Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band | |
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Mit sinkender Nacht erreichte ich[1] durch das Laekener Thor die Haupt- und Residenzstadt Brüssel. Ein halbdurchsichtiger Rauchschleier war über den weiten Raum, den die Stadt auf einem Hügel und der Ebene einnimmt, gelagert; tausende von Gaslichtern blitzten wie helle Sterne daraus hervor, und hunderte von Rauch ausstoßenden, schwarzen Feueressen, die sich dazwischen reiheten, sagten mir schon von der Ferne, daß Macht, Industrie und Gewerbe dort friedlich neben einander thronten. Durch die schnurgerade, prachtvolle Laekener Straße, über welche vierarmige Gasreverberen, wie so viele Kronleuchter, schwebten und das blendendste Tageslicht verbreiteten, und zwischen prächtig erleuchteten und geschmückten Kaufläden, die sich ununterbrochen an einander reiheten, gelangte ich zum Mittelpunkte der Stadt. Dort werden die Straßen plötzlich enge; unregelmäßig winden sie sich in einander, und statt der prächtigen, colossalen Wohnungen im modernen Style sieht man vorspringende Giebel der Straße zugekehrt, alterthümliche Häuser aus den Zeiten Karl’s des Fünften, oder Philipp’s des Zweiten, deren Styl an die spanische Herrschaft erinnert. In meinem Hotel auf dem GRAND PLACE angekommen, verdrängte das Bedürfniß der Ruhe bald jedes andere: die 36stündige Eilwagentour (ich hatte gestern früh noch im CAFÉ DES ETRANGÈRS in Paris gefrühstückt, hatte mich mehr, als ich mir selbst bewußt war, abgespannt, und bald nahm mich Morpheus in seine Arme auf.
Am andern Morgen begann ich die Wanderung durch die nahe an 100,000 Bewohner zählende Stadt. Den alten, innern Kern ausgenommen, welcher den Typus altspanischer Städteformen hat, fand ich die Straßen regelmäßig, geräumig, luftig, die Häuser wohlgebaut, von gefälligem, sehr viele von pallastähnlichem Ansehen. Brüssel gehört unstreitig unter die schönsten Städte des festen Landes und in deren vorderste Reihe.
Ich begann meine REVUE DES CURIOSITÉS mit dem VIS A VIS meines Zimmers: dem Rathhause nämlich, welches das schönste und prächtigste auf der ganzen Erde, und nicht blos dem Namen nach ist. Auf meiner Skizze (nach welcher nebiges Bild gestochen ist) macht sich’s als das hoch über die Gebäudemasse hervorragende, fensterreiche Dach mit dem schlanken, reich verzierten Thurm kenntlich. Es liegt am GRAND PLACE (dem Markte), der ein langes Viereck bildet, und füllt mit seiner Fronte eine ganze Seite desselben aus. Ich wüßte
- ↑ Aus des Herausgebers Tagebuch und Notizen.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1837, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_4._Band_1837.djvu/196&oldid=- (Version vom 5.10.2024)