmer am Fenster und hatte ihr den Rücken zugewandt. Hätte er aber auch das Gesicht nach ihr gerichtet, sie hätte seine Züge nicht unterscheiden können; es brannte in dem Zimmer nur ein Licht, und dies war mit einem großen Schirme versehen, so daß in dem ganzen Zimmer nur die Helle der Dämmerung herrschte. Auffallen konnte es nicht, da der Fremde gesagt hatte, das helle Licht schmerze die Kranke. Auch die tiefste Stille war in dem Zimmer; die Frau des Wirths dachte, die Dame schlafe.

Etwa eine halbe Stunde später, gegen halb neun Uhr, wurde dem Fremden das Abendbrod mit dem Weine gebracht. Der Wirth und seine Frau trugen es hinein. Der Fremde stand wieder hinten im Zimmer, das Gesicht nach dem Fenster gekehrt. Das Bett der Frau war noch fest verhangen, kein Laut kam von daher.

Der Wirth und seine Frau deckten und ordneten den Tisch. Der Fremde hinten am Fenster rührte sich nicht; im Bett blieb es still. Als der Wirth fertig war, sprach der Fremde, aber er wandte sich nicht dabei um.

„Das Geschirr dort kann heute Nacht stehen bleiben. Ich will nicht weiter gestört werden. Man soll mich auch morgen früh nicht wecken.“

Der Wirth und die Wirthin gingen. Sie hörten, wie die Thür von innen veriegelt wurde, und blieben unwillkürlich draußen im Gange stehen und horchten. Eine Minute lang blieb es still in dem Zimmer. Dann hörten sie deutlich ein leises Wimmern; es war die Stimme der Frau. Von dem Manne hörten sie nichts. Das Wimmern dauerte mehrere Minuten; darauf wurde es still im Zimmer. Die Wirthsleute kehrten nach unten zurück. Der Wirthin hatte unheimlich werden wollen.

„Das Wimmern ging mir durch Mark und Bein, Lindenwirth.“

„Die Dame ist krank, Frau.“

„Und der Mann hatte kein Wort der Beruhigung für sie.“

„Er wird gegen sie sein, wie gegen andere Leute.“

„Und warum läßt er sich nicht in das Gesicht sehen? Warum stand er immer da hinten im Dunkeln? Er kam nicht einmal hervor, als er mit uns sprach.“

„Das ist eben seine vornehme Art.“

Der Fremde war nun allein mit der Dame, die er seine Frau genannt hatte, allein oben im Hause, wie er annehmen mußte, für die ganze Nacht, ohne nur ein einziges Mal gestört, ohne selbst behorcht werden zu können. Der Wirth und seine Leute kümmerten sich in der That nicht weiter um die Beiden. Anfangs waren sie neugierig gewesen; aber der Fremde war eben ein zu vornehmer, hochmüthiger Mensch, und die Dame war krank. So legte sich auch die Neugierde, und keinem von den Leuten im Hause fiel ein, wieder hinauf zu gehen, um zu horchen; zu thun hatten sie dort gar nichts.

Es war zehn Uhr Abends geworden. Die Frau und der Sohn des Wirths und die Mägde waren schon schlafen gegangen und nur der Wirth und der Knecht waren noch auf; da kam noch ein Wagen an dem Hause vorgefahren.

„Geh’ hinaus, Christoph,“ sagte der Wirth zu dem Knecht, „und sieh, wer da ist. Laß ihn keinen Spectakel machen, um der Fremden da oben willen.“

[18] Der Knecht ging hinaus und kam bald mit einem Reisenden zurück, einem Krämer aus der Nachbarschaft, der, ein Bekannter in der Buchhauser Linde, oft hinkam.

„Woher noch mitten in der Nacht, Herr Brand?“ rief ihm der Wirth entgegen.

„Ich kann doch Nachtquartier bei Euch bekommen, Lindenwirth?“

Der Wirth kratzte sich hinter dem Ohr.

„Wenn Sie hier unten in der Wirthsstube vorlieb nehmen wollen, Herr Brand?“

„Unmöglich, Lindenwirth. Ihr wißt, ich bin nicht der Festeste, ich muß meine Nachtruhe haben; dazu bin ich durchfroren zum Erbarmen. Ihr müßt mir eine warme Stube und ein gutes Bett geben.“

Der Herr Brand war ein kränkliches Männchen, und da er in einem offenen Einspänner gekommen war, den er selbst gefahren hatte, so war er in der kalten Nacht, zu Ende Octobers, auch durchfroren. Ueberdies war er, wie gesagt, ein alter Bekannter des Hauses, und so mußte der Wirth ihm nachgeben.

„Da oben ist noch ein warmes Zimmer, Herr Brand, und ein gutes Bett steht fertig darin. Es war für eine Herrschaft bestimmt, die aber nachher nur ein Zimmer wollte. Sie sollen es haben, Herr Brand, wenn Sie stiller sein wollen, als eine Maus.“

Der Wirth erzählte nun dem Krämer, wie oben im Hause ein vornehmer fremder Herr mit einer kranken Frau logire; wie diese nicht das geringste Geräusch ertragen könne und wie er dem Fremden versprochen habe, es solle sich da oben keine Maus rühren. Der Krämer versprach, stiller zu sein als eine Maus, und wurde hinauf geführt. Der Wirth selbst geleitete ihn in das versprochene Zimmer, das unmittelbar neben dem Zimmer der fremden Herrschaft lag, mit dem es eine Thür verband. Der Wirth deutete dem Krämer die Thür mit dem Finger an. Sie sprachen kein Wort miteinander. Auch nur durch Zeichen sagten sie sich gute Nacht. Sie waren kaum hörbar eingetreten, und so entfernte sich auch der Wirth wieder.

Draußen im Gange, vor der Thür der fremden Herrschaft, horchte er doch noch, hörte aber nichts in dem Zimmer. „Sie schlafen,“ dachte er, worauf er und der Knecht sich zu Bett legten. Im Hause blieb es still.

Der Krämer Brand hatte in seinem Zimmer nur mit den Funßspitzen aufzutreten gewagt. In das Bett hatte er sich so leise gelegt, daß Einer, der im Zimmer selbst gewesen wäre, es nicht gehört hätte. Er hatte vorher und nachher nach den Fremden hingehorcht, aber keinen Laut vernommen. „Die schlafen,“ dachte auch er und wollte selbst einschlafen. Plötzlich mußte er in seinem Bette hoch auffahren. Ein lauter, furchtbarer Schrei kam aus dem Zimmer der Fremden. Es war der Schrei einer Frau.

„Um Gotteswillen, ich sterbe!“ schrie die Frau des Fremden.

Den Krämer überlief es heiß und kalt. Er horchte mit angehaltenem Athem, bebend am ganzen Körper. Es war wieder still drüben. Nur eine Bewegung, als wenn sich Jemand in einem Bette krümme, glaubte der Krämer zu hören. Es war an derselben Stelle, von welcher der Schrei gekommen war. Es mußte also in dem Bette der Frau sein. Aber das Geräusch war so undeutlich, daß der Krämer sich auch irren konnte. Einen andern Ton vernahm er gar nicht; kein Wort von dem Manne der Frau, kein Gehen, kein Aufstehen. Es war sonderbar. „Sollte er so fest schlafen?“ fragte sich der Krämer. Aber auf einmal wiederholte sich der Schrei, lauter, durchdringender.

„Ich sterbe! Hülfe! Ich sterbe!“

Und wiederum antwortete Niemand der Frau; kein Wort, kein Schritt, keine Bewegung wurde hörbar. Dem Krämer war es nicht mehr sonderbar: ein Grausen erfaßte ihn.

„Ich sterbe! O mein Gott, mein Gott!“ rief die Frau zum dritten Male.

Die Stimme war nicht mehr so laut und scharf, sie war leiser. Endlich antwortete ihr Jemand.

„Es wird vorüber gehen. Bekämpfe den Schmerz; um so eher hört er auf.“

Es war eine Männerstimme; der Mann sprach zu seiner Frau. Er sprach beruhigend, besänftigend. Aber der Krämer hatte ihn nicht aufstehen, nicht zu der Frau hingehen hören. Er war also schon vorher an dem Bett der Frau gewesen, als diese zum ersten Male aufschrie, als sie dann in dem Bette sich krümmte. Und er hatte da kein Wort für die Frau gehabt, die jenen Schmerzensschrei ausstieß, die vor Schmerzen im Bette sich krümmte! Fast zehn Minuten blieb Alles still. Der Krämer meinte, es werde so bleiben, die Frau habe nur heftige Kopfschmerzen gehabt, sie seien wirklich vorübergegangen. Da schrie sie zum vierten Male auf.

„Meine Brust! Ich ertrage es nicht mehr! Mein Rücken! Ich muß sterben!“

Die Stimme war noch heiserer als vorher, schwächer, wie unterdrückt.

„Nimm Dich zusammen,“ sagte der Mann noch einmal.

„Hülfe!“ rief mit schwächerer Stimme die Frau.

„Es wird vorübergehen,“ sagte wieder der Mann, aber als wenn es ihn langweile.

Die Frau sprach und rief nicht mehr. Aber der Krämer hörte sie leise stöhnen und wimmern, und dabei rauschte und bewegte es sich wieder in dem Bette, als wenn sie in Schmerzen oder in Krämpfen sich krümme. Auch das hörte bald auf, zuerst nach und nach das Stöhnen und Wimmern, dann das Andere. Den Mann hatte der Krämer gar nicht wieder gehört. Es war und blieb völlig still in dem Zimmer. Der Krämer glaubte, daß die Frau wieder schliefe. Auch er schlief endlich ein.

Am nächsten Tage zeigte es sich, was es gewesen war; für ihn freilich erst etwas spät. Als am andern Morgen die große Wanduhr unten in der Wirthsstube fünf schlug, hatte der Postillon, pünktlich gehorsam dem Befehle des fremden Reisenden, die Pferde eingespannt und den Wagen zur Abreise bereit gemacht. Die Koffer der Herrschaft mußten nur noch aufgepackt werden und die Herrschaft selbst mußte kommen. Der Postillon wartete draußen am Wagen auf sie. Der Wirth und sein Knecht harrten unten in der Wirthsstube. Die andern Bewohner des Hauses schliefen noch.

Die Wanduhr in der Wirthsstube zeigte zwei Minuten nach fünf, als der fremde Reisende in die Stube trat. Er war reisefertig, in Pelz und Pelzmütze, wie am gestrigen Abende; sein Gesicht war aber eben so wenig zu erkennen. Er war allein; seine Frau war nicht bei ihm.

„Holen Sie meine Sachen,“ befahl er dem Wirth.

Er sprach vollkommen ruhig und vollkommen so kurz und befehlend, wie am Abend vorher. Wie er die Worte gesprochen hatte, kehrte er zurück nach seinem Zimmer oben im Hause.

„Also ohne Frühstück!“ sagte der Wirth zu sich.

Er folgte ihm mit dem Knecht. Oben in dem Zimmer war Alles in Ordnung. Die beiden Koffer standen gepackt und verschlossen da. Der Fremde, wie vornehm er war, mußte sie selbst gepackt und verschlossen haben, wenn sie überhaupt geöffnet gewesen waren. Von der Dame war nichts im Zimmer zu sehen, das Bett, in das sie sich gestern gelegt, war noch immer fest von den Vorhängen umzogen, und Alles war still. Wo war sie? sollte der Mann, der abreisen wollte, seine Frau zurück lassen wollen, während doch beide Koffer zum Wagen getragen wurden? Der Fremde sprach kein Wort; an seinen Bewegungen sah man nur, daß er ungeduldig war. Der Wirth und der Knecht beeilten sich, die Koffer zum Wagen zu schaffen; das herrische Wesen des Fremden imponirte ihnen. Der Wirth kehrte darauf in die Wirthsstube zurück, in welcher ihn der Fremde erwartete.

„Meine Rechnung!“

Der Wirth nannte ihm den Betrag. Der Fremde zog eine Börse, zählte das Geld auf den Tisch und legte ein Trinkgeld für die Domestiken hinzu. Dann zählte er noch zwanzig Stück Friedrichsd’or auf den Tisch. Der Wirth sah ihm verwundert zu. Der Fremde, als er die Zahl voll gezählt hatte, sagte ruhig:

„Mir ist ein Unglück begegnet in Ihrem Hause – – meine Frau ist diese Nacht an einem Krampfanfalle gestorben. Leider warten wichtige Geschäfte auf mich, ich kann mich keinen Augenblick länger aufhalten. Nehmen Sie das Geld und bestreiten Sie inzwischen die Beerdigungskosten; Sie werden bald Weiteres von mir hören.“

Damit ging er. Er hatte die Worte mit seinem ruhigsten, hochfahrendsten Tone gesprochen.

Der Wirth stand erstarrt, betäubt. Der Schreck hatte ihm die Besinnung genommen; der Respect vor dem vornehmen, herrischen Wesen des Fremden trat hinzu. Im ersten Augenblicke dachte er nicht daran, dem Fremden zu folgen. Als er daran dachte, hatte er zuerst nicht den Muth. Als ihm auch der Muth [19] kam, war es zu spät. Er eilte hinaus. Die vier Extrapostpferde flogen schon im Galopp mit dem Wagen davon. Der Wirth rief. Der Postillon hörte es nicht mehr, und der Wagen verschwand.

„Wo ist die Frau, Herr?“ fragte der Knecht.

„Hat er es Euch nicht gesagt?“

„Wir haben ihn nicht gefragt.“

Auch den Postillon und den Knecht hatte das Wesen des Fremden in Respect gehalten. Keiner von ihnen hatte gewagt, ihn nach seiner Frau zu fragen. Er war rasch in den Wagen gestiegen, hatte dem Postillon sein befehlendes „Fort!“ zugerufen und die Wagenthür zugeschlagen. Der Postillon hatte auf die Pferde eingehauen, der Wagen flog davon. Den Wirth hatte eine ungeheure Angst ergriffen. Er hatte den Kopf völlig verloren und wußte nicht mehr, was er thun sollte. Er weckte das ganze Haus.

„Wir haben eine Leiche im Hause! Die Frau des Fremden. Und er ist fort!“

Angst und Entsetzen ergriff sie Alle, wie ihn. Sie eilten in das Zimmer oben und schlugen die Vorhänge des Bettes auseinander. Die Leiche der Frau lag vor ihnen in dem Bette. Sie lag ineinander gekrümmt; Arme und Hände waren wie verrenkt; das Gesicht war dunkelroth, fast blau. Das waren Erscheinungen, die allerdings einen Tod im Krampfanfall andeuteten. Die Leiche war schon kalt; der Tod mußte seit mehreren Stunden eingetreten sein. Es war die Leiche einer noch sehr jungen Frau. Sie konnte höchstens achtzehn Jahre gezählt haben. Sie war eine ungewöhnlich schöne Frau gewesen; eine große, schlanke Gestalt, vollendete Körperformen. Das Gesicht war verzerrt; aber man erkannte auch in der Verzerrung die schönen, regelmäßigen Züge. Und, es war wunderbar, diese Züge, je länger man das Gesicht ansah, traten um so regelmäßiger, schöner, edler hervor und selbst die dunkle Farbe entwich mehr und mehr und machte der natürlichen weißen des Todes Platz.

Das Entsetzen der Leute wich der Theilnahme, dem tiefsten Mitleiden mit der schönen, so jung Verstorbenen. Das Mitleiden wich wieder dem Entsetzen: die Unglückliche hatte hier in der Fremde sterben müssen, allein mit dem Manne, der keine Hülfe zu ihr gerufen, der mit jener Ruhe dem Wirth ihren Tod hatte ankündigen, der sie allein, ganz allein in der Fremde, wildfremden Menschen hatte überlassen können!

Der Krämer in dem Zimmer nebenan war durch die Unruhe wach geworden. Man wollte ihn wecken; da trat er in das Zimmer. Er mußte irgend eine Auskunft geben können. Er theilte mit, was er wußte. Es zeigte nicht geradezu ein Verbrechen an, auch jetzt nicht, da man die Todte vor sich sah. Ein Krampfanfall, von dem der Fremde gesprochen hatte, war noch immer möglich, natürlich. Aber –

„Hier ist ein Verbrechen begangen, ein Mord!“

Man las es auf all den bleichen, entsetzten Gesichtern. Und was nun weiter? Der Mörder war fort. Vier rasche, kräftige Extrapostpferde hatten ihn früher zu der nächsten Station gebracht, als man in der Linde Pferde zu seiner Verfolgung satteln konnte. Hatte man die nächste Station erreicht, so war er schon auf der dritten. Gleich hinter der zweiten Station war die Landesgrenze, jenseits welcher der Verfolgung neue Hindernisse entgegentraten. Und man wußte nicht einmal seinen Namen. Der Wirth hatte nicht gewagt, ihn danach zu fragen; den Postillon noch einmal zu fragen, hatte er vergessen. Vielleicht gaben die Kleidungsstücke und die Wäsche der Todten Auskunft. Man durchsuchte sie, fand aber nur einen Unterrock, das Hemd, ein Nachttuch. Alles Andere mußte der Fremde in die Koffer gepackt und mitgenommen haben. War es nicht ein neuer Beweis für ein Verbrechen? Hemd und Tuch trugen den Buchstaben B. eingenäht. Das war Alles, was man fand. Was war weiter zu thun?

Man beschloß Folgendes. Der Krämer mußte in der Richtung weiter reisen, in welcher die Extrapost gefahren war. Die nächste Poststation war in dem nächsten Städtchen. In diesem waren Gerichts- und Polizeibehörden. Ihnen sollte der Krämer von dem Vorgefallenen Anzeige machen. Gericht und Polizei mußten dann sofort herüber kommen. Bis zu ihrer Ankunft sollten Leiche, Bett und Zimmer in dem Zustande bleiben, in dem sie waren. Das Weitere mußten die Beamten wissen. Der Krämer reiste auch schleunig ab. Das Zimmer, in dem die Leiche war, wurde verschlossen.

Nach einer Stunde kam der Postillon mit den Pferden zurück.

„Was ist es mit der Frau?“ fragte er.

„Was hat man Euch von ihr gesagt?“ war die Rückfrage.

„Gar nichts!“

Der Postillon hatte nicht den Muth gehabt, an den stolzen, hochfahrenden Mann eine einzige Frage zu richten. Auf der Station hatte der Fremde sich sofort neue Pferde geben lassen und war ohne Aufenthalt weitergefahren.

„Und sein Name, Schwager?“

Der Postillon zog seinen Begleitzettel hervor.

„Herr Bormann aus Hamburg, zwei Personen.“

Das war Alles, was über den Fremden und die Todte in dem Zettel stand. Am späteren Vormittage kamen die Gerichtsbeamten aus dem Städtchen. Gericht und Polizei dort waren vorsichtig gewesen, vielleicht zu vorsichtig. Zu einer schleunigen Feststellung des Thatbestandes forderte die Anzeige des Krämers sie auf. Aber zu einer Verfolgung des Reisenden hielten sie sich erst dann berechtigt, wenn der Thatbestand eines Verbrechens festgestellt sei. Das Gericht erschien sofort mit den Gerichtsärzten. Die Untersuchung begann.

Die Aerzte gewannen in den ersten zehn Minuten die Ueberzeugung, daß die Frau keines natürlichen Todes gestorben war: sie war vergiftet - durch Strychnin. Schon der äußerliche Befund sprach unzweifelhaft dafür. Die gekrümmte, verzerrte Lage der Verstorbenen, die dunkelrothe Gesichtsfarbe zeigten, daß der Tod in jenem eigenthümlichen Starrkrampfe, Tetanus, erfolgt war, der gerade durch den Genuß von Strychnin herbeigeführt wird. In einer der Theetassen, die noch auf dem Tische im Zimmer standen, fand man die Ueberreste des Giftes selbst. Die darauf vorgenommene Section der Leiche wies die Spuren des Giftes in dem Köper auf. An eine Selbstvergiftung war nicht zu denken; es lag ein Giftmord vor. Das Gift war der Frau in dem Thee beigebracht. Der Mörder war ihr Mann. Sie selbst hatte krank im Bette gelegen; ihr Mann hatte ihr den Thee einschenken, reichen müssen; nur er hatte das Gift in die Tasse bringen können. Und mit welcher furchtbaren Rohheit war das Verbrechen verübt worden! Der Mann hatte der krank im Bett liegenden Frau das Gift in das Getränk mischen können; er selbst hatte es ihr gereicht; er hatte dabei gestanden und zugesehen, wie sie es genoß; er hatte die Tasse aus ihrer Hand zurückempfangen. Das Alles hatte er mit ruhigem Blute, mit völlig klarer Ueberlegung gekonnt; hatte er gekonnt gegen das arme, junge, schöne Geschöpf, das mit ihm allein in fremdem Lande, unter wildfremden Menschen allein, das seine Frau war, das er wenigstens selbst seine Frau genannt hatte, das unter allen Umständen nur in seinem Schutze stand, nur von ihm Hülfe erwarten, erhalten konnte. Er war ihr Mörder geworden. Welche empörende Rohheit zeigten dabei die Nebenumstände! Auch das Geschirr für sein Abendbrod, stand noch auf dem Tische; er hatte Alles verzehrt, die ganze Flasche Wein geleert. Er hatte Hunger gehabt, er hatte sich an dem Wein laben können, während die Unglückliche in jenen entsetzlichen Schmerzen sich krümmte, mit dem fürchterlichen Tode rang, den er ihr bereitet hatte. Wie er ihr dann augenblickliche Theilnahme geheuchelt, wie ihm aber das bald langweilig geworden, davon war der Krämer in dem Zimmer nebenan Zeuge gewesen.

Polizei und Gericht verfolgten die Spur des Verbrechers, in der Richtung, aus der er mit seinem Opfer gekommen war, in der, die er nach vollführter That weiter genommen hatte. In jener ersten kam man nur bis zu der zweiten Station vor der Buchhauser Linde. Es war eine größere Provinzalstadt. Der Fremde, Herr Bormann, wie er sich auch dort genannt hatte, war am Abende vorher in einem Gasthofe der Vorstadt mit einem fremden Lohnkutscher angekommen. Der Lohnkutscher war nach kurzem Aufenthalt zurückgekehrt. Niemand hatte ihn gekannt – er war noch nie dort gewesen; Niemand hatte ihn gefragt, wer er sei, woher er komme. Der Fremde hatte sich mit seiner Begleiterin, die er auch damals seine Frau genannt, sofort in das ihnen angewiesene Zimmer begeben. Beite hatten dieses den Abend nicht verlassen. Die Frau hatte frisch, gesund ausgesehen; nur war sie still gewesen. Der Herr hatte ein kurzes, vornehmes, befehlendes Wesen gezeigt. Am folgenden Morgen hatte er den Wirth zu sich kommen lassen.

„Kaufen Sie mir einen Reisewagen,“ hatte er in seiner kurzen, befehlenden Weise gesagt.

[20] „Wie theuer?“ hatte der Wirth gefragt.

„Bequem, elegant. Können Sie einen für fünfhundert Thaler bekommen?“

„Auch schon für vierhundert Thaler.“

„Wie Sie wollen. Um Mittag muß er hier sein. Ich reise nach Mittag ab.“

Der Wirth hatte ihm einen Wagen für vierhundert Thaler gekauft. Der Fremde hatte das Geld sofort bezahlt, den Wagen sich kaum angesehen. Beide Reisende hatten auch am Vormittage das Zimmer nicht verlassen. Die Frau hatte nicht mehr so wohl ausgesehen; sie war offenbar leidend gewesen und hatte meist auf dem Sopha gelegen. Der Herr hatte in Zeitungen gelesen, oder war im Zimmer auf- und abgegangen.

Am späten Nachmittage, als es schon angefangen hatte zu dunkeln, hatte er vier Extrapostpferde zur Weiterreise bestellen lassen. Gleich nach Ankunft der Pferde war er mit der Frau abgereist. Schon damals, wie er sich nur wenig hatte sehen lassen, hatte er Sorge getragen, daß man seine Gesichtszüge nicht unterscheiden konnte. Bei seiner Ankunft in dem Gasthofe war es bereits dunkel gewesen. Am anderen Tage war die Frau schon leidend; in dem Zimmer hatten daher vor den Fenstern die Rouleaux müssen heruntergelassen werden, so daß nur ein sehr mattes Helldunkel herrschte. Beim Abfahren hatten Pelz und Pelzmütze ihn eingehüllt. So hatte der Mörder planmäßig sein Verbrechen vorbereitet.

Auf der nächsten Station hatte er sich gar nicht sehen lassen. In der Buchhauser Linde hatte kein Mensch sein Gesicht gesehen. Auch die Nachforschungen auf der anderen Seite der Linde führten gerade nur bis zu der zweiten Station. Sie war das erste Städtchen jenseits der Landesgrenze. Der Fremde hatte sich dort zugleich als einen Sonderling gezeigt. Der Postillon hatte ihn an dem Wirthshause des Städtchens vorfahren müssen. Er war ausgestiegen und in das Haus gegangen.

„Herr Wirth, kann ich hier einen einspännigen Wagen mit Pferd kaufen?“

„O ja.“

„Auch vertauschen gegen meinen Wagen dort?“

Der Wirth hatte sich neugierig den neuen eleganten Reisewagen und dann verwundert den Reisenden angesehen. Von diesem sah er nur nicht viel; der Fremde hatte Pelz und Pelzmütze nicht abgelegt.

„Ich denke,“ hatte er geantwortet.

„Besorgen Sie das Geschäft.“

Der Wirth machte das Geschäft selbst und einen vortheilhaften Handel. Der Einspänner wurde sofort angespannt; die Koffer wurden hinaufgebracht; der Fremde setzte sich ein, nahm selbst die Zügel des Pferdes und fuhr davon. Jenseits der Stadt hatten ihn noch ein paar Menschen auf der Landstraße fahren sehen. Dann war seine Spur verloren; nicht er, nicht Wagen, nicht Pferd waren wiedergesehen.

Bormann aus Hamburg hatte er sich genannt, in dem Gasthofe der Provinzialstadt, auf den Poststationen. Die Behörden wandten sich nach Hamburg. Man wußte dort nichts von einem Herrn Bormann, auf den in irgend einer Weise Persönlichkeit und Verhältnisse des Mörders passen konnten. Die wiederholten sorgfältigsten Untersuchungen der wenigen Kleidungsstücke der Gemordeten gaben ebenfalls nicht die mindeste Auskunft weiter, nicht über sie selbst, nicht über den Verbrecher. Jener eingezeichnete Buchstabe B. war Alles, was man fand. Das Gesicht der Unglücklichen war im Tode immer schöner geworden. Beamte und Aerzte erstaunten über die Regelmäßigkeit, Feinheit und Anmuth der jugendlichen Züge. Aber die Todte hatte keine Antwort auf die Frage: Wer bist Du Arme, Betrogene, so jung dahin Gemordete? Wo ist Deine Heimath?

Auch die Lebenden hatten sie nicht. Alle weiteren Nachforschungen blieben vergebens. Von dem Gesicht der Ermordeten wurde eine Todtenmaske genommen; sie konnte möglicher Weise in späterer Zeit Dienste leisten, denn auf die Entdeckung eines Verbrechens darf man niemals verzichten.

Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Der Richter
aus: Die Gartenlaube 1865, Heft 3, S. 33–36
Fortsetzungsroman – Teil 3


[33]
3.0 Auf der Spur.

Gegen Ende des Monats December in demselben Jahre erschien bei dem Dirigenten eines Justizamtes im nordwestlichen Deutschland ein Fremder, der sich als Polizeibeamter eines mitteldeutschen Staates auswies. Er überreichte dem Justizamtmann ein offenes Schreiben seines Ministeriums, worin sämmtliche Gerichts- und Polizeibehörden des In- und Auslandes ersucht werden, ihm in Ermittelung und Verfolgung eines schweren Verbrechers jede dienstsame rechtliche Hülfe zu leisten.

„Nicht wahr, in Ihrem Gerichtsbezirke liegt das dem Freiherrn von Bergen gehörende Gut Freienstein?“ begann der fremde Polizeirath.

„Eine Meile von hier.“

„In welchem Rufe steht die Familie des Besitzers?“

Der Justizamtmann hörte verwundert auf bei der Frage.

„Die freiherrliche Familie von Bergen zählt zu den ältesten und angesehensten Adelsgeschlechtern des Landes.“

„Sie ist auch reich?“

„Der Freiherr besitzt außer Freienstein, das eigentlich eine Herrschaft ist, noch mindestens ein halbes Dutzend der größten Güter in der Provinz.“

„Er hat einen Sohn?“

„Ja.“

„In welchem Alter?“

„Er wird zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt sein.“

„Hat er noch mehrere Kinder?“

„Nur eine Enkelin, das einzige Kind seiner früh verstorbenen Tochter. Auch der Vater starb früh. Die Waise lebt bei ihrem Großvater.“

„In welchem Alter steht der Freiherr, und was spricht man von ihm?“

„Er ist sehr alt; er muß im Anfange der achtziger Jahre sein; übrigens ist er als der stolzeste und strengste Aristokrat bekannt.“

„Sie kennen den Vornamen des Sohnes?“

„Nein.“

„Was spricht man von dessen Charakter?“

„Ich habe nichts darüber gehört. Ich entsinne mich blos, einmal vernommen zu haben, der junge Freiherr sei erst seit kurzer Zeit nach Hause zurückgekehrt, nachdem er mehrere Jahre auf Reisen zugebracht habe.“

„Der Sohn ist also gegenwärtig auf dem Gute?“

„Ich vermuthe; gewiß weiß ich es nicht.“

Der Polizeirath war mit seinen Fragen zu Ende. Er erzählte nun dem Gerichtsbeamten die vor etwa zwei Monaten stattgehabten Vorgänge in der Buchhauser Linde, die Resultatlosigkeit der angestellten Untersuchungen und Nachforschungen. Dann fuhr er fort: „So war der Stand der Sache bis vorgestern. Da ereignete sich Folgendes. In demselben vorstädischen Gasthofe jener Provinzstadt, in welchem die erste Spur des Verbrechers und seines Opfers aufgefunden war, in welchem Beide die Nacht vor dem Morde zugebracht hatten, kehrte am vorgestrigen Abend ein Fremder ein. An der Wirthstafel brachten andere Fremde das Gespräch auf den geheimnißvollen Mord. Der fremde Reisende, der noch nicht von ihm wußte, hörte mit Interesse zu.

‚Der Mörder hatte mit der Ermordeten in der Nacht vorher bei Ihnen logirt?‘ fragte einer der Gäste den Wirth.

Der Wirth bejahete.

‚Wie hatte er sich doch genannt?‘

‚Bormann aus Hamburg.‘

Der fremde Reisende stutzte. Aber er sagte nichts, er hörte weiter zu.

‚Der Mensch hatte viel Geld bei sich?‘ fragten die Gäste den Wirth.

Der Wirth bestätigte.

‚Und die Dame soll sehr schön gewesen sein?‘

‚Bildschön und blutjung.‘

Als das Gespräch zu Ende war, nahm der Reisende den Wirth auf die Seite. Er ließ sich noch einmal Alles erzählen, die Gestalt des Mörders und der Ermordeten beschreiben, den Namen Bormann wiederholen. Dann fuhr er noch in derselben Nacht mit dem Schnellzuge der Eisenbahn zur Residenz, kam dort gestern Morgen an, begab sich sofort zu dem Polizeiminister und theilte diesem Folgendes mit:

Er war ein Edelmann aus Curland, gegenwärtig auf der Rückkehr in die Heimath begriffen und war seit mehreren Jahren abwesend gewesen, theils in Italien, theils in der Schweiz und im südlichen Deutschland. Ende April und Anfang Mai dieses Jahres hatte er sich einige Wochen in Friedrichshafen am Bodensee aufgehalten, wo er, ein Freund von Naturschönheiten, oft kleine Ausflüge in die Nachbarschaft gemacht hatte. So war er auch in ein Dorf, Namens Schönthal, gekommen, in einer reizenden Schlucht unweit vom See gelegen. Der Weg von der Schlucht nach dem See hatte ihn an einem ebenso reizenden Landhause vorüber geführt. [34] An der Thür des Hauses sieht er einen jungen Mann, bei dessen Anblick er stutzt, der bei seinem Anblick verlegen wird.

Das veranlasst ihn, einen Arbeiter in der Nähe nach dem jungen Manne zu fragen, auf den er sich im Augenblick nicht besinnen kann.

,Herr Bormann aus Hamburg,’ sagt ihm der Arbeiter.

Nun besinnt er sich auf den jungen Mann. Er hat ihn im verflossenen Winter in Genf gesehen, als einen der ersten Roués, der leichtsinnigsten Spieler im Cercle des Etrangers. Aber der junge Mann hat dort einen andern Namen geführt. Er besinnt sich auch auf diesen Namen: Freiherr von Bergen. Es hatte geheißen, er sei ein sehr reicher Edelmann aus Westphalen oder vom Niederrhein. Der Reisende achtet nicht weiter darauf, denn ein junger Roué nimmt wohl oft einen fremden Namen an. Vierzehn Tage später kommt er nach Schaffhausen. Das Tagesgespräch ist dort die Entführung einer jungen Dame aus der Nähe von Friedrichshafen; man habe Entführer und Entführte bis Schaffhausen verfolgt, hier aber ihre Spur verloren. Er erkundigt sich näher. Die Entführte war die Tochter des Predigers in einem Dörfchen bei Friedrichshafen, der Entführer ein junger Fremder, der sich nahebei aufgehalten hatte. Man nennt ihm auch die Namen; das Dörfchen heißt Schönthal, der Pfarrer heißt Gerlach, der Fremde hat sich Bormann genannt. Er kümmert sich auch jetzt nicht weiter um die Sache. Sie ist einmal geschehen; die Entführte wird schon nächstens zum elterlichen Hause zurückkehren, in guter, in schlimmer Weise, je nachdem es fällt. Da hört er vorgestern den Mord, und er hält es nun für seine Pflicht, sofort an dem geeignetsten Orte Anzeige zu machen, damit die schleunigsten und energischsten Maßregeln zur Ermittelung und Verfolgung des Mörders getroffen werden können. So kam er gestern zur Residenz, zum Minister. „Der Minister traf sofort seine Anordnungen,“ fuhr der Polizeirath weiter fort. „Freiherr von Bergen! Der genealogische Kalender mußte Auskunft geben. Er gab sie. Er wies nur eine Familie dieses Namens nach. Sie wohnt auf dem Gute Freienstein; das Gut liegt im hiesigen Amtsbezirke. Von der Familie des alten Freiherrn lebt nur noch ein Sohn und eine Enkelin. Mit dieser Auskunft und den Mittheilungen des curländischen Edelmanns war weiter zu operiren.

„Der Minister ertheilte mir das offene Schreiben, das ich die Ehre hatte, Ihnen zu überreichen. Ich setzte mich dann sofort am gestrigen Vormittage auf die Eisenbahn. Ich fuhr zunächst zu der Buchhauser Linde und fand dort Alles, wie es erzählt war. Ich fuhr zu dem benachbarten Städtchen, dessen Gericht den Thatbestand des in der Linde verübten Mordes festgestellt hatte. Auch die Gerichtsacten bestätigten; ich nahm sie zu mir und fuhr dann zu der Linde zurück, nahm den Wirth und den Knecht mit mir, fuhr mit ihnen auf der Eisenbahn die Nacht durch und bin mit Beiden hier. Schon in der Residenz war nach Friedrichshafen telegraphirt, daß man von dort aus den Pfarrer Gerlach in Schönthal veranlassen solle, sofort mit dem nächsten von Friedrichshafen abgehenden Zuge hierher zu kommen. Er ist noch nicht eingetroffen. Ich habe mich erkundigt: der Zug, mit dem er kommen muß, langt erst gegen Abend hier an. Der curländische Edelmann konnte sich nicht länger aufhalten; eine unmittelbar auf das Verbrechen sich beziehende Auskunft war auch von ihm nicht zu geben. Der Lindenwirth und der Postillon werden den Verbrecher schon wiedererkennen. Der Pfarrer Gerlach wird ihn bestimmt recognosciren. Er wird auch die Todtenmaske seines Kindes kennen. Ich habe sie mir gleichfalls nebst den Acten von dem Gerichte mitgeben lassen.

„Und jetzt, Herr Justizamtmann,“ schloß der Polizeirath, „lege ich das Weitere lediglich in Ihre Hände. Sie allein sind hier die competente Behörde. Meine Mission ist erfüllt. Ich überliefere Ihnen die Acten, die Todtenmaske der Ermordeten und überweise Ihnen die beiden Zeugen, die ich mitgebracht habe. Ich werde Herrn Gerlach, sowie er eintrifft, an Sie verweisen. Aber eine große Bitte möchte ich doch noch aussprechen. Wollten Sie mir gestatten, Ihren Verhandlungen beiwohnen zu dürfen? Wenigstens der nächsten zur Feststellung der Identität des Mörders, Ihren ersten Angriffen. Es würde für meinen Minister eine Genugthuung, für mich von hohem Interesse sein.“

Der Polizeirath war ein gewandter Mann; er zeigte Entschlossenheit und Energie.

Der Justizamtmann fand kein Bedenken, seinen Wunsch zu erfüllen.

„Ich bitte Sie sogar,“ sagte er, „mich zu begleiten, um die nächsten Schritte, die zu thun sind, gemeinsam mit mir zu überlegen.“

Sie überlegten dann sofort und zogen einen Secretair des Gerichts hinzu, einen alten Beamten, der in dem Gerichtsbezirke näher bekannt war. Von dem Freienstein wußte er freilich nicht viel mehr, als auch schon dem Justizamtmann bekannt war. Er bestätigte den strengen, aristokratischen Stolz des alten Freiherrn, der namentlich seit dem Jahre 1848, seitdem die neueren Verfassungen in Deutschland die Gleichheit der Rechte aller Unterthanen, die nicht einmal mehr Unterthanen, sondern Staatsbürger heißen, proclamirt und der Adel seine Vorrechte verloren habe, von der Welt sich zurückziehe und völlig vereinsamt mit seiner Enkelin auf dem Freienstein lebe. Von dem Sohne des Freiherrn sodann hatte er noch gehört, daß derselbe seit seiner Rückkehr in das väterliche Schloß ein wildes, rohes Leben führe und deshalb sehr bald mit seinem Vater sich überworfen habe, einen besonderen Flügel des Schlosses bewohne und seinen Vater wenig oder gar nicht sehe. Beide kümmern sich nicht um einander; jeder lebe für sich.

Es war schon ziemlich später Nachmittag, als der Polizeirath seine Mittheilungen beendet hatte. Gleichwohl schien es geboten, noch an demselben Tage zum Freienstein hinauszufahren. Bei einem so schweren Verbrechen war die höchste Eile nöthig. Zudem konnte in dem kleinen Städtchen die Ankunft des Fremden, der die beiden fremden Landleute mitgebracht, der sich sofort zu dem Justizamtmann begeben, mit diesem länger als eine Stunde geheim conferirt hatte, auffällig werden und die Nachricht davon leicht noch am selben Abend nach Schloß Freienstein gelangen. Kam sie dann dort dem jungen Freiherrn zu Ohren und war er der Mörder, so vereitelte seine Flucht auf einmal Alles. War er fort, so konnte nicht einmal die Identität seiner Person festgestellt werden; und bei dem Reichthum seines Vaters konnte er sich im Auslande aufhalten, wo er wollte, sodaß Untersuchung und Strafe ihn nicht mehr erreichen konnten. So wurde beschlossen, auf der Stelle, ohne die Ankunft weiterer Zeugen abzuwarten, nach Freienstein hinauszufahren, und zwar in zwei Wagen; in dem einen der Justizamtmann, der Gerichtssecretair und der Polizeirath; in dem zweiten zwei Gerichtsdiener und der Lindenwirth und dessen Knecht. Den Pfarrer Gerlach aus Schönthal sollte ein Gerichtsbeamter an der Eisenbahn in Empfang nehmen, um dann mit ihm sofort nach Freienstein zu folgen.

Ueber das Verfahren auf dem Freienstein konnte erst an Ort und Stelle Beschluß gefaßt werden. Der Castellan des Schlosses war ein alter Bekannter des Secretairs, ein tüchtiger, zuverlässiger Mann. Zu ihm wollte man sich zuerst begeben; nach geeigneter Rücksprache mit ihm sollte das Weitere beschlossen werden, worüber vor der Hand noch nichts zu bestimmen war.


4. Die Verfolgung.

Es war eine weite Ebene, in der das Schloß Freienstein lag. Nur nach einer Seite wurde sie von einer Bergkette begrenzt; die Kuppen dieser Kette aber, hinter denen der Rhein sich hinzieht, waren nur in bläulicher Ferne sichtbar. Auf den drei anderen Seiten war die Ebene für den Blick unbegrenzt. Das Schloß lag in der Mitte des großen und weitläufigen Gutsareals, das dazu gehörte. Eine der vielen Chausseen, die sich durch die fruchtbare, reiche und belebte Gegend zogen, führte in einer Entfernung von etwa zehn Minuten an den Mauern des Schlosses vorbei.

Das Schloß schaute mit seiner Hauptfaçade nach der sich vorüberziehenden Chaussee, von welcher es die Vorbeifahrenden sammt allen seinen Nebengebäuden erblicken konnten. Es war ein neuer Bau, der schon von Weitem sich als ein eben so geschmackvoller, wie großartiger zeigte. Die Wirkung steigerte sich noch, wenn man näher kam und deutlicher das Einzelne unterschied. Der Blick heftete sich zuerst auf das Schloß selbst. Es war ein hohes und breites Gebäude, das allerdings in keinem reinen, ausschließlichen Style ausgebaut war. Halb in den edlen deutschen, halb in den hochstrebenden normannischen Formen und Verhältnissen errichtet, machte es mit seinen Säulen und Balconen, Erkern, Thürmen und Balustraden im ersten Augenblick einen wunderlichen, alsdann aber einen mehr und mehr befriedigenden und wohlthuenden Eindruck, den einer großartigen, fast [35] wunderbaren Harmonie. Die Gebäude, die zu beiden Seiten lagen, ein noch wohlerhaltenes Stück einer Burg aus dem Mittelaller, zurück im Garten ein Landhaus im Renaissancestyl, zwei kleinere Wohnhäuser für Verwalter und Wirlhschaftsbeamte, leicht und modern hingestellt, lange, niedrige Scheunen, Stallungen und Remisen, massiv und schwer hingebaut, wie alte Klosterremisen – sie alle bildeten eine in ihrer Zusammenstellung bizarre und doch zu dem eigenthümlichen Bau des Schlosses passende, fast dazu nothwendige Einfassung. Eine weite Strecke jenseits des Schlosses dehnten sich noch Ackerfelder, Weiden und Wiesen aus; dann zogen sich ungeheuere Waldungen an dem Saume des Horizonts entlang. So lag das Schloß Freienstein da, in dessen Mauern ein vornehmer Mörder aufgesucht werden sollte.

Die Beamten, denen die Aufgabe der Verfolgung des Verbrechers geworden war, langten am Schlosse an, als es schon dunkler Abend war; kaum konnten sie die an dem bewölkten Nachthimmel sich unbestimmt abzeichnenden Umrisse der Gebäude erkennen. Sie sahen nur hier und da einzelne erleuchtete Fenster, vor sich, zu beiden Seiten, unten, oben. In einem weiter zurückliegendem Hause waren zwei ganze Reihen von Fenstern hell, aber die Fenster lagen sehr unregelmäßig nebeneinander und übereinander. Von dort tönte auch der einzige Laut herüber, den man rundumher vor und an den Gebäuden vernahm. Es schienen mehrere durch einander redende oder rufende Menschenstimmen zu sein. Sicher konnte man es nicht unterscheiden. Die tiefe Stille, die überall anderswo in den vielen und großen Gebäuden herrschte, war fast eine unheimliche. Dazu die Finsterniß, welche nur durch die wenigen, hier und da bald mehr, bald minder erhellten Fenster unterbrochen wurde.

Der alte Gerichtssecretair war der Einzige, der im Schlosse bekannt war. Er war aber nur selten dagewesen, nur bei seinem Freunde, dem Castellan; er kannte nur dessen Wohnung, und nur dahin konnte er, zumal in der Dunkelheit, seine Begleiter führen. Das hatte überdies seine Schwierigkeiten. Der Castellan wohnte im Schlosse selbst, das mehrere Binnenhöfe hatte, in dessen erstem sich die Wohnung des Castellans befand. Um zu ihr zu gelangen, mußte man das Hauptportal des Schlosses und einen langen Thorweg passiren. Das Portal war in der Regel des Abends verschlossen; das ganze Schloß war dann wie eine Festung abgesperrt. Der Portier war ein alter, eigensinniger, grober Mann, der fremde Personen an dem schon späten Abend vielleicht gar nicht einließ. Das Alles wußte der Secretair und theilte es seinen Begleitern mit. Sie hielten Rath und fanden nur einen. War das Thor nicht verschlossen, so konnte der Gerichtsschreiber sie ohne Hindernis, zu der Wohnung des Castellans führen, mit dem sie ihr weiteres Verfahren zu überlegen hatten. War es verschlossen, so wollte der Secretair für sich allein um Einlaß zu einem Besuche bei seinem Freunde, dem Castellan, bitten und sodann mit diesem zu den Anderen in’s Freie zurückkehren.

Sie waren in der Nähe des Schlosses langsam gefahren und ließen fünfzig Schritte weit von demselben die Wagen halten. Der Secretair stieg aus und ging zu dem Portal. Die Andern blieben zurück. Das Portal war verschlossen. Der Beamte zog eine Glocke. Ein kleines Fenster neben dem großen Thore wurde geöffnet.

„Wer ist da?“ fragte eine verdrießliche Stimme hinaus.

„Gerichtssecretair Schwarz aus der Stadt.“

„Zu wem wollen Sie?“

„Zum Castellan.“

„Was wollen Sie bei ihm?“

„Ich bin ein Freund des Castellans. Sie müssen mich ja kennen, Herr Portier, denn ich war mehrmals hier. Ich habe mit dem Castellan zu sprechen, dringend zu sprechen.“

„Kommen Sie morgen wieder.“

„Aber ich bitte Sie, lieber Herr Portier.“

„Morgen, sage ich Ihnen. Der gnädige Herr will des Abends nicht gestört sein; er ist zudem unwohl, und Jeder, der in das Schloß kommt, muß ihm gemeldet werden.“

Der Secretair hatte noch einen Ausweg.

„Herr Portier, dann haben Sie die Bitte, dem Castellan zu sagen, daß ich hier bin und ihn zu mir herausbitten lasse.“

„Das könnte geschehen,“ brummte nach einigem Nachsinnen der Portier. Er verschloß das kleine Fenster.

Es dauerte fast zehn Minuten, bis der Portier zurückkam.

Er schloß das Thor auf.

„Sie können zu dem Herrn Castellan hereinkommen.“

Der Secretair trat in den Thorweg, und der Portier verschloß das Thor hinter ihm.

Im Innern des Schlosses war Alles hell erleuchtet, der Thorweg, die Corridore, die Höfe. Es contrastirte sonderbar gegen das Dunkel, in welchem das Gebäude von außen lag.

„Woher so spät und so dringend, Freund Schwarz?“ kam der Castellan dem Secretair entgegen.

„Ist der junge Freiherr zu Hause?“ fragte der Secretair.

Der Castellan verwunderte sich noch mehr.

„Was hättet Ihr mit dem?“

„Er ist zu Hause?“

„Ja, und in großer, lustiger Gesellschaft.“

„Freund Heider, ich kann mich auf Euch verlassen, daß kein Wort von dem, was ich Euch sagen werde, über Eure Lippen kommt, gegen keinen Menschen? Auch nicht gegen Eure Frau?“

„Potz Kukuk, Schwarz, Ihr thut ja verdammt gefährlich und geheimnißvoll.“

„Es handelt sich um einen schweren Mord.“

Der Castellan erblaßte.

„Und es geht den Freiherrn Waldemar an?“

„Gerade ihn.“

„Erzählt.“

„Zum Erzählen wäre jetzt keine Zeit. Aber wißt, daß das Gericht hier ist, und ein fremder Polizeibeamter, der sofort Zeugen mitgebracht hat. Sie sind Alle draußen vor dem Thore.“

Dem alten Castellan war der Schreck in alle Glieder gefahren.

„Und Ihr sucht den Mörder hier?“

„Den jungen Freiherrn.“

Der alte Mann zitterte heftig. „Und Ihr wollt ihn hier überfallen?“ fragte er den Secretair.

„Ihr habt das rechte Wort getroffen,“ sagte der Secretair. „Ein Mörder muß leider überfallen werden, wie ein wildes Thier, wenn man seiner habhaft werden will. Wir müssen ihn überfallen. Darum kommen wir in der Finsterniß des Abends und so still hierher, und ich allein bin in das Schloß zu Euch gegangen, um Eure Hülfe anzusprechen. Wir wußten nicht, ob der junge Herr zu Hause sei; das weiß ich jetzt. Wir wissen seine Wohnung in allen diesen Gebäuden nicht; Ihr sollt sie uns zeigen. Ihr sollt uns zugleich so zu ihm führen, daß er nicht vorher unsere Ankunft ahnt, daß er uns nicht entgehen kann.“

Der Castellan hatte sich gesammelt und einen Entschluß gefaßt.

„Freund Schwarz,“ sagte er, „aus dem Allem, was Ihr da von mir verlangt, wird gar nichts. Euer Polizeidiener oder Gerichtsbüttel bin ich nicht; aber wohl bin ich hier der Diener meines Herrn. Diesem wollt Ihr den Sohn als Mörder verhaften und wegschleppen, und ich soll Euch da behülflich sein, ich soll den Verräther gegen meinen Herrn machen, dem ich an vierzig Jahre treu und redlich gedient habe, der mir vertraut, als wenn ich sein Bruder wäre! Dem soll ich sein einziges Kind verrathen, auf das Schaffot schleppen helfen! Um auf meine alten Tage selbst mit Frau und Kindern aus dem Hause geworfen, von aller Welt als der Verräther meiner Herrschaft angespieen zu werden, um ein von den Thüren zurückgestoßener Bettler werden zu müssen! Daraus wird nichts, Freund Schwarz!“

„Aber was sollen wir denn machen?“ rief der Secretair.

„Das ist Euere Sache.“

„Ohne Euere Hülfe wird er uns entgehen.“

„Ja,“ sagte der Castellan, „und das soll und muß er.“

„Seid Ihr des Teufels, Heider?“

„Wie Ihr wollt. Aber gelte ich nicht als der Verräther und bin ich es nicht, wenn Ihr den jungen Herrn hier jetzt arretirt, nachdem Ihr mit mir gesprochen, heimlich gesprochen habt?“

„Was habt Ihr denn vor?“ sagte der Secretair.

„Ich gehe zu meinem Herrn und sage ihm, daß sein Sohn von Gericht und Polizei gesucht werde, und Ihr, Freund Schwarz, bleibt unterdeß mein Gefangener hier.“

Der Secretair stand mehr in Angst, als vorhin der Castellan.

„Ihr ruinirt mich, Heider.“

„Jeder ist sich selbst der nächste. Ich gehe. Wartet hier ruhig, bis ich zurückkomme. Macht keine Anstalt fort zu wollen. Der Portier ließe Euch nicht hinaus. Mein erster Gang ist zu ihm.“

[36] Der Castellan ging.

„Sagt ihm nur von dem Morde nichts!“ bat ihn der Secretair noch.

„Ich werde meine Sache schon machen.“

Der Secretair blieb in angstvoller Spannung zurück. Er hatte vollkommen nach Verabredung mit dem Justizamtmann und Polizeirath gehandelt. Aber jetzt stand die Beamtenehre gar für Drei auf dem Spiele, und um die Beamtenehre ist es ein eigen Ding.

Es dauerte lange bis zur Rückkehr des Castellans. Der alte Diener des alten Freiherrn trat mit einem so eigenthümlich verschlossenen und nachdenklichen Gesichte wieder ein.

„Nun?“ fragte der Secretair.

„Ich sagte ihm, daß Ihr und der Justizamtmann und ein fremder Polizeibeamter hier seiet, um mit dem Freiherrn Waldemar zu verhandeln; was es sei, wisse ich nicht. Er wurde zuerst unruhig. Dann saß er lange still vor sich hin, das Gesicht mit seiner Hand bedeckt. Als er wieder aufblickte, schien er wieder ruhig zu sein.

‚Lassen Sie den Justizamtmann zu mir kommen,‘ sagte er. ,Ihn allein.’ Weiter sagte er nichts, fragen durfte ich ihn nicht. Was weiter geschehen soll, müßt Ihr jetzt wissen.“

„Gehen wir zu den Anderen,“ sagte der Secretair.

Sie verließen zusammen die Wohnung des Castellans, das Schloß und kamen bei den Anderen an. Der Secretair theilte seine Unterredung mit dem Castellan, dieser die seinige mir dem alten Freiherrn mit. Der Justizamtmann war schnell entschlossen.

„Führen Sie mich zu dem Freiherrn.“ Auf dem Wege sagte er: „Nennen Sie mir die Bewohner des Schlosses.“

„Das Schloß selbst beiwohnen nur der Freiherr und seine Enkelin; außerdem ich mit meiner Familie und der größte Theil der Domestiken.“

„Wo wohnt der junge Freiherr?“

„In der alten Burg, wie sie genannt wird. Sie liegt rechts vom Schlosse, durch einen bedeckten Gang mit diesem verbunden. Als er von seinen Reisen zurückkehrte, wünschte er hier zu wohnen.“

„Wer bewohnt die übrigen Gebäude?“

„Die Wirthschaftsbeamten, die anderen Wirthschafts- und Gutsleute.“

„Erzählen Sie mir über das Leben der Familie, über die Verhältnisse der einzelnen Mitglieder zu einander.“

Der Castellan erzählte. Der alte Freiherr wohnte nur mit seiner Enkelin im Schlosse, der Sohn lebte für sich allein in der alten, restaurirten Ritterburg. Der alte Freiherr führte ein stilles, einsames, aber das regelmäßige und vornehme Leben aller Schlösser. Er war am Ende der siebenziger Jahre und schon seit längerer Zeit hinfällig, seit mehreren Wochen kränklich. So hatte er schon lange das Schloß nicht mehr verlassen; auch seine Zimmer nicht. Nur zur Mittagstafel begab er sich in den Speisesaal. Seine Enkelin lebte ebenso einsam in ihren Zimmern; sie hatte nur eine Gouvernante um sich, die zugleich ihre Gesellschafterin war. Die Gouvernante war eine alte Französin. Großvater und Enkelin sahen sich täglich zweimal. Einmal an der sehr vornehm hergerichteten Mittagstafel, das andere Mal Abends beim Thee, der im Wohnzimmer des Freiherrn genommen ward. Er und das Fräulein waren dabei allein; die Gouvernante kam nicht hin. War der Thee genommen, so wurde die Dienerschaft entfernt, und das Fräulein las dem alten Herrn vor, der bei Abend nicht mehr selbst lesen konnte.

Seinen Sohn sah der alte Freiherr einmal in der Woche. Am Sonntag Vormittag machte der junge Freiherr dem Vater seine Aufwartung, um sich nach seinem Befinden und nach seinen Befehlen zu erkundigen. Der Besuch dauerte zehn Minuten. Convenirte es Vater und Sohn, so war eine Einladung zur Mittagstafel und Annahme derselben die Folge des Sonntagsbesuches. Das Leben des Sohnes in der alten Burg war ein ebenso unregelmäßiges, wie das im Schlosse ein regelmäßiges war. Der junge Freiherr stand spät auf, frühstückte erst zu Mittag, ritt oder fuhr aus, kam früh oder spät, mit oder ohne Gesellschaft wieder, wie es beliebte. Manchmal kam er des Nachts gar nicht nach Hause; manchmal hatte er Gäste, mit denen er die ganze Nacht durch banketirte. Nicht selten war er mehrere Tage lang gar nicht da. Sein Vater ließ ihm völlig seinen freien Willen, bekümmerte sich nicht um ihn, fragte nicht nach ihm. Seine Gäste, seine Freunde waren meist junge Edelleute aus der Nachbarschaft, auch mancherlei andere Menschen; es sollten Spieler und Abenteurer darunter sein, die sich des Sommers in den Bädern umhertrieben. Erst vor zwei Monaten war der junge Freiherr von seinen mehrjährigen Reisen zurückgekehrt und gleich nachher hatte dieses Leben begonnen. Seine Nichte sah er nur, wenn er an jenen seltenen Sonntagen bei der Mittagstafel im Schlosse erschien. Die Beiden kümmerten sich außerdem gar nicht umeinander.

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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Der Richter
aus: Die Gartenlaube 1865, Heft 4, S. 49–52
Fortsetzungsroman – Teil 4


[49] Der Freiherr war ein äußerst stolzer Mann, stolz auf seinen alten Adel, auf seinen unermesslichen Reichthum und auf sein Ansehen. So war er immer gewesen, durch Erziehung und Leben, durch die Geburt schon, wie man wohl zu sagen pflegt. Mancherlei Ereignisse hatten ihn zu einem ebenso strengen Mann gemacht. In seine Jugend fiel die erste französische Revolution. Die Revolutionsarmee drang über den Rhein; die Sansculotten decretierten die Gleichheit der Stände, Abschaffung des Adels und Aufhören des Verhältnisses von Herren und Knechten und wollten selbst nur Herren sein und unumschränkt despotisiren und tyrannisiren. So kamen sie auch auf das Gut des Vaters des Freiherrn und befahlen und wirthschafteten hier roh und gemein, im deutschen Lande schlimmer, als in ihrer französischen Heimath. Der Knabe mußte Jahre lang Zeuge sein und selbst Mißhandlungen erdulden. So setzte sich ein bitterer Haß in ihm fest gegen Alles, was Freiheit und Gleichheit hieß, und sein Gemüth wurde streng und herb. Als er schon ein Greis war, da kam das sogenannte Revolutionsjahr 1848 und vollendete die Bitterkeit, die Strenge seines Innern. Noch Anderes hatte dazu beigetragen und trug später noch mehr bei. Auf diese Weise war das Leben in der freiherrlichen Familie ein so eigenthümliches geworden.

Der Freiherr war zweimal verheirathet. Mit seiner ersten Frau, einer Gräfin aus einem der ältesten und edelsten Grafenhäuser Deutschlands, lebte er nicht glücklich. Sie ließ ihn fühlen, daß sie eine erlauchte Gräfin und er nur ein hochwohlgeborner Freiherr war, und schenkte ihm keine Kinder, keinen Erben seines ungeheuren Vermögens und seines edlen Namens. Als sie starb, war er nicht mehr jung, aber er konnte nicht aus der Welt gehen, ohne einen Erben für seinen Namen, für seine Güter zu hinterlassen. Diese sollten nicht an entfernte Verwandte fallen, jener sollte nicht aussterben. So schritt er zur zweiten Ehe. Seine zweite Frau war natürlich wieder von gutem Adel; aber auch sie lebte nicht glücklich mit ihm. Sie hatte ein weiches Herz, während sein Herz mit den fortschreitenden Jahren und in der langen Ehe mit einer hochmüthigen, herzlosen Frau immer verbissener und verhärteter geworden war. Die Frau kränkelte, gebar ihm zwei Kinder, dann starb sie.

Das erste Kind war eine Tochter, ein unendlich zartes, weiches, mildes Wesen. Er erzog sie mit jener Strenge, die seinem Charakter immer eigen war; die Bitterkeit, die hinzugetreten war, spielte auch in die Erziehung mit hinein. Das Fräulein wurde verschüchtert und gedieh nicht recht an Geist, nicht recht am Körper. Früh verheirathet, starb sie früh und hinterließ ein Töchterchen. Auch der Vater des Kindes starb bald, und der Großvater nahm die Enkelin zu sich.

Der Sohn des Freiherrn war elf Jahre jünger, als die Tochter. An dem Sohne sollte wieder gut gemacht werden, was die Erziehung an der Tochter verdorben hatte. Keine Strenge wurde gegen ihn geübt; nur der Stolz, der Stolz des Edelmanns wurde in ihm zu wecken und zu nähren gesucht, und schon als Kind hatte er völlige Freiheit, er konnte thun und lassen, was er wollte, wenn er nur seinem Stande, seiner adligen Ehre nichts vergab. So wurde der Knabe hochmüthig und roh. Weil der Vater dies merkte und rügte, wurde der Jüngling ein Heuchler dazu. Reisen sollten den jungen Mann bessern, allein er kehrte roher, hochmüthiger zurück, als er gegangen war. Nur den Heuchler brachte er nicht wieder mit. Seitdem lebten Vater und Sohn wie ein paar fremde Menschen miteinander, oder vielmehr sie lebten nicht miteinander; sie müssen sich vielmehr fern bleiben, wenn kein Unglück geschehen soll. So wurde der starre Mann auch an seinen Kindern nicht gerecht gefunden und auch an ihnen gestraft.

Noch von der Enkelin hatte der Castellan zu berichten. Es war nur Weniges, was er von ihr zu sagen wußte. Sie war ein braves, gutgeartetes Kind von fünfzehn bis sechszehn Jahren und liebte den alten, einsamen Großvater. Der Freiherr liebte sie wieder, konnte nur sie um sich haben und sagte ihr nie ein böses Wort. Sie war bis jetzt von der alten Französin vortrefflich erzogen; später sollte in einer vornehmen englischen Pension ihre Bildung vollendet werden.

Der Justizamtmann war mit dem Castellan vor dem Zimmer des alten Freiherrn angelangt. Was sollte er dem stolzen Greise sagen, den er jetzt nach seinem innern und äußern Leben kennen gelernt hatte? Er stand mit schwerem Herzen vor dem Zimmer, an dessen Thür der Castellan leise klopfte.




5.0 Ein alter Edelmann.

Der alte Freiherr von Bergen war mit seiner Enkelin in seinem Zimmer. Eine hohe, hagere, aber breitschulterige Gestalt, mußte er ein kräftiger Mann und noch ein rüstiger Greis gewesen sein. Jetzt, nahe an seinem achtzigsten Jahre, war er hinfällig; sein Rücken war gekrümmt. Seinem mageren, blassen Gesichte sah man zugleich an, daß er zur Zeit kränkelte; aber seinen Geist, seinen Willen hätte nicht die Krankheit, nicht die Hinfälligkeit des Alters zu beugen vermocht. In dem starkknochigen [50] Gesichte, in den harten Zügen, in den hellgrauen, stechenden Augen, die unter den tief herunterhängenden schneeweißen Augenbrauen noch immer Blitze hervorschießen konnten, las man nach wie vor den stolzen Geist, den harten Sinn, den eisernen Willen, der selbst noch leidenschaftlich werden konnte.

Großvater und Enkelin waren allein in dem großen, eleganten Zimmer. Sie hatten den Thee schon genommen; die Bedienten waren abgetreten.

Der Freiherr lag lang ausgestreckt auf einem Sopha, vor welchem der Theetisch stand. An dem Tische, dem Greise gegenüber, saß in einem Fauteuil die Enkelin, in deren noch fast kindlicher Jugend sich das brave, stille und milde Herz ausprägte. Sie las dem Großvater aus einer Sammlung von Schildsagen vor; mit ihrer reinen, klangvollen Stimme las sie eben die folgenden Worte:

- „Aber damit er nicht wie ein Missethetter gefhürt würde, mußte ihne der Nachrichter“ -

Da wurde an die Thür des Gemaches geklopft.

„Herein!“ rief der Freiherr ruhig.

Er hatte auch mit voller Ruhe der Vorleserin zugehört; die Nachricht des Castellans, daß der Justizamtmann mit einem fremden Polizeibeamten da sei, hatte ihn nur einen Augenblick beunruhigt, dann hatte die plötzliche Anwesenheit der Beamten des Gerichts und der Polizei, die Ungewißheit, was sie im Schlosse wollten, jene eisige, unheimliche Ruhe in ihm hervorbringen können, die ihm zu Zeiten eigenthümlich war.

„Herein!“ hatte er völlig ruhig gerufen, obschon er wußte, wer kam. „Einen Augenblick, Theodora,“ sagte er zu dem Fräulein, freundlich und mild, wie das Kind selber.

Sie hielt mit dem Lesen inne.

Der Justizamtmann und der Castellan traten ein.

„Der Herr Justizamtmann, Euer Gnaden,“ sprach der Castellan und entfernte sich wieder.

Der Freiherr warf unter den dichten, weißen Augenbrauen einen kurzen Blick auf den Gerichtsbeamten.

„Setzen Sie sich,“ sagte er dann eben so kurz und zeigte auf einen Stuhl, der neben dem Tische stand.

Der Justizamtmann setzte sich.

„Fahre fort, Theodora,“ wandte sich der Freiherr wieder freundlich zu dem Kinde.

Und das Fräulein begann von Neuem den Satz, in dem es unterbrochen war und las weiter bis zu dem Ende der Sage:

– „Aber damit er nicht wie ein Missethetter gefhüret würde, mußte ihne der Nachrichter und seine Diener nicht anrühren, sondern er gink selbst gutwillik, und der Rat und die ganze Stat begleitete ihne und betrübeten sich seinethalben. So hatte Adebar eine Schwester im Jungfrauenkloster zu Colberge, die war Eptissin; dieselbe ergriff ein Crucifix und trat für ihne her und sterkete ihne und sagte: er sollte auf Got trawen und in seinem Glauben sterben. Also kam er außer der Stat; da wurde ihme gegunt, daß er auff einen Kirchhoff gink. Daselbst lies er sich abhawen.“

„Sie sind der Herr Justizamtmann?“ fragte der Freiherr jetzt den Gerichtsbeamten.

„Ja, Herr Baron.“

„Sie haben auch auf meinem Gute die Gerichtsbarkeit?“

„Seit Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit allerdings.“

„Auch hier im Schlosse?“

„Auch hier.“

Der Ton des alten stolzen Edelmanns war immer stolzer geworden. Der Justizamtmann blieb höflich und gemessen.

„Sie sind,“ fuhr der Freiherr in jenem Tone fort, „in diesem Augenblicke hier, um Ihre Gerichtsbarkeit auszuüben?“

„Ich bin in meiner amtlichen Eigenschaft hier.“

„Als Civil- oder als Criminalrichter?“

Der Justizamtmann besann sich einen Augenblick. „Als Criminalrichter,“ sagte er dann offen.

„Darf ich das Verbrechen erfahren, wegen dessen Sie hier sind?“

„Herr Baron –“

„Ah, das Amtsgeheimniß verbietet Ihnen die Mittheilung an mich!“

„So ist es.“

„Aber den Verbrecher dürfen Sie mir nennen?“

Der Justizamtmann besann sich noch einmal.

„Ich denke,“ sagte der Freiherr, „wenn er zu meinem Hausstande, vielleicht gar zu meiner Familie gehört, so hätte ich ein Recht, von einem Verfahren gegen ihn in Kenntniß gesetzt zu werden.“

Der Justizamtmann war über eine Erwiderung mit sich einig geworden.

„Herr Baron, Sie haben einen Sohn?“

„Ah, meinen Sohn betrifft es!“ sprach der alte Freiherr so ruhig, wie bisher.

„Ihr Herr Sohn heißt Waldemar?“ fragte der Justizamtmann.

„Waldemar Freiherr von Bergen.“

„Er ist erst seit Kurzem von mehrjährigen Reisen zurückgekehrt?“

„Seit zwei Monaten.“

„Hatten Sie Nachrichten von ihm über seinen letzten Aufenthaltsort?“

„Mein Sohn hatte mir keine Rechenschaft über seinen jedesmaligen Aufenthalt zu geben.“

„Hat er Ihnen nicht aus der Schweiz geschrieben?“

„Mein Herr,“ sagte der Freiherr mit seinem ganzen Stolze, „ich glaube, Sie wollen hier mich inquiriren!“

„Nein, Herr Baron. Aber ich hatte eine Pflicht gegen Sie. Es handelt sich um ein schweres Verbrechen, dessen Thäter ich zu verfolgen habe. Noch besteht nur ein Verdacht gegen ihn; es soll sich nun heute entscheiden, ob dies ein falscher Verdacht ist, oder ob er zur Gewißheit erhoben wird. Ich hielt es, da Sie einmal von meinem Hiersein Kenntniß erhalten hatten, für meine Pflicht, Sie vorzubereiten. Ein schwerer Schlag darf einen Ehrenmann, einen ehrwürdigen Greis, wie Sie es sind, nicht unvorbereitet treffen.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte der alte Edelmann etwas weniger stolz, nachdem der Justizamtmann, der mit Wärme und Würde gesprochen, seine Rede geendet halte. Darauf fragte er wieder: „Dürfen Sie mir auch das Verbrechen nennen?“

„Es ist ein Mord.“

Der Greis zuckte zusammen, aber er faßte sich im nächsten Augenblick wieder. „Herr Justizamtmann,“ fragte er, „dürfen Sie gegen meinen Sohn in meiner Gegenwart inquiriren?“

„Ich werde es verantworten, Herr Baron.“

Der Freiherr wandte sich zu seiner Enkelin. „Geh’ auf Dein Zimmer, Theodora,“ sagte er gütig.

Sie erhob sich und trat, blaß und zitternd von der entsetzlichen Unterredung, deren Zeugin sie gewesen war, an das Sopha zu dem Greise und reichte ihm die bebende Hand.

„Gute Nacht, Großvater.“

Er küßte sie auf die Stirn.

„Gute Nacht, meine liebe Theodora.“

Ein Strom von Thränen stürzte aus den Augen des Kindes, als es das Zimmer verließ.

Als sie fort war, erhob sich der Freiherr; es gelang ihm nur mühsam. Das Kind sollte nicht sehen, wie sehr ihn die schreckliche Kunde angegriffen hatte, darum erhob er sich erst nach der Entfernung der Enkelin. Der Justizamtmann wollte ihm beim Aufstehen helfen; er wies ihn jedoch zurück.

„Ich danke Ihnen!“ sprach er wieder mit seinem ganzen, vollen Stolze. So stand er auch, als er sich erhoben hatte, fest, gerade; selbst den vom Alter gebeugten Nacken konnte er stolz aufrichten. Nur dem Gesichte, das erdfahl geworden war und dessen Augen sich tiefer hinter die buschigen Brauen zurückgezogen hatten, sah man den hinfälligen Greis an. Er bewegte eine kleine silberne Glocke, die vor ihm auf dem Tische stand. Sein alter Kammerdiener trat ein.

„Zum grauen Salon!“ sagte er zu dem Diener.

Der Diener entfernte sich stumm. Im Zimmer befand sich ein alter eichener Schrank, kunstvoll geschnitzt, dunkelbraun vor Alter. Der Freiherr ging zu ihm, schloß ihn auf, nahm etwas heraus und verbarg es auf seiner Brust, ohne daß der Justizamtmann gesehen hatte, was es war. Darauf kehrte der Greis zu dem Tische zurück, auf welchem das Sagenbuch, in dem seine Enkelin gelesen hatte, noch aufgeschlagen dalag. Er nahm es, faltete das Blatt ein und behielt das Buch so in der Hand.

„Folgen Sie mir,“ sagte er dann zu den Justizamtmann.

Er hatte Alles mit langsamer, eisiger Ruhe gethan. Seine Haltung war sicherer, die Züge des Gesichtes waren von Moment [51] zu Moment fester geworden. Draußen im Corridor stand der alte Kammerdiener mit zwei Wachskerzen, obgleich es in dem Vorsaale hell war, wie bei Tage, und ging dem Freiherrn und dessen Begleiter voran. Sie durchschritten mehrere erleuchtete Gänge. Am Ende eines langen Corridores öffnete der Kammerdiener eine Seitenthür, die in ein hell erleuchtetes Zimmer führte. Hinter einer andern Flügelthür, in einiger Entfernung, war es laut. Man hörte dort eine Menge Stimmen, die durcheinander sprachen, riefen - Gläser klangen dazwischen. Es war ein ähnlicher Lärm, wie die Beamten bei ihrer Ankunft vor dem Schlosse ihn an jenen erleuchteten unregelmäßigen Fensterreihen des burgartigen Hintergebäudes vernommen hatten. Der Freiherr horchte einen Augenblick hin; dann trat er mit dem Justizamtmann in das helle Zimmer.

Das Gemach, in dem eine behagliche Wärme herrschte, war rund, groß, fast ein Saal, und mit grauen Tapeten behangen. Auch die sämmtlichen reichen Möbel darin waren grau. Zu der Mitte hing ein Kronleuchter von mattem Silber, in dem Wachskerzen brannten – Armleuchter mit brennenden Wachskerzen standen umher; Alles zeigte den Reichthum und den vornehmen Luxus des Hauses in diesem vielleicht entlegensten Gemach. Erschöpft setzte sich der Freiherr auf einen Divan, das Sagenbuch, das er mitgenommen hatte, neben sich. Dem Justizamtmann wies er wieder mit der Hand einen Stuhl an.

„Mein Sohn!“ sagte er dann zu dem Kammerdiener.

Der Diener ging. Der alte Freiherr wandte sich zu dem Justizamtmann.

„Sie sind jetzt Herr hier,“ sagte er. „Ich bitte, jene Klingelschnur zu ziehen; der Castellan wird darauf erscheinen. Ertheilen Sie ihm Ihre Befehle, aber draußen, wenn ich bitten darf.“

Der Justizamtmann zog die Klingel. Wenige Minuten nachher näherte sich im Corridor ein Schritt. Der Justizamtmann ging hinaus und sprach mit dem Castellan. Nach einigen Augenblicken kehrte er in das Zimmer zurück und nahm seinen Stuhl wieder ein.

Der Freiherr saß noch auf dem Divan. Beide schwiegen.

Der Gerichtssecretair trat in das Zimmer, denn zu dem, was weiter geschehen sollte, war ein vollständig besetztes Criminalgericht erforderlich, zu welchem der Gerichtsschreiber gehörte. Er ließ sich schweigend neben seinem Vorgesetzten nieder.


6. Der Richter.

In dem großen Rittersaale der restaurirten Burg Freienstein herrschte ein lustiges, lärmendes Leben. Der junge Freiherr Waldemar von Bergen hatte mit seinen Freunden und Genossen der Gegend eine große Jagd in den weitläufigen Forsten des Gutes Freienstein abgehalten, und der Abend vereinigte die ganze Jagdgesellschaft zu einem Banket bei ihm in dem Rittersaale der Burg, welche der junge Freiherr allein bewohnte, darin schaltend und waltend, wie er wollte. Nur sein Vater hätte ihn an seinem Treiben hindern können; allein dieser kümmerte sich darum nicht.

Der große Rittersaal der alten Burg war mit neuem Glanz in seiner frühern Form wieder hergestellt. Die hohe, gewölbte Decke war durch breite Goldleisten in Felder getheilt, von denen jedes eine Malerei, Geschichten aus der Bibel, enthielt. Die hohen Bogenfenster hatten Glasmalereien, alte Geschichten aus der Familie, von den Kreuzzügen an. Die Wände bestanden aus den feinsten, schneeweißen, glänzend neu aufpolirten Kacheln. Aber man sah sie nur oben; bis zu ihrer Mitte hinan war Wand an Wand mit alten Ahnenbildern bedeckt. Eine lange, breite Tafel zog sich durch die Länge des weiten Gemachs. An ihr saßen zechend der junge Freiherr von Bergen und seine Gäste. Die Becher kreisten, die Gläser klangen, alte Humpen von schwerem Silber, Pocale von Gold, hohe Gläser von edlem Kristall. Scherze flogen umher, Gelächter erschallten, Abenteuer renommirten, Abenteuer mit Pferden, mit Hunden, mit Frauen.

Abenteuer gehören nur der Jugend.
Die ganze Welt gehört nur ihr.
O, wir Alten sind auch noch da!
Für die alten Weiber!

„Bravo! Die Liebe und die Lust sind nur für uns Junge.“

„Und das Glück! Abgemacht! Die Frage ist nur: wo ist die meiste Liebe, das meiste Glück? In den Städten oder auf dem Lande? In der Heimath oder in der Fremde?“

„In den großen Städten - am Hofe!“

„Bah, ich ziehe das stille, heimliche Land vor.“

„Und ich vor Allem die Heimath.“

„In der Fremde ist man freier, durch nichts gebunden.“

„Entscheide Du, Waldemar!“

Der junge Freiherr Waldemar von Bergen war inmitten seiner Gäste der Lustigste, der Uebermüthigste.

„Glück und Liebe,“ rief er, „sind überall, wo man jung und muthig ist und schöne Weiber findet, in der Stadt, auf dem Lande, in der Fremde, in der Heimath. In der Fremde sollte ich freier sein, als hier? Nur der Feige ist unfrei. Ich fühle mich überall frei, auch –“ Er sah nach den Bildern seiner Ahnen, die überall in dem Saale umherhingen. „Ja, auch hier, unter diesen ehrsamen Herren und tugendreichen Damen. Ei, Ihr alten Gesellen, Ihr blickt wohl verzweifelt streng auf mich nieder, als wenn Ihr meine Worte und mein Thun dabei so recht herzlich verachten und verdammen wolltet? Aber wer waret Ihr denn? Wer seid denn Ihr gewesen? Ja, ja, jetzt, auf der alten Leinwand da, in den goldenen Rahmen, seht Ihr wohl recht streng aus, und ehrbar und tugend- und sittsam! Aber zu Euren Lebzeiten, als Ihr Herren jung waret, wie wir, und Ihr Frauen schön und reizend, wie wir sie lieben – ei, waret Ihr da besser, als wir? Gehet, Ihr habt den Schelm im Nacken.“

Die Andern lachten. Nur Einer hatte eine Bemerkung.

„Wenn unsere Nachkommen nach hundert Jahren von uns so sprächen, Waldemar?“

„Hätten sie Unrecht?“

„Aber von unseren Frauen?“

Après nous le déluge!

Sie lachten wieder.

„Stoßt an! Uns gehört die Welt! Nach uns lebe die Sündfluth!“

Alles stieß an, Alles jubelte.

Die große Thür des Saales öffnete sich. Der Kammerdiener des alten Freiherr trat ein. Alle kannten den alten, stillen, ernsten Mann, der jetzt in das laute, fröhliche Fest trat als eine fremdartige Erscheinung. Es wurde still im Saal, als man den Alten sah, der auf den jungen Freiherrn zuging.

„Gnädiger Herr, Seine Gnaden, Ihr Herr Vater, läßt Sie zu sich bitten.“

Auch der junge Freiherr hatte gestutzt, als er den alten Diener sah. Er hatte lustig mit angestoßen auf die Sündfluth, die nach ihm kommen solle; er hatte den schäumenden Wein hinuntergestürzt: seine Lippen waren noch keck aufgeworfen, seine Wangen glühten noch, seine Augen blitzten. So stand er da, die hohe, schlanke Gestalt, das schöne, stolze Gesicht, als wenn er das Verderben, auf das er angestoßen hatte, herausfordern wollte, schon jetzt über ihn einzubrechen. Da sah er den alten Diener so still und ernst auf sich zuschreiten, still und ernst, wie das Unglück einherschreitet. Die kecken Lippen senkten sich; durch das geröthete Gesicht zog sich etwas, wie eine Ahnung.

„Jetzt gleich?“ fragte er den Diener.

„So befahl der gnädige Herr mir, Ihnen zu sagen.“

Der junge Freiherr sah auf seine Gäste.

„Laßt Euch nicht stören, meine Freunde. In wenigen Minuten bin ich wieder da.“

Er hatte die Lippen wieder aufgeworfen, und stand wieder hoch und stolz. So verließ er, gefolgt von dem alten Bedienten, den Saal. Sein Gäste ließen sich nicht stören, sie zechten und jubelten weiter. Durch mehrere Gänge kam man aus der Burg in das neue Schloß. Vor einer Thür blieb der Diener stehen.

„Hier, gnädiger Herr!“ sagte er, während er sich still entfernte, nachdem er dem jungen Mann die Thür geöffnet hatte.

„Hier? Im grauen Salon?“ rief der junge Freiherr.

Es durchzuckte ihn von Neuem, wie eine finstere Ahnung.

Der junge Freiherr hatte sich wieder zusammengenommen und trat mit seiner ganzen stolzen, vornehmen Haltung in das Zimmer. Nur das keck herausfordernde Selbstbewußtsein legte er in Gegenwart des alten, strengen, stolzen Vaters ab. Er verlor seine Haltung auch nicht, als er die Fremden in dem Zimmer sah. Er nahm keine Notiz von dem unbekannten Justizamtmann, sondern ging an ihm vorüber zu dem Divan, auf dem der alte Freiherr saß.

„Du hast befohlen, Vater!“

[52] Der alte Freiherr blickte einen Augenblick forschend in das Gesicht des Sohnes. In seinem eisernen, strengen Gesichte veränderte sich keine Miene.

„Der Herr hat mit Dir zu sprechen,“ sagte er, „in meiner Gegenwart. Er ist der Justizamtmann, der auch hier im Schlosse die Gerichtsbarkeit hat.“

Er sah noch einmal den Sohn scharf an, der plötzlich erbleichte. Der alte Freiherr – er hatte, während er sprach, wenig das Haupt erhoben – lehnte sich wieder zurück und deckte die eine Hand über das Gesicht. So konnte er sehen, ohne daß man es gewahrte. Der junge Freiherr wandte sich zu dem Justizamtmann; die Blässe seines Gesichtes war schnell verflogen, wie sie plötzlich gekommen war.

„Was wünschen Sie von mir, mein Herr?“ fragte er mit seinem ganzen Hochmuthe.

„Sie sind der Herr Freiherr Waldemar von Bergen?“ fragte der Justizamtmann den jungen Freiherrn mit der ruhigen, ernsten Würde seines Amtes, dem außer dem sittlichen Stolze kein anderer imponiren konnte.

„Ich bin es,“ erwiderte der junge Mann.

„Sie waren im vorigen Frühjahre in der Schweiz?“

„Ich war bis vor Kurzem seit drei Jahren auf Reisen, auch in der Schweiz,“ antwortete er rasch und ausweichend.

„Ich erlaubte mir die Frage an Sie,“ sagte der Gerichtsbeamte, „ob Sie im vorigen Frühjahre in der Schweiz waren?“

„Ja!“

Der junge Mann sprach das Wort fest und bestimmt aus, man glaubte ihm aber anzuhören, daß er sich dazu hatte zusammennehmen müssen.

„In welcher Gegend der Schweiz?“ fragte der Justizamtmann.

„In Genf.“

„Waren Sie nicht auch am Bodensee?“

„Nein!“

„In der Nähe von Friedrichshafen?“

„Nein!“

„Haben Sie nicht ein Dorf, Namens Schönthal, kennen gelernt?“

„Nein!“

Der junge Freiherr antwortete jedesmal rasch, ohne sich nur eine halbe Secunde zu besinnen, ohne alle Verlegenheit, ohne irgend eine Bewegung, und so blieb er ferner.

Der Justizamtmann fragte weiter:

„Waren Sie in Schaffhausen?“

„Mehrere Male – am Rheinfall.“

„Ich sprach von dem Dorfe Schönthal. Daselbst lebt ein Prediger Gerlach; haben Sie ihn gekannt?“

„Weder den Mann, noch den Namen.“

„Der Prediger Gerlach hatte eine Tochter. Sie wurde im Mai dieses Jahres entführt. Ist Ihnen etwas davon bekannt?“

„Nein.“

„Haben Sie einen Herrn Bormann aus Hamburg gekannt?“

„Nein!“

„Haben Sie selbst niemals diesen Namen geführt?“

„Nein, mein Herr –“

Keine einzige Frage hatte den jungen Edelmann auch nur in die geringste Verlegenheit bringen, ihn weniger stolz und zuversichtlich machen können.

„Sie sind,“ fuhr der Justizamtmann fort, „vor zwei Monaten hierher zurückgekehrt? Zu Ende Octobers?“

„So ist es.“

„Von woher?“

„Aus Frankreich.“

„Wie reisten Sie?“

„Auf der Eisenbahn.“

„Sie waren nicht im mittleren Deutschland?“

„Aus Frankreich führt kein Weg durch das mittlere Deutschland zum Rheine.“

Erinnern Sie sich einer Poststation, die Buchhauser Linde genannt?“

„Nein, mein Herr.“

„Dort wurde zu Ende Octobers ein Giftmord verübt.“

„Gebt mich das etwas an?“

„Haben Sie von ihm gehört?“

„Nein.“

„Die Ermordete war eine sehr junge und sehr schöne Dame –“

„Ich bedaure sie.“

„Der Mörder war ein junger Mann, der sich Bormann aus Hamburg nannte.“

„Ich glaube, ich sagte Ihnen schon, daß ich keinen Herrn Bormann aus Hamburg kenne.“

„Herr Bormann war am Abend in einer vierspännigen Extrapost mit der Dame, die er seine Frau nannte, angekommen und hatte sich mit ihr ein Zimmer geben lassen. Man hatte in der Nacht die Dame wimmern und aufschreien hören, wobei sie über furchtbare Schmerzen geklagt und zuletzt gerufen hatte: ‚Ich sterbe!’ Ihr Begleiter hatte kalten Trost für sie gehabt, denn ihre Klagen hatten ihn gelangweilt. Am andern Morgen war der junge Mann allein aus dem Zimmer hinab in die Wohnstube gekommen, hatte kurz und kalt gesagt, seine Frau sei in der Nacht gestorben, hatte hundert Thaler auf den Tisch gezählt, um die Kosten der Beerdigung davon zu bestreiten, und war dann weiter gefahren. Die bestürzten Wirthsleute hatten nicht daran gedacht, ihn zu halten.“

Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Der Richter
aus: Die Gartenlaube 1865, Heft 5, S. 77–79
Fortsetzungsroman – Teil 5 // Schluß


[77] Der Justizamtmann machte eine Pause, während welcher er den jungen Edelmann beobachtete, um zu sehen, welche Wirkung seine Mittheilung auf ihn gemacht habe. Auch der alte Freiherr richtete wieder den scharfen Blick auf seinen Sohn, indem er die Hand von seinem Gesicht entfernte, das entsetzlich anzusehen war. Der Greis bebte wie in Todesangst das Gesicht des jungen Freiherrn aber war unbeweglich geblieben wie vorher.

„Habe ich hierher kommen müssen,“ fragte er, „um Criminalgeschichten von Ihnen zu hören?“

Der alte Freiherr bedeckte sein Gesicht wieder, und der Justizamtmann fuhr fort:

„Von dem Vorfalle, von dem plötzlichen, unter jenen auffallenden, verdächtigen Umständen stattgehabten Tode der jungen Dame wurde dem Gerichte Anzeige gemacht und in Folge dessen eine Untersuchung eingeleitet. Die Dame war vergiftet, und zwar mit Strychnin, und der Mörder war entflohen...Der Mörder war entflohen,“ wiederholte er, „längere Zeit war auch seine Spur verloren; sie ist wiedergefunden.“

[78] Er gab dem Gerichtsschreiber einen Wink. Dieser ging hinaus und kam sofort mit einem fremden Manne zurück. Es war der Postillon, der vor zwei Monaten den Herrn Bormann mit dessen Frau zu der Buchhauser Linde gefahren hatte.

„Kennt Ihr den Herrn?“ fragte ihn, auf den jungen Freiherrn zeigend, der Justizamtmann.

Der Postillon besah sich den jungen Edelmann.

„Es ist die Figur,“ sagte er. „Das Gesicht sah ich damals nicht. Weiter kann ich nichts sagen.“

„Herr Baron,“ wandte sich der Justizamtmann zu dem jungen Freiherrn, „darf ich Sie bitten, mit dem Manne zu sprechen?“

„Mit dem Menschen?“ fragte der junge Freiherr stolz.

„Er soll wohl meine Stimme hören? Er hat sie gehört!“

Der Justizamtmann hatte auch seine Ruhe, die nicht zu erschüttern war.

„Kanntet Ihr die Stimme des Herrn schon früher?“ fragte er den Postillon.

Der Mann sann einen Augenblick nach und sagte dann: „Ich meine, es sei die Stimme des Herrn, den ich nach der Buchhauser Linde fuhr.“

„Bestimmt wißt Ihr es nicht?“

„Schwören könnte ich nicht darauf.“

Der Mann war in dem fremden, vornehmen Schlosse befangen. Der Justizamtmann ließ ihn zurückführen und den Wirth von der Buchhauser Linde eintreten.

Der alte Lindenwirth war dagegen nicht der Mann, der sich durch Glanz und Stolz imponiren ließ. Der Schreck hatte ihn allerdings vor zwei Monaten vergessen und versäumen lassen können, was zu thun war, aber er war ein gewissenhafter Mann.

„Es ist,“ sagte auch er, „die Figur des Herrn, der mit der ermordeten Frau bei mir logirte. Das Gesicht habe ich nicht gesehen.“

„Soll auch dieser brave Mann meine Stimme hören, mein Herr?“ fragte der junge Freiherr den Gerichtsamtmann.

„Es ist auch die Stimme jenes Herrn,“ sagte der Wirth.

„Erkennen Sie dieselbe genau wieder?“ fragte der Justizamtmann.

Und der Wirth sagte entschieden: „Ja, es ist die nämliche Stimme.“ Dann besah er noch einmal den jungen Freiherrn und fuhr jetzt fort: „Je mehr ich nachdenke, Herr Justizamtmann, und mir Alles in meine Erinnerung zurückrufe, desto lebendiger spricht es in mir: ,Das ist der fremde Herr, der mit der Dame bei mir war, der mit ihr in der Nacht ihres Todes allein war, der mir am andern Morgen mittheilte, daß sie todt sei, und der die Leiche der Armen verlassen konnte!’ Ja, ja, Herr,“ wandte der Mann, dem man die Bravheit und Wahrheit ansah, sich zu dem jungen Edelmann, „ja, Herr, Sie waren es. So, gerade so, wie Sie hier jetzt stehen, standen Sie auch damals vor mir, als Sie mir die Todesnachricht brachten. Ganz so stolz, so vornehm und so herrisch. Ich werde Sie nie vergessen, wie Sie so dastanden, und niemals wird die Stimme aus meiner Erinnerung kommen, mit der Sie mir sagten: ,Mir ist ein Unglück begegnet in Ihrem Hause – – meine Frau ist diese Nacht an einem Krampfanfalle gestorben. Leider warten wichtige Geschäfte auf mich, ich kann mich keinen Augenblick länger aufhalten. Nehmen Sie das Geld und bestreiten Sie inzwischen die Beerdigungskosten, Sie werden bald Weiteres von mir hören.‘ Das sind Augenblicke, die einem nicht aus dem Gedächtnisse kommen, wenn man auch hundert Jahre alt wird. Ja, ja, Herr, Sie waren es, Sie stehen wieder vor mir und ich hörte eben die Stimme wieder.“

Der Mann sprach mit voller Ueberzeugung.

Der junge Freiherr lachte verächtlich. „Und Sie sahen das Gesicht nicht!“ Den Justizamtmann fragte er: „Haben Sie noch mehr solche Zeugen, mein Herr?“

Der Gerichtsbeamte hatte ein bedenklickes Gesicht. Die vollste innere Ueberzeugung des Lindenwirths enthielt kaum eine entfernte Vermuthung, da er sie nicht durch äußere, auch für jeden Dritten überzeugende Thatsachen begründen konnte. Da wurden draußen im Gange nahende Schritte laut.

Der Justizamtmann, als er vor dem Erscheinen des jungen Freiherrn in dem grauen Salon mit dem Castellan gesprochen, hatte diesem Anweisungen ertheilt für das, was geschehen solle. Den Gerichtsschreiber hatte er ihm in den Salon schicken müssen, während der Lindenwirth und der Postillon in einem Zimmer in der Nähe warten sollten. Der Polizeirath blieb bei dem Portier, um den alten Pfarrer aus Schönthal, sobald derselbe ankomme, hinauf zu geleiten.

Der Justizamtmann gab dem Gerichtssecretair wieder einen Wink. Dieser verließ das Zimmer, führte den Lindenwirth hinaus und kehrte mit einem Fremden zurück. Es war ein Greis, ein hinfälliger, von Gram und Schmerz niedergedrückter Greis. Welch ein Anderer war in den wenigen Monaien der Pfarrer Gerlach von Schönthal geworden! Im Mai der rüstige alte Mann, dem die silbenweißen Locken um das klare, zufriedene, glückliche Antlitz so schön glänzten! Heute ein Bild des Jammers, des zerstörten Lebens! Die Locken hingen ihm so lang, so unordentlich um das hohle Gesicht.

„Wer sind Sie, mein Herr?“ fragte ihn der Justizamtmann.

„Der Pfarrer Gerlach aus Schönthal.“

„Kennen Sie diesen Herrn?“

Der Greis hatte im ersten Augenblicke nur den Justizamtmann, der sofort bei seinem Eintritt vor ihn getreten war, gesehen. Er warf jetzt seinen Blick auf den jungen Freiherrn.

„Herr Bormann!“ rief er entsetzt. „Der Entführer meines Kindes! Der Mörder meines armen, meines einzigen Kindes!“

Die Worte waren ein furchtbarer Herzensaufschrei des unglücklichen Greises. Der alte Freiherr fuhr auf seinem Divan in die Höhe und die beiden Gerichtsbeamten erbebten; der junge Freiherr allein stand ruhig, mit seinem kalten, eisigen, sicheren Stolze.

„Erkennen Sie den Herrn bestimmt?“ fragte der Justizamtmann den alten Pfarrer.

„Ich sah ihn ja oft: ich sah ihn so nahe.“

„Sie haben keinen Zweifel?“

„Wie wäre ein Zweifel möglich! Mein ganzes Dorf kennt ihn, ebenso die Nachbarschaft am See; das Haus, in dem er lebte, kennt ihn. Hundert Menschen werden bei seinem ersten Anblick ausrufen: ,Das ist er!’“

„Und Sie, mein Herr?“ fragte der Justizamtmann den jungen Freiherrn.

„Ich, mein Herr, bedaure den unglücklichen Greis, dem seine Tochter entführt und ermordet sein mag und dem nun die durch den Verlust krankhaft aufgeregte Phantasie in jedem fremden jungen Manne den Entführer und Mörder seines Kindes zeigt. Seine hundert Zeugen werde ich mit Ruhe erwarten.“

Der alte Mann hatte sich setzen müssen. Sein Schmerz, sein Zorn hatten keine Worte. Der Gerichtsschreiber hatte, als er zuerst in das Zimmer gekommen war, ein Bündel Acten und ein verschlossenes Etui mitgebracht, die Acten enthielten die Verhandlungen über den in der Buchhauser Linde verübten Mord an einer unbekannten jungen Frau. Das Etui öffnete der Justizamtmann und nahm eine Gypsmaske heraus: es war die Todtenmaske der Ermordeten. Man erkannte die schönsten, die edelsten Züge einer jungen Frau. Der Gerichtsamtmann zeigte die Maske dem alten Pfarrer – und der furchtbarste Schmerz des Greises hatte wieder Worte.

„Mein Kind! Meine Tochter! Johanna, mein Kind!“

Der Justizamtmann hielt die Maske dem jungen Freiherrn, dem Mörder vor.

Ja, er war der Mörder!

Er war blaß geworden, als er plötzlich das Antlitz der Todten sah; alles Blut war aus seinem Gesichte gewichen. Er selbst glich einen Augenblick einem Todten, aber nur einen kurzen Augenblick, dann stand er wieder ruhig, kalt, stolz. Er hatte die Gewalt des vollendeten Verbrechers über sich.

„Kennen Sie das Gesicht?“ fragte ihn der Justizamtmann.

Der alte Freiherr hatte sich erhoben.

„Ueberlassen Sie mir das Weitere!“ sagte er ruhig, kalt und stolz, aber mit der Strenge des ernstesten, des furchtbarsten Richters dieser Erde, und das ist der Patriarch, der das Richteramt in seiner Familie ausübt. Er war nicht mehr hinfällig, der achtzigjährige Greis, und seine Gestalt nicht mehr gebückt, sondern hoch, aufrecht stand er da gleich einem jener alten Könige, von denen die Sage erzählt, daß sie manchmal aus ihren Gräbern sich erheben, zürnend, rächtend, richtend. So trat er vor den Sohn, zog das Sagenbuch hervor, das er aus seinem Zimmer mitgenommen, und schlug das Blatt auf, das er sich bezeichnet hatte.

„Lies,“ sagte er zu dem Sohne.

Es war das einzige Wort, das er sprach. Der junge Edelmann nahm das Buch, aber es zitterte in seiner Hand; der alte Edelmann sah das mit seiner kalten Ruhe. Der junge Freiherr las aus dem Buche, während der alte Freiherr hoch aufrecht vor [79] ihm stehen blieb. Der Justizamtmann war ehrerbietig zurückgetreten, vor dem strengen, vor dem höheren Richter, als er einer war. Der junge Freiherr las eine alte Sage aus dem fünfzehnten Jahrhundert.

„Es ist vor kurzen Jahren ein merkliches da in Colberg geschehen, das ich nicht unterlassen khan anzuzeigen, beide, darumb das man sehe, wie sich meyterey in den stetten erstrecken khan, wie auch das auffruhr seltzamer weise gestraffet wirt. Es seint lange jare her zwei geschlechte die gewaltigsten zu Colberge gewest, als die Schlieffen und die Adebare. Deren seient ungefherlich vor sechzigk jaren oder mehr, zwei junge bürger gewest, als Benedictus Adebar, der Doctoris Martinus Carit’s, welcher darnach bischoff zu Camin gewesen, schwester zur ehe hatte, und Niclas Schlieff, Peter Schlieff’s sohn, deren zuvor meldung geschehen. Dieselbigen hielten sich wie brüder unter einander. So begab es sich einmal, daß sie sampt anderer gesellschaft auf einen abend beide zusammen gezechet hatten, und Schlieff guter Zeit heimgingk und sich zu bette legte, und etwa eine Stunde darnach Adebar jm folgete und für seine thür klopffete. So hörete Schlieff das er’s war und stund selbst auff im hembde und wollte jm einlassen. So hörete Adebar, das er kham, und stach mit seinem Schwerte durch die thüre und wollte Schlieffen erschrecken; und wie schlieff im finsteren zulieff, das er die thüre auffmachen wollte, lief er in’s schwerdt. So machte er dennoch auff und schrye laut vber Adebaren, das er jne so hart erstochen hatte. So erschrak Adebar hart, und verstopffet jme von stunde an die wunde und führet jme zum artzten und entschuldigte sich sehr gegen jme, das er’s aus keinem bösen gemüte, sondern aus fürwitz gethan. So lies sich Schlieff verbinden, aber empfand sich sehr vbel. Darumb warnete er Adebar, das er möchte weichen, den er vertrawete sich nicht lebendig zu pleiben; wo jne denn seine Freuntschafft erhaschete, müste er widder sterben, welches er jme denn nicht gerne gönnete. Adebar mühete sich hart, sonderlich das er also widder alle seinen willen seinen gutten gesellen in todesgeffar und sich auch in sorge gepracht und verstach sich, den er khonte in der nacht nicht aus der stat khomen. Schlieff starb balde darnach, darvmb suchte Schlieffen freuntschaft so fleißig nach Adebar, das sie jm funden und in’s gefenknüß setzten. So hette doctor Martinus Carit und die andere freuntschaft Adebar’s viel bitte und mühe umb Adebar, das er mochte auff gebürichen abtrag los werden. Das wollte die freuntschafft nicht thun, sondern ließen Adebaren für Gerichte bringen und zum totte verurtheilen. Als er aber verurteilet wurde, wolte jne Schlieffen freuntschafft losgeben, damit das man sage, das sie jme recht das lebend geschenckt hatten. Das wollte der Adebar und die freuntschafft nicht annehmen, denn sie ließen sich bedünken, ein verurteileter were weiter lebends nicht wert. Darvmb ging Adebar freyes muths hin und sagte: er wolle viel liebe bei seinem gutten gesellen und bruder dem erschlagenen Schlieff sein, wie länger leben –“

Der junge Freiherr wurde unterbrochen. Seine Hand hatte gezittert, als er zu lesen begann, und er mußte das Buch mit beiden Händen halten, damit das Zittern aufhörte. Nur mit unsicherer Stimme hatte er lesen können, und ein paarmal mußte er tief Athem holen, damit ihm die Stimme sicher wurde. Da kam er zu der Stelle der Sage: „denn sie ließen sich bedünken, ein Verurtheilter wäre weiter des Lebens nicht werth,“ die Stimme begann ihm von Neuem zu fehlen und die beiden Hände wurden weiter von einem leisen Zittern, das sich weiter dem ganzen Körper mittheilte, ergriffen. So gelangte er zu der Stelle: „und Adebar sagte, er wolle lieber bei dem Erschlagenen sein, denn länger leben.“

„Setze Dich!“ befahl der alte Freiherr seinem Sohne, der bisher stehend vor ihm gelesen hatte.

Der junge Edelmann setzte sich, denn er konnte sich nicht mehr stehend erhalten.

„Lies weiter!“ befahl der Vater.

Er las weiter. Die Kniee schlotterten ihm und er mußte das Buch vor sich auf den Tisch legen, um weiter lesen zu können. Das Gesicht des alten Freiherrn war wieder fest geworden und hart und kalt, hoch und gerade stand er vor dem Sohne, der endlich weiter las:

– „Aber damit er nicht wie ein Missetheter gefhüret würde, mußte ihn der Rachrichter und seine Diener nicht anrühren, sondern er gink selbst gutwilligk, und der Rat und die ganze Stat begleitete ihne und betrübeten sich seinethalben. So hatte Adebar eine Schwester im Jungfrauenkloster zu Colberge, die war Eptissin; dieselbe ergriff ein Crucifix und trat für ihne her und sterkete ihne und sagte: er sollte auf Got trawen und in seinem Glauben sterben. Also kam er außer der Stat; da wurde ihme gegunt, daß er auff einen Kirchhoff gink. Daselbst lies er sich abhawen.“

Er hatte zu Ende gelesen.

„Steh auf!“ befahl ihm der Vater, „und sieh mich an!“

Der Sohn gehorchte und versuchte den Blick zu den Augen des Vaters zu erheben. Er sah das harte, kalte, bleiche Gesicht und die dunkel glühenden Augen, die tiefen Brauen verbargen sie nicht mehr. Er sah den furchtbaren Richter, vor dem er stand, und sein Blick senkte sich nieder.

„Elender!“ sagte der Greis.

Er konnte das Wort nur leise sprechen. Auch ihm zitterte die Stimme, und mit dieser zitternden Stimme sprach er weiter:

„Mörder! Oder wagst Du es, auch mir Dein Verbrechen zu leugnen?“

Er erhielt keine Antwort.

„Du kannst es nicht! Es ist ein Rest von Ehre in Dir. Du verdienest daher –“

Er sprach nicht aus, was er hatte sagen wollen, sondern wandte sich um zu den beiden Gerichtsbeamten und den alten Pfarrer.

„Verlassen Sie uns! Auf eine Minute!“ sprach er mit fester Stimme und entsetzlich bleichem Gesicht.

Die Drei verließen das Zimmer, ein Grauen hatte sie ergriffen. Draußen im Corridor an der Thür blieben sie stehen und horchten. Sie hörten kurze Worte, die der Vater und der Sohn mit einander wechselten, verstanden aber nichts davon.

„Kniee nieder!“ hörten sie dann den alten Freiherrn lauter sagen. „Bete!“

Eine Todtenstille, die wenige Secunden dauerte, folgte, dann fiel ein Schuß in dem Zimmer, und wieder herrschte Todtenstille. Kein Laut, kein Ruf, kein Schmerzens-, kein Hülferuf wurde gehört. Die Männer in dem Corridor standen bleich, bebend am ganzen Körper. Die Thür des Zimmers öffnete sich, und der alte Freiherr trat zu den bebenden Männern heraus und ließ die Thür offen. Durch die offene Thür sah man die Leiche des jungen Freiherrn. Das Blut floß aus einer Wunde in der Brust, und das abgeschossene Pistol lag auf dem Tische nebenan. Der Greis hatte es aus dem alten Schranke zu sich genommen, als er sein Zimmer verließ. Der alte Freiherr trat auf den Justizamtmann zu:

„Mein Herr, ich bin Ihr Gefangener statt seiner. Verfügen Sie über mich.“

Der Schuß hatte den Castellan des Schlosses herbeigeführt.

„Das Zimmer werde verschlossen,“ befahl ihm der Freiherr, „bis das Gericht seines Amtes gewahrt hat. Später werde es vermauert, damit Niemand wieder die Stelle betrete, an welcher der letzte Stamm dieses edlen Geschlechtes von der Hand des eigenen Vaters sterben mußte, um nicht der Hand des Henkers zu verfallen.“

Auch das hatte er mit fester, ruhiger, stolzer Stimme gesprochen.

„Ah!“ holte er dann Athem, tief aus der alten Brust.

Es war sein letzter Athemzug: der Schlag hatte ihn gerührt. Der Castellan und der Justizamtmann fingen seine Leiche auf.

Hinten in dem Rittersaale der alten Burg riefen unter den Ahnenbildern des edlen Geschlechtes die zechenden Gäste: „Hoch! hoch!“




Wohl sprach man in der Gegend eine Zeit lang von dem gräßlichen Gerichte auf dem Freienstein, allein in unserm raschlebenden Jahrhundert ward selbst dies Begebnis in der Fluth anderer Ereignisse rasch genug begraben und vergessen.