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Das Tagebuch eines Irren

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Das Tagebuch eines Irren
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1908, Neunter Band, Seite 101–144
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Erscheinungsdatum: 1908
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Text auch als E-Book (EPUB, MobiPocket) erhältlich
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[101]
Das Tagebuch eines Irren.
Erzählung von Walther Kabel.


(Nachdruck verboten.)

Am Abend des 19. Oktober 1827 spannte sich über dem altberühmten, an der Westküste der griechischen Halbinsel Morea gelegenen Hafen von Navarino ein wolkenloser, sternbesäter Himmel aus, der sich in der kaum bewegten See mit flimmernden, hin und her schießenden Pünktchen widerspiegelte und die dort ankernde ägyptisch-türkische Flotte in ein ungewisses Dämmerlicht eintauchte. Nur eine in weitem Bogen aufgestellte stattliche Anzahl von hochbordigen Schiffsrümpfen war zu erkennen – die Linienschiffe, vor denen in größeren Abständen wieder eine zweite Reihe kleinerer Schoner als Vorposten an ihren Ankerketten träge schaukelte. Die abendliche Stille wurde nur selten durch die taktmäßigen Ruderschläge eines den Verkehr mit dem Lande unterhaltenden Bootes, die leisen Klänge eines Matrosenliedes oder das Knarren der Rahen unterbrochen.

Der warme Küstenwind trug vom Strande die berauschenden Düfte der schon im Altertum bekannten Rosengärten von Pylos bis zur Flotte hinüber, jenes Pylos, das zwar im Mittelalter seit der Ansiedlung der Navarresen den Namen gewechselt, damit aber weder sein wunderbar mildes Klima noch den Reichtum [102] einer üppig wuchernden, halbtropischen Pflanzenwelt verloren hatte. Von dem kleinen Städtchen selbst waren in dem Abenddunkel nur die Umrisse der meist weiß gestrichenen, niedrigen Häuschen und einige größere, dicht am Hafen gelegene Lagerschuppen englischer und Hamburger Handelsfirmen zu sehen.

Dieses Bild heiteren Friedens störte jedoch bald der landeinwärts am nächtlichen Horizont hie und da aufzuckende rötliche Feuerschein, der seiner Helle nach nur von dem Brande ganzer Dörfer und Gehöfte herrühren konnte. Bisweilen durchzitterte die Luft auch der ferne Schall von Kanonenschüssen wie das Grollen eines heraufziehenden Gewitters.

Soeben war vor einem der in der vordersten Linie liegenden türkischen Wachtschiffe von See aus ein Kutter aufgetaucht, worin neben dem das Steuer führenden Midshipman ein höherer englischer Marineoffizier in großer Uniform saß. Das Boot wurde rechtzeitig angerufen, legte sich für wenige Minuten langseit des Türken und setzte dann seine Fahrt nach dem Linienschiff „Alexandria“ fort, auf dem der Kapudan-Bei, der Oberbefehlshaber der ägyptisch-türkischen Flotte, seine Flagge gehißt hatte.

Bald darauf stand der Engländer in der mit echt orientalischem Prunk ausgestatteten Kapitänskajüte der „Alexandria“ dem Bei gegenüber. Der geschmeidige Türke bot dem Besucher mit etwas übertriebener Höflichkeit einen Sitz auf einem der niedrigen Diwans an, den dieser jedoch mit kühler Verbeugung ausschlug, um sofort ohne Zögern sich seines Auftrags zu entledigen.

„Auf Befehl des Admirals Sir Codrington, des Höchstkommandierenden der vereinigten französischen, russischen und englischen Geschwader, habe ich Eurer Exzellenz folgendes zu melden: Nachdem die drei verbündeten [103] Regierungen sich in dem Londoner Vertrage dahin geeinigt hatten, daß aus dem seit Jahren um seine Freiheit kämpfenden Griechenland fortan ein Vasallenstaat der Türkei mit autonomer Verwaltung zu bilden sei, ist diese Abmachung der Pforte zur Erklärung unterbreitet worden. Bis zum Eintreffen der Entscheidung Ihrer Regierung auf diese wohlgemeinten Vorschläge sollten, wie zwischen dem Oberbefehlshaber der türkischen Land- und Seestreitkräfte, Ibrahim Pascha, und Sir Codrington vereinbart wurde, alle Feindseligkeiten eingestellt werden. Dieser Waffenstillstand ist von türkischer Seite nicht beachtet worden. Nach uns zugegangenen sicheren Meldungen hat man vielmehr die Verwüstung des Landes, das Niederbrennen von Ortschaften und Hinschlachten wehrloser Bewohner fortgesetzt.“

Der Kapudan-Bei hatte bisher mit stoischer Ruhe zugehört. Nur aus seinen kleinen, halbzugekniffenen Augen traf den Engländer zuweilen ein prüfender Blick. Jetzt erhob er aber, als wollte er diese Anschuldigung entrüstet von sich weisen, abwehrend die Hände.

Doch der andere ließ ihn nicht zu Wort kommen. Mit erhobener Stimme sprach er weiter: „Oder wollen Exzellenz etwa behaupten, daß der am nördlichen Horizont deutlich sichtbare Feuerschein und der herüberklingende Geschützdonner von Freudenfesten herrühre, die die Bewohner dieses armen Landes aus Anlaß der endlichen Waffenruhe feiern?“

Der Türke schwieg verlegen, und ehe er sich zu einer Erwiderung aufraffen konnte, hatte der englische Offizier schon ein versiegeltes Schreiben hervorgezogen und hielt es dem Kapudan-Bei jetzt dicht vor das verlegene Gesicht.

„Dieses Schreiben,“ erklärte er schneidend, „enthält [104] folgendes Ultimatum: Sollte Ibrahim Pascha bis morgen mittag zwölf Uhr meinem Admiral nicht den Beweis dafür erbracht haben, daß die strengsten Befehle gegeben sind, um den bestehenden Waffenstillstand auch tatsächlich durchzuführen, so werden die drei verbündeten Mächte sich genötigt sehen, ihrem Willen durch Zwangsmaßregeln Geltung zu verschaffen. Dieses Ultimatum bitte ich Ihrem Oberbefehlshaber, dessen Hauptquartier sich wohl noch in Navarino befindet, möglichst umgehend zukommen lassen zu wollen.“

Darauf verließ der Engländer nach kurzer Verbeugung die Kajüte, durchschritt das nur schwach beleuchtete Batteriedeck und stieg das Fallreep hinunter in sein Boot, ohne von dem ihn begleitenden türkischen Admiral und der präsentierenden Schiffswache irgendwelche Notiz zu nehmen. Dann ein helles Kommando, die Ruder tauchten ein, und der Kutter mit der stolzen Flagge am Heck war bald in der Richtung nach der Hafeneinfahrt in der Dunkelheit verschwunden.

Der Kapudan-Bei eilte jetzt hastig auf das Achterdeck, wo ein Mann, eingehüllt in einen dunkelbraunen Burnus, der offenbar seine reichgestickte Uniform verdecken sollte, an der Reling lehnte. Dieser Mann mit dem gebräunten, scharfgeschnittenen Gesicht war niemand anders als Ibrahim Pascha, der Stiefsohn des Vizekönigs Mehemed Ali von Ägypten, der Erstürmer von Missolunghi, des Bollwerkes von Westhellas, und der gefährlichste Gegner des griechischen Freiheitsgedankens.

Eine ganze Weile sprachen die beiden flüsternd miteinander. Als sich Ibrahim Pascha dann wieder an Land rudern ließ, hatte sich die Stirn des Beis sehr nachdenklich gekraust.

In seine Kajüte zurückgekehrt, riß er mehrmals [105] ungeduldig an einer Klingelschnur, die neben der leise hin und her pendelnden Deckenlampe hing. Wenige Sekunden später wurde der schwere, golddurchwirkte Vorhang vor der in den Nebenraum führenden Tür beiseite geschoben und lautlos glitt ein in weite seidene Gewänder gekleidetes Männlein herein, dessen intelligentes Gesicht das Groteske seiner knabenhaften, verkrümmten Gestalt mit dem übergroßen Kopf fast übersehen ließ.

Dieser Zwerg, der in seinen bunten Kleidern an einen jener Possenreißer erinnerte, wie sie im Mittelalter an Fürstenhöfen gern gehalten wurden, war der Geheimsekretär und vertraute Ratgeber des Kapudan-Beis. Er hieß Joseph Meinert, stammte aus der alten Hansestadt Danzig und war, seines Zeichens eigentlich Barbier, nach abenteuerlichen Irrfahrten nach Konstantinopel gekommen, wo er zum Islam übertrat und so aus einem Joseph ein Jussuf wurde. Nachdem er sich als Arzt, Teppichhändler und in mehreren anderen Berufen versucht hatte, nahm er bei dem Bei zuerst als Koch Dienste, um bald infolge seines Scharfsinns und seiner Sprachkenntnisse bis zu seiner jetzigen Stellung aufzurücken. Sein Alter zu bestimmen war schwer, denn sein farbloses, faltiges Gesicht mit dem spärlichen grauen Schnurrbart und den stets halb verschleierten Schlitzäuglein machte einen fast greisenhaften Eindruck, während die geschmeidige Beweglichkeit der kleinen Gestalt noch jugendlich wirkte.

Der Kapudan-Bei hatte sich nach dem Eintritt seines Sekretärs aufseufzend auf einen Diwan fallen lassen und strich jetzt mit der Hand nervös durch den dunklen Vollbart, wobei er den Kleinen ebenso lauernd musterte wie vorher den englischen Offizier.

„Was sagst du zu der Botschaft Codringtons?“ [106] begann er dann mißmutig. – „Du hast doch sicher gehorcht!“ setzte er spöttisch hinzu.

„Nicht gehorcht, aber doch alles gehört, da ich nebenan den Bericht an den Padischah schrieb und der Engländer laut genug sprach!“ erwiderte der Bucklige ohne die geringste Unterwürfigkeit, eher etwas gereizt, und kreuzte nachlässig die langen Arme über der Brust. Er verstand es schon, mit seinem Herrn umzugehen.

Der Bei lenkte auch schnell begütigend ein. „Du weißt, ich habe kein Geheimnis vor dir, Jussuf. Daß du neugierig bist, verüble ich dir keineswegs. Nur mich brauchtest du nicht gerade zu belauern! Du erfährst ja doch alles von mir. Und nun sage mir, was du von unserer Lage denkst.“

Der Kleine schien zu überlegen. In Wirklichkeit war er schon wenige Minuten, nachdem der englische Marineoffizier die „Alexandria“ verlassen hatte, über seine Stellungnahme zu der jetzt drohenden Katastrophe mit sich ins Klare gekommen. Daß er seine genaue Kenntnis der politischen Absichten der Pforte, die er hauptsächlich der Vertrauensseligkeit seines Herrn verdankte, schon seit Jahren noch in anderer Weise ausnutzte, ahnte niemand. Er hatte an dem gefährlichen Spiel, das ihn schon mehrmals korrigierend in das Getriebe der Weltgeschichte eingreifen ließ, Gefallen gefunden und wollte auch jetzt gemäß den Instruktionen, mit denen ihn der von ihm bediente Staat fortlaufend versah, nach Möglichkeit den Ausbruch von Feindseligkeiten zwischen den Verbündeten und der Türkei verhindern.

So sagte er denn eindringlich, indem er noch einen Schritt näher auf den ihn erwartungsvoll anblickenden Bei zutrat: „Ich habe schon immer davor gewarnt, den europäischen Mächten Gelegenheit zu geben, sich [107] in unsere Verhältnisse einzumischen. Als unsere Kriegführung gegen die aufrührerischen Griechen im Abendlande stets wachsende Entrüstung hervorrief, als die philhellenische Begeisterung dann durch Könige und Gelehrte angefacht wurde und sich nicht allein in reichlichen Geldunterstützungen betätigte, da sah ich bereits diese sogenannte Hilfsaktion der Staaten Europas wie ein drohendes Gespenst auftauchen. Sie nennen’s Hilfsaktion! In Wahrheit sehnen sie nur den Augenblick herbei, wo sie von dem Reiche des Sultans wieder ein Stück abtrennen und die Kraft des einst so gefürchteten Riesen noch mehr schwächen können. Und diese Gelegenheit hat Ibrahim Pascha ihnen jetzt gegeben! Ich bin fest überzeugt, wenn er nicht bis morgen mittag eine ausreichende Erklärung an Bord des englischen Flaggschiffes sendet, so werden wir für unseren Bruch des Waffenstillstandes einen unangenehmen Denkzettel in Form einiger hundert gutgezielter Kanonenschüsse erhalten.“

Der Bei hatte sich erschreckt aufgerichtet. „Du meinst also wirklich, daß sie Ernst machen werden?“ fragte er.

„Bin ich jemals ein schlechter Prophet gewesen?“ gab Jussuf achselzuckend zurück. „Was jetzt kommen wird, weiß ich genau, da ich des Paschas übermütigen Leichtsinn kenne. Er wird seine Erwiderung auf das ihm gestellte Ultimatum in eine Form fassen, die den Verbündeten nicht genügt, und dann haben wir morgen den Kampf. Die feindliche Flotte ist uns in jeder Hinsicht überlegen, also kann der Ausgang kaum zweifelhaft sein. Mit dieser Niederlage geht dem Sultan aber auch Griechenland verloren, und all die Opfer an Geld und Menschen sind vergeblich gebracht!“

Der Kapudan-Bei sprang auf und durchmaß erregt [108] die geräumige Kajüte. Meinert verfolgte ihn jetzt mit Blicken, in denen deutlich eine spöttische Geringschätzung zu lesen war.

Sein Herr bemerkte davon nichts. Doch nicht die Sorge um das Wohl seines Vaterlandes ließ den Bei unruhig hin und her gehen. Seine habgierigen Gedanken suchten nur einen Plan, wie er am besten die aufgestapelten Schätze in Sicherheit bringen konnte.

Endlich schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein. Er blieb vor seinem Vertrauten stehen und sagte mit unterdrückter Stimme: „Du hast recht, Jussuf! Ibrahim Pascha verkennt die Gefahr. Vergeblich habe ich heute wieder auf ihn eingeredet. Er glaubt nicht daran, daß das Ultimatum ernst gemeint ist, hält es für eine bloße Drohung, die für uns ohne Folgen bleiben wird. Und ich muß seinem Befehle gehorchen und morgen früh einen meiner Offiziere zu Sir Codrington mit der Nachricht schicken, daß das Schreiben dem Pascha nicht hat zugestellt werden können, da er sein Hauptquartier inzwischen verlegt habe und nicht so schnell zu erreichen sei. So gedenkt Ibrahim die Verbündeten hinzuhalten.“

Da lachte der Bucklige ärgerlich auf. „Als ob der schlaue Engländer solchen Ausflüchten Glauben schenken würde! Seine Antwort gibt er uns mit seinen Geschützen!“

Der Bei trat jetzt noch näher an Jussuf heran und flüsterte ihm zu: „Und wenn es nun zu einer Seeschlacht kommt, und dabei dieses Schiff in Grund gebohrt wird, so liegen die schönen Reichtümer an Gold und Edelsteinen, von denen auch dir ein Teil gehört, auf dem Boden des Golfes von Navarino, unerreichbar für jeden Menschen, unerreichbar auch für den von uns beiden, der vielleicht den morgigen Tag überlebt. [109] Wäre es nicht besser, wenn wir uns auf alle Fälle einrichteten?“

Meinert sah den Bei bedeutungsvoll an und nickte.




Eine Stunde später stieß von der „Alexandria“ ein Boot ab, in dem außer den vier Ruderern nur noch zwei in weite Mäntel gehüllte Gestalten saßen. Es hielt direkt auf das Ufer zu und fuhr dann an diesem entlang bis zu dem südlichsten Punkte des Hafens, wo die dunkeln Mauern und Türme des großen Sperrforts wie ein zackiger Berg sich gegen den Nachthimmel abhoben. Hier, vielleicht zweihundert Meter von der nächsten Bastion entfernt, legte das Boot an. Die Ruderer hoben einen in eine lederne Geschützdecke gewickelten unförmigen Gegenstand heraus, waren den Vermummten noch beim Aussteigen behilflich und stießen dann wieder ab.

Als der Ruderschlag verklungen war, blieben die beiden noch eine Weile bewegungslos stehen, spähten vorsichtig umher und lauschten in die Nacht hinaus. Aber ringsum war alles still. Das einzige Geräusch verursachten die kleinen Wellen, die leise gegen den Strand brandeten und mit zischendem Geräusch wie dahinschießende, spielende Schlangen mit ihren hellschimmernden Schaumkronen am Ufer entlang glitten. Dann schlug der größere der Männer seinen Mantel auseinander, lockerte die in dem Gürtel steckenden Pistolen und flüsterte seinem Gefährten zu: „Ans Werk, Jussuf! In zwei Stunden kommen sie, um uns wieder abzuholen, dann muß alles getan sein!“

Sie nahmen die anscheinend recht schwere Last vom Boden auf, eilten über den hellen Sandstreifen des Strandes hin und verloren sich in einer dichten [110] Ölbaumpflanzung, die das sanft aufsteigende Ufergelände hier bedeckte.




In jener Nacht vom 19. zum 20. Oktober 1827 ankerte in dem geschützten Hafen von Navarino als einziges größeres Kauffahrteischiff ein Klipper, dessen scharfe Bauart und große Takelage jedem Seemann auf den ersten Blick den Schnellsegler verriet. Er führte an der Gaffel die hamburgische Flagge und zeigte unter dem Bugspriet eine reichvergoldete Galionsfigur, die in Übereinstimmung mit dem Namen des Schiffes den Kaiser Barbarossa darstellte.

An der Reling auf der Backbordseite standen zwei Männer, die mit ihren Nachtgläsern eifrig nach der kaum fünfhundert Meter vor ihnen liegenden „Alexandria“ hinüberschauten.

Jetzt setzte der eine das Fernrohr ab und sagte unzufrieden: „Die Zeit ist längst vorüber. Da Meinert uns das Zeichen nicht gegeben hat, können wir wohl annehmen, daß inzwischen nichts Wichtiges vorgefallen ist, trotzdem dieser Abendbesuch des Engländers bei dem Kapudan-Bei genug zu denken gibt.“

„Seien Sie doch froh, daß das blaue Signal heute nicht aufleuchtet!“ meinte der andere scherzend. „Sonst müßten Sie heute wieder diese gefährliche Schwimmtour unternehmen.“

Die elastische Gestalt des jungen Steuermanns richtete sich straffer auf. „Die Türken sind Schlafmützen, Herr Wegener! Haben sie mich bisher nicht bemerkt, so werde ich ihnen auch weiter entgehen. Und schließlich – was kann mir passieren? Ich tauche wie ein Fisch, und ehe sie ihre alten Musketen schußfertig gemacht haben, bin ich lange außer Sicht.“

[111] „Sie vergessen, lieber Riedling,“ mahnte der ältere bedächtig, „daß Ihre Entdeckung auch für unseren – Bundesgenossen sehr bedenkliche Folgen haben könnte. Wenn es dem Joseph Meinert auch jahrelang geglückt ist, uns mit wertvollen Meldungen zu versehen, so – na, Sie kennen ja das alte Sprichwort vom Krug, der zu Wasser geht! – Und dieser letzte Gang wäre für den kleinen Mann der zum Galgen! Mit dem Hängen sind die braven Orientalen schnell bei der Hand.“

„Oh, der brave Jussuf ist schlau! Der zieht seinen großen Kopf schon wieder aus der Schlinge heraus!“ lachte der Steuermann still vor sich hin. „Der hat seine Brotherren schon ganz anders genasführt!“

Doch Wegener, der nur dem Namen nach Kapitän des „Kaiser Barbarossa“, in Wirklichkeit ein geheimer Agent Hollands war, das aus Handelsrücksichten das größte Interesse an einer Vermeidung weiterer politischer Verwicklungen hatte, schüttelte nur wieder warnend den Kopf. „Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß mir die Geschichte hier schon seit einigen Tagen nicht mehr ganz geheuer vorkommt. Uns wird jetzt von den türkischen Kriegschiffen höllisch scharf auf die Finger gesehen. Mir scheint, den Herren ist es doch etwas aufgefallen, daß unsere Reparatur am Steuer nun schon fast zwei Wochen dauert. Daß man uns gestern den Befehl gegeben hat, den Hafen bis auf weiteres nicht zu verlassen, ist für mich ein neuer Beweis, wie wenig der Kapudan-Bei an unsere Harmlosigkeit glauben will.“

Der Steuermann hatte sein Glas wieder an die Augen geführt und flüsterte jetzt schnell: „Da kommt eben das Boot zurück, das vor zwei Stunden von der ‚Alexandria‘ abstieß. Sehen Sie nur hin – mehr links! Es sind anscheinend dieselben sechs Personen darin.“

[112] „Wo die wohl gewesen sein mögen?“ meinte der Ältere eifrig.

„Anscheinend fuhren sie auf das Sperrfort am Hafenausgang zu. Leider konnte ich sie nicht weit genug verfolgen.“

Wegener ließ sein Fernrohr nach einer Weile wieder sinken und lehnte sich bequem an die Reling. „Ich denke, wir warten doch noch etwas,“ sagte er dann leise gähnend. „Ich weiß nicht, ich habe heute so eine unbestimmte Vorahnung, als ob noch etwas Besonderes geschehen müßte. Dieser Besuch des englischen Offiziers auf dem Flaggschiff des Beis will mir nicht aus dem Sinn.“

Langsam schlichen die Minuten dahin. Die beiden Männer suchten sich die Zeit durch Gespräche zu vertreiben, steckten sich auch ihre kurzen Pfeifen an und tauschten Erinnerungen über ihre Kreuzfahrt aus, die sie nun schon monatelang, seit dem Eingreifen der drei europäischen Mächte in die griechisch-türkischen Wirren, in diesen Gewässern festhielt.

„Der Kapudan-Bei soll sich auf der ‚Alexandria‘ eine ganz nette Sammlung von Kostbarkeiten, die auf den Inseln des griechischen Archipels als Kriegsbeute zusammengeraubt wurden, angelegt haben,“ meinte der Steuermann im Laufe der Unterhaltung ingrimmig. „Der reine Pirat, dieser türkische Admiral – habgierig, blutdürstig, unvornehm in jeder Handlungsweise – das gerade Gegenstück zu seinem Vorgesetzten Ibrahim Pascha, dem man trotz seiner echt türkischen Hinterlist in seinen politischen Schachzügen doch eine gewisse Achtung nicht vorenthalten kann. Ich wünschte nur, daß die Verbündeten diesen Raub wieder –“

Er unterbrach sich plötzlich, griff schnell nach seinem Nachtglase und blickte angestrengt nach dem türkischen [113] Flaggschiff hinüber, wo soeben ein blaues Flämmchen aufleuchtete, verschwand und wieder erschien.

Wenige Minuten später ließ sich der Steuermann an einem Tau vorsichtig über Bord in die See gleiten und schwamm der „Alexandria“ in langen Stößen zu. Je näher er dem Linienschiff kam, desto vorsichtiger vermied er jedes Plätschern im Wasser und lag ganz tief, so daß nur sein Kopf ein wenig herausragte. Als er an der Steuerbordseite angelangt war, fand er bald ein aus einer der Stückpforten heraushängendes Tau, an dem er gewandt emporkletterte, nachdem er sich überzeugt hatte, daß keine der Wachen an dieser Stelle auf und ab ging.

Im Batteriedeck erwartete ihn Jussuf, der ihm schnell zwei in dünne Häute eingebundene Briefe übergab und ihm auch mündlich noch Mitteilungen machte. Dann verließ Riedling das Schiff auf demselben Wege und kehrte unangefochten auf den „Kaiser Barbarossa“ zurück, wo Wegener schon ängstlich seiner harrte.

Während der Steuermann wieder in seine Kleider schlüpfte, erstattete er kurz Bericht. „Der eine Brief, Herr Wegener, ist an Meinerts Bruder in Danzig gerichtet. Der Kleine bittet Sie, das Schreiben sorgfältig aufzubewahren und erst in Amsterdam auf die Post zu geben, da sehr wichtige Mitteilungen darin stehen. Der andere Brief enthält eine Übersicht über die letzten Depeschen aus Konstantinopel und die geheimen Befehle Ibrahim Paschas und ist für Sie bestimmt. – Außerdem soll ich noch ausrichten, daß wir auf jeden Fall versuchen sollen, heute früh den Hafen zu verlassen, da der Kapudan-Bei tatsächlich gegen uns Verdacht geschöpft hat und morgen eine Durchsuchung unseres Schiffes vornehmen lassen will.“

[114] „Da haben wir’s ja!“ meinte der Agent ärgerlich. „Der gute Jussuf hat leicht sagen: Hafen verlassen! – Aber wie?! – Gegen den Willen des türkischen Admirals kommen wir aus dieser Mausefalle nie heraus!“

„Aber wir müssen! Denn Ihre Berichte haben keinen Wert, Herr Wegener, wenn sie erst nach Monaten in die Hände der Regierung gelangen,“ warf der junge Steuermann energisch ein. „Gewiß – ein Wagstück wird’s werden! Doch so wie ich unseren Kapitän kenne, riskiert er’s trotz der drohenden Geschütze, den Türken ein Schnippchen zu schlagen!“




Als im Osten der Tag zu grauen begann, zeigte sich auf den Schiffen der ägyptisch-türkischen Flotte eine seltsame Geschäftigkeit, die bei der trägen Ruhe der letzten Tage besonders auffallen mußte. Boote fuhren an Land, von Schiff zu Schiff, Signale wurden gewechselt, und nachdem dann die zunehmende Helle langsam einen Blick über die ganze Hafenfläche gestattete, sah man, daß der größere Teil der Linienschiffe bereits unter kleinen Segeln die Einfahrt passiert und draußen im Golf gegenüber den dort ankernden vereinigten Geschwadern eine neue Stellung eingenommen hatte. Der Rest der türkischen Flotte schwenkte eben in Kiellinie ein und verließ dann ebenfalls den Hafen. Nur drei schwerfällige Gaffelschoner, die mehr als Transportschiffe benützt worden waren, blieben zurück.

An Bord des „Kaiser Barbarossa“ hatte man diese Bewegungen aufmerksam verfolgt. Als jetzt noch der leichte Morgenwind langsam an Stärke zunahm, rieb sich der alte Kapitän Müller, der in der Musterrolle als erster Steuermann geführt wurde, vergnügt die [115] Hände und sagte zuversichtlich zu dem neben ihm stehenden Agenten: „Was gilt die Wette, Herr Wegener, daß wir in drei Stunden vergnügt auf dem freien Meere schwimmen? – Leichter konnten uns die Herren Türken ja das Entschlüpfen gar nicht machen! Sehen Sie, die ganze Gesellschaft geht da draußen im Angesicht der verbündeten Flotte wieder vor Anker. Sie bergen das bißchen Zeug, das sie ausgesetzt hatten, und ehe die gelben Affen nachher wieder seeklar machen, bin ich längst über alle Berge!“

„Aber hier im Hafen sind doch noch die drei –“

„Die?“ meinte Müller verächtlich. „Die alten Kähne sollen Allah preisen, wenn ich sie in Ruhe lasse! Meine vier bronzenen Bullenbeißer haben gute Zähne, glauben Sie mir nur! Und meine Jungens verstehen ebensogut ein Geschütz zu richten, wie ’ne halbe Flasche Rum auf einen Zug zu leeren!“

So wurde auf dem „Kaiser Barbarossa“ jener denkwürdige 20. Oktober begrüßt, der über die Freiheit eines ganzen Volkes entscheiden sollte. Und dem Hamburger Klipper war es beschieden, im Hafen von Navarino die Würfel der Weltgeschichte ins Rollen zu bringen. Die Geschichtsforschung hat nachgewiesen, daß an jenem Tage der Kampf nur infolge eines Ineinandergreifens merkwürdiger Zufälle begann. Weder die Türken noch die Verbündeten haben die Absicht gehabt, sich eine Seeschlacht zu liefern. Wenn auch Sir Codrington das Ultimatum gestellt hatte, so wäre er doch niemals, selbst bei Ausbleiben einer bündigen Erklärung von türkischer Seite, zum Angriff übergegangen, wenn nicht der durch die Einflüsterungen seines Sekretärs nervös gemachte Kapudan-Bei mit einer von dem englischen Kommodore falsch aufgefaßten Kanonade begonnen hätte.

[116] Es war gegen zehn Uhr vormittags, als plötzlich wie auf ein Zauberwort der „Kaiser Barbarossa“ seine sämtlichen Segel entfaltete und wie ein Pfeil der Hafeneinfahrt zuschoß, vor der in einer Entfernung von kaum drei Seemeilen die ägyptisch-türkische Flotte in großem Bogen lag. Dem einen der zurückgebliebenen Schoner gelang es noch, zwei Geschütze hinter dem Flüchtling abzufeuern, die aber nichts weiter ausrichteten, als daß sie die draußen ankernden Schiffe alarmierten. Der schnellsegelnde Klipper fegte nur so über die leichtbewegte See dahin und nahm tollkühn seinen Kurs gerade auf die die Mitte der Aufstellung bildende „Alexandria“ zu, da er andernfalls gegen die Ostspitze der den Golf im Süden abschließenden Insel Sphakteria hätte aufkreuzen müssen, um das offene Meer zu erreichen.

Kaum waren die beiden Kanonenschüsse im Hafen gefallen, als auch schon auf den türkischen Schiffen in wilder Hast die Anker gelichtet und Segel beigesetzt wurden – um wenige Minuten zu spät! Denn als der Klipper jetzt zwischen der „Alexandria“ und dem nächsten Linienschiff hindurchjagte, hatte man die günstige Gelegenheit längst versäumt, dem Ausreißer eine volle Breitseite zu geben. Die jetzt beginnende unregelmäßige Kanonade kostete dem „Kaiser Barbarossa“ nur ein Stück von seiner Reling.

Dafür war aber auch in die Flotte der Verbündeten durch diese Schießerei plötzlich Leben gekommen.

Der Klipper verfolgte ruhig seinen Kurs, unbekümmert um die neben ihm immer zahlreicher einschlagenden Kugeln. Eine wilde Verfolgung begann, die aber nur so lange dauerte, als der Flüchtling noch außerhalb der Geschwaderlinie der Verbündeten segelte. In demselben Augenblick, da ein leichtsinnig gezielter Schuß [117] in die Batterie des russischen Flaggschiffes „Peter der Große“ einschlug, ein Geschütz demolierte und mehrere Matrosen tötete, hörte diese Jagd auf. Ein großartigeres Drama begann, das der weltbekannten Seeschlacht von Navarino. Der russische Admiral antwortete auf den einen Treffer sofort mit einer wohlgezielten Salve, die dem türkischen Linienschiff die Backbordseite dicht über der Wasserlinie aufriß und es in kurzer Zeit wegsinken ließ.

Dies war das Signal zum allgemeinen Angriff.

Nach einer Stunde verschwand der „Kaiser Barbarossa“ hinter der Insel Sphakteria. Und als Kapitän Müller schmunzelnd zu dem Agenten Wegener sagte: „Sehen Sie, Sie wären schön ’reingefallen, wenn Sie gewettet hätten!“ – da legte sich die von Kugeln wie ein Sieb durchlöcherte „Alexandria“ auf die Seite und ging dann in einem tosenden Strudel mit Mann und Maus in die Tiefe.

Die Schlacht bei Navarino endigte mit der Vernichtung des größten Teiles der ägyptisch-türkischen Flotte. Diesem Siege der Verbündeten hat Griechenland seine Befreiung von dem türkischen Joche hauptsächlich zu verdanken. In dem Frieden zu Adrianopel wurde der Sultan gezwungen, sich den Beschlüssen der Mächte über Griechenland zu unterwerfen, und vier Jahre später, am 7. Februar 1833, hielt Prinz Otto von Bayern als König Otto I. von Griechenland seinen feierlichen Einzug in die Hauptstadt des neugegründeten Königreichs.

– – – – – – – – – – – – –

Im Herbst 1905 starb in einem Irrenhause in Westpreußen der letzte Nachkomme jenes Eduard Meinert in Danzig, an den der Sekretär des Kapudan-Beis in der Nacht vor der Seeschlacht von Navarino einen Brief [118] durch die Vermittlung des politischen Agenten der holländischen Regierung abgesandt hatte.

Durch eine ganze Kette von Zufällen wurde dieses Schreiben wieder aufgefunden.




Auf dem für die Fernzüge bestimmten Bahnsteige des Zoppoter Bahnhofs ging an einem heißen Julivormittag ein Herr wartend auf und ab. Schon öfters hatte er ungeduldig nach der Uhr gesehen und sich noch häufiger die Schweißperlen von der Stirn getupft, die ihm die von dem wolkenlosen Himmel unbarmherzig herabbrütende Sonne trotz des schattenspendenden, leichten Panamahutes immer wieder auf die Stirne trieb. Der Stettiner Schnellzug, der schon mit fünf Minuten Verspätung gemeldet war, ließ sich heute besonders viel Zeit. Aber damit mußte man in den ersten Tagen der großen Sommerferien, wo die Eltern schulpflichtiger Kinder sich endlich auch der allgemeinen Flucht in die Bäder anschließen konnten, trotz der sonst so anerkennenswerten Pünktlichkeit der Bahnen rechnen. Fritz Hilgeners leicht gebräuntes Gesicht, dem der stark gebaute Unterkiefer und die dunkeln, meist etwas herrisch blickenden Augen den Ausdruck unbeugsamer Energie verliehen, war auch nicht deshalb so verdüstert, weil ihm dieses Sonnenbad die Stimmung störte, sondern aus anderen Gründen, die ihm schon seit Monaten tiefe Falten um den Mund gegraben hatten.

Während er jetzt langsam auf und ab ging, suchte er vergeblich seine Gedanken von den Ereignissen abzulenken, die ihn so plötzlich überfallen und aus einer scheinbar gesicherten Lebensstellung wieder in den harten Daseinskampf hinausgedrängt hatten. Dieser [119] Umschlag in seinen Verhältnissen trat so plötzlich ein, daß er den sonst so energischen Mann fast niedergedrückt hatte. Hilgener war nach Beendigung seines Studiums und einem mit Auszeichnung bestandenen Diplomexamen als Ingenieur in die Heckersche Maschinenfabrik in Danzig eingetreten und schon nach fünf Jahren, als das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, und dabei eine durchgreifende Änderung des ganzen Betriebes vorgenommen wurde, in die Stellung des technischen Direktors mit einem glänzenden Gehalt aufgerückt. Da glaubte er auch endlich nach den Zeiten heißen Strebens an die Verwirklichung seiner Herzenswünsche denken zu können. Er hatte sich schon als Student mit einem unbemittelten Mädchen, der jüngsten Tochter eines Amtsgerichtsrats, verlobt und durfte nun die Braut heimführen in sein Haus, das er sich ganz nach seinem vornehmen Geschmack eingerichtet hatte.

Zwei Jahre folgten, in denen der Glückshimmel des jungen Paares durch kein Wölkchen getrübt wurde. Dann begann das neidische Schicksal langsam seine Wühlarbeit. Die junge Frau konnte sich nach der Geburt des ersten Söhnchens nur schwer erholen, kränkelte fortgesetzt, ohne daß die Ärzte ein bestimmtes Leiden festzustellen vermochten. Das war der erste Schatten, der auf Fritz Hilgeners Glück fiel. Aber die Schatten mehrten sich. Durch den Niedergang der Landwirtschaft in den russischen Ostseeprovinzen, der sowohl durch den Krieg mit Japan als auch durch die fortwährenden Unruhen hervorgerufen wurde, verlor die Heckersche Fabrik, die ausschließlich landwirtschaftliche Maschinen baute, ihr größtes Absatzgebiet. Die Jahresabschlüsse verschlechterten sich, die Reservefonds mußten angegriffen, und bald fast die Hälfte der Arbeiter [120] entlassen werden. Aber erst die plötzlich eintretende Teuerung auf dem europäischen Geldmarkt, sowie das Fallissement[WS 1] mehrerer Firmen, mit denen die Gesellschaft in Geschäftsverbindung stand, wozu noch ein monatelang währender Streik kam, veranlaßten im Frühjahr 1905 den Konkurs und völligen Zusammenbruch der über fünfzig Jahre bestehenden Werke. Allen Angestellten wurde gekündigt, und so verlor Hilgener ebenfalls seine Stellung.

Zu derselben Zeit nahm auch die Krankheit seiner Frau eine ernstere Wendung, die wahrscheinlich auf die Aufregungen der letzten Zeit zurückzuführen war. Ersparnisse hatte der Ingenieur bisher nicht gemacht, und trotzdem man ihm sein bisheriges Gehalt noch bis zum Herbst auszahlen mußte, sah er sich doch bald den ernstesten Sorgen gegenüber, da seine Versuche, eine andere, seinen Kenntnissen und seinem früheren Wirkungskreise entsprechende Stellung zu finden, fehlschlugen, und das Leiden seiner Frau Ausgaben verursachte, die ihn bald zu bisher unbekannten Einschränkungen zwangen. Auf ärztlichen Rat hatte er für den Sommer in dem nahen Badeort Zoppot eine bescheidene Wohnung gemietet. Doch trotz der sorgfältigsten Pflege und der erquickenden Seeluft nahmen die Kräfte der Kranken zusehends ab.

Da schickte Hilgener eines Tages in seiner verzweifelten Stimmung einen Brief an seinen Schwager, der als Arzt an der nahen Provinzialirrenanstalt Neustadt tätig war, und bat ihn, zu einer wichtigen Rücksprache nach Zoppot zu kommen. Die Antwort traf umgehend ein. Doktor Hans Menk schrieb, daß er auf die dringende Einladung hin seinen vierzehntägigen Urlaub gern bei seinen Verwandten verleben wolle und am 4. Juli in Zoppot anlangen werde.

[121] Aus diesen Gründen ging der Ingenieur jetzt wartend auf dem Bahnsteig mit trüben Gedanken auf und ab.

Als der Zug endlich in den Bahnhof einfuhr, und Doktor Menk den Schwager mit einem kräftigen Händedruck und einigen beruhigenden Worten begrüßte, wurde es Hilgener freier ums Herz. Auf dem Wege nach seiner Wohnung klärte er dann den jungen Arzt über seine Absichten auf, da er diese Angelegenheit nicht in Gegenwart der Kranken erörtern wollte. „Ich möchte dich bitten, Hans, mit Elsa an einem der nächsten Tage zu Professor Valentini nach Danzig zu fahren. Wir müssen endlich einmal genau wissen, wie es um ihre Gesundheit steht. Dir als Kollegen gegenüber wird der Professor mit der Wahrheit nicht hinterm Berge halten. Zu dem Urteil der bisher konsultierten Ärzte habe ich kein rechtes Vertrauen, da jeder eine andere Diagnose gestellt hat und wir nun schon die dritte Behandlungsmethode durchprobieren.“

Hans Menk war bei den Worten des Schwagers, die eine bange Sorge um das Leben des geliebten Weibes durchzitterte, sehr ernst geworden. „Geht es denn Elsa wirklich so schlecht?“ fragte er bedrückt.

„Sie ist in den letzten Wochen förmlich dahingeschwunden,“ erwiderte Hilgener trostlos. „Du wirst sie kaum wiedererkennen.“

Schweigend legten sie den Rest des Weges zurück. Es war eine traurige Begrüßung, die die Geschwister feierten. Die Kranke lag auf der schattigen Veranda in einem Liegestuhl, und große Tropfen traten ihr in die Augen, als sie dem Bruder so deutlich die Erschütterung über ihr verändertes Aussehen anmerkte. Auch dem Manne, der sich durch eiserne Energie ein Glück geschaffen hatte, dessen Vergänglichkeit er [122] nur zu bald erkennen mußte, lief eine Träne über die Wangen, die er schnell verstohlen fortwischte. Sein Blick hellte sich erst wieder auf, als sein Kleiner jetzt den Onkel zu begrüßen kam, und der kleine Kerl durch sein kindliches Geplapper über das Peinliche dieses Wiedersehens hinweghalf, zuweilen dann sogar bei einem unfreiwilligen Scherzwort des Kindes ein glückliches Lächeln um die Lippen des jungen blassen Weibes spielte.

Als eine halbe Stunde später ein Dienstmann die Koffer des Gastes brachte, begann dieser sogleich mit dem Auspacken. Hans, dessen heiteres, von einem blonden Spitzbart umrahmtes Gesicht und offenes ungekünsteltes Wesen ihn überall schnell beliebt machte, hatte von seinem Vater eine fast pedantische Ordnungsliebe geerbt, die ihn auch heute zwang, seine Kleider und Wäschestücke mit einer beinahe altjüngferlichen Sorgfalt in die Schränke zu bergen. Nachdem er sich dann in seiner kleinen Stube häuslich eingerichtet hatte, kam er wieder auf die Veranda zurück und legte ein dickes Buch, dessen grauer, verschossener Pappeinband mit den abgegriffenen Ecken ein ehrwürdiges Alter verriet, beinahe feierlich vor Hilgener auf den Tisch.

„Ich habe dir,“ sagte er, „hier etwas Besonderes mitgebracht, Fritz. Du bist ja leidenschaftlicher Sammler von allerhand Raritäten, und dieser Foliant hier ist nichts anderes als – das Tagebuch eines Irren.“

Der Ingenieur blickte seinen Schwager zweifelnd an.

„Dieses Tagebuch ist auf eine merkwürdige Weise in meinen Besitz gelangt. Ich hatte unter den Kranken unserer Anstalt in meinem Revier einen gewissen Friedrich Meinert, der völlig harmlos war und nur an der fixen Idee litt, daß er einst irgendwo in Afrika ein Kaiserreich gegründet habe und nur aus [123] politischen Interessen von der preußischen Regierung gefangen gehalten werde. Von diesem eingebildeten Vorgänger des unternehmungslustigen Franzosen Jacques Lebaudy habe ich das Buch geerbt, regelrecht geerbt! Du wirst auf einer der letzten beschriebenen Seiten den Entwurf eines Testaments finden, das mich zum Universalerben dieses früheren Kunsttischlers einsetzt und mit ‚Friedrich I., Kaiser von Afrika‘ unterzeichnet ist. Zwar dürfte diese etwas phantastische Urkunde vor den Gerichten kaum Gültigkeit haben, aber da Verwandte des vor einem Monat Verstorbenen nicht aufzufinden waren und der Fiskus kein Interesse an diesem einzigen Stück Meinertscher Erbschaftsmasse hatte – ich habe nämlich bei dem Regierungspräsidenten vorsichtshalber angefragt –, so ist mir dieses Vermächtnis, das mein einstiger Patient mir, wie er selbst in dem Testament sagt, ‚aus aufrichtigstem Wohlwollen‘ zugewendet hat, von unserem Direktor ausgehändigt worden. Und hiermit trete ich nun meine Rechte feierlichst an dich ab.“

Hilgener hatte das Buch in die Hand genommen, von allen Seiten besichtigt und langsam durchgeblättert. „Aber ich lese ja hier auf dem ersten Blatt einen ganz anderen Titel,“ meinte er zweifelnd. „Hier steht trotz der verblaßten Tinte noch ganz gut zu erkennen: ‚Einnahmen und Ausgaben‘ – und darunter ‚Joseph Meinert‘ und die Zahl ,1813‘.“

„Wenn du dir einmal in einer müßigen Stunde den Inhalt genauer ansehen willst, so wird dir noch manches andere darin auffallen, das gar nicht uninteressant ist. Das Buch war zuerst, wie aus den verschiedenen Aufzeichnungen hervorgeht, ein einfaches Kontobuch jenes auf dem Titelblatt genannten Joseph Meinert, der in Danzig das ehrbare Gewerbe eines [124] Barbiers betrieb und, als er dann im Jahre 1817 nach der Türkei auswanderte, es seinem Bruder, einem anscheinend sehr schreibfreudigen Schulmeisterlein, zurückließ. Dieser hat es nun schon einem weniger prosaischen Zweck zugeführt, da er es zu mancherlei Eintragungen über Familienangelegenheiten und Zeitereignisse benützte und auch einige ihm besonders wichtig scheinende Briefe seines in Konstantinopel weilenden Bruders Joseph darin sorgfältig einklebte. Dann vererbte sich das Buch über zwei Generationen der Familie bis zu dem letzten Meinert, eben meinem Patienten, der daraus ein richtiges Tagebuch machte und es in den zehn Jahren seines Aufenthalts in unserer Anstalt beinahe ganz mit seinen oft tragikomischen und doch so herzergreifenden Aufzeichnungen gefüllt hat. Diese behandeln meistenteils unbedeutende Vorfälle aus der Anstalt, die sich in der Vorstellung des Geisteskranken stets als große Staatsaktionen widerspiegelten, und die er dann regelmäßig mit seiner Wahnidee als entthronter Kaiser in irgend eine Verbindung brachte und auch in dieser Form niederschrieb. Jedenfalls zeigt dieses Tagebuch deutlich, wie sehr gerade bei einer Gehirnaffektion die Tätigkeit der Phantasie gesteigert und zu Leistungen befähigt wird, die weit über den Bildungsgrad solcher Kranken hinausgehen. Die Scheinwelt, die zum Beispiel dieser Friedrich Meinert als Monarch im Exil um sich geschaffen hatte, konnte gar nicht besser derartigen Verhältnissen in der Wirklichkeit angepaßt sein. Sein hoheitsvolles Auftreten und die Herablassung, mit der er die anderen Patienten aus seinem Saal behandelte, waren kleine Meisterstücke schauspielerischer Begabung. Aber du kannst dir selbst das beste Bild von diesem armen Menschen und seinem Treiben machen, wenn du seine Tagebuchblätter [125] kennen lernst. Für mich hatte diese Lektüre nur rein wissenschaftlichen Wert.“

Hilgener hatte schon vorher plötzlich den Kopf tief über das Buch gesenkt und auf die letzten Worte dieser in etwas dozierendem Tone gegebenen Erklärungen nicht mehr geachtet. Wenigstens erwiderte er darauf nichts, sondern schien seine ganze Aufmerksamkeit einer bestimmten Seite dieses eigenartigen Werkes zu widmen, die er mehrmals mit größter Spannung überflog.

Erst nach einer geraumen Weile schaute er wieder auf. „Weißt du vielleicht, Hans, welchen Beruf dieser Joseph Meinert dort unten in der Türkei hatte?“ fragte er.

„Bestimmtes darüber steht in dem Buche nicht. Aber ich besinne mich auf einige Andeutungen, die die wenigen eingeklebten Briefe jenes ausgewanderten Barbiers enthalten. Danach muß er, nachdem er zum Islam übergetreten war, zuletzt so etwas wie Sekretär bei einem höheren türkischen Würdenträger gewesen sein.“ Menk hatte sich bei diesen Worten in seinem bequemen Gartenstuhl vorgebeugt und einen prüfenden Blick auf die Seite geworfen, deren Inhalt seinen Schwager so sehr zu interessieren schien.

Diese Seite war fast ganz mit einem aus sehr grobfaserigem Papier bestehenden Blatte überklebt und dieses Blatt mit noch sehr klarer hellblauer Tinte eng beschrieben.

Der junge Arzt hatte kaum die auffallenden blauen Schriftzüge gesehen, als er auch schon lachend zu Hilgener sagte: „Da bist du also auch bereits auf dieses wunderliche Schreiben gestoßen! Ein eigentümlicher Brief, aus dessen Inhalt man nicht recht klug wird – nicht wahr? – Ich habe mir wenigstens vergeblich den Kopf zergrübelt, was dieser frühere Danziger Haarkünstler [126] und spätere türkische Geheimschreiber damit eigentlich gewollt hat. Sicherlich ist’s ein letzter Versuch, den preußischen Lehrer, den Bruder daheim, zum Islam zu bekehren. So fasse ich’s jedenfalls auf.“

Aber der Ingenieur schüttelte zweifelnd den Kopf. „Das glaube ich nicht,“ meinte er zögernd. „Dahinter steckt mehr. Die Fassung dieses Schreibens, das mir zuerst nur der ungewöhnlichen blauen Tinte wegen auffiel, ist so eigenartig, als ob dadurch ein anderer Zweck verborgen werden sollte.“

Selbst Frau Elsa, die bisher teilnahmlos dem Gespräch zugehört hatte, richtete sich jetzt etwas auf und bat mit matter Stimme: „Fritz, lies mir doch einmal den Brief vor! Ihr habt mich wirklich neugierig gemacht.“

Hilgener kam bereitwilligst ihrem Wunsche nach.

„Im Hafen von Navarino, am 19. Oktober 1827.

Lieber Bruder!

Die Flotte der Ungläubigen droht mit Vernichtung, und mein Leben ist nur den schwachen Planken eines Schiffes anvertraut. Vielleicht bleibt dieses der letzte Brief, den Du von mir erhältst. Bewahre ihn auf wie ein Heiligtum! Präge auch Deinem Gedächtnis die untenstehende Sure des Korans ein, lies sie immer wieder, bis der Geist Mohammeds Dich endlich erleuchtet und Deine Augen öffnet – zum Glück und Segen für Dich und Dein Haus!

Dein Bruder Jussuf Meinert.“

„So Schatz, das ist der Inhalt der ersten Hälfte des Blattes. Darunter kommen dann noch mehrere Zeilen, die leider mit türkischen Buchstaben geschrieben sind, wohl der erwähnte Abschnitt aus dem mohammedanischen Religionsbuch, die ich daher nicht zu entziffern vermag.“

[127] Die junge, blasse Frau konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. „Und in diesem Schreiben findest du etwas Besonderes, Fritz?“ meinte sie verwundert. „Ich kann Hans nur recht geben, wenn er es für nichts weiter als einen Bekehrungsversuch hält. Denn von irgend einem versteckten Zweck merke ich wirklich nichts.“

Auch der junge Arzt schaute den Schwager etwas ironisch am „Du hast von jeher eine mit deinem sonstigen praktischen Sinn gar nicht in Einklang zu bringende Vorliebe für alles gehabt, was mit dem Reiz des Eigenartigen, Geheimnisvollen umgeben zu sein schien. Daher auch deine Leidenschaft für alte Schreibtische, in denen du nach verborgenen Fächern suchst, für halb vermoderte Urkunden und anderen antiken Kram, der dich allerdings spielend in die Geschichte des Kunsthandwerkes eingeführt hat – das muß ich zugeben. Aber daß du nun auch in diesem Tagebuch Seiner Majestät Kaiser Friedrichs I. von Afrika etwas Rätselhaftes herausstöbern willst, heißt doch den Sport ein wenig übertreiben.“

Hilgener hatte mit einem eigentümlich überlegenen Lächeln, in seinen Stuhl zurückgelehnt, diesen Erguß hingenommen. Während er jetzt seinen dunkelblonden Schnurrbart langsam durch die Finger zog, erwiderte er gelassen: „Du scheinst dem preußischen Lehrer, der vor ungefähr achtzig Jahren die Danziger Jugend in das Reich der Wissenschaft einführte, doch eine gar zu vielseitige Bildung zuzutrauen, wenn du annimmst, daß er die türkische Sprache so vollkommen beherrschte, um eine Sure aus dem Koran übersetzen und daraus für sein Seelenheil die nötige Belehrung schöpfen zu können. Ich für meinen Teil glaube kaum, daß es um das Jahr 1830 herum in Danzig oder in einer anderen Handelsstadt Deutschlands einen Lehrer gegeben [128] hat, der sich so nebenbei Sprachkenntnisse erworben hatte, die man selbst unter unseren heutigen ersten Pädagogen selten finden wird – trotz des orientalischen Seminars in Berlin. Oder meinst du etwa, Jussuf Meinert hat dem in Danzig weilenden Bruder durch Unterrichtsbriefe à la Toussaint-Langenscheidt das Türkische beigebracht?“

Menk hüstelte erst etwas verlegen, sagte dann aber ehrlich: „Daran habe ich allerdings nicht gedacht. Jedenfalls ist dieser Einwand stichhaltig. – Wenn nun aber der Adressat die Koransure nicht lesen konnte, dann hatte doch –“

„– der ganze Brief eigentlich keinen Zweck für ihn,“ wolltest du sagen. „Das habe ich mir auch sofort überlegt. – Außerdem – jener Jussuf hätte seinem Bruder doch am besten eine Übersetzung statt des angeblichen Urtextes zugeschickt und damit seinen Bekehrungsversuch wesentlich vereinfacht – nicht wahr? – Will man also das Schreiben mit seinem dem Empfänger unverständlichen Anhang nicht als einen verspäteten Aprilscherz ansehen, so muß man eben nach einer anderen Lösung suchen, und ich glaube beinahe, daß ich schon auf der richtigen Spur bin. Nimm zum Beispiel an, daß der Schreiber diesen Brief nur deshalb in diese unauffällige Form gekleidet und für den zweiten Teil desselben die in Europa fast ganz unbekannten türkischen Schriftzeichen gewählt hat, um eine darin enthaltene wichtige Nachricht jedem Fremden oder Uneingeweihten, dem das Schreiben zufällig in die Hände fallen sollte, wertlos erscheinen zu lassen oder möglichst unverständlich zu machen, so hast du schon eine ganz einleuchtende Erklärung. Ob sie das Richtige trifft, ist natürlich fraglich, wird sich aber bald herausstellen.“

[129] „Dann müßtest du dich an jemanden wenden, der des Türkischen mächtig ist und die Koransure ins Deutsche überträgt,“ meinte der junge Arzt, der jetzt plötzlich Feuer und Flamme für die Sache war, eifrig.

„Vielleicht – vielleicht auch nicht!“ sagte Hilgener wieder mit demselben überlegenen Lächeln und fuhr dann fort: „Jedenfalls siehst du, lieber Hans, daß mein ‚Sport‘ immerhin recht interessante Seiten neben den bildenden hat, wenn damit auch gerade keine Reichtümer zu erwerben sind!“




Am nächsten Vormittag fuhren Doktor Menk und Frau Elsa wie verabredet zu Professor Valentini nach Danzig, und Hilgener benützte diese Zeit des Alleinseins, um nochmals in Ruhe das seltsame Tagebuch durchzusehen. Er hatte sich wieder auf die schattige Veranda gesetzt und las nun gewissenhaft von der ersten Seite an all die verschiedenen Eintragungen, die aber erst interessanter wurden, nachdem er mit den Geschäftsnotizen des früheren Danziger Barbiers fertig war und an die Mitteilungen des Lehrers kam, die bald Geburten, Todesfälle oder Hochzeiten in der Familie oder im Bekanntenkreise, bald politische Tagesereignisse betrafen. So handelten beinahe ganze drei Seiten unter dem Datum des 20. September 1819 von der Ermordung des russischen Agenten Kotzebue durch den Studenten Sand. Immer weiter blätterte Hilgener, verweilte aber besonders lange bei den eingeklebten Briefen des Joseph Meinert, die alle mit Ausnahme des letzten, eben jenes mit dem rätselhaften Inhalt, aus Konstantinopel abgesandt waren. Doch vergebens suchte er darin nach irgend einer Bemerkung, [130] die ihn der vermuteten Lösung näher bringen konnte.

Denn nicht aus bloßer Wichtigtuerei hatte er am vorhergehenden Tage das Gespräch über den alten Familienfolianten mit den unklaren Worten „Vielleicht – vielleicht auch nicht!“ abgebrochen. Da er fest überzeugt war, daß die hinter dem eigentlichen Brief folgenden Zeilen nicht eine Sure des Korans, sondern eine nur für den Bruder des Absenders bestimmte Mitteilung enthielten, so hatte er in den früheren Briefen irgend etwas zu finden gehofft, das auf eine zwischen den Brüdern verabredete geheime Art der Verständigung durch Benützung der türkischen Buchstaben hinwies. Doch diese Kombination schien, wie er jetzt einsehen mußte, verfehlt gewesen zu sein. Enttäuscht schob er daher das Tagebuch beiseite, um auf andere Weise hinter das Rätsel der blauen, ihm unbekannten Schriftzeichen zu kommen, die seit gestern seine Gedanken immer von neuem wie magnetisch anzogen.

Er legte jetzt einen Band seines Konversationslexikons, den er schon vorher aus dem Bücherschrank genommen hatte, vor sich hin und schlug darin eine Tafel auf, welche die Alphabete aller bekannten Sprachen enthielt. Jussuf Meinert hatte, wie er nach kurzem Vergleichen feststellte, den zweiten Teil seines Briefes in der für die Fermans, die amtlichen Erlasse, bestimmten eckigen Schriftgattung geschrieben. Mit Eifer machte sich Hilgener an die Arbeit. Auf einem Blatt Papier begann er die einzelnen Buchstaben der angeblichen Sure durch die entsprechenden deutschen zu ersetzen und reihte langsam Wort an Wort. Aber diese Worte ergaben auf den ersten Blick nicht den geringsten Sinn. Erst als er dann mit der Übertragung [131] der ersten fünf Zeilen fertig war und diese zusammenhängend überlas, schnellte er vor Überraschung von seinem Sitz empor. Das Blut schoß ihm so plötzlich zu Kopf, daß vor seinen Augen bunte Sternchen aufwirbelten und seine Gedanken sich jagten, verwirrten. Märchenhafte Zukunftsträume durchkreuzten wie Visionen sein Hirn, wurden abgelöst von Zweifeln und Befürchtungen, die die aufzuckenden Zauberbilder wieder zerstörten.

Minutenlang saß er dann bewegungslos, unfähig klar zu denken, da und starrte wie hypnotisiert vor sich hin. Nur mit Aufbietung seiner ganzen Energie zwang er sich zur Ruhe. Und hastig griff er dann wieder zum Bleistift, arbeitete mit zitternden Fingern weiter. Und wieder reihte sich Buchstabe an Buchstabe, Wort an Wort, und die Worte wurden Sätze, Sätze, aus denen ein wertvolles Geheimnis herauswuchs, das fast achtzig Jahre zwischen diesen vergilbten Seiten geschlummert hatte – in dem Tagebuch eines Irren.




Als die Geschwister eine Stunde später aus Danzig zurückkehrten, war Hilgener keine Spur von Erregung mehr anzumerken. Die Konsultation bei Professor Valentini hatte ein über Erwarten gutes Ergebnis gehabt, da er kein ernsteres Leiden feststellen konnte, und seine Diagnose nur auf starke Bleichsucht und nervöse Erschöpfung infolge der Aufregungen der letzten Zeit ging.

„Wenn Ihr Herr Schwager die Mittel besitzt,“ hatte er zu Doktor Menk geäußert, „so mag er mit seiner Frau für einige Wochen auf Reisen gehen. Diese Ablenkung wird für die angegriffenen Nerven Ihrer Schwester die beste Kur sein und auch ihr Allgemeinbefinden [132] in kurzer Zeit wieder heben. Natürlich nicht zu viel Aufregung dabei, aber kräftige Ernährung, der man vielleicht mit einem Nährpräparat nachhelfen könnte.“

Der Ingenieur nahm nach dieser Auskunft seine Frau zärtlich in die Arme und sagte mit glücklichem Lachen: „Schatz, das ist heute ein selten froher Tag für uns! Die Verordnung des Professors soll genau eingehalten werden. Was meinst du, wenn wir einmal nach dem schönen Griechenland unsere Schritte lenkten? Die Schweiz und Italien kennen wir ja, und die kleine Hafenstadt Navarino da unten im südlichen Griechenland lockt mich noch aus anderen Gründen.“

Doch Frau Elsa machte sich sanft aus seiner Umschlingung los. „Nein, Fritz, diese Reise können wir uns jetzt nicht leisten. Ich werde wohl auch hier wieder gesund werden, wenn ich nur erst unsere Zukunft gesichert weiß,“ meinte sie mit einem herzlichen Dankesblick. Die letzte Anspielung des Gatten auf den rätselhaften Brief schien ihr entgangen zu sein.

Dafür hatte aber der junge Arzt diese Worte desto richtiger gedeutet. „Nach Navarino willst du?“ fragte er schnell. „Dann hast du in dem Schreiben Meinerts oder dem verschimmelten Schmöker dort eine Entdeckung gemacht, die du an Ort und Stelle nachzuprüfen gedenkst – nicht wahr?“

„Du hast heute einmal das Richtige getroffen, lieber Hans!“ lachte Hilgener übermütig „Allem Anschein nach wird diese Entdeckung uns aus aller Not befreien! Ich wollte euch eigentlich erst nach Tisch in mein Geheimnis einweihen, aber mein Herz ist zu voll – es muß herunter! Und dann sollt ihr mir selbst sagen, ob meine Hoffnungen aus der Luft gegriffen sind oder nicht.“

[133] Die Geschwister hatten sich bei diesen Worten erstaunt angesehen.

Doch Hilgener ließ sich durch die verwunderten Gesichter nicht stören. „Ich habe euch schon gestern die Gründe entwickelt,“ fuhr er lebhaft fort, „die mich an dem frommen Inhalt der Koransure zweifeln ließen, verschwieg euch aber dabei das Wichtigste. Denn ich vermutete zugleich, daß der Geheimschreiber für die zweite Hälfte seines Briefes nicht die türkische Sprache, sondern nur deren Schriftzeichen gewählt hatte, vermutete weiter, daß ich in seinen vorhergehenden Briefen vielleicht eine Abschrift des türkischen Alphabets, die dem Danziger Lehrer eine Übertragung ähnlicher früherer Nachrichten ermöglichen sollte, finden würde. Trotzdem nun mein Suchen danach vergeblich war, habe ich diesen Gedanken doch weiter verfolgt, da ich mir sagte, daß Jussuf Meinert auch sehr wohl gehofft haben konnte, sein Bruder werde allein schon durch die eigentümlich gefaßte deutsche Einleitung auf die Idee kommen, mit Hilfe eines leicht zu beschaffenden türkischen Alphabets die Übersetzung des anderen Teils zu versuchen. Doch der schlaue Geheimschreiber hat an den Scharfsinn des Adressaten zu große Anforderungen gestellt, wie aus einer der nächsten Notizen des Tagebuchs hervorgeht, die sich über die vollkommene Unklarheit dieses Schreibens ausläßt. Ebenso scheint auch niemand der folgenden Meinertschen Generationen der Koransure irgendwelche Wichtigkeit beigemessen zu haben. In dürftigen Verhältnissen lebten sie dahin, ohne zu ahnen, daß das von ihrem Ahn in den blauen Zeilen verheißene Glück nichts anderes war als Reichtum, der Besitz großer verborgener Schätze!“

Menk und Frau Elsa hatten sich atemlos vorgebeugt. Was sie da hörten, klang ihnen wie eine jener abenteuerlichen [134] Geschichten, mit denen die glühende Phantasie eines Edgar Poe seine Leser in Spannung zu halten wußte. Aber ein Blick in Hilgeners jetzt von einer freudigen Erregung förmlich verklärtes Gesicht ließ sie wortlos weiter lauschen.

„Auch der arme Irre konnte nicht wissen, welch kostbaren Gegenstand er dir, Hans, mit diesem Buche vermachte. Eine Reihe von seltenen Zufällen hat mich erst jetzt, nach achtzig Jahren, die eigentliche Bedeutung dieses seltsamen Briefes herausfinden lassen. Hier“ – er zog aus seiner Brusttasche ein Blatt Papier hervor – „hier ist die Lösung des Geheimnisses:

‚Fünfhundert Schritte von der nördlichsten Ecke der Bastionen des Hafenforts von Navarino nach Südosten stehen auf einem Hügel in einer Linie drei Eichen. Von der mittelsten zehn Schritte nach Westen in einer Tiefe von fünf Fuß liegt ein Schatz, den ich in dieser Nacht vor kaum einer halben Stunde mit meinem Herrn, dem Kapudan-Bei, dort verborgen habe. Nur wir beide wissen darum und können ihn vielleicht nicht mehr heben, da eine Seeschlacht bevorsteht, in der uns der Tod droht. Solltest Du innerhalb eines halben Jahres keine Nachricht von mir erhalten, so suche mit aller Vorsicht die Reichtümer in Deinen Besitz zu bringen.‘“

Als der Ingenieur geendet hatte, schaute er seine Zuhörer erwartungsvoll an. Aber nur in Frau Elsas Augen sah er ein glückliches, hoffendes Aufleuchten. Dagegen machte Doktor Menk ein recht enttäuschtes Gesicht und sagte nach einer Weile kurzen Überlegens in seinem schönsten Kathederton: „Setzen wir schon den Fall, daß dieser Schatz im Jahre 1827 da unten in Griechenland verborgen worden ist, so spricht doch alles dagegen, daß er noch an dem beschriebenen Orte [135] liegt. Gewiß – dem Brief nach scheint ja Jussuf Meinert in jener Schlacht umgekommen zu sein, da er nichts weiter von sich hören ließ. Aber dann lebte immer noch sein Herr, der –“

„Mein lieber Hans,“ unterbrach Hilgener ihn siegesgewiß, „die Wahrscheinlichkeit spricht unbedingt dafür, daß beide, Jussuf Meinert und der Kapudan-Bei, mit dem Flaggschiff ‚Alexandria‘ zugleich in der Seeschlacht bei Navarino untergegangen sind. Wenn dich die näheren Umstände interessieren, so lies im Konversationslexikon den betreffenden Artikel durch. Ich habe ein Zeichen hineingelegt.“

Aber der junge Arzt gab seine Bedenken nicht so schnell auf. „Dann ist doch auch anzunehmen,“ meinte er hartnäckig, „daß der Kapudan-Bei das Geheimnis ebenfalls noch anderen Personen mitgeteilt hat, oder daß das Versteck zufällig einmal aufgefunden worden ist. Und die Hauptsache – die drei in dieser Urkunde genannten Eichen, die zur Auffindung der verborgenen Reichtümer wohl unbedingt noch vorhanden sein müßten, werden wohl trotz der hohen Lebensdauer dieser Baumart inzwischen eingegangen sein. Dann modert Jussuf Meinerts famoser Schatz weiter bis zum Jüngsten Tage – falls er, wie gesagt, überhaupt je in die berühmte Erde, über die einst die verführerische Helena gewandelt ist, eingebuddelt wurde!“

Der Ingenieur überhörte absichtlich den in den letzten Sätzen liegenden Spott und erwiderte sehr ruhig: „Nun, ich denke über diese Sache anders, und wenn Elsa nichts dagegen hat, so hoffe ich mir in kurzer Zeit Gewißheit zu verschaffen, ob dieser Brief nur ein verspäteter Aprilscherz gewesen ist. Dich, Hans, möchte ich aber bitten, über das alte Buch und seinen Inhalt vorläufig gegen jedermann Stillschweigen [136] zu bewahren. Es dürfte doch auch noch andere Leute außer mir geben, die dem Winke dieser Koransure folgen und einen kleinen Abstecher nach Griechenland selbst auf die Gefahr eines Mißerfolges hin wagen würden.“




Der heutige Hafenort am Golf von Navarino, beim Volke jetzt Neokastro genannt, hat sein Aussehen seit jener Seeschlacht, die seinem Namen zur Berühmtheit verhalf, vollkommen geändert. Noch immer gilt er aber als der beste und geräumigste Hafen Griechenlands, der bei seiner für die größten Seeschiffe ausreichenden Tiefe, den neuen Kaianlagen und riesigen Lagerhäusern jetzt einer der wichtigsten Exportplätze für die Produkte des Peloponnes – Rosinen, Korinthen und Wein – geworden ist. Trotz der geringen Einwohnerzahl von etwa zweitausendvierhundert Köpfen bietet daher die Stadt mit ihren weißen Häusern, dem sauber gepflegten Straßen und dem dunkeln Hintergrunde der dicht bewaldeten Höhen ein Bild lebhaften internationalen Verkehrs. Nur das Sperrfort am Hafeneingang hat seine Bedeutung vollständig verloren. Die Regierung läßt die Festungswerke verfallen, da Neokastro als Flottenstützpunkt nicht mehr in Betracht kommt. So sind denn die Mauern der Bastionen eingestürzt und mit Unkraut überwuchert, die Gräben durch Schutt fast ganz angefüllt, und nur die Zitadelle ist erhalten geblieben und wird jetzt als Gefängnis benützt, in dem die Nachkommen der einstigen Navarresen, die wie alle Küstengriechen leidenschaftliche Schmuggler sind, ihre Strafzeit wegen Paschens[WS 2] in heiterer Beschaulichkeit absitzen, um sofort nach ihrer Freilassung diesen geheimen Kampf gegen die Gesetze des Staates wieder aufzunehmen.

[137] In den ersten Augusttagen war in dem von einer Berliner Gesellschaft erbauten und mit allem Komfort der Neuzeit eingerichteten Hotel in Neokastro eine aus vier Köpfen bestehende deutsche Familie, ein Ehepaar mit einem fünfjährigen Knaben und einer Bonne, abgestiegen. Der Herr, der sich als Ingenieur Fritz Hilgener aus Danzig in das Fremdenbuch eingetragen hatte, schien ein ebenso großer Fußgänger wie Naturfreund zu sein, denn gleich nach seiner Ankunft unternahm er, ausgerüstet mit einer photographischen Camera und einem derben Spazierstock, weite Ausflüge in die Umgegend, zu denen er meist schon in den frühen Morgenstunden aufbrach, um erst Mittags bestaubt und ermattet zurückzukehren.

Seine junge, kränklich aussehende Frau begleitete ihn nur selten, saß in seiner Abwesenheit auf der Hotelterrasse, schaute träumerisch auf das zu ihren Füßen liegende Hafenbild und antwortete nur zerstreut auf die Fragen ihres lebhaften Söhnchens, das oft mit scheuen Augen zu ihr aufsah, als ob sein Kindergemüt nicht begreifen konnte, warum die Mutter trotz des lachenden Sonnenscheins und der vielen Schifflein unten auf dem weiten Meere von Tag zu Tag stiller und trauriger wurde.

Da, nach einer Woche – der Knabe schritt gerade um die Mittagszeit an ihrer Hand durch die schattigen Wege des Hotelparks – sollte er doch wieder die Freude erleben, um ihre Lippen ein glückliches Lächeln spielen zu sehen, als der Vater ihnen plötzlich begegnete und schon von weitem mit der Hand freudig winkte, sich dann in der Mutter Arm einhängte und leise auf sie einsprach mit froh erregtem Gesicht.

„Endlich – endlich!“ flüsterte Hilgener ganz atemlos seiner Frau zu. „Ich habe die Stelle jetzt gefunden, [138] Liebling! Und weißt du, warum meine bisherigen Nachforschungen vergeblich waren? Weil Jussuf Meinert in seiner Beschreibung einen Fehler gemacht hat, da er in jener Nacht den nördlichsten ausspringenden Winkel der Bastion vor sich zu haben glaubte, während es in Wirklichkeit der nordwestliche war. Dieser Irrtum konnte ihm schon unterlaufen, wenn man bedenkt, daß die beiden Schatzgräber in der Dunkelheit und sicherlich auch in großer Eile die Abmessungen vorgenommen haben. Jetzt bin ich mir aber meiner Sache ganz sicher! Zwar stehen auf dem inmitten eines Platanenhains recht versteckt liegenden Hügel von den drei erwähnten Eichen nur noch zwei – mächtige, verwitterte Stämme sind’s – aber ich habe mit meinem Stock so lange in der Erde herumgesucht, bis ich auch das Wurzelwerk der dritten fand, die wahrscheinlich durch einen Blitzschlag einmal zerschmettert wurde. Der Boden ist dort ganz unbebaut, und die Mauer des nächsten Weinbergs gut zweihundert Meter entfernt. Daß also der Schatz in der Zwischenzeit durch Zufall vielleicht bei irgend einer Feldarbeit entdeckt worden ist, brauchen wir nicht zu fürchten, und noch heute nacht werde ich erfahren, ob Jussuf Meinerts Urkunde wirklich nur ein – Phantasiegebilde ist!“

Da fiel Frau Elsa ihrem Gatten mit unterdrücktem Jubelschrei um den Hals. „Kein Phantasiegebilde, Fritz!“ meinte sie hoffnungsfreudig. „Eine innere Stimme sagt mir, daß du Erfolg haben wirst!“

Der Knabe aber klatschte jetzt ausgelassen in die Hände, und sich zwischen die Eltern drängend, die ihn ganz vergessen zu haben schienen, rief er mit seinem hellen Stimmchen: „So lustig soll Mutti immer sein – immer!“

Und der Vater fuhr ihm liebkosend über das frische [139] Kindergesicht und sagte weich: „Hast recht, mein Junge! Nun, die Mutter wird auch wieder froh werden, ganz froh!“




Drei Tage später hielt Mittags vor dem in der Stadionstraße in Athen gelegenen Ministerium des Innern ein Wagen, dem der Ingenieur Hilgener entstieg. Nachdem er sich bei dem Minister Theotokis hatte melden lassen, wurde er sogleich in dessen Arbeitszimmer geführt, wo ihn der hohe Staatsmann auf das zuvorkommendste begrüßte. Theotokis bat ihn, Platz zu nehmen, und setzte sich ihm gegenüber auf einen zweiten der mit dem königlichen Wappen geschmückten hochlehnigen Stühle.

„Ich habe Ihren Brief mit großem Interesse gelesen,“ sagte er in fließendem Französisch. „Wollen Sie mir jetzt Ihre Vorschläge unterbreiten, Herr Hilgener?“

„Exzellenz kennen aus meinem Schreiben die merkwürdige Vorgeschichte meiner Entdeckung,“ begann dieser. „Ich habe darin absichtlich jede nähere Bezeichnung der Örtlichkeit ausgelassen und werde diese auch erst angeben, sobald unsere Verhandlungen zu einem befriedigenden Abschluß gelangt sind. Wie ich mich überzeugt habe, steht nach griechischem Recht ebenso wie nach dem meiner Heimat ein aufgefundener Schatz je zur Hälfte dem Entdecker und dem Eigentümer des Grund und Bodens zu, in dem er verborgen war. In meinem Falle würde demnach, da der betreffende Ort auf fiskalischem Terrain liegt, die griechische Regierung Anspruch auf die eine Hälfte haben. Um mir nun alle Weiterungen zu ersparen, möchte ich Eure Exzellenz bitten, eine Verhandlung etwa folgenden Inhalts aufzunehmen und zu unterzeichnen:

[140] Die griechische Regierung übernimmt es, in meiner Gegenwart den Schatz ausgraben, hierher nach Athen schaffen zu lassen und erkennt meine gesetzlichen Rechte daran ohne irgendwelche Einschränkungen an. – Es genügt mir,“ fügte Hilgener höflich hinzu, „wenn Eure Exzellenz ein in diesem Sinne abgefaßtes Schriftstück mit Ihrem Namen versehen. So läßt sich die Sache am schnellsten erledigen.“

Der Minister nickte zustimmend. „Ich werde Ihrem Wunsche gern willfahren, Herr Hilgener, nur möchte ich vorher noch über einen Punkt Aufschluß haben. Sie sagten soeben, daß wir die Ausgrabung übernehmen sollten. Liegt denn der Schatz noch an derselben Stelle, wo Sie ihn fanden? – Ich glaubte aus dem Inhalt Ihres Briefes entnehmen zu sollen, daß Sie ihn bereits anderswohin geschafft haben.“

„Nein, Exzellenz,“ erwiderte der Ingenieur, „das hätte ich allein wohl kaum fertig gebracht. Ich habe in jener Nacht zusammen mit meiner Frau nur ein kleines Loch ausgeworfen und festgestellt, daß dort tatsächlich eine große Kiste liegt, die ihrem Klange nach aus Eisen besteht. Darauf haben wir alle Spuren unserer Tätigkeit wieder sorgfältig verwischt. Mir schien es sicherer, mich an die Behörden zu wenden und deren Hilfe nachzusuchen.“

„Das war recht!“ meinte der Minister befriedigt und fuhr dann mit ehrlicher Anerkennung fort: „Ich glaube kaum, daß ein anderer in Ihrer Lage ebenso selbstlos gehandelt hätte, Herr Hilgener. Die meisten würden wohl ihren Raub in aller Stille beiseite geschafft haben. – Nun, es wird sich ja ein Weg finden lassen, um Ihnen auch den Dank unserer Regierung“ – er machte eine bezeichnende Handbewegung nach dem Knopfloch seines Rockes – „auszudrücken. Jedenfalls [141] werde ich Ihnen jetzt zunächst das verlangte Schriftstück ausstellen, und dann – meine Neugier ist wohl zu begreifen – geben Sie mir, bitte, nähere Auskunft.“

„Ich deutete in meinem Schreiben bereits an,“ erklärte Hilgener, nachdem er das fertige Schreiben sorgfältig in seiner Brieftasche verwahrt hatte, „daß es sich um eine vor langen Jahren verborgene Kriegsbeute handelt. Diese wurde kurz vor der Seeschlacht von Navarino von dem Oberbefehlshaber der türkisch-ägyptischen Flotte, der sie bis dahin auf seinem Flaggschiff untergebracht hatte, in der Nähe jener Hafenstadt etwa fünfhundert Meter von der Küste am Fuße eines mit drei Eichen bestandenen Hügels vergraben. Dort ruht sie noch heute.“

Theotokis hatte bei dem Namen Navarino erstaunt ausgehorcht. Jetzt glitt ein Lächeln über sein Gesicht. „Also Navarino! Das habe ich allerdings nicht erwartet. Nun – es ist nur gut, daß der Vertrag mit der englischen Gesellschaft bereits abgeschlossen ist, die von uns auf zehn Jahre das Recht erworben hat, in der Bai von Navarino allein die während jener Seeschlacht gesunkenen Schiffe zu heben oder durch Taucher etwaige Kostbarkeiten dem Meeresgrunde entreißen zu lassen. Denn ob jenes Syndikat uns das Privileg so teuer bezahlt hätte, wenn Ihre Entdeckung vorher bekannt geworden wäre, möchte ich doch bezweifeln. Ich muß sogar jetzt annehmen, daß die Engländer vielleicht auch auf irgend eine Weise von diesem Kriegsschatz gehört haben, den sie allerdings noch auf der ‚Alexandria‘ vermuten werden, und nur in der Hoffnung auf diesen Fund die von uns geforderte Abfindungssumme für das Privileg anstandslos entrichteten. – Unser Geschäft, Herr Hilgener, wird jedenfalls [142] durch die Abmachungen mit dem englischen Unternehmen in keiner Weise berührt. Nur ist es wahrscheinlich, daß man jetzt versuchen wird, von der Vertragssumme etwas herunterzuhandeln.“

„Das glaube ich nicht, Exzellenz,“ sagte Hilgener. „Ich habe in einer Fachzeitschrift einen längeren Artikel über diesen Plan gelesen, der zwar ein wenig phantastisch klingt, aber den Beteiligten meiner Meinung nach selbst bei Wegfall unseres Schatzes immer noch ein glänzendes Geschäft verspricht. Nach den dort aufgestellten genauen Berechnungen hofft man allein schon durch die bronzenen Kanonen, deren Zahl auf eintausendsiebenhundert angegeben und von denen das Stück auf zweitausend bis dreitausend Mark geschätzt wird, die Kosten zu decken, und der Wert des Kupferbeschlages und des Eichenholzes von den Schiffsrümpfen dürfte noch einen ganz beträchtlichen Reingewinn ergeben.“

Der Minister hatte sich erhoben. „Nun, wir wollen hoffen, daß das englische Syndikat wirklich so gut abschneidet. – Was aber unsere Angelegenheit betrifft, so werde ich dafür sorgen, daß in den nächsten Tagen einer unserer in Nauplia stationierten kleinen Kreuzer nach Navarino in See geht. Die Überführung des Schatzes auf das Schiff können Sie beaufsichtigen, und ich stelle Ihnen auch anheim, die Fahrt hierher auf dem Kreuzer mitzumachen. Es sollen für Ihre Familie die nötigen Räume, soweit dies auf einem Kriegsfahrzeug eben möglich ist, bereit gehalten werden. Das übrige erledigen wir nach Ihrer Rückkehr; und dann hoffe ich auch jenes merkwürdige Tagebuch zu sehen, dem wir diese Entdeckung verdanken.“




[143] In dem Arbeitszimmer des jetzigen Besitzers der Heckerschen Maschinenfabrik steht auf einem aus Eichenholz geschnitzten Gestell eine stark verrostete eiserne Truhe, die durch ihre altertümlichen Verzierungen und sinnreich eingerichteten Kunstschlösser immer wieder die Aufmerksamkeit der Besucher des gastfreien Hauses Hilgener auf sich lenkt. Und in dieser Truhe, die achtzig Jahre lang den Schatz des Kapudan-Beis und Jussuf Meinerts enthielt, liegt ein dickes, unscheinbares Buch mit verschossenem grauen Pappdeckel. Darüber an der Wand hängt ein von einem jungen Danziger Künstler in Öl gemaltes Bild, das in leuchtenden Farben den sonnenbeschienenen Hafen von Neokastro mit seinem Gewimmel von Schiffen aller Art, den weißen Häusern und den verfallenen Resten des einstigen Forts darstellt.

An jedem zwanzigsten Oktober aber wird bei Hilgeners zur Erinnerung an die Seeschlacht bei Navarino ein Fest gefeiert, dessen tiefere Bedeutung nur den vertrauten Freunden der Familie bekannt ist. Denn wunderbarerweise haben die deutschen Tagesblätter seinerzeit die geheimnisvolle Schatzgeschichte nur in kurzen, meist recht unvollkommenen Notizen erwähnt, trotzdem die Person des jungen Ingenieurs damals in Athen gleich nach der Teilung jenes kostbaren Fundes, der einen Wert von mehreren Millionen hatte, und dessen hervorragendste Stücke im Nationalmuseum ausgestellt wurden, Gegenstand der allgemeinen Beachtung war, und die griechischen Zeitungen spaltenlange Berichte über ihn brachten. Hilgener selbst ließ die Welt gern bei dem Glauben, daß er eine reiche Erbschaft gemacht habe, zumal diese Vermutung gar nicht so sehr daneben traf. Denn daß nicht er, sondern sein Schwager der eigentliche Erbe des seltsamen Vermächtnisses [144] des letzten Meinert war, blieb sich schließlich gleich, da auch Doktor Hans Menk fortan unter Geldsorgen nicht mehr zu leiden hatte.

Als aber eines Tages Frau Elsa, die ganz nach ihres Kleinen Wunsch längst die alte sonnige Heiterkeit und blühende Frische wiedererlangt hatte, von einer neugierigen Freundin gefragt wurde, wofür ihr Gatte kürzlich den griechischen Orden erhalten habe, da antwortete sie lächelnd: „Genau weiß ich’s nicht, aber ich glaube für – das Tagebuch eines Irren.“


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Zahlungsunfähigkeit, Konkurs
  2. Schmuggeln