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Der Beruf der evangelisch-lutherischen Kirche zum Amt der Diakonie/5. Stunde

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« 4. Stunde Hermann von Bezzel
Der Beruf der evangelisch-lutherischen Kirche zum Amt der Diakonie
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5. Stunde.
Mittwoch Morgen.

Gebet: O Herr, wir bitten Dich, Du wollest diese Deine Mägde, wie sie in der armen und verachteten Gestalt ihres Königs einigen Trost und ewige Hilfe zu finden begehren, so auch sich nicht ärgern lassen an der armen Gestalt ihrer Kirche, in die sie durch ihre Taufe sind aufgenommen worden, sondern wollest ihnen das Auge schärfen für die verborgenen Geheimnisse Deines Liebesrates an dieser Kirche und für die großen Gedanken Deiner Gnade über ihr, auf daß auch an ihrem Teil Dein Name gepriesen werde und Deines Reiches Zukunft könne gefördert werden, der Du lebest und regierest, wahrer Gott immer und ewiglich. Amen.


 Man könnte nun die Frage erheben, ob denn wirklich das spezifische (und charakteristische) Charisma unserer Kirche die Treue zum Worte sei. Steht nicht die reformierte Kirche mindestens ebenso treu zu demselben, verdanken wir ihr nicht bedeutende Bereicherungen in biblischer Theologie, ist sie nicht Wahrerin der Verbalinspiration (Wortunfehlbarkeit der Schrift)? – Gewiß, und doch darf und kann von allem Gesagten nichts zurückgenommen werden. In der (bereits bemerkten) kindlich treuen, nicht knechtisch ängstlichen (reformiert), noch heroisch gewaltsamen (katholisch) Stellung zum Worte liegt unsere sonderliche Gabe. – Und in dieser Gabe liegen die übrigen Beziehungen zu den Dingen beschlossen. – Sobald das Wort in Anwendung kommt, merkt man seine geistleibliche| Würdigung in unserer Kirche. – Wie steht sie den Berufen allen so klar gegenüber: Durchdringung und Verbindung des Irdischen von und mit dem Himmlischen: so im Wort, so im Sakramente, so im Leben. – Nicht kennt sie, wie noch „die deutsche Theologie“, welche Luther 1516 auffand und in Druck legte (verf. von einem Priester im Deutschherrnhaus zu Frankfurt a. M.), die Zwieschlächtigkeit des irdischen und ewigen Auges, davon das eine in die Zeit, das andere über die Zeit hinaus in die Ewigkeit blickt, also daß immer, je nach Umständen, eins geschlossen sein müsse, wenn das andere seiner Aufgabe warten solle, sondern sie heißt, weil ihr Herr alle Berufe adelt, soferne sie treu ausgeführet und verwaltet werden, mit beiden Augen auf das Himmlische sehen, indem man das irdische Berufswerk betreibe. (Betet ohne Unterlaß!).

 Wir sagen also: In der kindlichen Treue zum Wort allen Lebensverhältnissen gegenüber, in der dankbaren Freiheit liegt die Gabe unserer Kirche. In der Gabe aber ihre Beschränkung!

 Da unsere Kirche von dem Herrn der Kirche die Gnade der Lehre und damit die Aufgabe erhalten hat, über dieser Lehre treu zu wachen bis ans Ende, hat sich über ihr ganzes Wesen eine heilige Sorglosigkeit ausgebreitet. Sorglich und in Treue der Aufgabe zugewandt, Seine Lehre rein und unverfälscht den Nachkommen zu hinterlassen und den Brauch Seiner Sakramente in der ungeschmälert ehrerbietigen Hingabe an den hochwürdigsten Stifter zu wahren, mußte unsere Kirche zunächst sich beschränken. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Aufgabe und die Pflicht, da es sich darum handelte, der höchsten Dinge sich anzunehmen, schwer war und daß eben deshalb in manchen anderen Punkten unsere Kirche zurückbleiben mußte. Wem einmal das Herz für eine Aufgabe aufgegangen ist und wer für die Wahrung dieser Aufgabe sich verpflichtet fühlt, dessen Herz kann nur auf Eines gerichtet sein. Und so lassen sich alle sonstigen Bewegungen im Reiche Gottes und in der| Kirche nie selbständig neben die große Aufgabe, das Wort zu bewahren, stellen, sondern sie sind in ihr nur insofern existent, als sie sich ganz der Gesamtaufgabe, die Reinheit des Wortes fest zu halten, einordnen. Es ist ja der größte Vorzug des Christenlebens, alles einheitlich zu fassen, und wie wir eine Sünde, eine Schuld haben und alle Sünde nur unter diesem einen Gesichtspunkte ansehen, daß wir an Ihm allein sündigen und Ihm Herzeleid bereiten konnten, der uns so treulich geliebt, so haben wir auch nur den Ruhm Einer Gnade zu verkündigen, die da steht in unverminderter Frische und ungeschmälerter Kraft von Ewigkeit zu Ewigkeit. Diese Aufgabe, das Herz des Menschen auf eins zu konzentrieren, diese Pflicht, unser zeitliches Leben mit einem großen Gedanken zu erfüllen, davon es wirklich zehren und leben könnte, hat die Kirche Luthers erfüllt, und in keiner Kirche hat sich deshalb so die Persönlichkeit ihres geistlichen Vaters ausgelebt und dargelebt, es ist auch keine Kirche, die so persönlich wäre bei allem Aufsehen auf Jesum den Anfänger und Vollender des Glaubens, als unsere Kirche; aber eben, weil sie aufsieht zu Jesu, kann sie auch Seine Knechte ehren. Denn sie sieht nicht auf Persönlichkeiten als solche hin, sondern auf Persönlichkeiten, die von Jesu Christo erfaßt, durch den Hl. Geist erleuchtet und durchglüht sind. Es ist in unserer Kirche allgemeine großartige Hingabe an Persönlichkeiten, sofern in ihnen Jesus Christus Gestalt gewonnen hat. Das dürfen wir nicht vergessen, daß hier eine Berührung mit der andern Reformationskirche liegt, und doch nur eine teilweise. Bedeutsam ist es, daß Luther, der der Gotteswelt ihr holdes Recht zugestand, weltflüchtig war und dieser Kirche so arm sie sich seinen Augen zeigte, abfühlte, wie reich sie in Ihm sein und bleiben dürfe.
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 Es ist überhaupt in der Persönlichkeit dieses Mannes bei aller Einheit eine solche Mannigfaltigkeit, daß bei bösem Willen aus seinen Schriften eine ungeheure Menge von Gegensätzen sich herausfinden läßt, während der gute| Wille eine majestätische Harmonie findet. „Im Glauben aller Dinge Herr, in der Liebe jedermanns Knecht.“ Dem sonnenhaften Auge wird alles sonnig erscheinen. Ja, Luther ist weltflüchtig gewesen und hat uns nicht umsonst bitten heißen, daß der Herr uns mit Gnaden „von diesem Jammertal zu Sich nehme in den Himmel“, hat deshalb auch die Kirche mit Vorliebe als die Kirche des jüngsten Tages bezeichnet und sich der freudigen Erwartung sorglos hingegeben, der Herr werde sie bald heimholen aus diesem Elend. Der enteilenden gegenüber waren alle andern Fragen sehr nebensächlich, darum hat er für die Verfassung wenig genug getan. Es war nur ein Notbau, unter den er die Kirche barg, von dem er selbst nur zu sehr überzeugt war, daß er mit der Zeit hinfallen müsse und dürfe. Weil aber jetzt nichts anders zuhanden war, hat Luther sich in vertrauensvoller Hingabe an die Fürsten angeschlossen, welche mehr oder weniger von seinem Geist ergriffen waren. In der Verfassung lag nie Luthers Stärke, liegt nie die Stärke der lutherischen Kirche. Und gegen anstaltliche Verfassung hat die Kirche der Wittenberger Reformation desgleichen fast Abneigung: sie entschließt sich, bei der Respektierung des Gegebenen, die ihr eignet, schwer, neue Einrichtungen zu treffen. Es ist ihr das alles gleich, wenn sie nur ihres Glaubens leben kann, und darum hat es unsere Kirche vertragen, wenn man sie drückte oder in den Winkel stellte. Es liegt in dieser geheiligten Sorglosigkeit etwas Rührendes und vor dem Herrn wirklich Wohlgefälliges, in dieser Vertrauensfülle, daß wir nicht sagen – Vertrauensseligkeit, und der Herr hat bis auf diese Stunde bei aller Armseligkeit auch hier Seine Kirche nicht vergessen. Sie hatte mit der großen Aufgabe genug zu tun „rein zu machen und Jesum, den ewigen Bischof, zu predigen, den Katechismus recht zu treiben und die Lehre zu klären.“ Darum findet sich in den ersten Zeiten ihrer Geschichte kein ethisches Lehrgebäude außer dem Katechismus, keine ins einzelne gehende Sittenlehre, sondern Grundanschauungen!| Luther stand eben all den Fragen leidlos gegenüber, denn er hatte das Wort seines Herrn im Sinn: „Setzet entweder einen guten Baum, so wird die Frucht gut sein, oder setzet etc. (Matth. 12, V. 33) und hat nun mit Treue gepflanzt.“ In der Schloßkirche zu Wittenberg befindet sich das Bild des jüngeren Lukas Cranach: die Arbeiter im Weinberg des Herrn. Luther pflanzt und bindet die Reben an und recht (ein „grober Waldrecher“); Melanchthon schöpft Wasser und begießt die Reben. Das ist der Typus für die Kirche des 16. Jahrhunderts. Man hatte genug damit zu tun, um die Reben zu pflanzen, man mußte das Unkraut ausjäten. Wenn Eis und Schnee der Frühlingssonne gewichen sind, wenn die Sonne ein wohlbereitetes Erdreich zuvor geschaffen hat, dann keimen von selbst Blumen hervor zum Preise Dessen, der solchen Segen der Erde vermittelt hat. Dieser großartige Zug des Wartens und Ueberlassens (cf. Vorrede zum Römerbrief), würde bei jedem andern Menschen Leichtsinn geheißen werden müssen; ja ein Zug, der zum Tode führt. Anders bei Luther, bei welchem das Leben durch solche Stürme gegangen. Wer solche Schrecken eines geängsteten Gewissens durchkostet hat, bei dem ist es zu erklären, daß er sich des Friedens mit Gott freute, und so gewiß alle unsere Werke Reproduktionen unseres Inneren sein müssen, so gewiß hat Luther recht daran getan, zuerst die Innerlichkeit zu festigen. Welche Torheit wäre es gewesen, wenn man den kaum heranwachsenden Baume Werke zugemutet hätte, umgestaltende weltbewegende Werke! Er hätte es nicht vertragen mögen. So wartete man und ließ sich das Gute gefallen, wo es war. Und wie Luther alle Bücher der hl. Schrift in großartiger, für uns Epigonen manchmal befremdlicher Weise, darauf hin angesehen hat, ob sie Christum predigen, so hat er alle Werke daraufhin angesehen, ob sie Christum meinen. Wie steht er so gütig den Klostergelübden gegenüber, falls sie aus einem evangelischen Grunde erwachsen sind. „So zeigt sich die rechte, evangelische Freiheit darin, daß man auch Gelübden| sich unterwerfen kann!“ Wenn nur die Innerlichkeit recht ist, dann mögen Klöster, Nonnen, alles bleiben. Das ist eben wieder der ökumenische oder richtiger: konservative Zug seines Wesens. Was ist unser Gottesdienst in der großartigen Schöne anders, als die vom lästigen Beiwerk und Unwahrem gereinigte römische Messe? (cf. Löhes Vorrede zu seiner Agende!) Das Alte reinigen und bewahren hat er verstanden: diese Treue hat ihn bewahrt vor grobem Zufahren und viel zu raschem Wesen der Reformierten. So sei es bei allen unsern Werken: man sehe sie darauf an, ob sie Christum meinen. Wenn ja, so mögen sie bestehen. Luther erzählt z. B. wie er in Ravenna adelige Frauen habe Diakonissendienste tun sehen: „Die verdienen Sein Lob, vorausgesetzt, daß sie es um des Herrn Christus willen tun!“ Er warnt aber, daß man nur nicht auf das Aeußere zuviel gibt, während „der arme Christus vor deiner Türe liegt!“ Er hat eben alles mehr an sich kommen lassen, das Bestehende einfach mit herüber genommen, sofern Gottes Wort nicht dawider war, hat alles geprüft und das Beste behalten. Man mag ihn und seine Getreuen katholisierend nennen, es wird wenig schaden – katholisierende Züge liegen wahrlich weit tiefer als man gewöhnlich annimmt: in der Unfreiheit, die heilige Schrift sich anzueignen, am meisten. Weil er eine in Christo so fest gewurzelte Persönlichkeit war, darum hat er alle Erscheinungen an sich herankommen lassen, sie an dem untrüglichsten aller Maßstäbe, dem ewigen Gotteswort gemessen, alles, was Christo konform war, gelassen, alles andere weggetan. Stürme zogen herauf, ein Jahr nach seinem Tode sind die Fehden des schmalkaldischen Bundes ausgebrochen: so war die Zeit nicht zu Neuem angetan.
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 Dieser Zug des Wartens, den man geradezu einen charismatischen, weil der Erbauung dienenden, nennen kann, zeugt von dem unbedingtesten Vertrauen zu dem Herrn, der Seine Kirche leitet und zu Seiner Reichsstunde, und hat sich der gesamten lutherischen Kirche| aufgeprägt. Alle Bewegungen im Reiche Gottes in neuerer Zeit haben sich denn auch vollzogen, ehe unsere Kirche aktiven Anteil an ihnen genommen. Es ist wohlfeil, dies zu bedauern, und das traurige Vorrecht undankbarer Nachkommen zu tadeln. Dies Zuwarten an Punkten, wo andere, und an Zeiten, in denen andere in eiliger Hast vorgingen, hat unsere Kirche allerdings äußerlich nicht gefördert, aber nur äußerlich, denn die Kräfte, welche andere auf die äußerliche Expansion wandten, sind bei unserer Kirche in die Tiefe gegangen.

 Nicht Weite, sondern Tiefe! Nicht Aufbau, sondern Tiefbau! Nach populären Erfolgen will und darf eben unsere Kirche nicht haschen: brillante Feuerwerke brennen rasch ab und Meteore vergehen gar schnell. Und mit der Popularität hat es Luther nie gehalten. – Der Herr Omnes (Allgemeinheit) mißachtet das Tiefe und schaut auf das Aeußerliche. Die Tiefe aber, wie gezeigt, ließ immer wieder Wasser auch in der dürren Zeit hervorquellen und als Rom arm und versiegt dastand, durfte es in frischen Zügen aus Luthers Quellborn trinken.

 Das große Wort des Galaterbriefes „von der Fülle der Zeit (Gal. 4, V. 4) gilt allen Bewegungen vor dem Herrn und zu dem Herrn. Sollen wir Ihm voraneilen, Ihn meistern, oder seinem Werk irgendwie durch eilfertige Hast Eintrag tun? Sehen wir nun näher zu, wie spät, nach außen besehen – die lutherische Kirche zu den Hauptbewegungen der Zeit kam. Zunächst auf dem Gebiet der äußeren Mission. Luther hat ja so gut wie ein anderer das große Gebot des Herrn gekannt: „Gehet hin in alle Welt etc.“; aber ihm war die Welt so eng noch beschränkt. Gerade bei den Anlässen, wo man ein volles Zeugnis von ihm erwarten sollte und möchte, schweigt der Reformator über die Missionspflicht. Wohl weiß er an Epiphanien und Himmelfahrtstage Treffliches vom Missionsbefehle des Herrn Christus zu sagen, wie das Wort der hl. Apostel an alle Welt ergangen sei, ob dieselben gleich nicht zu uns und zu den Inseln gekommen seien. Oft führt die Predigt zu dem| Punkte, an dem man mit Zuversicht das Einsetzen der Mahnung zu Fortsetzung der Pflicht erwarten sollte. Aber beschäftigt mit den nächstliegenden Aufgaben, die ihn an „Heiden inmitten der Christenheit“ wiesen, beengt durch den Gedanken an den „lieben jüngsten Tag“, dessen Nahen die vielen Unbekehrten ihm geradezu verbürgten, enthielt sich Luther alles weiteren, er will nur in der zweiten Bitte darum beten, daß „Gottes Reich auch zu uns komme!“ Selbst der Vers: „Er ist das Heil und selig Licht für die Heiden“ (88 V. 4) empfängt durch das nachfolgende: „zu ’rleuchten, die Dich kennen nicht und zu weiden“ – seine Korrektur. Heiden sind (nach der Auslegung des 117. Psalms) dem Reformator alle, so „Gott abgesagt haben und von Ihm ferne sind“: nicht in die weite, in die Nähe gehe das Streben! – „Muß man denn, fragt der Regensburger Superintendent Ursinus (gegen Justinian v. Walz 1669) nur bei den Lappen und Mongolen die Heiden suchen, gibt es doch deren bei uns allenthalben genug!“
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 Ja Missionsgedanken genug, wenn er in einer Himmelfahrtspredigt sagt: „Es ist nicht genug, daß du einst gen Himmel fährst, du mußt auch dafür sorgen, daß du deinen Bruder mitbringst“, aber zur Tat kam es nicht. Die Liebe zur Mission lag in ihm; aber die Zeit war noch nicht erfüllt, der Herr hatte noch nicht deutlich gesprochen, die Kirche hat schier zwei Jahrhundert gewartet, bis auf einmal ihre Zeit kam. Wir mögen dies beklagen, aber die vertiefte Gründlichkeit hat eben reichlich Mittel zur jetzigen Arbeit ausgereift. In dem Warten und Stillesein liegt die Gewähr Seiner Hilfe, liegt die größte Kraft für ein in Christo gefaßtes Gemüt; denn von Natur stürmt ja der Christ zu Bewegungen hin, bis er in der Liebe Dessen ruht, der Selber die größte Aktion und das Leben Selbst ist, der da spricht: „Mein Vater wirket bisher und Ich wirke auch“, der uns zum Wirken das Leben geschenkt hat. Wir wirken nur, wenn wir von Jesu Christo ergriffen sind. Die Dinge und Reichswerke waren vorgesehen, die Ausführung| solcher heiligen Begierde aber war durch die Zeit noch gehemmt. Naivität des Kindes in der Person des geistlichen Vaters, bei aller männlichen festen Haltung, bei jenem kühnen Trotz, mit dem Luther „in den Himmel hinaufreichte und Gottes Gnade herabhandelte, die Hölle stürmte und Christum predigte“, das Warten des Kindes auf die Stunde des Vaters! Weil man auf ewigem Grunde sich weiß, kann man warten, und wohl dem Menschen, der warten kann, er hat in der Schule seines Herrn gelernt, dessen Geduld mit unsrer Schwachheit unsre Seligkeit ist, welcher nicht eilt mit uns, sondern jeden Morgen mit neuen Gnaden sich unser annimmt, daß wir an Ihn uns gewöhnen. Wie sind die Jünger erstmalig hinausgeeilt in ihr Arbeitsfeld, wie jauchzen sie bei der Heimkehr: „Es sind uns auch die Geister untertan!“ (Luk. 10, 17) und wie kühl steht der Herr dieser frommen Begeisterung Seiner Jünger gegenüber: „Darinnen freuet euch nicht, daß euch die Geister untertan sind; freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind.“ Seine Jünger haben Ihm ihre Erstlingserfolge zu Füßen legen wollen, haben sich gefreut, den Herrn mit der Kunde zu überraschen, daß sich ihnen alle Türen aufgetan, aber zu großen Taten sind erst die tief gegründeten befähigt. Es müssen die Jünger ungemein schwer begriffen, langsam gelernt haben, daß unser Herr kein Herr der Erfolge ist. Er kann warten mit uns, und heißt uns warten mit Ihm. Zweihundert Jahre, so sahen wir, vergingen, bis die äußere Mission in Angriff genommen wurde. Als man in der Lehre fest und gewiß war, da ist man hinausgegangen, nur Männer in Christo haben die Lehre hinausgetragen. Schwankende, Unklare können und sollen nicht hinausgehen, zu missionieren. Und man sieht es an dem protestantischen Missionsverein, wie gering die Erfolge ohne Bekenntnistreue. Alles Missionieren auch der Sekten hat etwas Sprunghaftes, Tastendes, lauter Versuchsstationen geistlicher Art: Subjektivismus und Suchen aller Orten. Das Missionieren unserer Kirche bei aller| Sünde derer, die es treiben, ist doch etwas Grandioses, weil festgegründet in der Lehre.

 Ebenso ist es mit der inneren Mission: es geschah nichts einzelnes, aber „wer vieles bringt, wird allen etwas bringen.“ Hat nicht Wichern mit Recht die gesamte Reformation einen Hauptakt der inneren Mission genannt? Nicht viel Anstaltliches, aber Anregung allenthalben.

 Drei Jahrhunderte bedurfte es, um in der Kirche das Amt der Barmherzigkeit zu gründen; denn der Pietismus war nicht im Stande, die Diakonie lebendig zu bringen. Dazu war bei ihm, wie wir sahen, alles viel zu fließend, er hat seine Stärke, aber auch seine Schwäche in dem Vereinzeln der Persönlichkeit, in dem Sich zurückziehen auf einzelne erweckte Kreise. Er vergißt, daß hier eine Gemeinde von Sich Heiligenden, nicht eine Gemeinde von Heiligen ist, und weil er mit diesem Faktor nicht rechnet, darum ist er nicht fähig gewesen, solche Gründungen hervor zu rufen.

 Es hat in unserer Kirche beinahe drei Jahrhunderte gewährt, bis der Herr ihr die Türe auftat. Werden wir uns schon aus äußeren Gründen mehr bei der Geschichte unseres Hauses aufhalten, weil die Gründungsgeschichte der andern lutherischen Diakonissenhäuser uns ferner liegt, so noch mehr aus dem tieferen Grunde, weil die Gründung des hiesigen Hauses genuin lutherischen Anschaungen entwachsen ist. Gerade 300 Jahre seit den abschließenden Bewegungen unsrer Kirche, nach dem Augsburger Religionsfrieden hat der Herr an hiesigem Orte die Gnade der Diakonie geschenkt. Seit Karls des Großen Zeit hatte man den Namen Diakonisse nicht mehr in der Kirche gehört, tausend Jahre also waren vergangen, seit man den Namen Diakonisse zum letztenmal vernommen. Wenn nun auch die von Preußen aus, von frommen, erweckten, reformierten Persönlichkeiten herrührende Bewegung früher vorhanden war, wenn der unvergeßliche Fliedner 18 Jahre vor Löhe sein Werk begann, so haben doch diese beiden Werke von| innen zunächst nichts miteinander gemein. Es gilt bei aller Anerkennung des dem Herrn in herzlicher Liebe anhangenden Fliedner doch auch hier das Wort: „Ihr habt einen andern Geist als wir.“ In dem Büchlein „Etwas aus der Geschichte des Diakonissenhauses“ beruft sich auch Löhe sehr entschieden darauf, daß er bei aller Anerkennung Fliedners so viel wie nichts von ihm wisse, und daß er mit seiner Gründung nichts weniger beabsichtige, als eine Kopie von Kaiserswerth, die unfehlbar hätte mißlingen müssen. Wir Lutheraner haben eben eine abgeschlossene Vergangenheit und aus dieser heraus ist die Gründung unseres Hauses zu verstehen. Das ist vor allen andern Diakonissenhäusern (ein für allemal alles Gute in denselben anerkannt) das Charakteristische an diesem Mutterhaus, daß man auf die Lehre, ganz nach Luthers Wort und Willen, so viel Wert zu legen beabsichtige, auf die reine, dem Herrn gefällige Lehre. Es liegt in jeder Gabe die Aufgabe, und in der Gabe, daß sich das hiesige Haus auf reine Lehre gründete, die Aufgabe, diese reine Lehre zu bewahren. „Dein Wort enthalte uns, wenn und weil wir es kriegen.“ Amen.


Gebet: Wir danken Dir, o Herr, für alle Deine Treue, mit der Du auch an hiesigem Orte Deiner Kirche gedacht und nach vielem Warten ihr geschenkt hast den fröhlichen Anfang neuer Bewegung. Laß, o gebenedeiter König, auf dem ewigen Grunde, ohne den keiner mag gelegt werden, auch fernerhin gebauet werden, was Deine Ehre sucht, und verleihe, daß Dein Wort die rechte Lehre und Heiligkeit die Zierde auch dieses Hauses sein möge jetzt und allezeit, bis Du dermaleinst nach Vollendung aller Aufgaben unser Werk Dir in heiliger demütiger Dankbarkeit lässest zu Füßen legen, zum Preise Deines Namens und zu Ehren des Vaters aller lichten Gnaden. Amen.





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