andere Deutung nicht zuzulassen scheinen: „Ärgert dich dein Auge, so reiß es aus und wirf es von dir; ärgert dich deine Hand, so haue sie ab,“[WS 1] oder die Antwort an den reichen Jüngling: „Gehe hin und verkaufe alles, was du hast, so wirst du einen Schatz im Himmel haben,“[WS 2] oder das Wort von denen, die sich um des Himmelreichs willen selbst verschnitten haben, oder der Spruch: „So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“[WS 3] Nach diesen Worten und anderen scheint es ausgemacht, daß das Evangelium durchaus weltflüchtig und asketisch ist. Aber ich stelle dieser These drei Betrachtungen gegenüber, die in eine andere Richtung führen. Die erste ist aus der Art des Auftretens Jesu und aus seiner Lebensführung und -anweisung gewonnen; die zweite gründet sich auf den Eindruck, den seine Jünger von ihm gehabt und in ihrem eigenen Leben wiedergegeben haben; die dritte endlich wurzelt in dem, was wir über die „Grundzüge“ des Evangeliums ausgeführt haben.
1. In unseren Evangelien finden wir ein merkwürdiges Wort Jesu; es lautet: „Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht; so sagen sie: Er hat den Teufel. Des Menschen Sohn ist gekommen, isset und trinket; so sagen sie: Siehe wie ist der Mensch ein Fresser und ein Weinsäufer.“[WS 4] Also einen Fresser und Weinsäufer hat man ihn genannt neben den anderen Schmähnamen, die man ihm gab. Hieraus geht deutlich hervor, daß er in seiner ganzen Haltung und Lebensweise einen anderen Eindruck gemacht hat als der große Bußprediger am Jordan. Unbefangen muß er den Gebieten, auf denen herkömmlich Askese getrieben wurde, gegenüber gestanden haben. Wir sehen ihn in den Häusern der Reichen und der Armen, bei Mahlzeiten, bei Frauen und unter Kindern, nach der Überlieferung auch auf einer Hochzeit. Er läßt sich die Füße waschen und das Haupt salben. Weiter, er kehrt gern bei Maria und Martha ein und verlangt nicht, daß sie ihr Haus verlassen. Auch diejenigen, bei denen er freudig einen starken Glauben findet, läßt er in ihrem Beruf und Stand. Wir hören nicht, daß er ihnen zuruft: Gebt alles preis und folgt mir nach. Augenscheinlich hält er es für möglich, ja für angemessen, daß sie ihres Glaubens an der Stelle leben, an die sie Gott gestellt hat. Sein Jüngerkreis erschöpft sich nicht in den wenigen, die er zu direkter Nachfolge aufgerufen hat. Gotteskinder findet er überall; sie in der Ver-
Anmerkungen (Wikisource)
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 052. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/056&oldid=- (Version vom 30.6.2018)