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Der Montblanc

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CCCCXVII. Das Kloster Mafra bei Lissabon Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCCXVIII. Der Montblanc
CCCCXIX. Das Louvre in Paris
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DER MONTBLANC
von Sallenche aus gesehen.

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CCCCXVIII. Der Montblanc.




Was sehe ich? Eine Sarggestalt zwischen dem Wolkenhimmel und der Erde, und ausgebreitet über derselben ein weites, weißes Bahrtuch. Gletscher sind seine Zipfel, Bergcolosse das Postament des Katafalks; Opfer dampfen aus der Tiefe hervor als schwarzgraues Gewölk. Soll etwa Europa begraben werden? Sind seine Völker gestorben, seine Städte in Staub zerfallen, seine Reiche und Staaten vergangen, wie leere Schatten? Oder was deckt sonst dies Leichentuch? Deckt’s das erloschene Licht der Wahrheit, deckt’s erstorbene Gewissen, eingeäscherte Hoffnungen, verglommenen Trost, versteinerte Herzen, gebrochene Schwüre, zertretene Verheißungen, niedergeworfene Menschenrechte – deckt’s Leichen des sittlichen Lebens, oder Schlachtfelder der Geister? oder deckt’s Scheintodtes? deckt es Lebendiges? Ist’s doch, als wollte die Gestalt unter der weißen Hülle sich emporheben, als möchte sie ihre Arme gen Himmel ausstrecken unter der schweren Decke, als wollte sie rufen: Herr, komme herab auf meine Erde!

Es ist nicht so. Nur Scherben zerschlagener Gebirge bergen sich unter des Montblancs Eis- und Schneemantel, der Schutt und der Staub zerbrochener Erdrinden. Europa liegt nicht im Sarge, wie meine mitternächtliche Phantasie mir vorgegaukelt. Europa’s Scheitel strahlt verklärt, rosenfarbig, freudig, voller Leben. Müßte die rüstige Gegenwart dennoch ein Begräbnißtag seyn, so sey er es für das Morsche, Welke, Faule; es werde eingescharrt das Ueberlebte, das, was der Gegenwart fremd ist, was mit ihrem Leben in Widerspruch sich findet und seine Entwickelung hemmt; es werde begraben der Nimbus der Heuchelei, des Luge und der Schlechtigkeit, die Glorie der Niedertracht in Kirche, Staat und Leben. Glänzt aber der Montblanc im Morgenroth, so sey es und die Andeutung einer bessern und schönern Zukunft, und der Lavinendonner, der um ihn hallt, werde uns ein Verkündiger des Frühlings, der Europa’s altem Eichstamm frische Blätter bringt, wo er neue Kräfte saugt und fester und tiefer seine Wurzeln treibt, um die Stürme späterer Zeiten sicherer zu überdauern. Hat auch Europa, dessen höchster Scheitel dort über die Bergwelt ragt, bei Menschengedenken sehr Schweres ertragen und viel gelitten, so viel, daß Manche an seinem Genesen verzweifelten, so ist ihm doch am Schmerzenslager ein zweites Leben aufgegangen, und ehe das Jahrhundert herabrollt, wird sich dieser neue Lebenskeim [126] entwickelt und entfaltet haben zu wunderbarer Schönheit. Weiter als ehedem sind seiner Menschheit die Pforten der Unermeßlichkeit aufgethan, und viel deutlicher, als in frühern Zeiten, können wir die Bahn des Geschlechts in die Unendlichkeit verfolgen.


Der Montblanc, dieser König der europäischen Berge, gehört den pennischen Alpen an, welcher derjenige Zweig des Hochgebirgs ist, welcher Piemont von Savoyen und Wallis scheidet. Er enthält alle höchsten Gipfel des ganzen Gebirgs, die schauerlichsten Gletscher, die größten Eisfelder. Des Montblancs absolute Höhe über der Meeresfläche beträgt 14,700 Fuß, und sein Nachbar, der Montrosa, ist nicht viel niedriger. Der Chimborasso steigt kaum 850 Toisen höher in die Lüfte; dem obersten Kaukasusgipfel kommt der Montblanc an Höhe fast gleich; den der Pyrenäen überragt er um fast 5000 Fuß. Bis zum Jahre 1786 galt der Bergriese für unersteiglich. Versuche, die zu verschiedenen Zeiten gemacht worden waren, mißlangen alle und Manche büßten ihr Wagniß mit dem Tode. Am 8. August jenes Jahres glückte es endlich dem Doktor Paccard aus Chamouny nach viertägiger Anstrengung und Ueberwindung unglaublicher Gefahren und Schwierigkeiten, in Begleitung seines Führers Balmat, den Gipfel des Montblancs zu erklettern. Seit dieser Zeit ist er, sowohl von Einzelnen, als ganzen Gesellschaften, mehrmals bestiegen worden, und gegenwärtig ist eine Exkursion auf die Zinne Europa’s mit viel geringerer Beschwerde verknüpft, als ehemals; sie wird auch in viel kürzerer Zeit gemacht. Man findet in Chamouny zur Sommerszeit erfahrene, aller Zugänge kundige Guiden, und macht die Tour hin und zurück gemeinlich in 2 Tagen. Die Kosten der Reise betragen 30 bis 40 Louisd’ors. Doch gehört immerhin ein rüstiger und dauerhafter Körper dazu, und noch hat es keine Dame gewagt, den Montblanc zu erklimmen.

Der Fuß des Bergs und dessen untere Region ist bewaldet. Von Prieuré aus, dem Hauptort des Chamounythals, gelangt man auf einem im Zickzack aufsteigenden Pfade binnen 4 Stunden in die zweite Region, wo die großen Wesen der Pflanzenwelt nicht mehr fortkommen und sich die Kraft der Vegetation auf Moose, kurze Alpgräser, und die Flora fast nur auf das Alpenröschen beschränkt. Ungeheuere, mit dunkeln, blaugrünen Matten bekleidete Felswölbungen und schroffe Gehänge, hier und da durch einzelne Sennhütten, oder weidende Rinder belebt, bilden den allgemeinen Charakter dieses Bergtheils. Weiter hinan verschwinden die Matten, das Geläute der Heerden verhallt, der Hauch des Lebens wird immer schwächer, der Weg immer steiler, das nackte, von jeder Pflanzendecke fast entblöste Gestein, ist röthlich, oder schwarz, oder braun; es ist Urfels, der in grotesken, wilden Gestalten rechts und links schauerlich in die Lüfte starrt. Mit jedem Schritte weiter aufwärts [127] wird auch der Weg pfadloser, die Gegend verlassener. Ehe man noch die Grand-Mulets, ein obeliskenartiges Felsbündel (bei 10,000 Fuß Meereshöhe) erreicht, sieht sich der Reisende schon in einem Felslabyrinthe befangen, welche die Formen von Mauern, Thürmen, Basteien haben, oder als scharfkantige Pyramiden aufsteigen, oder als Riesendenksäulen emporstreben, gegen welche die von Menschenhand geformten wie Nadelspitzen erscheinen. Und doch sind sie selbst, gegen die ungeheuere Masse des Bergs verglichen, nur „Nadeln“ – wie sie auch von den Alpbewohnern geheißen werden. In Spalten und Ritzen schimmert schon Schnee, weissagend das Nahen der Region des ewigen Winters. An den senkrechten, oft 1000 Fuß hohen Feldwänden stürzen und rieseln an unzähligen Stellen die Wasser hernieder, welche die stechende Sommersonne von den höher hinanliegenden Eisfeldern schmilzt, und zwischen den Klüften des Gebirgs zur Rechten senken sich, wie schauerliche, in ihrem Laufe erstarrte Ströme, deren Fesseln auch der Sonne stärkste Gluth nicht lösen kann, die ungeheuern Gletscher bis zum Wege herab. Endlich betritt man die Gletscher selbst, welche, geschmückt mit unzähligen krystallfarbigen Pyramiden, von des Montblancs Mittelzone herabsteigen.

In der Nähe der Grand Mulets, in eine der vielen von überhängenden Felsen gebildeten Grotten wird gewöhnlich übernachtet. Häufig sind hier in den Sommernächten heftige Gewitter, und der Reisende wird dann durch ein unvergeßliches Schauspiel der Natur erfreut. Das Gewitter ist nämlich stets unter seinen Füßen. Bald sieht er auf ein Feuermeer herab, bald in die schwärzeste Nacht, und die Schläge rollen in den Gebirgen fort, wie Donner von tausend schweren Geschützen. Eine Menge Lavinen reißen sich los von den benachbarten Aeguilles und Domen, und ohne alle Gefahr sieht er sie rechts und links beim Leuchten der Blitze herniedergehen. –

Die Wanderung am nächsten Morgen beginnt auf der Decke des ewigen Eises. Vor dem zagenden Blicke thürmt sich eine Wüste empor, deren Abglanz das Auge blendet. Hie und da haben die Guiden, die zum Theil voraus gegangen waren, hohe Stangen mit Strohbüscheln in das Eis gesteckt, um die Richtung des Wegs anzugeben. Ohne diese Erkennungszeichen würde die Fahrt noch gefährlicher seyn und der Reisende leicht in die unergründlichen Spalten und Schlünden stürzen, welche die Eis- und Schneefelder nach allen Richtungen durchkreuzen. Manche derselben sind bis zum Rande mit Wasser gefüllt; weiter hinan sind sie mit einer dünnen, trügerischen Eisdecke, oder mit Schnee geschlossen. An solchen Stellen stecken die Warnungszeichen der vorausgegangenen Guiden und schützen vor Lebensgefahr. Man erreicht das Grand Plateau, eine Terrasse etwa 12,000 Fuß hoch. Hier wird zum letztenmale ausgeruht und gefrühstückt.

Von dieser Station an beginnen die größten Beschwernisse der Bergreise. Die Luft ist äußerst kalt geworden. Schweres Athmen stellt sich ein, Brustschmerzen, Stechen im Kopfe, Augenwehe, Ohrenbrausen, Schwindel, außerordentliche Schwäche und Niedergeschlagenheit. Und in diesem Zustande wandert der Mensch [128] im Schauerreiche des ewigen Winters, wo es der großen Mutter Natur selbst für das kleinste Moos an Erhaltungskraft gebricht. Während er mit schlotternden Knieen auf eingehauenen Stufen an steilen Eiswänden hinan- und hinabklettert und über Blöcke klimmt, erschreckt ihn das ewige Donnern der Lavinen um, über und unter seinem Standort, hält ihn das Bersten und Krachen der Gletscher in der Tiefe in Todesangst. Endlich erreicht er den Gipfel. – Er hat aufgeathmet; eine Welt liegt vor ihm ausgebreitet, 70 Stunden im Durchmesser ist sein Gesichtskreis; sein Auge dringt in viele Länder und Reiche, er leert den Becher der Begeisterung und des Entzückens in vollen Zügen. Aber bald gewinnen die Leiden des Körpers wieder über den Geist die Herrschaft. Länger als eine Viertelstunde halten es Wenige oben aus. Heftiges Fieber schüttelt, Nasenbluten tritt ein, die Sinne vergehen. Völlig erschöpft tritt der Reisende die Rückfahrt an, und geht Alles glücklich, so kann er um Mitternacht wieder in St. Prieuré seyn, froh einer Erinnerung, die ihn stolz durch das Leben begleitet.