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Der Beruf der evangelisch-lutherischen Kirche zum Amt der Diakonie/3. Stunde

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Der Beruf der evangelisch-lutherischen Kirche zum Amt der Diakonie
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3. Stunde.
Dienstag, den 2. Mai.

Gebet: Laß, o barmherziger Herr Jesu Christe, alle, welche Dir dienen wollen, Dir allezeit so nachfolgen, daß sie in Bereitschaft und Wachsamkeit mögen erfunden werden und Deinen Ruf nicht als den Ruf des Schreckens, sondern der Erlösung und ewigen Gnade vernehmen, auf daß in ihrem Dienen, Leben und Sterben Dein Name möge gepriesen werden in Ewigkeit. Amen.


 Johann v. Gott und Vincenz von Paulo bezeichnen die Fortschritte der römischen Kirche in dem Dienst der Barmherzigkeit. Der eine ist der Gründer der barmherzigen Brüder, der andere der Gründer der barmherzigen Schwestern, um 100 Jahre von einander entfernt. Letzterer insonderheit hat die Barmherzigkeit verfaßt und die Barmherzigkeitsübung nicht mehr der einzelnen barmherzigen Seele anvertraut, sondern dieselbe in gesetzmäßiger, großartiger Weise geordnet und organisiert. Es ist seitdem die merkwürdige Verbindung zwischen Klosterleben und Weltleben in den Barmherzigkeitsübungen der katholischen Kirche eingetreten. Denn nicht will Vincenz, daß die einzelne Schwester sich der klösterlichen Haft einordne, sondern er will, daß sie Nonne sei ohne Kloster, daß sie sich hinter den Mauern des Klosters geborgen wisse, ohne doch hinter denselben zu wohnen. Diese großartige Verbindung von mönchischer Regel und Weltleben, diese Uebung der Barmherzigkeit nach bestimmter Regel, dies Herrschen der Barmherzigkeit und Gebieten der Liebe ist im letzten Grunde das Charisma| der katholischen Kirche. Es ist seitdem noch weit mehr geschehen auf diesem Gebiet, und es mag uns evangelische Christen ja schwer und ängstlich berühren, daß der Kampf zwischen den Kirchen auch auf dies Gebiet übertragen ist, wo nur die Liebe herrschen sollte, und daß die scheinbar siegreich vordringende Macht Roms auch die Barmherzigkeitsübungen in den Dienst gegen uns gestellt hat. Was auf unserer Seite geschehen ist, um Barmherzigkeit zu üben, ist der Ausdehnung, der Bedeutung, der Hereinbeziehung ganzer Gebiete nach von der andern Kirche weit überholt worden. Sie hat weit größere Truppenmengen (oder freiere Truppen) zur Verfügung. Ihre Truppen haben sich dem Willen der Kirche ganz und voll hingegeben. Wie die katholische Kirche keine freien Truppen duldet, keine freie Entwicklung liebt, sondern in der wohlberechtigten Angst vor der Freiheit Mündiggewordener lieber alle ihre Glieder bis zum Tode unmündig läßt, so hat sie auch die freie Barmherzigkeitsübung unterdrückt und aller Barmherzigkeit das gesetzlich vereinsmäßige Wesen aufgeprägt.
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 Bekanntlich berühren sich Extreme am allerengsten, weil sie eben beim Ueberschreiten der Grenze nach rechts und links in der Mitte ihren Berührungspunkt gefunden haben. Und so läßt sich von der katholischen Kirche sehr leicht die Brücke schlagen zur reformierten. Ausschließende Gegensätze, wie es scheint, und doch Berührungspunkte in manchem! Wenn wir von der reformierten Kirche sprechen, gedenken wir natürlich nicht mehr der eigentlich zwinglianischen Richtung, welche von der anderen im Laufe der Zeit wohl ganz aufgesogen ist, sondern mit der reformierten Kirche bezeichnen wir diejenige Bewegung, welcher der große Genfer Kirchenmann und Theologe das gewaltige Gepräge seines genialen Geistes gegeben. Der Mann, der wohl zu den bedeutendsten und größten Männern aller Jahrhunderte der Christenheit gehört, welcher mit der Schärfe des Denkens eines Paulus den Feuereifer eines Johannes verbunden hat, welcher der Werktätigkeit des Jakobus eben so gerecht| werden mochte, als der stillen und ruhigen Beschaulichkeit, hat in der reformierten Kirche das Charisma des Lebens gegeben. In der reformierten Kirche liegt die Kraft des Lebens, in der katholischen die Kraft des Herrschens. Scheinbar nicht ganz begreiflich hat Calvin durch den Ernst der Vorherbestimmung und durch die Gewalt der Buße den alttestamentlichen Gesetzesernst und, dadurch mit Rom sich berührend, die alttestamentliche Gesetzesstrenge der Bewegung aufgestempelt. Es ist der ganze Ernst der Weltverleugnung, die nicht, wie in Rom, einzelne Kreise beansprucht, sondern die gesamte evangelische Menschheit in den Dienst zu ziehen sucht. Es ist nicht so, daß nur solche, die an der Welt keinen Gefallen mehr haben, dies ihr Mißfallen in klösterlicher Einsamkeit ausleben und austrauern sollen, sondern die gesamte Menschheit soll nach Calvin in tätiger Weltverleugnung ihr Lebensideal haben.
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 Aus seinen Lehren und aus seinem Leben sind die strengen Puritaner Schottlands hervorgegangen, welche in dem gewaltigen Ernst, in dem furchtbaren Trotz gegen die Sünde unerreichbar für allen Zeiten sind. Nichts, was dem Gemüte gefällt, nichts, was den natürlichen Menschen erfreut, nichts, was den zarteren Regungen des Menschenherzens irgendwie Rechnung trägt, sondern die Welt verleugnen, durch die Welt gehen finsteren Angesichts, das war jene furchtbare Macht eines mit der Welt fertig gewordenen Gemüts, eines aus der neutestamentlichen Umgebung herausgetretenen, ins Alttestamentliche heimgekehrten Charakters. Und diese asketisch weltverleugnende Art hat sich der reformierten Kirche aufgeprägt bis auf diesen Tag. In ihrem Leben liegt ihre Stärke, ihr alles in der Nachfolge Jesu Christi. Es ist ein gewaltiges Wort: „Lebe so, als wenn es kein Evangelium gäbe, und stirb so, als wenn es kein Gesetz gäbe“, und es sind Töne, die an den Menschen mächtig herandringen, daß er lebt in dem vollsten freudigsten Ernst, in einer das ganze natürliche Leben tötenden Hingabe an den Herrn. Es geht durch dies| Leben kein Suchen des Lohns, wohl aber Rücksicht auf den verheißenen Lohn. Hier nun sind die Berührungspunkte mit der katholischen Kirche sehr nahe. Die reformierte Kirche ist mit uns eins, daß wir nur durch Gnade selig werden. Es ist hier nicht so, wie Vincenz von Paulo barmherzigen Schwestern predigt, daß alle Königsdiademe müßten weit hintan bleiben hinter dem Strahlenkranz, den der himmlische Bräutigam ihren Schläfen aufdrücken werde. „Komm, Braut, laß dich krönen!“ findet sich häufig auf Grabsteinen barmherziger Schwestern! Es ist nicht an dem, daß mit leuchtenden und lachenden Farben der zu verdienende Lohn der Seligkeit vorgestellt wird; aber der Hinblick auf den Kranz, der aus Gnaden und großem Erbarmen der Seele wartet, beschwingt diese Seele, daß sie über die Erde sich erhebt und freudig alles verläßt, um heim zu kommen. Es ist nicht die Rücksicht auf zu erwerbenden Lohn, welche Calvin gebietet, aber die Rücksicht auf den verheißenen Lohn beherrscht das ganze Leben. Nicht erst zu Erwerbendes steht der einzelnen Seele vor, sondern bereits durch Christi Verdienst Erworbenes. Aber dies Erworbene steht so leuchtend ernst und verheißungsvoll da, daß der reformierte Christ im Schrecken der Vorherbestimmung, in der Angst seiner ewigen Erwählung wieder verlustig zu werden, eilend hinwegschreitet über diese Erde, die ihm nur Versuchung bieten kann. Es geht etwas Gewaltiges, aber auch Gewaltsames durch die reformierte Kirche, dies Hineilen zu dem verheißenen Kleinod, dies Unterschätzen all der natürlichen Gnaden und Gaben, die doch Gott auch geschenkt hat. Es liegt darin ein judaisierender, ein streng gesetzlicher Zug. Daher kommt es auch, daß sich die reformierte Kirche je mehr und mehr zu dem alten Testamente hingezogen fühlte, gleich als ob sie fürchtete, daß die Predigt des Evangeliums allein die Christen untüchtig mache, die Welt mit ihren Lüsten zu besiegen. Dieser Gesetzesernst, den Calvin mit furchtbarer Strenge in Genf gepredigt hat, sodaß am Sonntag die ganze| Stadt wie ausgestorben erschien und wohl noch erscheint, hat das Leben der reformierten Kirche beherrscht und beherrscht es noch. Dadurch ist es ihr auch möglich geworden, zeitweilig weit früher als die unsere sich dem Dienst der Barmherzigkeit hinzugeben. Schon im 16. Jahrhundert gehen von den Niederlanden aus Bewegungen, das Amt der Barmherzigkeit zu treiben. Die sogenannten Töchter von Sedan sollen geradezu maßgebende Vorbilder für Vincenz gewesen sein, so daß die Priorität der Ehre, die Diakonie neuerdings geschaffen zu haben, der evangelischen Kirche zukäme und nicht der katholischen. Von Frankreich aus geht die Bewegung den Rhein hinauf in die Schweiz. Dort regen sich Bewegungen, welche in vielen Armenhäusern, Waisenhäusern, Rettungshäusern und Findeln den ganzen weltverleugnenden Ernst zeigen und den ganzen Ernst der in Dank sich fassenden Taten ausdrücken. Dadurch ist die reformierte Kirche zeitlich uns überlegen, dadurch ist sie uns auch der Entwicklung nach weit überlegen, und weil wir sie als unsere Schwesterkirche bezeichnen müssen, darum freuen wir uns von Herzen ihrer Entwicklung. Wie wir der katholischen Kirche, wenn nur Christus gepredigt wird, ihre Entwicklung gönnen, so mit weit freudigerem Herzen der Kirche, welche uns nicht die Union aufgedrängt hat, sondern der sie von uns aufgedrängt wurde. Dadurch, daß der einzelne reformierte Christ so geführt und gelehrt wird, alles, was das Leben verschönt und verklärt und auch das Natürliche zu einem Abglanz ewiger Herrlichkeit macht, weit hintan zu setzen, kann er seine Interessen konzentrieren. Dadurch, daß die reformierte Kirche von vielem schon durch die Lehre dispensiert ist, was unsere Kirche nie missen heißt noch missen läßt, kann sie sich auf das hingebende Leben ganz und gar zusammenfassen, auf Eines beziehen. Kultus und was dem Kultus dient, verschiedene Art, durch welche das Wort gepredigt werden kann, Musik, Kunst, Werke der Hand, das alles ist der reformierten Diakonisse fremd, sie hat Wichtigeres, Ernstlicheres zu tun. Der| ganze Begriff der Kirche in der dogmatischen Klarheit, wie er uns eignet, ist dort fremd. Es ist weitmehr die Uebersetzung des heidnischen, altgriechischen und später augustinischen Staats. Die reformierte Kirche will in ihrer Weltverleugnung mit der Welt möglichst wenig zu tun haben und überläßt alles Auseinandersetzen mit der Welt andern. Dadurch hat sie Großes geleistet.

 Dies Dringen auf Leben allein hat dem ganzen Barmherzigkeitswerk jene einfache unscheinbare Art aufgeprägt, die sich füglich auch in der Tracht der Schwestern jener Häuser zeigt, in der souveränen Nichtachtung des Aesthetischen, Schönen und Wohlgefälligen. Es ist in der Tat schon der äußere Vergleich in der Tracht, wie sie Löhe den Schwestern gegeben hat, und der Kleidung, wie sie der selige Fliedner seinen Schwestern weniger vorschrieb als anempfahl, eine gewaltige Predigt. Löhe hält nichts für unbedeutend, auch im Aeußeren nicht; die reformierte Kirche läßt hier Freiheit. Und wenn sie eine gewisse Uniformität ihrer Schwestern liebt, so tut sie es bloß der Ordnung wegen, ohne irgend welcher symbolischen oder kirchlichen Rücksicht zu huldigen. In dem einfachen, nüchternen, wahrhaft dürftigen Wesen also der reformierten Diakonissenhäuser liegt ihre Stärke. Rom herrscht im Herrschen, Calvin im Dienen: so ist reformierte Sittlichkeit – ins evangelische Leben übersetztes Leben der katholischen Kirche. Es ist wirklich an dem, daß die reformierte Kirche das Lebensideal des katholischen Christen von seinen Auswüchsen gereinigt, sich angeeignet und so ins Evangelische übersetzt hat.

 1. Hat nun unsere Kirche geschichtlich und dogmatisch besehen ein Charisma für Diakonie?

 Unsere Kirche hat ja ihr Charisma unstreitig auf dem Gebiet der Lehre zunächst. Die katholische Kirche war im 16. Jahrhundert nach beiden Seiten degeneriert, nach der Seite der Lehre wie nach der des Lebens. In letzterem Betrachte hat der mit der katholischen Kirche in ihrer schrecklichen Abart weit mehr bekannte Calvin reformiert, erstere hat mit der ihm eigenen deutschen| Tiefe Luther ins Auge gefaßt und in der Kraft Christi gewandelt. Die Gründlichkeit des deutschen Theologen, noch mehr der Kampf des Christenherzens, welches nicht allein in Luther schlug, wohl aber in Luther zusammengefaßt sich darstellte, die Kämpfe der gesamten Christenheit, haben die Reformation in deutschen Landen herbeigeführt. Nicht bloß die Gemütstiefe Luthers, nicht die durch scholastische Kämpfe hindurchgegangene und von ihnen unbefriedigt belassene Entwicklung des Professors, nicht einmal die bange Frage des einsamen Mönches haben Gottes Werk in deutschen Landen herbeigeführt, sondern die erste und einzige Frage der suchenden und ringenden Christenheit: „Wie bekomme ich meinen Heiland wieder?“ ist in Luther widergeklungen. Er hat nur dieser Frage der ganzen Welt, der geängsteten Menschenseele beredten Ausdruck verliehen, als er in der Klosterzelle sich mühte um den gnädigen Gott. Denn das ist Gottes Ehrenrecht, daß Er Jahrhunderte und ihr Verlangen in einem Manne ausrasten lässet. „Nicht Gott zürnt mit Dir, sondern du zürnst mit Gott.“ Diese Worte des Generalvikars Staupitz und die Frage des alten Klosterbruders: „Doktor, seid Ihr getauft?“ haben Luther zurechtgewiesen. Die Angst war ja nicht aus seinem Gemüt erwachsen, als ob sein Gemüt wäre durch dämonische oder nervöse Einflüsse besonders erschüttert worden, sondern es ist die Frage der ganzen Christenheit, die er „intuitiv gleichsam aufgesogen hatte“ (Döllinger) und deren Lösung: „Glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst Du selig.“ Damit war die ganze Welt wieder von neuem auf ihren Heiland hingeführt. Luther hat so auch der katholischen Kirche Großes genützt und ihr Dienste erwiesen, nicht bloß des Mordbrenners, dem man es nicht dankt, daß man zu neuen Scheunen kommt, weil er die alte angesteckt hat, sondern Dienste, welche an jenem Tag von der katholischen Kirche werden anerkannt werden. Luthers Werk war zunächst rechte Lehre. Lehre war es, die ihm im Beichtstuhle entgegentrat, als ihm das irregeleitete Volk die| Ablaßzettel Tetzels vorhielt. Die Lehre von dem Verdienst der überzähligen Werke war es, die ihn hineinwarf in das Forschen, ob er denn absolvieren könne, die mit Verdienstlichkeit fremder Werke sich decken wollten vor dem Zorn eines heiligen und gewaltigen Herrn. Und in der Kraft eines vom Wort erfaßten, vom Wort getöteten, von diesem hinwiederum erweckten Lebensmutes: „Sei getrost, Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ hat er gewirkt. Diese Lehre von dem einigen Gottessohn, Der für die Sünde ins bittere Leid gegangen, Der für Schreck und Straffolge der Sünde am Kreuz genug getan, von diesem unserem Herrn Jesu Christo, der Seinen Ruhm, uns erlöset zu haben, mit keinem teilen noch denselben schmälern und verringern lassen will, war es, die Luther als das Palladium unserer Kirche rettete, reinigte und dem deutschen Volk zur Anbetung und Nachachtung als einigen Trost vorstellte. So ist unsere Kirche die Kirche des Worts und der Lehre geworden, welche das Wort in die Faust nimmt und der Wahrheit eine Stätte willig gibt, so doch „die Wahrheit, die aus Gott ist, auf Erden keine rechte Herberge findet.“ Darin liegt ihr Charisma. Luther, diese durchaus konservative Natur, hat uns gelehrt das Wort in kindlichem Gehorsam, er hat uns getröstet, daß das Wort alle Feinde müssen stehen lassen, daß dieses Wort und der Geist, der in dem Worte lebt, auf dem Plan sein werden für die ganze Kirche auf Erden. Es wird die niederliegende Kirche aufrichten, die leidende bereichern, die elende, verlassene, einsame trösten und besuchen. Dies Wort wird der streitenden Kirche Macht des Sieges, der scheidenden Gnade des Triumphierens verleihen. Und so ist unsere Kirche die Kirche der reinen Lehre geworden, die Kirche, welche vor allem darauf dringt, daß das arme Menschenherz gewiß werde, und in ihm durch dasselbe erst wieder die Kirche, welche verlangt, daß unser ganzes Leben in dem größten aller Worte ruhe: „Mein Kind, deine Sünden sind dir vergeben!“ Man kann also die Reformation unserer Kirche| nie ablösen von den persönlichen Erfahrungen ihres Vaters in Christo, weil seine Erfahrungen die betonten Gesamterfahrungen sind, und in diesem Vater mit all seinen Fehlern und Gebrechen, die ihm auch übelwollende in Gewalttätigkeit andichten, mit seiner Derbheit, mit seiner furchtbaren Zornesglut und seinem verzehrenden Feuereifer erblickt die Kirche dankbar den begnadigten Sünder, den erlösten Knecht der Sünde. Darum lauscht sie den Worten des Mannes, der es aus eigenem Sterbensweh erfahren, was es mit der Freude in Christo sei, der in seinem Leben voll Sünde, in seinem Lieben voll Gnade gewesen ist. An dieser Lehre aber, daß Christus allein uns hilft, daß Er allein rettet von allem Weh der Sünde und des Todes, hat unsere Kirche dogmatisch festgehalten auch in ihrem tiefsten Verfall.
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 Es ist ja in neuerer Zeit geradezu zum guten Tone geworden, von der „toten Orthodoxie“ zu reden, durch die zu viel Gewicht auf Lehre, zu wenig aufs Leben gelegt worden sei, als ob je Lehre und Leben wirklich geschieden werden könnten! Aber man soll ja wohl bedenken, daß in dem Jahrhundert der berüchtigten Orthodoxie Paul Gerhardt die Harfe so mächtig gerührt hat zum Preise des guten Hirten, daß er in vollen Tönen den Hymnus des Lammes rauschen ließ, den niemand verkündigen darf, als der mit dem Blute des Lammes Erkaufte. Man soll wohl bedenken, dieses Jahrhundert mit seiner Steifheit und scholastischen vereinzelnden Begriffsbildung war doch ein Zeitalter, welches die Lehre von Jesu Christo und Seiner Gnade festgehalten hat. Die alten Dogmatiker haben Ehrfurcht vor dem Worte gehabt, und ob sie auch unfrei zum Worte standen – besser die unfreie Befangenheit des treuen Knechtes, als die Freizügigkeit und pietätlose Willkür des undankbaren, wenn gleich herangewachsenen Sohnes. Und der dreißigjährige Krieg mit den Strömen des Blutes und den Flammen rauchender Städte ist doch nicht im Stande gewesen, die Liebe auszulöschen, noch zu ersäufen [Hohelied 8]. Hätte unsere mißachtete, in den Schreckensjahren| so verheerte und verunehrte Kirche nicht zum Worte gestanden, so wäre sie als Sekte vergangen, wie es jener, geschichtlichem, nicht innerlichem Anstoße erwachsenen, Bewegung des Altkatholizismus jetzt droht. Denn im Negieren ist noch keine Bewegung erstarkt oder geblieben: weil aber unsere Kirche das Wort behielt, ward sie bewahrt. Die die Ordnung hielt, ward von der Ordnung gehalten.

 Der Herr verleihe Ihnen allen, daß Sie im eigenen Leben erfahren, daß der Buchstabe tötet, aber der Geist, der den Buchstaben gegeben, geheiligt, erfüllt hat, lebendig macht; Er verhüte, daß die reine Lehre irgendwie gering geachtet werde um des Lebens willen, sondern lehre, daß man zuvor den ersten Schritt getan haben muß, sich die feste Stellung in der Lehre zu erwerben, um dann den zweiten Schritt zu tun im Leben.


Gebet: Wir danken Dir, Herr Jesu Christe, für alle Deine Treue, mit der Du Deinen Knecht Luther in allen Kämpfen seines Lebens so treulich gesegnet und so herrlich gekrönt hast. Du hast ihn nach Deinem Rat in den Schreck der Sünde geführt, um ihm den ganzen Trost Deiner Gnade reichlich zu verleihen. Erhalte uns ewig im Dank für solche Treue, die Du in dem einzelnen uns allen vermeint hast. Erhalte uns ewig in dem Preis der Gnade, welche die Sünder fröhlich und getrost, die Armen reich, die Verlorenen lebendig macht. Jesu, Du Sohn Gottes, erhalte uns bei dem Einen, daß wir Deinen Namen fürchten. Amen.





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