Brüssel (Meyer’s Universum)
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Mit sinkender Nacht erreichte ich[1] durch das Laekener Thor die Haupt- und Residenzstadt Brüssel. Ein halbdurchsichtiger Rauchschleier war über den weiten Raum, den die Stadt auf einem Hügel und der Ebene einnimmt, gelagert; tausende von Gaslichtern blitzten wie helle Sterne daraus hervor, und hunderte von Rauch ausstoßenden, schwarzen Feueressen, die sich dazwischen reiheten, sagten mir schon von der Ferne, daß Macht, Industrie und Gewerbe dort friedlich neben einander thronten. Durch die schnurgerade, prachtvolle Laekener Straße, über welche vierarmige Gasreverberen, wie so viele Kronleuchter, schwebten und das blendendste Tageslicht verbreiteten, und zwischen prächtig erleuchteten und geschmückten Kaufläden, die sich ununterbrochen an einander reiheten, gelangte ich zum Mittelpunkte der Stadt. Dort werden die Straßen plötzlich enge; unregelmäßig winden sie sich in einander, und statt der prächtigen, colossalen Wohnungen im modernen Style sieht man vorspringende Giebel der Straße zugekehrt, alterthümliche Häuser aus den Zeiten Karl’s des Fünften, oder Philipp’s des Zweiten, deren Styl an die spanische Herrschaft erinnert. In meinem Hotel auf dem GRAND PLACE angekommen, verdrängte das Bedürfniß der Ruhe bald jedes andere: die 36stündige Eilwagentour (ich hatte gestern früh noch im CAFÉ DES ETRANGÈRS in Paris gefrühstückt, hatte mich mehr, als ich mir selbst bewußt war, abgespannt, und bald nahm mich Morpheus in seine Arme auf.
Am andern Morgen begann ich die Wanderung durch die nahe an 100,000 Bewohner zählende Stadt. Den alten, innern Kern ausgenommen, welcher den Typus altspanischer Städteformen hat, fand ich die Straßen regelmäßig, geräumig, luftig, die Häuser wohlgebaut, von gefälligem, sehr viele von pallastähnlichem Ansehen. Brüssel gehört unstreitig unter die schönsten Städte des festen Landes und in deren vorderste Reihe.
Ich begann meine REVUE DES CURIOSITÉS mit dem VIS A VIS meines Zimmers: dem Rathhause nämlich, welches das schönste und prächtigste auf der ganzen Erde, und nicht blos dem Namen nach ist. Auf meiner Skizze (nach welcher nebiges Bild gestochen ist) macht sich’s als das hoch über die Gebäudemasse hervorragende, fensterreiche Dach mit dem schlanken, reich verzierten Thurm kenntlich. Es liegt am GRAND PLACE (dem Markte), der ein langes Viereck bildet, und füllt mit seiner Fronte eine ganze Seite desselben aus. Ich wüßte [119] unter allen, die ich gesehen, kein schöneres Gebäude im lombardisch-gothischen Style zu nennen, und selbst in der Unregelmäßigkeit seiner Verzierungen sieht man nichts als ein Uebermaß von Reichthum der schaffenden Phantasie. Das Unsymmetrische scheint hier zum höchsten Ebenmaße geadelt. Die Stadthäuser von Paris, Gent, Brügge, Cöln, London, selbst das in Amsterdam, obschon herrlich für sich, würden neben diesem wie eine hübsche Dorfkirche gegen einen Straßburger Münster erscheinen. Welche Begriffe gibt ein solcher Bau von dem Gemeingeist, dem Reichthum und der Kraft einer Bevölkerung, die ihn möglich machten! Das gesammte Vermögen aller Bürger manches Königreichs würde in unserer Zeit nicht Gleiches hervorbringen können, wenn auch die Kunst es noch vermöchte.
Dies Gebäude (aufgeführt im 14ten und 15ten Jahrhundert) bildet ein regelmäßiges Viereck, von dem jede Seite 320 Fuß lang ist. Die dem Markte zugekehrte Hauptfronte ist 120 Fuß hoch, und die Mitte trägt den herrlichen Thurm, ein wahres Wunderwerk, das wie leichte, zarte Filagränarbeit in tausendfach verschlungenen Formen 370 Fuß hoch in die Wolken steigt. Die colossale, 20 Fuß hohe Statue des streitfrohen Himmelsfürsten – Sankt Michael, der den Drachen erwürgt – von vergoldetem Kupfer, prangt auf der Spitze, und mit dem flammenden Schwerte macht er den Wächter der Stadt. Die innere Ausstattung ist des Aeußern ganz würdig. Sie ist die alte geblieben unter dem Wechsel der Zeit und der Herrscher. Alle Räume sind mit den kostbarsten Brüsseler Tapeten behangen, die Decken, Treppengeländer mit kunstvollen Schnitzereien verziert. Der Gemäldeschatz, obschon vielfach beraubt, ist noch immer einer der bedeutendsten in den ganzen Niederlanden.
Durch die RUE DE LA VIOLETTE, in der Richtung nach dem Thore von Namur, kam ich zum alten Getreidemarkte, mit dem ehemaligen Oranischen Palais, jetzt dem National-Museum. Die Sammlungen bestehen aus einer Gemälde- und Antikengallerie, einer Bibliothek von 200,000 Bänden, einem Kupferstich- und einem reichen Naturalienkabinet. Einige der schönsten Piecen sind der königlichen Akademie zum Sitzungslocale angewiesen. Das Gebäude ist im reichen, altgothischen Style und von einem Grafen von Nassau, 1502, vollendet worden, nachdem der Bau schon anderthalbhundert Jahre früher begonnen hatte. – Von hier aus wanderte ich durch die RUE DE L’HOSPITAL und die DE LA MADELEINE; unversehens stand ich vor dem größten Pallaste Brüssels, und mit freudigem Erstaunen las ich über dem Haupteingange Palais de l’industrie. Der Fleiß hatte also hier wirklich sein königliches Haus!
In dieses Pallastes sich an und über einander reihenden Sälen und Zimmern, welche die befreundete Hand der Macht mit königlicher Pracht dekorirt hat, sind alle Erzeugnisse von Belgiens Gewerbthätigkeit zur Schau ausgestellt und dem Geringstscheinenden ist ein Ehrenplätzchen eingeräumt. „Voilà notre galérie de Versailles,“ sagte [120] leuchtenden Blicks, mein Brüsseler Freund, und die Phrase machte mir eine schlaflose halbe Nacht. Ich nahm sie kopfschüttelnd auf und am Ende gab ich ihm Recht. Ein und zwanzig Säle und Zimmer füllten blos Modelle und Musterexemplare von allen anerkannt-guten Maschinen für jede Art von Industrie und Gewerbe, für Haus- und Landwirthschaft. Diese Säle sind immer und allem Volk geöffnet und mit dem lebhaftesten Interesse sah ich Hunderte von Handwerkern und Landleuten zeichnen, messen, probiren, sich zusammen gruppiren und über den Werth und Unwerth des Untersuchten diskutiren. – In dem untern Stocke sind die Räume für die Gewerbschule; dort sah ich 1600 junge Leute (Lehrlinge von allen Handwerkern etc.) mit Zeichnen, Modelliren, der Mathematik, Mechanik und Experimentiren in der gewerblichen Chemie unter der Anleitung von einigen 30 Lehrern beschäftigt. – Belgiens ehrenvolles Voranschreiten in allen Zweigen der Industrie, das Wunder seiner Nationalwohlfahrt, ist mir, seit meinem Besuche des PALAIS DE L’INDUSTRIE, kein Räthsel mehr.
Die nächste Straße führt nach der RUE ROYALE, der schönsten und größten Brüssels, deren eine Hälfte Fronte gegen den herrlichen Park macht, welchen wir in einem frühern Theile dieses Werkes schon beschrieben haben. Hier raste der harte Kampf um Belgiens Unabhängigkeit in den Augusttagen 1830 am hartnäckigsten; aber jede sichtbare Spur davon wäre verlöscht, zeugten nicht die häufig abgerissenen Aeste und zerschossenen Stämme der hundertjährigen Bäume an der Außenseite des Parks von der Verwüstung, welche hier die Kanonenkugeln angerichtet haben müssen. Der königliche Pallast, dem Parke gegenüber, hat eine imposante Vorderfronte und sein Inneres ist sehr geschmackvoll meublirt. Der König residirt aber gewöhnlich in Laeken. – Nahe dabei ist der Pallast der Prinzen von Oranien, einer der schönsten Europa’s. Alle Wände der innern Räume sind mit den edelsten Marmor- und Jaspisarten, die Fußböden mit wohlriechenden Zedern-, mit Rosen- und köstlichem Sandelholz ausgelegt, die Decken von den Händen berühmter Maler geziert, oder auf das reichste vergoldet. Die Meubles allein, zum Theil von massivem Silber, sind auf 6 Millionen Gulden geschätzt worden. Seit der Vertreibung des Hauses Nassau steht dieses Krongut seines ehemaligen Fürsten unter Sequester des Belgischen Volks. Der andern Seite des Parks gegenüber erhebt sich die prächtige Säulenfronte des PALAIS DE LA NATION, in welchem die beiden Häuser des belgischen National-Congresses ihre Sitzungen halten. Die Verzierung der Versammlungsräume ist sehr einfach; doch würdig. Am schönsten ist die Ausschmückung der Gallerie für die Zuhörer: das Volk. – Betrachten wir nun noch Brüssels gefeiertesten Gottestempel! und dann sey es für heute genug. Die Kathedrale von St. Gudule gehört zu den schönsten Denkmälern des byzantinischen Kirchenstyls. Ihre Erbauung fällt in das 13te Jahrhundert. Sie hat die Form eines länglichen Vierecks mit hervorspringenden Portiken und besteht aus dem Schiff mit 2 Seitenflügeln, welche von jenem durch nahe an 100 Fuß hohe Säulenbündel getrennt sind. Die Länge der Kirche mißt fast 400 Fuß. Kunstschätze der Oel- und Glasmalerei, Erzgießerei, der Metall- und Holzsculptur [121] hier bewahrt, lassen Tausende hieher pilgern, welche die Heilige Gudula nicht kennen, deren Leib hier in silbernem Sarge ruht. – Auch im Pallaste des Herzogs von Aremberg ist eine Gemälde- und Antikengallerie, welche unter die kostbarsten Europa’s gehört. – Wir werden, da uns in diesem Werke noch ein drittes Bild aus Brüssel beschäftigen wird, später darauf zurückkommen.
- ↑ Aus des Herausgebers Tagebuch und Notizen.