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Das dicke Wasser

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Textdaten
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Autor: Gustav Meyrink
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Titel: Das dicke Wasser
Untertitel:
aus: Orchideen, S. 20–26
Herausgeber:
Auflage: 8.–10. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: o. J. [ca. 1905]
Verlag: Albert Langen
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Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: ngiyaw-eBooks, Commons
Kurzbeschreibung:
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[20]
Das dicke Wasser

Im Ruderklub „Clia“ herrschte brausender Jubel, – Rudi, genannt der Sulzfisch, – der zweite „Bug“, – hatte sich überreden lassen und sein Mitwirken zugesagt. – Nun war der „Achter“ komplett, – Gott sei Dank. –

Und Pepi Staudacher, der berühmte Steuermann, hielt eine schwungvolle Rede über das Geheimnis des englischen Schlages und toastierte auf den blauen Donaustrand und den alten Stefansturm (duliö, duliö). Dann schritt er feierlich von einem Ruderer zum andern, jedem das Trainingsehrenwort – vorerst das kleine – abzunehmen.

Was da alles verboten wurde, es war zum Staunen! – Staudacher, für den als Steuermann dies keinerlei Geltung hatte, wußte es auswendig: Erstens nicht rauchen, zweitens nicht trinken, drittens keinen Kaffee, viertens keinen Pfeffer, fünftens kein Salz, sechstens – –, siebentens – – –, achtens – – –, und vor allem keine Liebe, – hören Sie, – keine Liebe! – weder praktische noch theoretische – – – –

[21] Die anwesenden Klubjungfrauen sanken um einen halben Kopf zusammen, weil sie die Beine ausstrecken mußten, um ihren Freundinnen vis-à-vis bedeutungsvolle Fußtritte unter dem Tisch zu versetzen.

Der schöne Rudi schwellte die Heldenbrust und stieß drei schwere Seufzer aus, – die anderen schrien wild nach Bier, der kommenden schrecklichen Tage gedenkend. –

„Eine Stunde noch, meine Herren, heute ausnahmsweise, dann ins Bett, und von morgen an schläft die Mannschaft im Bootshause.“

„Mhm“, nickte bestätigend der Schlagmann, trank aus und ging. – „Ja, ja, der nimmt’s ernst,“ sagten alle bewundernd. –

Spät in der Nacht traf ihn die heimkehrende Mannschaft zwar Arm in Arm mit einer auffallend gekleideten Dame in der Bretzelgasse, aber es konnte ja gerade so gut seine Schwester sein. – Wer kann denn in der Dunkelheit eine anständige Dame von einer „Infektioneuse“ unterscheiden!

*     *     *

Der „Achter“ kam dahergesaust, – die Rollsitze schnarchten, die schweren Ruderschläge dröhnten über das grüne, klare Wasser. –

„Jetzt kommt der Endspurt, da schauen S’, da schauen S’!“

„Eins, zwei, drei, vier, fünf – – – – – – aha – ein vierundvierziger!“

Staudachers Kommandogeheul ertönte: „Achtung, stop. Achter, Sechser zum Streichen, Einser, Dreier fort. – Ha–alt!“

Die Mannschaft stieg aus, keuchend, schweißbedeckt. –

„Da schauen S’ den Nummer drei, die Pratzen, wie junge Reisetaschen, was? Überhaupt die Steuerbordseite is gut beisamm’. – Der beste Mann im Boot [22] ist halt doch Nummer sieben – Ja, ja, unser Siebener. Gelt, Wastl, ha, ha.“ – –

„No, und die Haxen von Nummer acht san gar nix, was?“

„Wissen S’, wievüll mür heut g’fahrn san, Herr von Borgenheld?“ wandte sich Sebastian Kurzweil, der zweite Schlagmann an den Vizeobmann, der verständnislos dem Herausheben des vierzehn Meter langen, einem Haifisch gleichenden Achtriemers zusah.

„Dreimal,“ riet der Vizeobmann.

Wie vüll, sag’ ich,“ brüllte Kurzweil.

„Fünfmal,“ stotterte erschreckt Herr von Borgenheld.

„Himmelsakra!“ – der Ruderer schüttelte den Arm. „Er meint, – ‚wie lang‘,“ warf ein Junior ein, der schüchtern dabei stand und einen schmutzigen Fetzen in der Hand hielt.

„Ach so – Fünf Kilometer!“ – – – –

Die Mannschaft machte Miene, sich auf Herrn von Borgenheld zu stürzen, – sie hätten ihn zerrissen, da rief sie eine Serie rätselhafter Kommandos wieder an das Boot: „Mann an Rigger, – aufff – auf mich (prschsch – da lief das Wasser aus dem umgewendeten Boot) – schwen–ken, – fort!“ –

Und acht – rot-weiß und spärlich bekleidete Gestalten, – ohne Strümpfe und mit phantastischem Schuhwerk hantierten an dem Boot herum und schleppten es mit tiefem Ernst in den Schuppen. –

„No, raten Sie jetzt,“ und der Steuermann schwenkte eine silberne Taschenuhr an einem roten Strick hin und her. „Also wie viel?“ – Der Vizeobmann mochte aber nicht mehr. Staudacher zündete sich eine Virginia an, denn ein echter Steuermann muß gewissenhaft alles tun, was gesundheitsschädlich ist, um leichter zu werden:

„Also raten Sie, Herr Dr. Hecht!“

„Füglich – äh – füglich – soll man die ‚Zeit‘, [23] geheim halten,“ meinte dieser fachgewandt und zwinkerte nervös mit den Augenlidern.

„No, dann schauen Sie selbst,“ sagte Staudacher. Alle beugten sich vor.

„5 Minuten 32 Sekunden,“ kreischte der Junior und schwenkte den schmutzigen Fetzen über dem Kopf.

„Jawohl 5:32! – Wissen Sie, was das heißt, meine Herren, 5:32 für 2000 Meter, – stehendes Wasser, ich bitte!“

„Fünfi zwoaradreiß’g, – fünfi zwoaradreiß’g,“ brüllte Kurzweil, der jetzt splitternackt auf der Terrasse des Bootshauses stand, – wie ein Stier herunter.

Eine wilde Begeisterung ergriff alle Mitglieder.

5:32!! –

Sogar der Obmann Schön machte einen dicken Hals und meinte, daß man selbst seinerzeit in Zürich, im Seeklub, keine bessere Zeit gefahren sei.

„Jawohl, 5:32! und kennen Sie auch den Hamburger Rekord im Training?“ fuhr Staudacher fort: – – „6 Minuten 2 Sekunden!! bei Windstille, – – mir hat es ein Freund telegraphiert. – – 6:2! – – –! und wissen Sie auch, was 30 Sekunden Differenz sind? 11 Längen, – klare Längen, – jawohl!“

„Sie, Ihre Zeit kann absolut nicht stimm’,“ wandte sich ein Berliner Ruderer, der als Gast zugegen war, an Staudacher, „sehen Se mal, der englische Professionalrekord is 5:55, da wären Sie ja um 23 Sekunden besser. Nu, hören Se mal! – überhaupt die Wiener ‚Zeiten‘ sind verfluchcht verdächtig, – vielleicht jehen Ihre Stopuhren falsch!“

„Schauen S’, daß S’ weiter kommen, Sö – fünfifünfafufz’g Sö, – setzen S’ ös in d’Lotterie dö fünfifünfafufz’g, haben S’ überhaupt an Idee – bereits – – was mür Weana für a Kraft hab’n,“ höhnte Kurzweil von der Terrasse, – dann hob er die Arme und brüllte, wie weiland Ares im trojanischen Krieg, daß [24] es durch die Erlenwäldchen an den Ufern des Donaukanals gellte.

„Hören Se doch nu endlich mit dem Jebrülle auf – Sie da oben, – oder wollen Sie vielleicht ’n dreibänd’jes Buch über planloses Jeschrei herausjeben!“ rief der Berliner ärgerlich.

„Pst, pst – nur keinen Streit,“ besänftigte Staudacher, – „übrigens, meine Herren, – ich nehme heute schon die Glückwünsche zu unserem künftigen großen Siege in Hamburg entgegen. – Meine Herren, auf diesen Sieg –, meine Herren – hipp – hipp – –.“

Die harmonischen Töne einer Drehorgel schnitten ihm die Worte ab – einen Augenblick Totenstille, dann rhythmisches Trampeln im Ankleideraum der Mannschaft, und alle stimmten begeistert mit ein in das Lied:

„Dös is wos für ’n Weana,
Für a wean’risches Bluat,
Wos a wean’rischer Walzer
An ’m Weana all’s tuat“

*     *     *

Der Ausschluß des Klubs war auf dem Bahnhof versammelt und wartete auf die aus Hamburg heimkehrende Mannschaft in größter Erregung, denn in den Morgenblättern war ein schreckliches Telegramm abgedruckt gewesen:

„Hamburg – Achterrennen um den Staatspreis.
Resultate: Favorit – Hammonia – Hamburg – erste: 6 Min. 2 Sek. Ruderklub „Clia“ – Wien – letzte:
6 Min. 32 Sek.
Interessantes Rennen zwischen Favorit – Hammonia – Hamburg und Berliner Ruderklub. Wien unter acht Booten achtes, kam nie ernstlich in Betracht. Die Arbeit der Österreicher saft- und kraftlos und auffallend marionettenhaft.“

„Sehen Sie wohl, was habe ich jesagt,“ höhnte der [25] Berliner, der schon eine Stunde auf dem Perron wartete, „jerade ne janze Minute schlechtere Zeit als anjeblich hier im Training.“

„Ja, es ist schrecklich fatal,“ hüstelte der Obmann, „und wir haben schon gestern Einladungen zum Siegesfest verschickt und das Bootshaus beflaggt und mit Reisig geschmückt.“

„Es muß rein etwas passiert sein,“ meinte zögernd ein alter Herr, – dann schrien plötzlich alle durcheinander:

„Der Nummer zwei is schuld – –, der Sulzfisch, der zieht ja nicht einmal das Gewicht seiner Kappe, – der ganze Kerl ist schwabberig wie Hektographenmasse.“

„Was denn Nummer zwei! Die ganze Backbordseite ist keinen Schuß Pulver wert.“

„Überhaupt, der „Einsatz“ fehlt. Catch the water! – verstehen Sie mich, – verstehen Sie englisch? Catch the water. Schauen Sie her, so! catch, catch, catch!

„Meine Herren, meine Herren, was nutzt das alles: catch, catch, catch, wenn man ‚Swivels‘ hat, wie wollen Sie da ‚Einsetzen‘. Hab’ ich nicht immer gesagt: feste Dollen, was, Herr von Schwamm? – Ja, feste Dollen, haha, zu meiner Zeit: rum – bum – rum bum. –“

„Hätt’ alles nicht g’schadt, aber natürlich knapp vorm Training bei der Nacht mit Weibern rumlaufen, daran liegt’s. Haben S’ damals unsern ‚Stroke‘ g’segn in der Bretzelgass’n? Wissen S’, wer die Frauensperson war? Die blonde Sportmirzl, wann Sö’s no nöt kenna!“ – –

Ein gellender Pfiff. Der Zug fährt ein.

Aus verschiedenen Coupés steigen die „Clianesen“ aus. Ärgerliche Gesichter, müde, abgespannte Mienen: – – – „Träger! Träger! – Himmel Sakra, sind denn keine Träger da!“

„Erzählt’s doch, was ist denn g’schehn? Letzte, immer Letzte?“

[26] „Der ‚Sulzfisch‘,“ murmelte Kurzweil ingrimmig.

Der schöne Rudi hat es gehört und tritt mit geschwellter Heldenbrust an ihn heran: „Mein Herr, ich bin Reserveleutnant im Artillerieregiment Nr. 23, verstehen Sie mich?“ Und er zwinkert mit entzündeten Lidern, und sein Gesicht ist klebrig und rußgeschwärzt, als ob er auf einem Stempelkissen geschlafen hätte. –

„Ruhe, meine Herren, Ruhe!“ Staudacher ist es, der eine Flasche in der Hand hält. –

„Erzählen, Staudacher, erzählen!“ – Alles umdrängt ihn.

Der kleine Steuermann hebt die Flasche in die Höhe: „Hier ist des Rätsels Lösung, – wissen Sie, was da drin ist? – Alsterwasser, Hamburger Alsterwasser! – – Und da drin soll unsereins rudern, wo wir an unser dünnes klares ‚Kaiserwasser‘ gewöhnt sind, – net wahr, Kurzweil? Wissen S’, daß dieses Alsterwasser bereits um ein Fünftel dicker ist als wie das unsrige!? – [ja, wirklich, m’r siecht’s] – Ich hab’s selbst mit dem Aräometer g’messen, und unsere Zeit ist trotzdem nur ein Sechstel schlechter! – Nur um ein Sechstel – meine Herren! – Hä? Habn S’ an Idee, wie wir hier g’wonnen hätten! – Da wären die Hamburger gar net mit’kommen.“

Alle waren voll Bewunderung: „Nein, wirklich alles was recht ist, unser Staudacher ist ein findiger Kopf, so einen sollen S’ uns zeigen, die, die … die deutschen Brüder aus dem ‚Reich‘ – –“

„Ja, ja! – ’s gibt nur a Kaiserstadt, ’s gibt nur a Wean!“