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Der Beruf der evangelisch-lutherischen Kirche zum Amt der Diakonie/4. Stunde

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« 3. Stunde Hermann von Bezzel
Der Beruf der evangelisch-lutherischen Kirche zum Amt der Diakonie
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4. Stunde.
Dienstag Abend.

Gebet: Verleihe, o ewiger Herr, Deiner Gemeinde, die Du mit Deinem Blute erlöst und Dir zum bleibenden Eigentum erkauft hast, daß Sie im Danke für Deine Treue, im Bekenntnis Deines heiligen Wortes und in alle dem zunehme, was Sie zu Dir hinführt, dagegen abnehme in allem, was Sie von Dir ablenkt durch die Kraft, die Du in uns allen aus Gnaden stärken wollest. Amen.


 Ganz mit Unrecht, wie bemerkt, hat man das 17. Jahrhundert mit dem Namen der toten Orthodoxie gebrandmarkt, ein Jahrhundert des „Betens und Bekennens,“ weil man eben die ängstliche Wachsamkeit unserer Väter, dieser geharnischten Streittheologen über der Reinheit von Wort und Sakrament und der Hoheit derselben, unterschätzte. Es schlägt unter dem Panzer ihrer Rechtgläubigkeit, dieser manchmal harten und scharfen Art, ein treu liebendes Herz, und der Herr allein wird es offenbaren an Seinem großen Tage, was die Hirten in der Schreckenszeit des dreißigjährigen Krieges an Mühsal und Trübsal erduldet, was sie in ihren Gemeinden Ihm zu Liebe und Dank getan haben. Chroniken bezeugen es genugsam, daß gute Hirten ließen ihr Leben für die Schafe. Der Buchstabe allein tötet ja allerwärts; aber es war eben nicht der Buchstabe allein, dem jene zur Seite stunden, sondern die Liebe und Treue, welche aus dem 119. Psalm hervorleuchtet. Was Luther gepredigt hat, war ihnen nicht um des Mannes willen teuer, wie| man sie spöttisch als „Lutheraffen“ gegeißelt hat, sondern um Jesu willen, dem ihr Tun galt. Es mag in dieser Treue zu weit gegangen und in der Betonung des Lebens zu wenig getan worden sein, nimmer aber war es ein Ausbiegen vom rechten Weg. Es war vielleicht eine zu einseitige Art, aber falsch war es nimmer, so daß wir mit allem Ernst um der Treue willen gegen unsere Kirche den Vorwurf der toten Orthodoxie zurückweisen müssen.

 Es darf doch nie außer Augen gelassen werden, welche Schätze auch frommer Betrachtung diese Zeit ans Licht des Tages gefördert hat. Denn Joh. Arndt und Heinrich Müller, ob sie auch einer gewissen unverständigen „Rechtglauberei“ gegenübergestanden, haben doch die „tote Orthodoxie“ hochgehalten und ihr unverlierbares Recht auf gesunde Innerlichkeit und gereinigte Mystik geltend gemacht. Man muß nämlich wohl merken, daß mit dem Tadel der erstorbenen Orthodoxie nicht bloß Bewegungen getroffen werden, welche, wenn sie von der lutherischen Kirche nicht zu guter Zeit erkannt und erdrückt worden wären, allerdings zu einem „Buchstäbeln“ würden geführt haben, sondern alle jene Bewegungen fallen unter das Gericht, welche in Luther nicht die berühmten zwei Figuren kennen, den Mann vor Worms, den eigentlichen „Reformator,“ den Mann nach Worms, dem die „Mönchskutte wieder um die Füße schlug,“ als er sein großes Bekenntnis vom Abendmahle ablegte.

 Jenes Wachen über Reinheit hatte auch zur Folge, daß keine einzige Sekte in unserer Kirche den Mutterboden gefunden hat. Aus der römischen Kirche kommen Sekten, mehr gewiß, als jene Kirche selbst weiß und ahnt – nur werden die Regungen bald zum Schweigen gebracht –, aus der reformierten sind viele erwachsen, aus der lutherischen keine, man müßte denn auf die Herrnhuter hinweisen, welche durch Personalunion mit unserer Kirche verbunden sind, in so fern als ihr Gründer, Graf Zinzendorf, der lutherischen Kirche entstammte. Aber letztlich ist doch auch| die unter den Herrnhutern vorherrschende Richtung der mährischen Brüder nichts weniger als lutherisch; das Ganze hat doch reformierten Typus mit katholischen Fermenten. Die Sekten sind überhaupt etwas nach Deutschland Importiertes, sie haben ihre Geburtsstätte auswärts und sind von England und Holland hereingedrungen. Warum ehrt man dies nicht, daß unsere Väter aller sektiererischen Abweichung kräftig gewehrt haben? In den Sekten liegt ja gewiß ein Wahrheitsbestand, nach dessen Aufzehrung und Aufbrauch erst sie dahinsiechen und sterben; aber diese Momente alle suchte unsere Kirche zusammenzuhalten, allen alles zu sein. Wo in unseren Tagen die Sekte einsetzt, ist Krankheitsstoff in der Kirche vorhanden: Das Wort erscheint nicht genügend geteilt. Heilige uns in Deiner Wahrheit, nicht in menschlichen Wahrheitsfündlein! Der Eifer für die Lehre also hat das 17. Jahrhundert durchdrungen und hat sich in den bereits genannten Männern vermählt gezeigt mit freundlicher Liebe und herzlichem Erbarmen. Im weiteren Verlauf allerdings bemerken wir reformierte Züge. Denn es ist des Herrn Art, keine Entwickelung in der Kirche geradlinig sich vollziehen zu lassen, sondern in mannigfacher Ab- und Ausbiegung zum Ziele zu führen. Und eben weil schon von den Zeitgenossen die Reinheit der Lehre und dies ängstliche Wachen über derselben verkannt wurde, so daß man über dem frommen Leben die Reinheit der Lehre weniger achtete, kam in unsere Kirche gegenüber der körnig krystallisierten Objektivität des Wortes der subjektive Faktor des Gefühls hinein. Dem Pietismus, so hoch er auch sonst zu achten ist, fehlt ein Begriff, der Begriff der Kirche in ihrer objektiv feststehenden, dem Ideale nach vorgezeichneten Gestalt. Indem er selber mit großem Ernste auf die Reinheit des Lebens, auf die Wichtigkeit des christlichen Lebens hinweist, hat er die Lehre zu gering geachtet. Wenn Gott die Gefahren des Pietismus nicht erst der erstarkten Kirche, sondern der beginnenden und in ihrem Werden noch nicht gefestigten hätte erwachsen lassen, so wäre unsere Kirche vergangen,| weil der Pietismus Früchte von einem noch nicht ausgereiften Baume verlangte und die Ernte ernötete. Es wäre die Kirche zum Konventikel geworden, frommer, aber nicht freierer Art. Der gute Baum war noch nicht stark genug, gute Früchte zu tragen. Der Herr hat diese Gefahr gnädig zurückgehalten. Wir wollen nun wahrlich nicht an die frommen und im Reiche des Herrn helle leuchtenden Namen eines Spener und Francke anders als mit Dankbarkeit denken, vielmehr den Vater aller Geister und Geber der guten und vollkommenen Gaben preisen, daß Er auch diese Männer unserer Kirche geschenkt hat; aber wir müssen betonen, daß der Pietismus mit seinem Drängen auf Leben und Werke ernstlich, ob auch unbewußt, Vorarbeit tat der bekannten schauerlichen Trias: „Gott, Tugend und Unsterblichkeit“ des Rationalismus. Gott hat es in Seiner Gnade den treuen Männern des Pietismus erspart, ihre Kinder zu sehen. Aus der einseitigen Geltendmachung der sich heiligenden Persönlichkeit, dem ganzen subjektivistischen Christentum, das sich oft in Konventikel und kleine Kreise vor der Welt flüchtete, das mit der Welt nicht vermengt sein wollte, kommt die Gefahr der Unterschätzung der reinen Lehre. Man verwechselte fromm und gehorsam wie in unseren Tagen: Ehrerbietung gegen die rechte Lehre eben ist Grundbedingung aller Frömmigkeit.
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 Die Unterschätzung der Kirche – aber als Hüterin reiner Lehre – führt wiederum zur Überschätzung des Ich aus leicht erfaßlichen Gründen. – Man verkennt das Gewicht der Ordnungen, die von Ihm herrühren und durch den Heiligen Geist angedient werden, der im Besitze lauterer Wahrheit dieselbe ausmünzen, anwenden, brauchen, einordnen heißt und läßt: man zieht sich zurück auf das Ich der Persönlichkeit und ihrer Stellung zu JEsu Christo. – Aber das einzelne Ich, durch einen Gnadenakt gerettet, verlangt nach Gemeinschaft des Bekennens, nicht bloß des liebenden, sondern auch des kämpfenden und streitenden. – Das aber ist die Kirche. – Es gibt immerhin zu denken, daß der erste Kritiker des Neuen Testamentes Hallenser Pietistenkreisen entstammt,| gibt zu denken, daß manche Leugner der Gottheit Christi, wie sie die Kirche gläubig erfaßt und bekennt, persönlich fromm sind. – Nicht der Ichchristus, nicht das „Mir ist so“! – sondern der wahre, kirchliche Christus und – „es stehet geschrieben!“ –

 So hoch wir denken müssen von den Einflüssen des seligen Beck in Tübingen und der ganzen neutübinger (biblischen) Schule, so wohl es einem Christenmenschen werden kann in der Umgebung dieser wahrhaft frommen Männer, so ernst muß man der von dort kommenden Gefahr entgegensetzen und fürchten, daß das Werk unsers Herrn, die heilige Kirche, unterschätzt werde.

 Die Ausläufer des Pietismus sind der Rationalismus alten und neuen Datums, so sehr auch letzterer seine Mutter bekämpft, jene Werkerei, welche auf die Lehre nicht mehr sieht und in den vielverzweigten und -geteilten Werken der „Inneren Mission“, die er in Beschlag nehmen möchte, Union gefährlichster Art vorzubereiten beanlagt ist. Der Pietismus hat nicht die Kraft der Abwehr gehabt gegen falsche Elemente, falsche Brüder, untreue, ungeordnete, ungebundene und ungezüchtete Geister: in seiner Mitte sind üppige Bewegungen geduldet worden. Es ist sehr bedeutsam, daß er nicht imstande war, das Amt „den Dienst“ der Barmherzigkeit zu gründen, obgleich er so sehr auf liebende Nachfolge Jesu drang. – Er hat nur in seiner Betonung des Lebens Großes getan; die Welt jedoch hatte den Eindruck, daß alle diese Werke zu sehr an einzelne Personen gebunden waren, daß die großen Schöpfungen zu sehr auf einzelne Persönlichkeiten zeigten. – Als nun, durch Stimmen aus England hauptsächlich wachgerufen (Mitte des 18. Jahrhunderts), der Rationalismus sich anschickte, unsere Kirche ihres teuersten Kleinodes zu berauben, ihr die Lehre von der „freien Gnade“ ganz zu entwenden und gepaart mit französischem Libertinismus sie wieder in die römischen, humanistisch heidnischen Irrtümer zurückzuwerfen, da hat sich der Herr um des Gebetes willen Seiner Knechte gnädig Seiner Kirche angenommen; denn wir dürfen| kühnlich glauben, daß die Gebete, welche in der Reformation um die Erhaltung der reinen Lehre so brünstig zu Gott aufgestiegen, welche der große Gottesmann noch auf seinem letzten Wege entsandte, sind von Ihm erhört worden; denn Er erhört jetzt noch nach Jahrhunderten um Seines Namens willen (Amen – der Wahrhaftige!). Es blieben in manchen Gemeinden einsame, aber glaubensstarke Zeugen zurück: die alten Agenden, Lieder, Predigten und Katechismen, zwar vom amtlichen Gebrauche ausgeschlossen, konnten nicht vernichtet werden und retteten die einsamen, um so enger an und aufeinander angewiesenen Kreise zur Freiheit hindurch. Gottes Wort ist eben nie gebunden! – Er schenkte unserer Kirche zunächst wieder die Bewegung des sogenannten Supranaturalismus, welcher sich über die Schranken der sogenannten Natürlichkeit hinauf zu dem Uebernatürlichen hob, und hat ihr dann in allen ihren Gebieten in Deutschland, Dänemark und Schweden Wiederbelebung gegeben. – Als Klaus Harms (in Kiel) bei dem dritten Jubelfest der Reformation 1817 seine Thesen ausgehen ließ gegen viele Irrnisse und Wirrnisse der Kirche, da war die Befreiung unserer Kirche gekommen. These eins: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: „„Tut Buße!““ so will Er, daß die Menschen sich nach Seiner Lehre formen sollen; Er formt aber die Lehre nicht nach den Menschen, wie man jetzt tut, dem veränderten Zeitgeist gemäß (2. Tim. 4, 3, vgl. Thes. 4.)“, traf recht ins Herz des so allgemein verbreiteten Pelagianismus. Die Menschen paßten im ganzen schon in den Lehrbegriff des Glaubens, wie des Handelns (Th. 2.); so reformiere man das Luthertum ins Heidentum hinein und das Christentum aus der Welt heraus (Th. 3). „Den Papst unserer Zeit nennen wir in Hinsicht des Glaubens die Vernunft, in Hinsicht des Handelns das Gewissen, welchem letzten man die dreifache Krone aufgesetzt hat, die Gesetzgebung, die Belobung und die Bestrafung (Th. 6).“ Gegen Gottes Wort: das Gewissen kann nicht, d. h. niemand kann sich selbst Sünden vergeben.| Die Vergebung ist Gottes (These 11). Die Operation, das Gewissen abzuschneiden als einen Absenker vom Worte Gottes, ist geschehen, während keine Macht in der Kirche war (Th. 12 u. 14). Hört das Gewissen auf zu lesen und fängt an selbst zu schreiben, so fällt das so verschieden aus, wie die Handschriften der Menschen (Th. 17). Der Begriff von göttlichen Strafen verschwindet ganz (Th. 18). Die Vergebung der Sünde kostete doch Geld im 16. Jahrhundert; im 19. Jahrhundert hat man sie ganz umsonst, denn man bedient sich selbst damit (Th. 21). In neuerer Zeit hat man den Teufel totgegeschlagen und die Hölle zugedämmt (Th. 24). Ein Irrtum in der Tugendlehre erzeugt Irrtum in der Glaubenslehre; wer die ganze Tugendlehre auf den Kopf stellt, der stellt auch die Glaubenslehre auf den Kopf (Th. 25). Nach dem alten Glauben hat Gott den Menschen erschaffen; nach dem neuen erschafft der Mensch Gott (Th. 27, vgl. Jesaia 44, 12–20). Die sogenannte Vernunftreligion ist entweder von Vernunft oder von Religion, oder von beiden entblößt (Th. 32). Die Vernunft geht rasen in der lutherischen Kirche, weist Christum vom Altar, schmeißt Gottes Wort von der Kanzel, wirft Kot ins Taufwasser, mischt allerlei Leute beim Gevatterstand, wischt die Anschrift des Beichtstuhls weg, zischt die Priester hinaus und alles Volk ihnen nach und hat das schon lange getan. Noch bindet man sie nicht? Das soll vielmehr nicht lutherisch und nicht wirlstadtisch sein (Th. 71)“.
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 Seit dieser Zeit ist wieder das Eifern um die reine Lehre, das Festhalten der reinen Lehre vor Menschen und Menschendeutung die Hauptaufgabe der Kirche geblieben. Dies Eifern jedoch geht aus von Psalm 119, v. 152. „Zuvor weiß ich aber, daß Du Deine Zeugnisse ewiglich gegründet hast.“ Unsrer Kirche steht es aus persönlicher Erfahrung zuvor fest: Es ist Sein Wort in Knechtsgestalt, aber Sein Wort: Gottes Gesetz ist durchaus sich erwahrende Wahrheit. Und über diesem Wort soll die Treue halten, bis Er kommt. Das ist ein großer und erhabener Gedanke, daß unsre Kirche| allen Verlockungen zum Trotz an dem armen, verachteten Wort ihres Herrn hält, weil die arme und verachtete Gestalt ihres Herrn ihr das Herz gewonnen hat, also daß es brennt, so oft er die Schrift öffnet. Der Herr wird aber noch Seiner armen Kirche gedenken, daß sie so treu über dem Wort hält, nicht in sklavischer Furcht, sondern in kindlicher Ehrerbietung, weil dies Wort ihre Macht und ihr Kleinod ist, um das sie Gut und Blut, Ehre und Ruhm gegeben, ihr Friede und ihr Stolz bis auf diese Stunde.
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 Obgleich Harms weiterhin warnte: „Als eine arme Magd möchte man die lutherische Kirche jetzt reich machen durch eine Kopulation. Vollziehet den Akt ja nicht über Luthers Gebein: es wird lebendig – und dann, wehe euch!“ (Th. 75), versuchte man doch durch sanfte und offene Gewalt, Einigung in dem zu vollziehen, was durch Gottes Zulassung, ja Fügung – denn so stehen wir zu den konfessionellen Besonderungen – getrennt war. Mit großem Rechte, ob auch in bitterem Wehe hat die Kirche Luthers gegen solche Vergewaltigung protestiert, welche den Geist „mit Knütteln totschlagen“ wollte. Und sie wird es noch erleben, daß dieser Kampf nicht bloß verstanden und geehrt, sondern auch geteilt werden wird. Zu der kleinen, aber reinen Herde werden sie von weither flüchten: auf jüngsten Konferenzen haben fromme Christen innerhalb der Union das „Lutherische“ vermißt, Männer wie Stöcker verkünden öffentlich, daß „Luthers Auffassung von Wort und Sakrament“ das Kampfobjekt für die Zukunft bezeichne; mit Einem Worte: wo noch ernste Stellungnahme zu den teuern Gütern des Evangeliums erstrebt wird, da sucht man Rückkehr zur lutherischen Kirche, zum wenigsten freundlich anschließende Fühlung mit ihr. Große Zeiten und große Männer hat unsere Kirche in diesem Jahrhundert erlebt: Hofacker und Thomasius, Harleß, Vilmar und v. Hofmann, Löhe und Ludwig Harms, um nur sie zu nennen, haben vergrabene Schätze wieder aufgedeckt, heilige Klänge wieder ertönen lassen,| Reinheit und Wahrheit des Wortes gekläret und gefeiert, die Lehre von Amt und Kirche wieder zu Ehren gebracht – eine hohe, fröhliche Blütezeit. – Wie ist nur der Sakramentsbegriff wieder zu Ehren gekommen!
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 Psalm 84 ist hier maßgebend: „Leib und Seele sollen sich freuen in dem lebendigen Gott.“ Fern von spiritualistischer Verflüchtigung des Sakramentsbegriffes wie von materialistischer Verdichtung desselben, fern von rein geistigen und damit abstrakten Deutungen, aber eben so fern von der grobsinnlichen Verzerrung desselben, lehret sie: Geistleiblich sind die Gaben, die ihr Herr ihr geschenkt hat. So ist auch geistleiblich die Wirkung derselben. Leib und Seele ist ihr kein gelöstes, sondern ein in Christo vereinigtes Geheimnis: Er ist ja geistleiblich und will Geistleiblichkeit schenken. Geistleiblich faßt sie auch das Wort, nicht verflüchtigt sie die Bedeutung des Worts in wunderbarer Allegorese und mystischer Deutung, noch versinnlicht sie dasselbe durch falsche Pressung und buchstäbelnde Auslegung und Einzeldeutung, sondern sie läßt das Wort wirken in seiner Totalität. Sie richtet Geistliches geistlich und Leibliches leiblich und weiß beides in voller Einigkeit. Welt und Himmel vermählt sie; darum ist sie auch eine Freundin alles dessen, was die Welt verklären kann. Darum übt sie die Kunst, schmückt ihre Gottesdienste, ziert ihre Altäre, freut sich an Bild und Gleichnis und wünscht nur, daß „Christus allenthalben gepredigt“ werde. Ihr ist die Welt nicht nur ein Jammertal, sondern doch auch ein Vorhof des Himmels, der einst, wenn alles vollendet sein wird, in die Vollendung hineingezogen werden soll als neue, vom Frieden des Himmels überschattete Erde. Ihr ist die Welt zwar eine vergehende und dem Untergang geweihte, aber mit dem Keime der Unsterblichkeit angetane, um der segnenden Gegenwart Jesu willen. Darum sieht sie jetzt schon den Himmel in der Welt, den Vorschmack ewiger Freuden und allerlei Andeutung ewiger Herrlichkeit. Sie läßt Welt und Himmel nicht getrennt sein, sondern| um Des willen, Der vom Himmel kam, die Welt zu erlösen, weiß sie Welt und Himmel geeint, Zeit und Ewigkeit verbunden. Indem sie die Zeit ausnützt in treuem Wirken, hat sie dieselbe mit den Ewigkeitskräften erfüllt, die ihr der Heiland geschenkt hat, läßt sie diese Zeit als eine Vorbereitung auf ewige herrliche Tage gelten und läßt uns als Menschen der Zeit Ewigkeitsmenschen sein. Es liegt ein unermeßlich großer Segen auf dieser Kirche, welche die Lieder tiefsten Sehnens nach der Vollendung der ewigen Welt ihr eigen nennt, und doch wieder in seliger Freiheit alles Irdische als Gnade und nur als Gnade von Gott hinnimmt. Ein Lied wie „Die güldne Sonne“ kann weder ein reformierter noch ein katholischer Christ recht singen und dichten: der Lutheraner kann es, welcher die Welt wandernd durchzieht, nicht auf ihr sich aufhaltend und sie doch möglichst segnend, ehe er von hinnen zieht. Ja, das kann nur die Kirche, welche nüchtern und doch voll Sehnens, einfach und doch voll tiefster Geheimnisse, unscheinbar und doch reich in ewiger Herrlichkeit ist. Und der Urquell all solcher Gnade und der Born solcher Herrlichkeit, die verborgene Brunnenstube, aus welcher ihr Leben so unermeßlich hervorquillt, ist das reine Gotteswort, wie es sich hörbar und sichtbar darstellt in Wort und Sakrament. – Die alten Salzburger haben ihre rauchgeschwärzte Bibel gerettet und sind des froh gewesen. Unsere Kirche hat viel erlebt, eine Unselige, über die alle Wetter gehen, vor ihr ist die Herrlichkeit aller Welt in Trümmer gesunken, alle menschliche Schöne, Macht und Reichtum ist vor ihren Augen zergangen; aber Eins ist ihr nie genommen worden, ein Sterben hat sie noch nie geschaut, das Sterben des Worts, daß ihr Herr und Heiland für sie und für alle in den Tod gegangen ist. Und in dieser Freudigkeit, daß sie einen Herrn und Heiland hat, der über allem Sterben der Seinen ewig bleibt, um dieses Ruhmes willen, sich des gekreuzigten Herrn je und je teuer erworbenes Eigentum nennen zu dürfen, hat sie alles verlassen und| ist Ihm nachgefolgt. Diese Gnade muß sie wahren, wenn sie leben will, und wir werden es unseren Vätern in Christo nie genug danken können, daß sie so auf die reine Lehre gehalten mit dem Eifer treuer Haushalter, die nicht das Recht haben, nur einen Deut von dem Gute ihres Herrn wegzugeben, noch den Zentner im Schweißtuch zu behalten. Man mag dies lutherische Starrheit oder wie sonst nennen, unsere Kirche hat die Pflicht bis auf diesen Tag gewahrt, ihr Erbe verwaltet, auf Zinsen hinausgegeben, um es einst dem Herrn, Der es ihr verliehen, reich bewuchert wieder zurückzuerstatten. Es ist ihr gar nicht erlaubt, auch wenn sie es könnte, etwas von dem Gute ihres Herrn abzudingen oder hinzugeben. Ungeschmälert hat Er es ihr geschenkt, und ausgenützt soll sie es wieder zurückgeben.
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 Damit aber ist zugleich ein Ausblick auf die Zukunft unserer Kirche getan. Je ernster in ihr selbst die Gefahren werden, je größer die Not von falschen Freunden und offenen Feinden, desto mehr muß sie an dem Worte halten, daß sie nicht vergehe in ihrem Elende! Ihre Stützen schwinden – es ist gut so –, ihre Katheder werden entweiht, ihre Kanzeln verunehrt werden, so muß sie sinken und fahren lassen, was nicht bleiben will, wenn nur Er ihr bleibt. Es werden die nächsten Zeiten Zeiten tiefsten Niederganges für unsere Kirche werden. Eine Sichtungszeit; ob es die letzte ist, vermögen wir nicht zu sagen, diese Sichtungszeit wird hereingreifen in das teuerste Kleinod, in die Lehre, und hat bereits hereingegriffen. Man hat unserer Kirche schon viel genommen, der Staat hat ihr den Arm allmählich entzogen, weil sie mit ihm nicht überall paktieren konnte. Weltliche Gunst ist ihr sehr spärlich bemessen, und in dem Glanze fürstlicher Sonnen ist sie nicht groß geworden. Ihre Gelehrten und Gewaltigen haben oft der Knechtsgestalt sich geschämt und sind von ihr gewichen dahin, wo es größere Lorbeeren zu holen gibt. Und nun soll es auch ans Letzte gehen, es soll ihr die Reinheit des Worts auch noch genommen| werden. Es ist tiefes Weh, daß eine stiftungsgemäß lutherische Hochschule (Göttingen) einen ursprünglich treuen Lutheraner (Albrecht Ritschl) entsandt hat, der mit seiner Kunst das Wort aushöhlt, umdeutet, in dasselbe einlegt, es herausreißt aus seinem Zusammenhang, den ganzen unzerteilten Christus ertötet, die großartige Konkordanz der hl. Schrift in eine wirre und schrille Disharmonie auflösen will. Man will das Wort, man will den großartigsten Bau Seiner Gnade, den natürlich nur das geistliche Auge erschaut, während der natürliche Mensch sich daran ärgert, zerstören, indem man das ihn schmückende Kreuz herunterreißt. Weil wir alle Dinge nur nach unserer Empfindung von ihnen beurteilen können, sagt Ritschl, können wir weder von Christi Persönlichkeit noch den Tatsachen Seines Heiles noch Seiner jetzigen Beziehung zur „gläubigen“ Gemeinde etwas Bestimmtes aussagen. So muß die Lehre von der Vorweltlichkeit Jesu, Seinem sühnenden Opfer, Seinem Walten in der Kirche, Seinem Liebesverkehr mit dem einzelnen Gläubigen dahinfallen. Ein System ohne die Schrift und über der Schrift! Keine Seinsurteile, sondern Werturteile je nach Umstand und Bedarf der Gemeinde. „Gott ist unerreichbar fern, ohne Zorn und Mitleid, beherrscht von einem ewig starren (!) Liebeswillen, dessen Offenbarer Christus, urbildlich als Mensch treu bis in den Tod.“ So lehrt die Unfehlbarkeit des „Ich.“ Während der Feind vor den Toren steht, wird mit tiefem Ernst und hoher Gründlichkeit die hl. Schrift in ein Trümmerfeld umgewandelt, auf dem nur noch einzelne Säulen von entschwundener Pracht zeugen, ohne daß jemand zu sagen vermöchte, ob nicht auch diese noch über Nacht bersten. – Die Geschichte der Kirche wird zum Tummelplatz aller Philosophen und Kritiker umgedichtet, und griechische Weisheit und christlicher Glaube sollen nun das Geheimnis vom Gekreuzigten „fixiert“ haben. Daher jenes lähmende Mißtrauen gegen die Kirche, jene souveräne Mißachtung ihrer Gebote,| letztlich jene ungeklärte Stellung zu Jesu Christo. – Das würde unsere Kirche nicht überleben; schenke ihr der Herr, daß sie in allem Weh Seinem Wort die Treue halte! Die Kirche ist eben kein Begriff, heute so, morgen anders zu deuten. Sie sei wie sie ist, oder sei überhaupt, nicht! Nicht erträumen wir einen Staat, wie einst die alten Heiden, sondern die Kirche ist eine Versammlung Besitzender. Sie ist nicht eine Schule, noch ein Sammelort von allen möglichen Träumern, sondern eine festgeschlossene, Mann für Mann aneinander gereihte Kongregation, welche weiß, was sie hat. Es ist unsere Kirche die Kirche der Bekenner. So oft noch Gewissen erschrecken unter dem Weh der Sünde und Menschenherzen erbeben unter der Angst ihrer Missetat, so oft wird man diese Kirche preisen, die am reinsten Gottes Wort hat und welche am allervollkommensten Jesum Christum und Sein gnädiges Verdienst festhält. Und darum sollen auch Sie das Ihre tun, daß das Wort „lauter und rein bleibe und seine Gewalt tue!“ Ihnen liegt es ob, nicht irgendwie viel zu reflektieren über das gehörte Wort, denn hier ist das Urteil sehr trügerisch, auch bei Dienerinnen Jesu Christi, sondern Ihre Aufgabe ist es, zu beten, daß der Herr aussende Scharen von solchen Persönlichkeiten, welche die Sünde und den Trost des Evangeliums erfahren haben, wie ihr größter Lehrer Luther. Es ist Ihre Pflicht, für alle Pfarrherren und Prediger zu beten, für alle Lehrer an hohen und niederen Schulen, daß ihnen der Herr die persönliche Erfahrung und dann aus dieser Erfahrung heraus die Freudigkeit des Zeugnisses schenken wolle; denn auf Sie selber wird der Segen zurückfallen. Ja, auf das Amt der Barmherzigkeit, das ohne das Amt des Wortes einfach nicht gedacht werden kann, werden alle die Ströme befruchtend, belebend und reinigend zurückfließen, welche unser Vater Luther uns eröffnet hat vom stiftungsmäßigen Brauch der Sakramente, wie von dem rechten Teilen Seines Worts. Das zu tun,| verleihe Ihnen der Herr alltäglich, besonders in dieser Stunde, wo Sie alle Worte treffen möchten in Ihre Herzen, auf daß Sie Ihr Gebet recht vor Ihn bringen mögen, Er wolle nicht mit Seiner Kirche handeln nach Menschenmeinen, sondern nach Jesu Christi gnadenvoller Verheißung. Amen.


Gebet: O Herr Jesu Christe, König aller Barmherzigkeit, Hirte aller der Deinen, Der Du Dir in der Kirche den geheimnisvollen Leib Deiner Gnade bereitet und sie mit Deinem Geist und Deinen Geistesgaben erfüllt hast, wir bitten Dich von Herzen, verleihe unserer Kirche und all den Ihren, daß wir ohne allen Wandel Dein ewig seligmachendes Wort halten, ehren, lieben und lernen, aus demselben uns trösten in der Mühsal des Lebens, durch dasselbe uns stärken in allen Niederlagen unseres Dienstes und Wirkens und in Kraft desselben einst im Frieden scheiden, bis wir Dich, Du ewiges Wort, schauen dürfen von Angesicht zu Angesicht. Amen.





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