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Berliner Plaudereien (Die Gartenlaube 1863/33)

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Berliner Plaudereien
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 527–528
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[527] Berliner Plaudereien. Die beiden ältesten Berliner Zeitungen sind die Vossische und Spenersche Zeitung, von dem Berliner Volkswitz „Tante Voß“ und „Onkel Spener“ getauft. Das Priviligium der Ersteren stammt aus dem Jahre 1721, während die Letztere am 30. Juni 1740 bei dem Buchhändler Ambrosius Haude erschien. Derselbe hatte Friedrich den Großen, als er noch Kronprinz war, heimlich und gegen den Willen seines strengen Vaters mit den neuesten Erzeugnissen der französischen Literatur versorgt und dafür zum Lohn die Concession zur Herausgabe einer neuen Zeitung erhalten. Der große König gewährte beiden Blättern eine angemessene Preßfreiheit, indem er bei Gelegenheit den noch jetzt beherzigenswerthen Grundsatz aufstellte: „Gazetten dürfen nicht genirt sein, wenn sie das Publicum interessiren sollen“. Während des siebenjährigen Krieges drohte den beiden Redacteuren der Berliner Zeitungen eine tragische Execution, indem ihnen von den Russen, welche die Residenz 1759 eingenommen hatten, 200 Stockprügel wegen vorangegangener Beleidigungen zugedacht waren. Die unglücklichen Zeitungsschreiber Krause und Kretschmer betheuerten vergebens ihre Unschuld, sie wurden ergriffen und verurtheilt, die eben so schmerzhafte als schimpfliche Strafe a posteriori zu erleiden. Nur den unablässigen Bemühungen des patriotischen Kaufmanns Gotskofsky gelang es endlich, den russischen General von Tottleben, der sich persönlich beleidigt fühlte, milder zu stimmen. Nach vielem Bitten brachte er es dahin, daß die beiden Verurtheilten ihre Strafe nur figürlich erlitten, indem sie auf dem Neumarkt durch eine Gasse von 200 mit Ruthen bewaffneter Soldaten geführt, darauf begnadigt, ihre Schriften aber durch den Henker verbrannt wurden. – Beide Zeitungen erschienen damals in Sedezformat nur dreimal wöchentlich und kosteten zwei Thaler für das ganze Jahr; einzelne Nummern wurden für 6 Pfennige verkauft. Die Zahl der Abonnenten und Leser war natürlich sehr beschränkt und betrug kaum so viel Hunderte wie jetzt Tausende.

Zu den Mitarbeitern der Vossischen Zeitung gehörte der berühmte Lessing, der als junger Mann „seinen Beruf verfehlt“ und Zeitungsschreiber geworden war. Mehrere Jahre lieferte er für das genannte Blatt verschiedene größere und kleinere Aufsätze meist kritischen Inhalts. Hier bildete er sich im Umgange mit Mendelssohn und Nikolai zu dem größten Kritiker Deutschlands und übte seine jugendliche Kraft, mit der er später als kritischer Hercules den Augiasstall der deutschen Literatur säuberte. Seine Einkünfte müssen nicht eben glänzend gewesen sein, denn er schrieb zu jener Zeit an seinen Vater: „Der Tisch bekümmert mich in Berlin am allerwenigsten. Ich kann für 1 Groschen 6 Pfennige eine starke Mahlzeit thun.“ Mit der eigentlichen Politik wollte er nichts zu thun haben, wie aus demselben Briefe hervorgeht, worin er unter Anderm meldet: „Der jüngere Mylius ist mit dem älteren Rüdiger (dem damaligen Besitzer der Vossischen Zeitung) zerfallen und schreibt also die Zeitungen nicht mehr. Ich bin mehr als einmal darum angegangen worden, sie an seiner Statt zu schreiben, wenn ich mit solchen politischen Kleinigkeiten meine Zeit zu verderben Lust gehabt hätte.“ – Durch einen merkwürdigen Zufall wurde später die Vossische Zeitung das Eigenthum der Lessing’schen Familie, deren Nachkommen sie noch in diesem Augenblick besitzen.

Unter den nachfolgenden Mitarbeitern der Vossischen Zeitung bemerken wir den Kriegsrath Müchler, den bekannten Anekdotensammler und unerschöpflichen Gelegellheitsdichter, der im hohen Alter erst vor wenigen Jahren gestorben ist. Er war die lebendige Chronik seiner Zeit, ein liebeswürdiger Erzähler aus vergangenen Tagen und eine allgemein bekannte Stadtfigur. An Popularität wurde er fast noch durch den nicht minder bekannten Rellstab übertroffen, welcher lange Zeit die Hauptstütze der Zeitung war. Als junger Mann hatte derselbe durch seinen Roman „die schöne Henriette“, eine gelungene Satire auf die berühmte Sängerin Henriette Sonntag und ihre Verehrer in Berlin, die größte Sensation [528] erregt. Von dem Aufsehen dieses Buches in der damaligen Zeit, wo sich das ganze Interesse in Deutschland um das Theater, um Schauspieler, Sänger und Tänzer drehte, kann man sich heut schwerlich noch einen Begriff machen. In allen Kreisen war von nichts Anderem als von der „schönen Henriette“ die Rede; die höchsten Personen, Staatsmänner und fremde Diplomaten, der russische und englische Gesandte in Berlin, betrachteten diese vorübergehende literarische Erscheinung als eine höchst wichtige Angelegenheit. Dem Verfasser, der trotz seiner Anonymität nicht verborgen blieb, wurde der Proceß wegen Beleidigung der angebeteten Sängerin gemacht und eine längere Festungsstrafe ihm für seine Verwegenheit zuerkannt. Aber das Buch hatte seinen Ruf begründet, und bald wurde Rellstab Mitarbeiter der Vossischen Zeitung und das kritische Orakel der Residenz. Kein Berliner wagte ein Urtheil auszusprechen, bevor nicht Rellstab das seinige abgegeben. Ueberall, im Theater, im Concertsaal, an allen öffentlichen Orten, bei jeder Festlichkeit erblickte man den „Unvermeidlichen“ mit dem gutmüthigen Gesichte, das durch einen militärischen Schnurrbart martialisch geziert wurde, und mit der behaglich kräftigen Figur. Man konnte förmlich an Zauberei glauben, da man ihm immer wieder begegnete, und es wurde in allem Ernst behauptet, daß er die Kunst besitze, an zwei verschiedenen Orten zu gleicher Zeit tu sein. An einem Abend konnte man ihn im Opernhause, bei Kroll und in der Singakademie erblicken, stets mit der rothledernen Brieftasche in der Hand. Rellstab besaß in der That bis kurz vor seinem Tode eine bewunderungswerthe Arbeitskraft; er schrieb eingehende Kritiken, Reisebilder, Weihnachtswanderungen, Notizen, Berichte und redigirte den Artikel über Frankeich für die Zeitung. Außerdem erschienen von ihm Romane, darunter der viel gelesene und bewunderte Roman „1818“, Novellen und Erzählungen für verschiedene Taschenbücher und Kalender, Schauspiele und Operntexte für die Bühne und eine Unzahl von kleineren Aufsätzen, Gelegenheitsgedichten etc. Nebenbei war er später Verwaltungsrath einer Eisenbahn und bekleidete noch manche andere Posten; auch ertheilte er, wenn auch nur ausnahmsweise, Unterricht im Gesang und Generalbaß, da er eine ausgezeichnete musikalische Bildung und gediegene Kenntnisse in dieser Kunst besaß. Schon diese Vielseitigkeit beweist, daß Rellstab kein gewöhnlicher Mensch war, obgleich er vielfach im Leben angegriffen und besonders in letzter Zeit verspottet wurde, wozu allerdings eine gewisse breite Geschwätzigkeit und philisterhafte Gemüthlichkeit beitrug, die sich mit der veränderten Zeitrichtung und dem durch schärferes Gewürz verwöhnten Geschmack einer jüngeren Generation nicht mehr vertrug.

Gegenwärtig ist der Hauptredacteur der Vossischen Zeitung Dr. Lindner, ein classisch gebildeter Gelehrter, der auch als theoretischer Musiker einen ausgezeichneten ruf genießt. Ihm hauptsächlich verdankt die Zeitung ihre jetzige liberale Richtung und eine Reihe trefflich geschriebener politischer Leitarikel. Unter den Mitarbeitern befindet sich der geistreiche Nationalökonom Dr. Guido Weiß, der ehrwürdige Gubitz, der tüchtige Musiker Dr. Engel, der sanfte Lyriker Klette und Max Ring. – Die Abonnentenzahl schwankt zwischen 15–18,000, von denen der größere Theil auf Berlin selbst kommt. Die Haupteinnahme besteht jedoch in den Annoncen, welche der Zeitung so reichlich zufließen, daß sie sich zuweilen, besonders vor Weihnachten, genötigt sieht, 6–8 Beilagen zu geben.

Minder günstig situirt ist die Spener’sche Zeitung, welche von ihrer alten Concurrentin längst überflügelt ist. Die Hauptschuld trägt die schwankende Haltung der Ersteren in der Politik seit dem Jahre 1848, indem die sonst mit großer Umsicht geleitete Redaction kein scharf ausgesprochenes, festes Princip verfolgt, obgleich auch sie im Grunde einem allerdings so sehr gemäßigten Liberalismus huldigt, daß man ihn zuweilen fast gar nicht merkt. In früheren Jahren wurde die Zeitung von dem Dr. Spieker, auch „Lord Spieker“ genannt, nicht ohne Geschick geleitet. Den Beinamen hatte der etwas steife, aber verdienstvolle Gelehrte seiner Vorliebe für England, englische Sitten und Literatur zu verdanken. Als interessante Mitarbeiter aus früherer Zeit nennen wir vor Allen den liebenswürdigen Holtei, während seines Berliner Aufenthalts, und den berühmten Spuck-Schulz, einen eben so ausgezeichneten als originellen Kritiker, den Goethe durch seine Anerkennung geehrt hat. Den Namen Spuck-Schulz verdankte er der sonderbaren und gerade nicht sehr angenehmen Gewohnheit, den Leuten, mit denen er sprach, sprudelnd in’s Gesicht zu spucken. Außerdem war er in seiner vernachlässtgten Kleidung und seinen sonstigen Gewohnheiten ein ausgemachter Cyniker, obgleich er bei den Damen des Theaters gern den Galanten spielte und wirklich in dem Wahne lebte, daß er unwiderstehlich sei. Als er einst eine Redoute in Berlin besuchen wollte und die berühmte Bethmann um ihren Rath fragte, welche Maske er wählen sollte, um nicht erkannt zu werden, sagte die berühmte Künstlerin, auf seine bekannte Wasserscheu anspielend: „Lieber Schulz, wenn Sie sich das Gesicht waschen, wird Sie gewiß kein Mensch erkennen.“

Gegenwärtig wird die Spener’sche Zeitung von dem Dr. Alexis Schmidt, einem früheren Theologen, redigirt. Die Theaterkritiken schreibt der bekannte Aesthetiker Professor Hötscher, der leider augenblicklich an einer Lähmung schwer erkrankt ist. Seine Kritiken zeichneten sich durch ihre Gediegenheit und Anständigkeit aus, wenn auch ihre Unparteilichleit unter seinen immer liebenswürdigen und menschlichen Schwächen zuweilen litt. Vorzugsweise wird das Blatt in den gebildeten Beamtenkeisen gelesen, da seine artistischen und literarischen Beigaben von jeher das beste Lob wegen ihrer Vollständigkeit und sorgsamen Auswahl verdienten.